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Das glücklichste Jahr E-Book

Petra Oelker

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Beschreibung

Das Porträt einer außergewöhnlichen Frau: Eva Lessing. Als der Seidenfabrikant Engelbert König 1769 zu einer Reise aufbrach, bat er seinen Freund Gotthold Ephraim Lessing, sich seiner Frau und der vier Kinder anzunehmen, sollte ihm etwas zustoßen. Tatsächlich starb er wenig später in Venedig. Lessing hielt sein Versprechen, und aus der Freundschaft zu Eva König wurde schnell Liebe. Doch bis zur Hochzeit sollten noch Jahre vergehen: Eva zog nach Wien, um dort die König'schen Fabriken zu leiten. Erst im Oktober 1776 heirateten die beiden. Das Glück währte nur kurz: Im Januar 1778 starb Eva am Kindbettfieber. Ein Schicksalsschlag, von dem Lessing sich nie wieder erholte. Anhand von Briefen, Dokumenten und genauen Recherchen zeichnet Petra Oelker eine der größten Liebesgeschichten der deutschen Literaturgeschichte nach. «Eine spannende, klug geschriebene Darstellung kulturellen Lebens des 18. Jahrhunderts.» (NÜRNBERGER NACHRICHTEN / NÜRNBERGER ZEITUNG)

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Petra Oelker

Das glücklichste Jahr

Über dieses Buch

Das Porträt einer außergewöhnlichen Frau: Eva Lessing.

 

Als der Seidenfabrikant Engelbert König 1769 zu einer Reise aufbrach, bat er seinen Freund Gotthold Ephraim Lessing, sich seiner Frau und der vier Kinder anzunehmen, sollte ihm etwas zustoßen. Tatsächlich starb er wenig später in Venedig. Lessing hielt sein Versprechen, und aus der Freundschaft zu Eva König wurde schnell Liebe. Doch bis zur Hochzeit sollten noch Jahre vergehen: Eva zog nach Wien, um dort die König'schen Fabriken zu leiten.

Erst im Oktober 1776 heirateten die beiden. Das Glück währte nur kurz: Im Januar 1778 starb Eva am Kindbettfieber. Ein Schicksalsschlag, von dem Lessing sich nie wieder erholte.

 

Anhand von Briefen, Dokumenten und genauen Recherchen zeichnet Petra Oelker eine der größten Liebesgeschichten der deutschen Literaturgeschichte nach.

 

Über Petra Oelker

Inhaltsübersicht

Carina und Maike ...Prolog Eine Hochzeit im Alten Land1. Das Mädchen aus der Judengasse2. Der Seidenhändler aus Lüttringhausen3. Patrioten und andere Freunde4. Der Mann vom Theater oder 100000 Florin Kredit5. «Und setzen Sie Ihren Weg recht glücklich fort.»6. «Kein Glück mehr in der Welt für mich ist, wenn ich es nicht mit Ihnen teilen soll.»7. «So geschehe denn, was geschehen soll.»8. «Schreiben Sie mir mittlerweile, meine Liebe, ich beschwöre Sie …»9. Das glücklichste Jahr oder Diese Szene ist ausNachwortAnhangZeittafelLiteraturauswahlBildnachweisPersonenregister

Carina und Maike zugeeignet

PrologEine Hochzeit im Alten Land

Es ist ein besonderes, tatsächlich ein ungewöhnliches Paar, das an diesem 8. Oktober 1776 in dem festlich geschmückten Landhaus im altländischen Dörfchen Jork getraut wird. Nicht auf den ersten Blick, da sehen beide ganz bürgerlich aus und scheinen gut zueinander zu passen. Der Bräutigam ist ein Mann von mittlerer Größe und etwas stämmiger Statur, er ist mit seinen 47 Jahren immer noch ein gut aussehender Mann, sein Rock ist gewiss nicht neu, doch er lässt die schlichte Eleganz erkennen, mit der er sich stets kleidet.

Die Braut ist sieben Jahre jünger und zierlich, ihr Kleid aus raschelnder Seide ganz neu, ihr Haar, diese widerspenstigen kleinen Locken, modisch aufgetürmt und frisch gepudert. Ihr spitzes Kinn, die ein wenig groß geratene Nase, der energische Mund lassen sie so vernünftig erscheinen, wie sie während der letzten Jahre sein musste. Ob allerdings ihre tiefe Liebe zu dem Mann neben ihr, die lange ersehnte und nun endlich geschlossene Ehe auch vernünftig sind? Daran wäre heftig zu zweifeln, wenn Liebe denn etwas mit Vernunft zu tun hätte.

Die Braut heißt Eva König. Sie stammt aus einer Heidelberger Kaufmannsfamilie, sie war in Hamburg mit einem Seidenhändler verheiratet und selbst eine tüchtige Kauffrau. Sie hat vier Kinder, eine Tochter und drei Söhne, und sich jahrelang im viele Tagesreisen entfernten Wien allein und entschlossen um die komplizierten Geschäfte ihres verstorbenen ersten Mannes gekümmert und sie zu ihren gemacht. Sie ist die Verantwortlichkeit in Person, sie kann kühl rechnen – und tief und warm empfinden.

Der Bräutigam heißt Gotthold Ephraim Lessing. Er sollte Pfarrer werden wie sein Vater, doch er hat ein unstetes Leben als gelehrter Schriftsteller und heftig umstrittener Publizist und Kritiker geführt. Nun ist er herzoglicher Bibliothekar im verschlafenen Wolfenbüttel, neuerdings gar Hofrat, streitet immer noch mit Leidenschaft, manche argwöhnen, er habe sich das seinen rebellischen Geist ermüdende Amt nur auferlegt, um seiner zukünftigen Frau und ihren Kindern einen sicheren Hort zu bieten. Er ist berühmt, am meisten in der Welt der Wissenschaften und der Literatur, bei den Theologen und Theaterenthusiasten, doch selbst eifrig betriebenes Lottospiel hat ihm nicht geholfen, den ständigen Kampf mit alten und neuen Schulden zu gewinnen.

Ein unruhiger Künstler und streitbarer Gelehrter und eine vernünftige, nach Geborgenheit strebende Bürgerin – wie können die zusammenpassen?

Wäre Eva König tatsächlich so vernünftig, wie ihr Lebensweg es erscheinen lässt, hätte sie sich für einen anderen entschieden, für einen, der ihrem ersten Mann, dem Seidenhändler und Manufakteur Engelbert König, gleicht: ein aufgeschlossener, gebildeter Bürger, freundlich auch. Vor allem strebsam, tüchtig, unternehmend.

Eva Katharina König, 1770

Sie hätte nicht diese endlosen Jahre warten müssen, bevor Pastor Wehber in der guten Stube im Landhaus der befreundeten Kaufmannsfamilie Schuback ihre Hand in die ihres Bräutigams legt und die Trauformel spricht. Hätte sie sich für einen anderen entschieden, einen Kaufmann – aber halt. Zwar blüht der Klatsch, und manche Stimmen flüstern, der Herr Lessing habe seine Braut so lange hingehalten, weil er sich nicht zu entscheiden wusste oder – schlimmer noch – keinen Weg fand, sich aus dieser vor Jahren allzu eilig eingegangenen Verlobung mit der einzig an Kindern reichen Kaufmannswitwe wieder davonzuschleichen. Hätte er die Verlobung sonst so lange, für manche Freunde und Verwandte sogar noch jetzt geheim gehalten?

Die Eva König kennen, wissen es besser. Es war einzig ihre Entscheidung, mit der Hochzeit zu warten, bis sie ihre Geschäfte geregelt hatte. Es war ihre Entscheidung, nach dem plötzlichen frühen Tod ihres Mannes die König’schen Manufakturen in Wien selbst weiterzuführen, um den Unterhalt ihrer Kinder zu sichern.

Denn ebenso wie dieser Herr Lessing ein ungewöhnlicher Dichter und Denker ist, ist diese eigenwillige Madame König eine außergewöhnliche Bürgersfrau. Und darin – tatsächlich – passen diese beiden entschieden zusammen. Sie sind einander ebenbürtig, über alle Hindernisse, alles Trennende hinweg. Ihre Heirat hat nichts mit Vernunft und gegenseitiger Versorgung zu tun. Diese Liebe zwischen zwei lebenserfahrenen Menschen hat sich aus Respekt und Freundschaft entzündet. An der Tiefe und Dauer der Gefühle gibt es nichts zu zweifeln. Nun nicht mehr.

Trotzdem wäre der Bräutigam zur Trauung fast zu spät gekommen. Er hatte so sehnlich wie seine Braut auf diesen Tag gewartet, sie hatten Jahre der Trennung, des Zweifels und der Melancholie überstanden und die Briefe, die sie einander geschrieben hatten, oft als einzigen Trost empfunden. Doch dann hatte er seine Abreise so weit als möglich hinausgezögert, und endlich, da alle Hindernisse überwunden waren, drohte eine Banalität wie schlammige Straßen die Hochzeit noch einmal aufzuschieben.

Im Vergleich zu den endlosen Kutschfahrten, die beide in den vergangenen Jahren überstehen mussten, ist es keine wirklich lange Reise von Wolfenbüttel, dem Wohnort des Bräutigams, nach Jork, dem Dorf im Alten Land am südlichen Elbufer, wo die Braut mit dem Pastor wartet. Es dauert nur zwei Tage und zwei Nächte und führt nicht einmal übers Gebirge oder über einen breiten Fluss. Aber es ist schon Oktober. Der kann sehr schön sein im Alten Land. Wenn die Tage noch mild sind, der Wind von der Elbe sanft ist und noch nichts von den Spätherbststürmen verrät, die Sonne die letzten Astern und Rosen in den Bauerngärten und die sich schon gelb färbenden Blätter der zahllosen Obstbäume leuchten lässt – das wäre das richtige Hochzeitswetter. Besonders für ein Paar, das den Frühling seines Lebens längst hinter sich gelassen hat. Aber das ist dem Himmel egal, in diesem Oktober regnet es alle Tage. Die Straßen, auch anderswo immer ein Abenteuer, sind hier selbst im Sommer oft unpassierbar, und sie sind nicht nur dem Bräutigam, sondern auch vielen Kutschern unbekannt.

Die Route nach dem York, hatte die Braut auf seine Fragen geschrieben, gehet bei guter Jahreszeit, wenn der Weg trocken, über Harburg, sodann durch die Marsch nach dem York, der 4 Meilen von Harburg liegt. Diesem Weg ist aber gegen den 6ten Oktober wohl nicht mehr zu trauen. Folglich gehen Sie von Celle aus gerade nach Buxtehude, das eine Meile von York liegt. Die Stationen, so Sie zu passieren haben, hat mir niemand nennen können; in Celle wird man sie aber ohne Zweifel wissen.[1]

Zum Glück ging der Bräutigam dann doch nicht verloren, sein zukünftiger Schwippschwager fuhr ihm entgegen und half ihm durch die morastige Marsch ins sichere Jork. Anna Schuback, Eva Königs um sieben Jahre jüngere Freundin und Gastgeberin, wird bei seiner Ankunft einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen haben. Sie hatte eine große Hochzeit geplant, mit Freunden und Verwandten, wie es sich gehört und Vergnügen macht, doch der Herr Hofrat Lessing hat ausrichten lassen, er wünsche ‹keine Gäste und Zeugen› und auch sonst ‹keine Umstände›.

Was sollte man von dieser und einigen anderen Bemerkungen und Vorschlägen in den Briefen halten, die Eva in den letzten Wochen von ihm bekommen hatte? Wer genau zwischen den Zeilen las, konnte argwöhnen, die Angst vor der eigenen Courage habe ihn eingeholt. Ist er überhaupt der zuverlässige Mann, der Hort der Sicherheit, den Eva König und ihre Kinder brauchen?

Vor zwei Wochen war Evas Blut so in Wallung, hatten ihre Hände so geflattert, dass sie kaum die Feder halten konnte und fürchtete, er werde ihren Brief nicht entziffern können. Dabei war sie keine siebzehn mehr, sondern vierzig Jahre alt, eine Witwe und Mutter und bis vor wenigen Monaten eine respektable Geschäftsfrau. Und überhaupt waren daran sicher nur die Aufregung und Anstrengungen der Umzugsvorbereitungen schuld.

Fünf Jahre sind vergangen, seit sie dem Wolfenbütteler Bibliothekar, dem berühmten Herrn Lessing, die Ehe versprochen hat, fast 2000 Tage, in denen sie sich kaum gesehen haben. Viele Briefe sind in dieser Zeit hin und her gegangen, keine gelehrten Abhandlungen oder schönfärberischen Episteln, kein schwärmerischer Taumel, wie es der Briefmode dieser empfindsamen Zeit entspricht, sondern Briefe, die von Alltäglichem sprechen, von Sorgen und Sehnsüchten, von Plänen, Hoffnungen und Möglichkeiten, von amüsantem oder traurigem Klatsch aus dem Freundeskreis, vom Hof oder von den Theatern, und von Eva Königs so lebensklugen wie (meistens) diplomatischen Ratschlägen bei Lessings beruflichen Entscheidungen und Konflikten. Es waren sehr private, vertrauensvolle Briefe, in denen sie einander besser kennengelernt haben als manches Paar in gemeinsam verbrachten Jahren.

Allerdings waren es nicht ganz so viele, wie Eva König es sich gewünscht hätte. Der Mann, dem ihre Liebe gehört, hat ihr stets versichert, er sei auf immer, auf ewig gar, mit ganzer Seele der ihrige, er hat ihr mit den Briefen tausendfache Umarmungen geschickt, auch Küsse, und sie ‹meine liebste, beste Frau› genannt. Aber er hat sie immer wieder auf Post warten lassen, einmal fast ein volles Jahr. Als einer der bedeutendsten deutschen Literaten ist er ein ungemein fleißiger Schreiber, sein Werk füllt etliche Bände, die begonnenen und über neuen Ideen liegengelassenen Projekte nicht eingeschlossen. Als Briefschreiber jedoch – auch an seine Freunde, erst recht an die Verwandten – ist er oft von schrecklicher Säumigkeit.

In den Monaten ohne Post von ihm hatte sie sich vor Sorge, er könne zum Schreiben zu krank sein, selbst oft krank gefühlt. Seinen Tod fürchte sie nicht, schrieb sie einmal mit gespitzter Feder, denn davon hätte sie gewiss längst von anderen erfahren. Manchmal sorgte sie auch, er könne sie vergessen und sich einer anderen zugewandt haben. Gerüchte von der gelehrten Madame Reiske zum Beispiel waren bis nach Wien gedrungen. Von der wusste alle Welt, dass sie nichts lieber sein wollte als Madam Lessing.

Dieses einsame Getrenntsein, die Zweifel an seiner Liebe – auch er hat einige Male geglaubt, an ihrer zweifeln zu müssen –, all das ist nun vorbei. Nie waren so viele Briefe hin und her gegangen wie in diesen Wochen vor der Trauung. Praktische Briefe, denn nicht nur die Hochzeit, auch die anschließende Reise des Paares mit den Kindern von der Elbe nach Wolfenbüttel wollte abgesprochen und organisiert sein, die Kutschen, die Pferdewechsel bei den Poststationen vorbestellt, die kleine Wohnung in Hamburg aufgelöst und die neue in Wolfenbüttel eingerichtet, eine Köchin und ein Mädchen engagiert, die nötigen Papiere besorgt – die Liste der lästigen Notwendigkeiten war endlos. Mag sein, der Mann, den Eva König liebt, ist ein Genie, gewiss auch ein liebevoller Mensch, meistens ein guter Freund und Unterhalter, überhaupt durch und durch besonders – nun muss er auch noch praktisch sein.

War es da ein Wunder, dass er bekannte, er habe sich für den feierlichen Tag keine neuen Kleider machen lassen können und komme im alten Rock? Madam Schuback mochte das befremdlich erschienen sein, für Eva König war es eine Lappalie, die sie nur lächeln ließ. Auch wenn sie sich zwei Jahrzehnte mit Handel und Herstellung von edelsten Stoffen befasst hatte, hatte sie ihm nie ‹nach dem Kleide› gesehen. Sie kennt ihren Lessing und weiß, dass er nie mit Geld umgehen konnte und keinen Pfennig zu verschwenden hat. Sie hat ihre Fabriken verkauft, die Seidenlager sind aufgelöst, aber einige der schönsten Stoffe hat sie mitgebracht. Mag er in seinem alten Rock kommen, für eine neue Weste und Beinkleider haben sie und Malchen, ihre Tochter, die so gut mit der Nadel umzugehen weiß, längst gesorgt.

Gotthold Ephraim Lessing, 1767/1768

Nur eins hatte sie doch zornig gemacht: sein Angebot, sie könne mit den Kindern noch einige Tage in Jork bleiben, dem Ort der Trauung, während er schon zurückreise.

Nach geschehener Verbindung müssen wir uns so kurz als möglich aufhalten, hatte er geschrieben, oder, wenn Sie, meine Liebe, noch ein paar Tage dort bleiben können und wollen, so gehe ich allein wieder voraus, und komme Ihnen bis Celle wieder entgegen, welches beinahe das Beste sein würde, weil es sonst mit unserm hiesigen Empfange ein wenig konfus hergehen möchte.[2]

Konnte man einen solchen Vorschlag verstehen? Ihn überhaupt ernst nehmen? Eva hatte sich halbwegs fürs Lachen entschieden und umgehend geantwortet:

Es ist wohl nicht Ihr wahrer Ernst, wenn Sie vorschlagen, vor mir abreisen zu wollen. Was sollte mich wohl in York halten, wenn Sie nicht mehr da wären! Der konfuse Empfang schreckt mich auch nicht. Ich bin nun beinahe sieben Jahre an ein konfuses Leben gewöhnt, so dass ich es auch noch wohl eine Weile aushalten kann.

Ich umarme Sie in Gedanken tausend und tausendmal, schloss sie den Brief, und zähle sicher darauf, dass ich morgen über vierzehn Tage Sie mündlich versichern kann, dass ich von ganzem Herzen bin, und ewig sein werde

Ihre ganz ergebene K.[3]

«… und zähle sicher darauf». Steht da die Befürchtung zwischen den Zeilen, er könne den großen Sprung aus dem jahrzehntelangen Alleinleben in die neue Rolle des Ehemanns und Stiefvaters doch nicht schaffen? Eva König hat viel erlebt und auch erlitten, sie ist eine kluge Frau und weiß, welche Veränderung die Erfüllung ihres und seines größten Wunsches für Lessing bedeutet. Sie kann sich vorstellen, wie er in seiner Wohnung im sonst menschenleeren Wolfenbütteler Schloss, dessen Kälte und Einsamkeit er so oft verflucht hat, auf und ab geht, wie er in die Stille lauscht, die von nichts als dem Knarren der Dielen unter seinen Schritten gestört wird. Wie er ans Fenster tritt und über den Schlossplatz zum Meißner’schen Haus hinübersieht, dessen erste Etage bald sein neues Domizil sein wird, seines und das seiner Frau und der Stiefkinder. Er kennt und mag diese Kinder, er liebt sogar ihre Spiele und spielt gerne ein Weilchen mit, aber anstatt einsamer Ruhe und ungestörten Denkens und Schreibens ständig quirliges Familienleben? Und Verantwortung? Ist das wirklich besser?

Und wie wird es sein, wenn man sich nicht sehnsuchtsvoll über einen halben Kontinent Briefe schreibt, die seltenen kurzen Begegnungen herbeifiebert und dann so sehr genießt, sondern alle Tage zusammen ist, von morgens bis abends und in der Nacht? Wenn es kein Entkommen mehr gibt vor dieser alltäglich werdenden Gemeinsamkeit, vor den Anforderungen einer Familie, wenn …

Sie kann sich vorstellen, wie er seinen Blick rasch weiter nach links schickt, zur Bibliothek, deren große Rotunde auch durch die Kronen der alten Linden und Platanen unübersehbar ist wie eine Trutzburg. Es ist eine Trutzburg – gibt es ein besseres Mittel zur Flucht vor zu viel Familienlärm und -banalität als die Arbeit mit den Büchern? Er ist Hofrat, ein leerer Titel, der ihm gleichgültig ist, und herzoglicher Bibliothekar und Historiker – vielleicht hat er, der sein Leben lang nichts als ein freier Mann, ein von Fürsten, Ämtern und anderen einengenden Pflichten unabhängiger Schriftsteller sein wollte, das Amt angenommen, weil er sein unsicheres Wanderleben mit der steten Jagd nach dem nötigsten Unterhalt müde war. Vielleicht aber doch nur, weil er einen sicheren Platz für seine neue Familie schaffen wollte? Musste! Hat er nun Bedenken? Bereut er seine Entscheidung? Wäre das eine Basis für eine glückliche Ehe?

Der Weg zu dieser Hochzeit war lang und schwierig, oft genug quälend, das Ziel soll Glück und Erfüllung der lange gehegten Träume bringen – und wenn es nur ein Traum ist, dieses Glück?

Eva König hat immer gewusst, was sie selbst wollte, auch darin unterscheidet sie sich von vielen Frauen ihrer Zeit, sie ist eine geübte Kämpferin. Keine, die sich leicht erschrecken lässt und rasch aufgibt. Sie kann vertrauen und ist entschlossen zu diesem Glück. Daran will sie nun nicht mehr zweifeln.

Und sie hat recht. Es war kein Traum, keine Illusion.

Als die Kutsche, schlammbespritzt bis zum auf dem Dach festgezurrten Reisegepäck, in den Hof rollte, als der Schlag aufgestoßen wurde und Lessing ausstieg, in seinem alten, vertrauten Rock – da war endlich alles so, wie es sein sollte. Er war da, wo sie war. Und von Halbherzigkeit, von Zögern und Zweifel keine Spur.

Plötzlich geht alles ganz schnell. Die Trauung, eine schlichte Zeremonie in der guten Stube, das reiche Festmahl an der Tafel, die im Haus der Schubacks für zahlreiche Gäste bereitsteht und an der an diesem Tag außer dem Brautpaar und den Gastgebern nur drei von Evas Kindern (der Älteste, Theodor, lebt noch in Pension in der Pfalz) und der jüngste Bruder ihres ersten Mannes sitzen, dieses blasse Anhängsel Friedrich Wilhelm König. Noch einige heitere Tage an der Elbe, fast ohne Sturm und Regen, und schon werden die Kutschen beladen für die Fahrt in das neue Leben.

Es war ein glücklicher Tag, dieser 8. Oktober 1776, und der Beginn einer glücklichen Ehe.

Sie passten eben doch zueinander, der gelehrte Dichter und die kluge Seidenhändlerin. Nach einem langen Weg begann, was einmal Lessings glücklichste Zeit genannt werden würde. Fünfzehn glückliche Monate – eine unbarmherzig kurze Frist.

1.Das Mädchen aus der Judengasse

Heidelberg

Endlich war der Winter vorbei. Am Neckar leuchtete der Huflattich, gelber Blütenstaub wehte von den Haselsträuchern, und die Knospen an den Kirschbäumen und Rebstöcken waren schon dick und rund. An diesem Morgen des 24. März anno 1736 klang der Gesang der Vögel im Hahn’schen Garten bei der Heidelberger Judengasse besonders hell und übermütig. Eva Katharina Hahn, Eheliebste des Kauf- und Handelsherrn Heinrich Kaspar Hahn, hatte zwei Tage zuvor, abends um zehn, ein Mädchen geboren, nun wurde die Taufe gefeiert. Das Kind schien gesund, die Mutter wohlauf, und alle, ihr Mann, die drei Söhne und die erste Tochter, die Dienstboten in Haus und Kontor, die angereisten Verwandten, die Freunde und Nachbarn, hofften, dass es so bleiben werde. Wie in den meisten Familien waren auch in dieser schon Kinder gestorben. Nur zwei, aber wer kannte Gottes Plan.

Die Taufe fand in der Providenzkirche statt, nur wenige Schritte vom Haus der Hahns entfernt. Eva Katharina lag noch im Wochenbett, die Hebamme führte nach alter Sitte mit dem Kind auf dem Arm die kleine Prozession zum Taufbecken. Die Kirchenbänke werden besonders gut besetzt gewesen sein, nicht nur, weil die Aufnahme eines neuen Erdenbürgers in die christliche Gemeinschaft immer ein besonderes Ereignis ist – der Vater, der Kauf- und Handelsherr Heinrich Kaspar Hahn, gehörte auch zum Vorstand seiner Kirchengemeinde. Das Mädchen, das an diesem Tag die Namen Eva Katharina bekam, war in eine fromme Familie hineingeboren worden.

Pate standen der Württemberger Münzrat Johann Konrad Kaltschmidt und dessen Ehefrau Katharina, wie die Mutter eine geborene Gaub. Wahrscheinlich die Schwester der Mutter, eine Cousine oder Tante wäre ebenso möglich. Als Schwester hätte sie noch einen weiteren Vornamen haben müssen, auch die Mutter des Täuflings hieß ja Katharina. Mit zweitem Namen zwar, mit erstem Eva, wie nun ihre Tochter: Eva Katharina. Wenn die beiden als Gaub geborenen Frauen Schwestern waren, war vielleicht die eine Katharina gerufen worden, die andere Eva.

Die Namen sind in dieser Geschichte (wie in vielen aus vergangenen Jahrhunderten) das reinste Verwirrspiel. So hießen alle Brüder Evas (der Tochter!, unserer Hauptperson) mit erstem Namen Johann: Johann Georg der älteste, Johann David der mittlere, Johann Heinrich der jüngste. Immerhin hieß der Vater anders: Heinrich Kaspar. Zumindest einer der üblichen zwei oder drei Vornamen wurden nach denen der Paten vergeben, das bedeutete Ehre für beide Seiten und betonte die Verpflichtung, die Pate und Patin übernahmen. Und nun gleich drei Katharinas? Das war nichts Besonderes, der Name findet sich in alten Kirchenbüchern fast so häufig wie Johannes.

Das Fest nach der Taufe wird im Haus der Hahns stattgefunden haben, vielleicht in den hellen vorderen Räumen mit den Deckenmalereien. Es stand am Ende der Judengasse, dort, wo sie direkt gegenüber dem Gasthaus Zu den drei Königen in die Obere Straße mündete. Noch gehörte ihnen das drei Etagen hohe Haus nicht, erst im nächsten Februar kauften Heinrich Kaspar Hahn ‹und seine Eheliebste Eva Catharina, geb. Gaub› es mit allem Inventar und samt dem Grundstück für 5500 Gulden von dem Kirchenrat von den Velde und seiner ‹Fr. Eheliebste Catharina Philipinae›. Der enorme Preis belegt die beeindruckende Größe des Anwesens und den Wohlstand der neuen Besitzer.

Nur die Schmalseite des unteren Schenkels des L-förmigen Gebäudes zeigte (und zeigt noch heute) zur Hauptstraße, der heutigen Oberen Straße, dort befand sich das Eingangsportal, es war auch die bessere Adresse. (Knapp hundert Jahre später wurde die Judengasse in Dreikönigstraße umbenannt, weil die dort lebenden Vermieter klagten, mit dieser Adresse seien ihre Zimmer nicht an die Studenten zu vermieten.) Der größere Teil erstreckte sich elf Fenster breit entlang der zum Neckar hin abfallenden Judengasse und im rechten Winkel tief in das Quartier. Von der Gasse ging es unter einem massiv gemauerten Rundbogen in die Durchfahrt zum Hof und zu dem großen Garten. Der war nicht nur für die frische Kost und die Wintervorräte der Familie wichtig, er sorgte auch für frische Luft in der engen Stadt.

Das Haus war bei Evas Geburt erst zwölf Jahre alt und als eines der ersten in Heidelberg im barocken Stil erbaut. Die ganze alte Stadt, deren Anfänge samt der ersten Brücke über den Neckar bis auf die Römer zurückgehen, war ziemlich neu. Daran war der große Brand schuld, mit dem französische Soldaten 43 Jahre zuvor die pfälzische Residenz in Schutt und Asche gelegt hatten. Ihr König, Louis XIV, hatte beschlossen, die Pfalz gehöre Frankreich, also ihm. Denn seine Schwägerin, die Herzogin von Orléans, besser bekannt als Lieselotte von der Pfalz und als Autorin so respektloser wie auskunftsfreudiger Briefe über das gar nicht sonnige Leben am französischen Hof, sei die direkte Erbin des gerade verstorbenen Kurfürsten.

Der Krieg um den vermeintlich französischen Besitz, um dieses saftige Tortenstück der kurpfälzischen Hoheitsgebiete aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dauerte neun Jahre und glich einem immer wieder auflodernden Feuersturm. Zuerst brannten die Dörfer am unteren Neckar, dann Speyer und Worms, Mannheim wurde völlig zerstört. Schließlich auch Heidelberg. «Übergabe oder Vernichtung!», hatte der stets kriegslustige König im fernen Paris befohlen. Die Soldaten plünderten die Stadt und steckten sie in Brand, auch ein Teil des Schlosses und die Befestigungen wurden zerstört. Wer fliehen konnte, floh. Als die Franzosen abzogen, ragten nicht viel mehr als zwei Kirchen, eines der Klöster, ein paar Häuser am Schlossberg und das prächtige Renaissancehaus Zum Ritter halbwegs unversehrt aus den Ruinen. Lieselotte weinte im fernen Paris um ihre Heimatstadt, und ihr königlicher Schwager ließ triumphierend eine Münze mit dem Schriftzug Heidelberga delata auf die zerstörte Stadt prägen. Die Pfalz bekam er trotzdem nicht.

Warum das, obwohl es vier Jahrzehnte vor Eva Katharina Hahns Taufe geschah, für diese Geschichte von Bedeutung ist? Weil es die Stadt und ihre Bewohner verändert hat wie kein Ereignis vorher oder nachher und das Leben des Kindes Eva, der späteren Madam König, noch späteren Madam Lessing geprägt hat.

Blick auf Schloss und Heidelberg von Osten, 1780

Denn nur 153 der alteingesessenen Familien waren in die Ruinen ihrer Stadt zurückgekehrt, zumeist ‹kleine Leute›, die keine Alternative hatten, die ärmeren unter den Fischern, Handwerkern oder Winzern. Zu arm, zu wenige, um die Stadt wieder aufzubauen. Dazu brauchte es neue Bürger mit Unternehmungsgeist und dem nötigen Kapital. Sie kamen aus allen Richtungen der Windrose: aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Tirol und dem Allgäu, aus Franken, Württemberg, den Rheinlanden und aus der Gegend des norditalienischen Comer Sees, einige aus Böhmen, Mähren, Ungarn und Litauen, gar aus dem englischen Liverpool und dem irischen Dublin. Reines Pfälzisch sprachen hier nur noch wenige, und das Fremde, das Ungewohnte, neue Ideen und Lebensweisen weiteten den Blick aus der Enge der kleinen Stadt.

Die wenigen alten und zahlreichen neuen Bürger bauten die Stadt entlang dem alten Straßenplan wieder auf. Doch zumeist, wie auch das Haus der Hahns, nicht im mittelalterlichen Fachwerk, sondern im barocken Stil mit verputztem Stein. Nur die Dächerlandschaft glich der alten: rote Ziegel für die Häuser der Bürger, der von weit her transportierte teure Schiefer für die Amtsgebäude, die Kirchen und Palais.

Und alle hatten ihre Religion mitgebracht. Sicher war auch das einer der Anziehungspunkte gewesen, die die verheerte Stadt bot. Nach alter Regel hatte das Volk zu glauben, was der jeweilige Landesherr glaubte – in der Pfalz jedoch herrschte nahezu Religionsfreiheit.

Das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen war für die Bürger der Stadt eine ständige Übung in Toleranz. Nicht, dass sich diese Katholiken, Reformierten und Lutheraner immer einig gewesen wären, Anlass zu Streit gab es ständig. Mal hatten die Katholiken Oberwasser, mal die Reformierten, aber so ließ es sich doch leben. Wenn auch die Überzeugungen, welche Religion die einzig wahre mit den größeren Rechten sei, zu allerlei Kuriositäten führte. Zum Beispiel zu der Mauer, die die Hauptkirche der Stadt, die Heiliggeistkirche, in zwei Gotteshäuser trennte: der Chor für die Katholiken, das Langhaus für die Reformierten. Mit einer kurzen Unterbrechung blieb das noch gut 200 Jahre so.

Die Lutheraner, zu denen die Kaufmannsfamilie Hahn gehörte, blieben eine Minderheit. Eine eigene Kirche hatten sie trotzdem, nach dem Wahlspruch eines ihrer Kurfürsten, Dominus providebit – Der Herr wird sorgen –, hatten sie ihr Gotteshaus Providenzkirche genannt. Mit dem Wiederaufbau nach dem großen Brand hatte sie anstelle des bescheidenen alten Dachreiters einen ordentlichen Glockenturm mit einer zwiebeligen Kuppel bekommen und anstatt der schlichten Flachdecke eine barock gewölbte. Etwa ein Jahr bevor die Tochter der Hahns darunter auf den Namen Eva Katharina getauft wurde, war der Deckenspiegel mit einem Gemälde der Speisung der Viertausend geschmückt worden, die Emporen später mit 26 Ölbildern biblischer Geschichten. Die lutherische Gemeinde mag klein gewesen sein, arm war sie nicht.

Auch jüdische Familien wurden jetzt wieder geduldet. Die ersten jüdischen Einwohner in Heidelberg sind für das Jahr 1275 belegt. In den folgenden Jahrhunderten teilten die Heidelberger Juden das Schicksal ihrer Glaubensgenossen überall in Europa, sie wurden vertrieben oder totgeschlagen, ihr Besitz vereinnahmt, sie wurden zurückgeholt oder wieder geduldet, erneut vertrieben – 1390 für gut 300 Jahre. Erst um 1700, als nach der Zerstörung jeder willkommen geheißen wurde, der bereit und in der Lage war, Steine aufeinanderzuschichten und die Stadt neu erstehen zu lassen, fanden sich wieder jüdische Familien ein. In diesem Jahrhundert waren es nie mehr als zwanzig, sie wohnten in verschiedenen Straßen der Stadt. Die Judengasse war kein abgeschlossenes Ghetto und das ihr den Namen gebende Judentor, das die schmale Straße zur Neckarseite hin abschloss, stets nur Teil der Stadtbefestigung nahe der alten Synagoge.

Auch Evas Familie war keine von den urpfälzischen. Ihre Mutter, eine 1702 geborene Gaub, war wohl die Tochter eines Heidelbergers, des Hutmachers Johann Christoph Gaub, aber Heinrich Kaspar Hahn gehörte zu den Neulingen, er hatte 1719 das Bürgerrecht erworben und weitverzweigte und den Geschäften förderliche Familienverbindungen mitgebracht. Seine Vorfahren und noch in seiner Generation die meisten Verwandten waren Schmiede und Kleinbauern im westfälischen Schwelm. Nur sein Vater, Evas Großvater, tanzte aus der Reihe, Johannes Hahn betrieb neben einer Gastwirtschaft und Bäckerei einen Fernhandel. Fernhandel klingt beeindruckend, nach Verbindungen zu London, Genua und Lissabon, nach Ostindien oder gar den Banda-Inseln, wo die so begehrten wie teuren Muskatnüsse herkamen, wahre Wunderdinger, die nicht nur als Gewürz dienlich waren, sondern auch als Mittel gegen allerlei Krankheiten bis hin zur Pest. Tatsächlich konnte Fernhandel schon den Tausch von Waren gegen Geld nur über die eigene Region hinaus bedeuten, zum Beispiel von Schwelm, das direkt an einer der seit dem Mittelalter bestehenden Fernstraßen lag, ins Pfälzische.

Der Schwelmer Gastwirt und Bäcker handelte mit Waren in bescheidenen Mengen (das ist nicht überliefert, aber sehr wahrscheinlich), unter anderem wohl mit Textilien, mit Stoffen, Strümpfen und Bändern aus Leinen, Baumwolle und Seide, den Reichtum bringenden und schon traditionellen Erzeugnissen des Bergischen Landes.

Zwei seiner Söhne hatten die ländliche Heimat verlassen und sich auf den Weg in die Welt gemacht. Johann Georg hatte in Mannheim die Tochter eines Großhändlers von Elberfelder Leinen- und Seidenerzeugnissen geheiratet, dessen Familie wiederum ein Netz von Einzelhandelsgeschäften im Rheinischen betrieb – womöglich Geschäftspartner der Schwelmer Hahns. Eine Heirat, wie sie zu kluger Geschäftspolitik gehörte.

Nicht nur der Adel, besonders der regierende, festigte und erweiterte seine Stellung durch planvolles Heiraten. Die Strategie verfolgte jede Familie, die Besitz zu erhalten und zu mehren hatte, und wenn es auch nur ein Acker oder eine Kate waren. Blut ist dicker als Wasser. Gerade die jüngeren Söhne – und alle Töchter – von Kaufleuten konnten durch passende Ehen zuverlässige Stützpunkte auf fremdem Terrain schaffen; wenn sie tüchtig waren und sich auf ihr Metier verstanden, wuchs ein die Geschäfte stabilisierendes familiäres Netz. Wer von den Männern Glück hatte, bekam eine bruderlose Erbin zur Frau und stieg vom jüngeren Sohn zum Herrn auf.

Johann Georg wurde in Mannheim ein erfolgreicher Kaufmann. Auch ein zweiter Sohn, der 1688 geborene Heinrich Kaspar Hahn, wandte sich nach der Pfalz und ging eine passende Ehe ein, als er am 16. Februar 1724 in Heidelberg Eva Katharina Gaub heiratete. Er war 35 Jahre alt (womöglich war es seine zweite Ehe), seine Braut um vierzehn Jahre jünger. Zwar bekam er mit ihr nicht auch die väterliche Handlung, die war schon an einen anderen ‹Tochtermann› vergeben, aber eine kluge, geschäftstüchtige Frau. Und wenn man von ihrem Erbe nach dem Tod des Vaters ausgeht, wird ihre Mitgift nicht kärglich gewesen sein.

Eva war ihr jüngstes Kind, und das blieb sie. Zwei Jahre nach der Taufe, 1738, starb Heinrich Kaspar Hahn nach nur vierzehnjähriger Ehe. Ein Drama für die Familie, für seine Frau, die Söhne und die Töchter – Eva konnte sich nie an ihren Vater erinnern und hat ihn noch als erwachsene Frau schmerzlich vermisst.

Plötzlich war aus der ‹Eheliebsten› eine ‹Wittib› geworden. Ihr ältester Sohn war erst elf, die anderen beiden neun und sieben, die Tochter Maria Amalia fünf, Eva Katharina zwei Jahre alt. Was tun allein mit dem großen Handelsgeschäft? Sie hatte sich nie viel darum gekümmert, mit den Kindern und der Führung des großen Hauses hatte sie genug zu tun gehabt. So steht es jedenfalls in den Heidelberger Akten. Die Hahns waren in ihrer Stadt eine angesehene und einflussreiche Familie, das bedeutete Verpflichtungen und Gäste, die bewirtet und angemessen unterhalten sein wollten. Auch Geschäftspartner von weit her waren immer wieder zu Gast, gelehrte Freunde und Kollegen ihres Bruders, des Professors Gaub im Holländischen, machten gern auf der Durchreise in Heidelberg Station.

Die Wittib Hahnin, wie sie fortan in den Akten genannt wurde, war 36 Jahre alt, jung genug für eine zweite Ehe, sogar um einem neuen Ehemann eigene Kinder zu gebären. An Bewerbern wird es nicht gemangelt haben, sie war ja eine glänzende Partie und wie andere Witwen mit einem solchen Besitz als Sprungbrett zum Wohlstand begehrt, auch bei jüngeren Männern. Sie heiratete nicht wieder. Sie riss sich zusammen, übernahm die Geschäfte und zeigte schnell, was sie als Nachfahrin und Witwe von erfolgreichen Handwerkern und Kaufleuten vom Handel verstand. Ihre Geschäfte gingen gut, schon bald vergrößerte sie ihr Anwesen durch den Kauf eines benachbarten Hauses und Grundstückes, und sie verschaffte sich in dieser Zeit, die selbständigen Frauen nicht gerade wohlgesinnt war, Respekt. Zweifellos hatte sie Personal, einen ‹Schreiber› im Kontor, fachkundige Gehilfen, aber die Chefin war und blieb sie.

Als der junge Kaufmann Georg Wilhelm Delph, Sohn eines reformierten Pfarrers in Langenschwalbach, 1748 das Heidelberger Bürgerrecht und die Aufnahme in die Krämerzunft beantragte, stand im vorzulegenden Lehrbrief, dass er seine Ausbildung bei der Heidelberger Handelsfrau Hahn absolviert hatte. Mag sein, die Wittib Hahnin hatte sich während ihrer Ehe und im ersten Jahr nach dem Tod ihres Mannes tatsächlich nicht um die Geschäfte des Handelshauses gekümmert, aber dann hatte sie schnell gelernt. Wenn sie einen Lehrbrief ausstellen durfte, war sie als Handelsfrau anerkannt.

Damit war sie keine alltägliche Erscheinung. Natürlich gab es auch andere Frauen, die eigene Geschäfte oder die ihrer verstorbenen oder auf lange Zeit verreisten Männer führten, doch das waren zumeist kleine Läden, der Krämer-, nicht der Handelszunft zugeordnet.

Eva Katharina, die Wittib Hahnin, übernahm die Leitung eines gutgehenden Handelshauses in schwierigen Zeiten. In Heidelberg lebten nun wieder etwa 7000 Menschen, auch ein paar Reiche waren darunter, die wichtigen Kunden für große Einkäufe und lukrative Luxusgüter. Doch die meisten waren fort. Das rote Schloss der kurpfälzischen Fürsten auf seinem Plateau am Hang der Hügel südöstlich der Stadt war zwar wieder halbwegs aufgebaut, auch die zerstörte Neckarbrücke, die in Gewändern aus Samt und Seide lustwandelnden Damen und Herren des Hofs mit ihren gutgefüllten Börsen waren trotzdem verschwunden. Der Schlossgarten, einst nach dem quadratischen Muster eines orientalischen Teppichs angelegt und als achtes Weltwunder gerühmter Hortus palatinus mit seiner blühenden Pracht, mit den Grotten und beheizten Bädern, den allegorischen Figuren und technischen Wasserspielereien, war nun neben gänzlich verwilderten Arealen reiner Nützlichkeit preisgegeben. Obstspaliere und profane Gemüsebeete bestimmten das Bild.

Schon einige Jahre bevor Heinrich Kaspar Hahn und Eva Katharina Gaub heirateten, hatte der Kurfürst Heidelberg verlassen und wütend gedroht, die Stadt werde zum Dorf schrumpfen und vor den Häusern bald das Gras wachsen. So schlimm war es nicht geworden, aber ohne den Hofstaat, die Beamten und Soldaten fehlte der größere Teil der gutsituierten Kundschaft der Heidelberger Geschäftsleute. Auch all die Besucher, die eine Residenz aus privaten, wirtschaftlichen oder politischen Gründen stets anzog, die überall, wohin sie reisten, viel Geld ließen, blieben seither aus.

Wieder einmal war die Religion schuld gewesen. Der Kurfürst – nun war mal wieder ein katholischer an der Reihe – bewies weitaus weniger Toleranz als seine Vorgänger. Die Heiliggeistkirche, die mit der Mauer zwischen Chor und Langhaus, sollte wieder einzig ihm und seinen Glaubensbrüdern und -schwestern gehören und fürstliche Grablege sein. Die starke protestantische Gemeinde hatte entschlossen Widerstand geleistet, und als sich noch die evangelischen Fürsten des Reichs einmischten und mit Sanktionen drohten – Kriege wurden auch in jenen Zeiten allzu leicht angezettelt –, hatte er mitsamt seinem vielköpfigen Hofstaat die Stadt im Zorn verlassen und war ins nahe Schwetzinger Schloss übergesiedelt, bis das grandiose neue in Mannheim bewohnbar war.

Die Stadt hatte sich nicht in eine grasüberwucherte Ödnis verwandelt, aber sie war doch viel schläfriger und kleinbürgerlicher geworden und der Gang der Geschäfte erheblich bescheidener. Wenn die Wittib Hahnin das große Haus halten wollte, sich und ihre Kinder ernähren und ihnen eine gute Bildung und günstige Heirat ermöglichen, musste sie lukrative, weit über die Stadt hinausreichende Geschäfte machen. Für ihre Kinder wird wenig Zeit geblieben sein, und doch – oder gerade darum – wurde sie zum praktischen Vorbild für ihre heranwachsenden Töchter.

Wir lernen am meisten und nachdrücklichsten durch Vorbilder, und so liegt hier eine Erklärung für Eva Königs (so muss sie an dieser Stelle schon genannt werden, denn nur unter diesem Ehenamen war sie Geschäftsfrau) spätere Entschlossenheit und ihre Fähigkeiten im Kampf um ihre Manufakturen in Wien. Kinder lernen von der Eltern- und Großelterngeneration, auch von Geschwistern, Freunden, von ihrer Umwelt, durch Anleitung ihrer Lehrer, aber auch durchs Zusehen und Miterleben, davon tatsächlich am meisten. Die besten Vorschriften und Befehle bleiben vergeblich, wenn ihnen widerspricht, was Kinder sehen, fühlen und beobachten.

Sie lernen, wie man sich die Nase putzt, den Löffel manierlich oder unmanierlich zum Mund führt, wie man miteinander und mit anderen spricht und sich verhält, sie lernen, wie man eine Suppe kocht oder ein Dach deckt. Zu Zeiten, als Beruf und Privatleben inhaltlich wie räumlich noch eng miteinander verknüpft waren, lernten sie so selbstverständlich wie die alltäglichen Sitten und häuslichen Tätigkeiten auch die beruflichen Fertigkeiten ihrer Familien. Die Spezies Mensch gehört zu den Nachahmern, die Vorbilder der Kindheit, das in frühen Jahren Erlebte, prägen am tiefsten. Bis Kindheit und ‹kindgerechte› Freizeit als Erfindungen späterer Zeiten die Generationen und die konkreten Erfahrungen trennten, erlebten Kinder nicht nur alle Arbeit der Erwachsenen mit, sie hatten auch teil daran. Wenn sie wie die Hahn’schen Kinder das Glück hatten, in einer begüterten Familie aufzuwachsen, nur so weit, wie es ihrer Kraft und ihrem jeweiligen Alter entsprach.

Eva, das Kind, das Mädchen, wird in der Küche und im Nähzimmer, beim Erbsenpflücken und Seifekochen vor allem die Dienstboten erlebt haben. Ebenso an den Waschtagen, zweimal im Jahr, wenn die Frauen mit den roten Händen ins Haus kamen, die Röcke hochbanden und eine ganze Woche lang Wasser vom Fluss herbeischleppten und Berge von Leibwäsche, Tisch- und Betttüchern in der dampfenden Lauge kochten, kneteten und rubbelten. Wenn die Bleichwiese hinter dem Haus von den Leintüchern ganz weiß war und der Geruch von Pottasche, Melisse und Lavendel durchs Haus zog. Die Hausfrau hatte auch jetzt auf all das ein wachsames Auge, aber mehr nicht, zuallererst war ihr Platz in ihrem Kontor und im Warenlager, sie verhandelte mit Kunden und Geschäftspartnern, sie stritt mit Konkurrenten und den Vertretern der Ämter.

Schließt man von den Zeugnissen zurück, die es von der erwachsenen Frau gibt, war das Kind Eva wach und wissbegierig. Sicher haben sie und ihre Schwester viele Arbeitsstunden ihrer Mutter, der Handelsfrau, geteilt, umso mehr und verantwortlicher, je älter sie wurden. Spätestens als Eva ein Fräulein von zehn oder zwölf Jahren war, denn in dieser Zeit hatten ihre neun und fünf Jahre älteren Brüder Johann Georg und Johann Heinrich das Haus sehr wahrscheinlich verlassen, um bei anderen Kaufleuten in die Lehre zu gehen oder das im eigenen Haus Gelernte zu vertiefen und zu erweitern, so war es Brauch. Johann David, der mittlere, besuchte in Holland die Universität. 1753, als Eva siebzehn Jahre alt wurde, war er schon Professor der Physik in Utrecht.

Bildung und die Wissenschaften hatten in dieser Familie hohen Wert. Auch für die Frauen? Als Madam König war Eva eine gebildete Frau. Woher? Durch wessen Unterstützung? Wohl machten sich einige gelehrte Köpfe Gedanken über Mädchenschulen, die mehr waren als die Kirchenschulen, in denen Jungen und auch Mädchen armer Familien das Nötigste lernten, Lesen und ein wenig Rechnen, den Katechismus natürlich und – nur die Mädchen – Nadelarbeit. Aber ‹gelehrte› Institute, wie es sie für Jungen des Adels, Großbürgertums und mit einem Stipendium auch für Söhne wenig begüterter Gelehrter und Beamter gab, lagen in weiter Zukunft. Auch eine Erziehung als Pensionistin in einem Kloster kam für ein lutherisch getauftes Mädchen nicht in Frage.

Ob Evas Brüder die Lateinschule besuchten, ist zumindest für die beiden zukünftigen Kaufmänner fraglich. Seit dem 16. Jahrhundert gab es das von Reformierten geleitete Pädagogium, eine höhere Knabenschule, die aber der Vorbereitung auf die Universität diente. Sonst waren die Bildungsinstitutionen in Heidelberg in dieser Zeit fest in den Händen der Jesuiten, und an die – wie an andere Pädagogen – hatte die Wittib Hahnin keine guten Erinnerungen. Der Orden galt als geistige Elitetruppe der Katholiken, seine Heidelberger Vertreter machten dem wenig Ehre. Die Universität erlebte in diesen Jahrzehnten ihren zahlenmäßigen wie inhaltlichen Tiefstand. Vor Jahren war auch die Bildung von Hieronymus David Gaub, Evas Onkel und Bruder ihrer Mutter, den Heidelberger Jesuiten anvertraut worden, bis sein Vater die Gefahr spürte, der Sohn werde unter dem missionarischen Eifer seiner Lehrer die eigene Religion verleugnen und konvertieren. So einfach war es eben doch nicht mit der Freiheit der Religionen. In der Schule des strengen Pietisten August Hermann Francke im fernen Halle, der nächsten Station auf Hieronymus’ Bildungsweg, war er vor ‹papistischen› Einflüssen sicher, doch der Pädagoge fand in ihm nur mangelnde geistige Fähigkeiten – höchstens geeignet für den Kaufmannsstand, erklärte er, nicht für die Wissenschaften – und schickte ihn zurück in die Pfalz. Erst bei einem Onkel in Amsterdam, einem renommierten Arzt, fand er Förderung und Anerkennung. Er studierte im nur wenige Meilen von der Hafenstadt entfernten Leiden bei dem berühmten Arzt und Botaniker Hermann Boerhaave, was gewiss nicht billig war, vertiefte seine Studien ein Jahr lang in Paris und promovierte, zurück in Leiden, zwanzigjährig über ‹die festen Teile des menschlichen Körpers›.

Inzwischen war er selbst als Arzt und Wissenschaftler eine Koryphäe, Autor weitverbreiteter Lehrbücher und Nachfolger auf Boerhaaves Lehrstuhl. Eine besondere Ehre, Ausländer waren auf niederländischen Lehrstühlen nicht vorgesehen. Dass sich eine seiner späteren, vielbeachteten Abhandlungen mit dem Thema Heimweh befasste, lässt nach den langen Kinder- und Jugendjahren in der Fremde nicht wundern.

Dieses Stück Familiengeschichte der Gaubs zeigt eine Weitläufigkeit, die bei Handelsleuten nicht außergewöhnlich, aber auch nicht an der Tagesordnung war. Sie zeigt den Stellenwert, den Bildung und Wissenschaft in dieser Familie hatten. Für eine Frau war ein solcher Lebensweg, eine solche Karriere natürlich undenkbar. Auch jetzt noch diskutierten selbst ein paar gelehrte Köpfe, männliche Köpfe, ob Frauen überhaupt eine Seele hätten. Bildung, Übung im Denken (was nicht dasselbe ist) erfuhr Eva trotzdem. Das zeigen ihre spätere Tätigkeit als Kauffrau und der Freundeskreis, der sich an ihrer Tafel versammelte. Das zeigen die Briefe, die sie später als Eva König an ihren fernen liebsten Freund schrieb.

Sie konnte nicht nur denken, sie konnte ihren Gedanken und Überlegungen, ihren Ängsten, Hoffnungen und Freuden auch Ausdruck geben. ‹Eine fertige Briefschreiberin› nannte Lessing, dem Schmeicheln fremd war, sie später. Sie verstand mit Worten umzugehen, nicht auf diese gedrechselte Weise, wie es der Mode ihrer Zeit entsprochen hätte, sondern klar und klug, stets mit Gefühl und meistens mit Humor. Und eben immer auch mit Verstand.

Wie andere Mädchen ihrer Gesellschaftsschicht werden sie und ihre Schwester den ersten Unterricht von ihrer Mutter – vielleicht am großen Tisch im Kontor – oder einer anderen im Haus lebenden Frau bekommen haben, bevor ein Privatlehrer ihr Wissen vertiefte. Über das Lesen, Schreiben und das Rechnen hinaus auch in Französisch, das gewiss, wohl auch in Englisch und Italienisch, Sprachen, die im Handel wichtig waren. In dieser Zeit schon wichtiger als das Latein der Gelehrten. Auch Erdkunde und ein wenig erbauliche Literatur. Für die religiösen Unterweisungen war der Pfarrer oder sein Hilfsprediger zuständig, wenn er zu den Mutigen gehörte, vielleicht auch für ein paar Lektionen in Philosophie und Geschichte. Einen großen Haushalt zu führen lernte sie in alltäglichen Tochterpflichten, den Umgang mit der Näh- und der Sticknadel nach getaner Arbeit bei Kerzenschein. Das Sticken, die zierliche Kunst mit bunten Seidenfäden, blieb ihr immer ein Vergnügen, mit dem sie ungeduldige Stunden des Wartens kurz werden ließ. Nur eine ‹geschickte Köchin› wurde sie nicht.

Womöglich durften die Mädchen beim Unterricht der drei älteren Brüder dabei sein, zumindest still zuhören. Sogar für Lateinschüler gehörte zusätzlicher Privatunterricht zum Bildungsprogramm, auch in an den Schulen nicht gelehrten Fächern. Zumindest für Johann David, den mittleren der Brüder. Er würde wie sein Onkel Hieronymus David Gaub, nach dem er seinen zweiten Vornamen trug, in Leiden (und in Utrecht) studieren. Ihn wird sie von ihren Brüdern am meisten lieben. Sie war stolz auf diesen gelehrten Bruder; wenn sie später in ihren Briefen von ihm berichtete, nannte sie ihn stets mit liebevollem, niemals spöttischem Unterton den ‹Professor›.

Womöglich war der jesuitische Astronom und Professor der Mathematik in Heidelberg, Christian Mayer, einer von Davids Lehrern, die ins Haus der Hahns kamen, vielleicht war er einer der Schüler von Evas Onkel in Leiden gewesen. Viele Jahre später schrieb Lessing aus Wolfenbüttel an Eva nach Wien, Professor Mayer habe ihn auf der Durchreise von St. Petersburg besucht und sehr bedauert, Madame König in Hamburg nicht angetroffen zu haben. Der Heidelberger Jesuit war ein Verehrer Lessings und den Hahns und Eva schon lange freundschaftlich verbunden.

 

Etliche Tagesreisen von Heidelberg entfernt im sächsischen Kamenz in der Niederlausitz ging ein Kind ganz anderer Herkunft einen ganz anderen Bildungsweg. Gotthold Ephraim Lessing war 1729 als Sohn des lutherischen Predigers und Archidiakons an der Marienkirche, Johann Gottfried Lessing, und dessen Frau Justina Salome, geb. Feller, geboren worden. Einige seiner Vorfahren, die des Vaters, waren ursprünglich aus Böhmen eingewandert, waren Handwerker, die meisten Pastoren, Stadtrichter, Ratsherren oder Bürgermeister und hatten in Leipzig, Halle oder Wittenberg studiert. Das Städtchen Kamenz hatte nur etwa 2000 Einwohner, es lag an der wichtigen Hohen Straße, die von Krakau über Breslau nach Leipzig und Erfurt führte. Die Gassen waren eng, doch die beiden Kirchen und das Rathaus stattlich. Wie Heidelberg hatte Kamenz einen großen Stadtbrand überlebt und sich nur mit Mühe erholt. Es war eine Handwerkerstadt, Leineweber, Tuchmacher und Bierbrauer waren am bedeutendsten.

Gottholds Vater wartete fünfzehn kärgliche Jahre, bis er als Nachfolger seines Schwiegervaters Gottfried Feller vom Prediger zum Pastor Primarius, zum Hauptpastor, aufstieg. Da hatte ihm seine Frau, sie galt als besonders gottesfürchtig und ergeben in ihr Schicksal, schon zwölf Kinder geboren. Mag sein, dass es das Leben war, das ihn streng und – ziemlich oft – missmutig und ‹hitzig› gemacht hatte. Er besaß eine große, später von seinem ältesten Sohn bewunderte Bibliothek, war ein fleißiger theologischer Publizist und übersetzte auch aus dem Lateinischen, Griechischen, Hebräischen und eigene Texte ins Französische und Englische, er dichtete Kirchenlieder, manche allerdings in recht wunderlichen Bildern. Bei alledem war er ein ziemlich konservativer Mann, ganz anders als sein Vater, Gotthold Ephraims Großvater, der ein vergnügter Mensch, der reinste Freigeist und ein entschiedener Vertreter der Toleranz (auch der religiösen) war. Theophilus Lessing hatte an der Philosophischen Fakultät in Leipzig studiert, zur gleichen Zeit wie ein anderer, noch entschiedenerer Freigeist, der Mathematiker und Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, und blieb 24 Jahre Bürgermeister der Stadt.

Gotthold war das dritte Kind des Archidiakons Lessing, das zweite von sieben, die ihre ersten Jahre überlebten, der älteste Sohn. Das Leben im Pfarrhaus war – sagen wir: nicht einfach für diesen Jungen mit dem überwachen Geist und der Neigung zum Widerspruch. Er hatte früh seinen eigenen Kopf, seine speziellen Vorlieben. So weigerte er sich als Fünfjähriger entschieden, sich als verspieltes Kind ‹mit einem Bauer, in welchem ein Vogel saß›, malen zu lassen. Er wollte mit einem großen Haufen Bücher gemalt sein oder gar nicht, erinnerte sich sein Bruder Karl Gotthelf später. Er war überzeugend: Sein Bild wurde ohne Bauer, mit vielen Büchern gemalt.

Zunächst hatten ihn, wie es üblich war, sein Vater und Verwandte unterrichtet. Mit acht Jahren wurde er Schüler der protestantischen Kamenzer Lateinschule. Die hatte einen aufgeschlossenen, noch nicht einmal dreißig Jahre alten Rektor, der versuchte, das starre System blinder Paukerei und der Konzentration auf die alten, die gelehrten Sprachen und die Religion zu durchbrechen. Er gab der deutschen Sprache breiten Raum im Lehrplan und richtete mit Unterstützung des Bürgermeisters, Gotthold Ephraims Großvater, ein Schultheater ein. Nicht nur irgendein Podest für rhetorische Übungen und Deklamationen klassischer lateinischer und griechischer Texte, sondern ein richtiges, mit gemalten und beweglichen Kulissen, und dass er auch zeitgenössische deutsche Stücke aufführen ließ, muss Furore gemacht haben. Es war das erste Theater, das der zukünftige Dramatiker und Theaterkritiker erlebte.

Schon nach wenigen Jahren erkannte Vater Lessing, der ja selbst ein gelehrter Mann war, dass Gotthold Ephraim in Kamenz nicht genug lernen konnte. Es mag auch sein, dass er beschloss, dieser unruhige Sohn brauche erheblich strengere Zucht, auf alle Fälle eine Bildung, die ihm die Eignung für ein bedeutendes Amt gab. Das kleine Gehalt eines Pfarrers reichte kaum zum Leben der vielköpfigen Familie, Geldnot begleitete sie ständig. So erbat er vom sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. für seinen ältesten Sohn eine Koststelle, eine Art Stipendium an der traditionsreichen Fürstenschule St. Afra in Meißen. Die Bitte wurde gewährt – und für Gotthold Ephraim öffnete sich die Welt. Die Welt der Bücher, des Wissens, des Denkens. Das war der erste Schritt.