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In ihrem großen Hamburg-Roman erzählt Petra Oelker vom Schicksal einer hanseatischen Kaufmannsfamilie während der Franzosenzeit. Hamburg, 1812. Während ihre Eltern Amerika bereisen, lebt Sophia Benedikt bei ihrem Onkel, dem Kaufmann Arnold Brestetten, und seiner Familie. Das Leben im großen Haus am Gänsemarkt ist komfortabel, doch die Zeiten sind schwierig. Kaiser Napoleon überrollt mit seinen Armeen Europa. Als wichtigste Stadt der nun französischen Norddepartements ist Hamburg ebenso Ort rauschender Feste wie großen Elends. Arnold Brestetten glaubt anfangs noch, sich mit den neuen Gegebenheiten arrangieren zu können. Bis ein französischer Offizier mit seiner Entourage in seinem Haus einquartiert wird und die Geschäfte durch die Kontinentalsperre niedergehen. Als sich in Hamburg Widerstand gegen die Besatzer regt, müssen die Bewohner im Haus am Gänsemarkt sich entscheiden, wo ihre Loyalitäten liegen. Mit weitreichenden Folgen auch für Sophia ... Ein bewegender, farbenprächtiger und detailliert recherchierter Roman von der Autorin historischer Hamburg-Romane.
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Seitenzahl: 577
Petra Oelker
Historischer Roman
Als Hamburg französisch war.
Hamburg, 1812. Während ihre Eltern Amerika bereisen, lebt Sophia Benedikt bei ihrem Onkel, dem Kaufmann Arnold Brestetten, und seiner Familie. Das Leben im großen Haus am Gänsemarkt ist komfortabel, doch Sophia vermisst ihren Bruder Christopher, einen Botaniker, der in China verschollen ist. Die Zeiten sind schwierig, Kaiser Napoleon überrollt mit seinen Armeen Europa. Als wichtigste Stadt der nun französischen Norddepartements ist Hamburg ebenso Ort rauschender Feste wie großen Elends. Arnold Brestetten glaubt anfangs noch, sich mit den neuen Gegebenheiten arrangieren zu können. Bis ein französischer Offizier mit seiner Entourage in seinem Haus einquartiert wird und die Geschäfte durch die Kontinentalsperre niedergehen. Als sich in Hamburg Widerstand gegen die Besatzer regt, müssen die Bewohner im Haus am Gänsemarkt sich entscheiden, wo ihre Loyalitäten liegen. Mit weitreichenden Folgen auch für Sophia …
Petra Oelker arbeitete als Journalistin und Autorin von Sachbüchern und Biografien. Mit «Tod am Zollhaus» schrieb sie den ersten ihrer erfolgreichen historischen Kriminalromane um die Komödiantin Rosina, zehn weitere folgten. Zu ihren in der Gegenwart angesiedelten Romanen gehören «Der Klosterwald», «Die kleine Madonna» und «Tod auf dem Jakobsweg». Zuletzt begeisterte sie mit «Das klare Sommerlicht des Nordens», «Emmas Reise» sowie dem in Konstantinopel angesiedelten Roman «Die Brücke zwischen den Welten».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Karte auf S. 6–7 © Peter Palm, Berlin
Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg
Coverabbildung «Sonnenschein. Stäubchen tanzen in den Sonnenstrahlen» (Ausschnitt). Gemälde von Vilhelm Hammershøi, 1900. Charlottenlund, Ordrupgaard-Museum (fine art images/INTERFOTO)
ISBN 978-3-644-01248-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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… nun muss sich alles, alles wenden.
Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch kommen mag,
das Blühen will nicht enden.
Aus Frühlingsglaube (1812) von Ludwig Uhland,
Dichter, Wissenschaftler und Politiker
Harvestehude am 14. Juli 1790
Der Schuss donnerte über die Alsterwiesen und ließ die Schafe des Klostermüllers erschreckt flüchten. Bei den uralten Eichen der Krugkoppel verschwanden sie zusammengedrängt wie ein einziges großes Knäuel mit empörtem Blöken durchs Unterholz. Die kleine Herde war galoppierende Reiter gewöhnt, auch geifernde fremde Hunde oder Steine werfende Kinder, Kanonendonner kannten sie auf ihren Wiesen nicht. Im friedlichen Harvestehude, eine Stunde nördlich der großen lärmenden Stadt, war das in diesen Jahren noch ungewöhnlich.
Die Männer an der Kanone lachten, schlugen einander triumphierend auf die Schultern, einer streichelte das kurze Rohr und schnupperte den Schwefelgeruch des Schwarzpulvers. Der Rauch war an diesem sonnigen Sommervormittag ein weißes Wölkchen und verzog sich schnell. Die Kanone hatte geraume Zeit nicht mehr «gearbeitet», so nannten es die Freiheitskanoniere, doch nun war bewiesen, wie fabelhaft sie Salut zu schießen verstand, heute zur Feier des ersten Jahrestags des Sturms auf die Bastille, dieses Fanals zum Auftakt der großen französischen Revolution. Liberté. Egalité. Fraternité.
In Paris fanden sich zur selben Zeit einige hunderttausend aus der Stadt und ganz Frankreich Angereiste auf dem Champ de Mars weit vor den Toren der Stadt ein. Sogar eine Gruppe Abgesandter der jungen Vereinigten Staaten von Amerika war mit dem Sternenbanner eingetroffen. Nach den Wirren, den Triumphen und Schrecken des vorangegangenen Jahres wurde ein mächtiges Föderationsfest zelebriert, um alle Stände für die gute Zukunft zu vereinen, in Freiheit, in Gleichheit und Brüderlichkeit. Die große Revolution hatte weit über Frankreich hinaus in ganz Europa und bis nach Übersee für Rebellion und Hoffnung gesorgt. Eine so bedeutungsvolle Versöhnung brauchte auch einen außerordentlichen Rahmen, der die Größe und die Stärke dieser neuen Zeit symbolisierte. Und die Bedeutung der neuen mächtigen Männer.
An diesem 14. Juli 1790, so hörte man später, habe es in Paris vom Morgengrauen bis in den Abend in Strömen geregnet. Manche hielten das für ein gutes Omen, vielleicht weil unbedingt eines gebraucht wurde. Die noch unbefestigten Straßen hinaus nach dem Marsfeld waren schon am frühen Morgen nichts als Schlamm gewesen, dennoch waren alle gekommen, die Hunderttausende. Sie hatten beim Tedeum Gott gelobt, die Messe zelebrierte der Bischof von Autun in der Bourgogne, in Paris war er schon als einflussreicher revolutionärer Bürger Talleyrand bekannt. Nach dem Schwur des Königs auf die brüderliche Nation und die neuen Gesetze sprach die Menge die Worte nach, mit Hunderttausenden Kehlen, sie hatten den vom Trommelschlag begleiteten Militärparaden ebenso zugejubelt wie den einige zehntausend zählenden Abgesandten aus allen Departements mit ihren Bannern, sie hatten die Nation und sehr viele auch ihren König hochleben lassen.
Liberté! Egalité! Fraternité! Nicht zu vergessen die größte Hoffnung: ein Ende des Hungers. Niemand, der dabei war, vergaß diese Schauer zukunftstrunkener Erregung, die triumphale Freude. Auch später nicht, als die Revolution zum Terror wurde und die Zweifel an der Fähigkeit der Menschen, in gerechter Brüderlichkeit zu leben, wuchsen.
Schon Monate später würden viele, sehr viele, die sich auf diesem Fest der Versöhnung umarmt hatten, nicht mehr da sein, waren tot oder in der Fremde. Andere schwankten zwischen den wechselnden Parteien. Der Weg von der Seite der jeweiligen Anführer zum Schafott oder später zur Guillotine konnte sehr kurz sein.
Die Festgesellschaft im Klostergasthaus des Dorfes Harvestehude im Norden Hamburgs an der Alster konnte sich anders als die Menschen in der französischen Hauptstadt eines lieblichen Sommertages erfreuen. Sie bot einen hübschen bürgerlichen Anblick. Die Herren honorig gekleidet, sonntäglich, obwohl es ein Mittwoch war, doch ohne Prunk. Ebenso die Damen, deren Hüte und Hauben allerdings ein wenig kecker saßen als gewöhnlich, das hatten sie einander mit Amüsement versichert, und die Kleider aus Kattun, Musselin und Seide schienen besonders gebauscht. Zufällige Passanten mochten das kaum bemerken, denn es waren die Mädchen und die jungen Frauen, die die Blicke auf sich zogen. Sie alle trugen leuchtend weiße Kleider, an ihren Hüten wippten Schleifen oder Kokarden aus blau, weiß und rot gestreiften Bändern, ebensolche Gürtel oder Schärpen schmückten Schultern und Taillen. Gleich einem Schwarm in Weiß erinnerten sie an die Schwäne auf der Alster, die eine oder andere junge Dame womöglich eher an die schnatternden rundlichen Gänse. Doch es war kein Tag für Spitzfindigkeiten, es war ein Tag für die Feier der Revolution, der ersten Schritte in die gerechtere Welt, und die sollte für alle gelten, ob Mensch oder Schwan, Gans, Floh oder Adler.
Es war viel gelacht und geplaudert geworden. Nun lag Erwartung in der Luft, Taschenuhren wurden hervorgezogen und stirnrunzelnd die Zeit geprüft. Die große Gesellschaft hatte gemeinsam gefrühstückt, heute ohne diese für die Hamburger Schmausereien berüchtigte Üppigkeit, nur mit Brot und Butter, Käse, auch Hühnchen und holsteinischer Schinken, zum Dessert Konfitüre, Kirschen und Himbeeren. Zwischen Sträußen von Kornblumen, Margeriten und Mohnblüten war alles zugleich auf die Tische gebracht worden, ganz schlicht, wie bei den Ausflügen ins Grüne, die in Mode kamen und äußerst beliebt waren.
Etwa achtzig Männer und Frauen, auch einige Kinder, hatten sich an diesem Julitag zu einem Freiheitsfest zusammengefunden. Man kannte einander, viele mindestens in der zweiten Generation. Im Zentrum standen der gelehrte Dr. Albert Reimarus und der wohlhabende Kaufmann Georg Heinrich Sieveking mit ihren Familien, einige ihrer Gäste kamen von weit her. Natürlich gab es auch in diesem Kreis den inneren und den äußeren, dazu diverse kleinere Kreise quer durch die verzweigten Familien und Freundschaften. In grundlegenden Fragen der Lebensweise und Moral, besonders der Förderung des Wohls der Stadt und ihrer Menschen, war man einander jedoch einig und durch all diese Kreise seit Langem verbunden und gemeinschaftlich tätig.
Darum ging es auch an diesem Tag, um die Verbundenheit, an dem ersten Jahrestag des Beginns der Revolution zu Paris und in ganz Frankreich. Es ging um die Zuversicht, um nichts weniger als die Aussicht auf eine gerechtere Welt.
Wer wie die zu diesem Fest versammelten Bürgerinnen und Bürger schon seit Jahrhunderten in einer von Fürstenherrschaft nahezu freien hanseatischen Stadt lebte, feierte im Selbstbewusstsein, diese Werte seien in ihrer Stadt und den übrigen freien Reichsstädten längst verwirklicht. Gleichwohl gab noch viel zu tun. So sah man sich hier dem revolutionären Geschehen im fernen Paris auf eigene Art nahe, dem Aufstand gegen die Willkür und Macht der Adelsgesellschaft und ihrer Beamten, gegen den Hunger und das unchristliche Elend, in dem der größere Teil der Bevölkerung dort lebte, auf dem Land wie in den Städten.
Freiheit, Brüderlichkeit – die Sache mit der Gleichheit war nicht ganz so einfach, auch nicht an Alster und Elbe, alles musste gut bedacht werden.
So oder so, die Sonne schien, sanfter Wind schob luftige Wolken über das Azur des Himmels, es duftete nach frisch geröstetem Kaffee und Sommergarten, die Stimmung war ausgezeichnet, hier und da sogar übermütig. Später durfte getanzt werden, gesungen sowieso. Insbesondere das extra für diesen Tag von Georg Sieveking geschaffene vielstrophige Revolutionslied. Das Pianoforte im Gartensaal war zum allgemeinen Bedauern nicht nur wie gewöhnlich von der feuchten Gartenluft verstimmt, es fehlten ihm auch mindestens ein halbes Dutzend Tasten, übrigens vornehmlich weiße, die kürzlich dem Anfall brachialer Musikleidenschaft eines weinseligen Gastes zum Opfer gefallen waren.
Carl Brestetten, Kaufmann mit englischen Stoffen und im enorm aufblühenden Handel mit Kolonialwaren und – von jeher – auch Anteilseigner an vier der profitabelsten Handelsschiffe auf den Routen nach den Amerikas, fand die Sache mit der Revolution unbedingt bedenkenswert und das Abhandenkommen der Tasten bedauerlich. Er tanzte immer noch gern, was ohne Musik nun mal kein Spaß war. Andererseits fehlte auch seine liebste Tanzpartnerin, sie gehörte nicht zu diesem Kreis, nicht einmal zum alleräußersten. Noch nicht, dachte er, irgendwann sollte es mit den Heimlichkeiten vorbei sein.
Er lächelte in seinen Wein, ein übrigens ausgezeichneter Rotspon, und nickte dabei höflich zustimmend, als sei er Madame Wörsingers Erörterung über die kulinarischen Vorzüge des Flussbarsches gegenüber dem gemeinen Hering mit größtem Interesse gefolgt. Er galt als stets aufmerksamer Gesprächspartner, was für die Erfolge eines Kaufmanns so unentbehrlich war wie für einen Diplomaten, und verstand es, dabei diskret den eigenen Gedanken oder anregenderem Geschehen zu folgen.
Jetzt wanderten seine Gedanken zu einer jungen Dame, fast ein Mädchen noch, die inmitten anderer, zumeist älterer Damen saß und dabei sehr allein schien. Er hatte einen Blick für diese Art Alleinsein in einer fröhlichen Menge von fremden Menschen, die einander alle lange kannten.
Johanna Meyer zu Lunde, so hieß das Mädchen, kannte hier niemand außer den Brestettens. Johanna Regine Aurelia, so stand ihr Name in dem Vertrag, der morgen unterzeichnet werden sollte. Welcher Patin oder Ahnin mochte sie ihren poetischen dritten Namen verdanken? Er kannte die Meyer zu Lundes lange und gut genug, um diese Wahl erstaunlich zu finden. Auch bremische Kaufleute neigten nicht dazu, ihre Töchter mit romantischen Namen zu schmücken, sei es nur an dritter Stelle.
Aurelia, dachte er, und: Wenn man genau hinsieht, passt es. Die helle Haut, die Augen dunkel wie ihr Haar, der sanfte Schwung ihrer eigentlich recht schmalen Lippen, zwei Löckchen waren ihrer strengen Frisur entkommen, was die Akkuratesse ihrer Erscheinung angenehm unterbrach. Sie saß sehr gerade, die Hände im Schoß weniger gefaltet als ineinandergeschlungen, und lächelte dieses eingefrorene Lächeln ohne ein Gegenüber, weil eine wohlerzogene junge Dame in Gesellschaft stets zu lächeln hatte. Plötzlich sah sie auf, ihre Blicke kreuzten sich, und Röte zog über ihre Wangen. Als er ihr zunickte, verlor ihr Lächeln das Maskenhafte und wurde zur Antwort.
Sie ist besonders, dachte er, und auf ihre ganz eigene Art schön.
Er hätte sich gerne zu ihr gesetzt, um ihr diese Scheu zu nehmen, dann vielleicht den Arm geboten und sie in den Garten hinausgeführt, wo die Julirosen blühten. Ihre Verlorenheit berührte ihn, obwohl er in dem beinahe halben Jahrhundert seines Lebens zu viel erlebt und gesehen hatte, um sich leicht berühren zu lassen.
Anders als die übrigen Mädchen und jungen Damen in ihren weißen Gewändern trug sie ein blassgrünes Kleid mit dunkelblauen Paspeln, anstelle eines dieser Hütchen, wie sie in Hamburg, London und Paris nun modern waren, eine Haube mit winzigen weißen Seidenblüten um den Rand. Als sie vor einigen Tagen mit ihrem Vater in die Kutsche nach Hamburg gestiegen war, hatte sie von der Verabredung weißer Garderobe für die jungen Frauen nichts gewusst. So unterschied sie sich schon auf den ersten Blick von dem luftigen Schwarm der Schwäne und Gänse.
«Wenn Sie glauben, mein lieber Brestetten, ich fieleauf Ihre Finte mit dem vermeintlichen Zuhören noch rein, halten Sie mich für dusseliger, als ich bin.» Madame Wörsingers Stimme nah an seinem Ohr holte ihn an ihre Seite zurück. Die tiefer werdenden Grübchen in den von der Wärme des Tages und vielleicht ein wenig vom Wein geröteten Pausbacken widersprachen ihrem strengen Ton, die Sache mit den Fischen war ihr längst selbst langweilig. «Charmant, die kleine Meyer», fuhr sie heiter und nicht ganz ehrlich fort. «Wirklich charmant. Ein bisschen dünn, würde ich sagen.» Sie verschränkte mit einem glucksenden Lachen die üppig beringten Hände über ihrem Bauch, den auch Biesen und Falten burgunderfarbenen Seidentaftes nicht kaschierten. «Macht nichts, in ihren Jahren war ich auch eine zarte Elfe.» Sie berührte mit anerkennender Geste seinen Arm. «Mancher wird den lieben Arnold schon jetzt beneiden, und ich denke dabei ausnahmsweise nicht an die Mitgift. Hoffentlich weiß er das auch selbst?»
Carl Brestetten lächelte. «Das weiß Arnold», sagte er dann, «ich bin sicher.» Er zögerte einen kaum merklichen Augenblick. «Mein kluger Sohn mag Johanna außerordentlich. Er ist entzückt und weiß die Qualitäten des Mädchens zu schätzen. Es ist ja kein Geheimnis mehr, diesmal ist Meyer zu Lunde mit seiner Tochter zu Besuch, damit die beiden unserer Entscheidung zustimmen. Natürlich können sie ablehnen, wir sind keine Tyrannen alten Schlages, aber eine bessere Verbindung ist kaum denkbar.»
Madame Wörsinger dachte an ihre drei Töchter, die leider noch zu jung für den einzigen Sohn der Brestettens vom Holländischen Brook waren, und schob abschätzend, vielleicht auch zweifelnd die Unterlippe vor. «Hoffen wir es für das liebe Kind. Sie sieht trotz einer gewissen Blässe aus, also könnte eine manierliche Ehefrau aus ihr werden.» Mit spitzen Fingern nahm sie eine der letzten Himbeeren aus der Schale und schob sie in den Mund. «Junge Männer», fuhr sie in sachlichem Ton fort, «sind oft zu unverständig. Sprechen drei Sprachen, kennen die Börse und die Welt, aber nicht die Frauen. Wirklich erstaunlich. Dabei geben wir uns mit unseren Söhnen so viel Mühe. Man sagt neuerdings», ihre Stimme bekam eine schnippische Färbung, «weniger die Bücher, Predigten und Strafen erziehen junge Menschen, sondern die Vorbilder, mit denen sie erwachsen werden. Tja, die Väter. Dagegen nützen die Mühen der Mütter wenig.»
Bevor Carl Brestetten eine darauf halbwegs passende Bemerkung einfiel, fragte sie: «Wo steckt nur der liebe Arnold? Sollte er nicht an der Seite seiner zukünftigen Braut sein? Oder gilt das in diesen revolutionären Zeiten als unschicklich, bevor es offiziell ist?»
Madame Wörsinger sah sich suchend um. Auch an ihrer Brust steckte eine Kokarde mit den Farben der neuen französischen Ideale, was sie hübsch, aber nicht ganz so bedeutend fand wie die meisten in dieser Gesellschaft. Aus Erfahrung und reiner Vernunft hatte sie es sich zum Prinzip gemacht, bei rapiden Neuerungen, ob in der Mode, im Handel, in der Politik oder im Privaten, erst einmal abzuwarten. Viele verliefen einfach im Sande. Oder im Schlick, im alles erwürgenden Schlick.
Endlich erschien Arnold Brestetten in der weit zum Garten geöffneten Flügeltür, im maronenfarbenen Rock wie stets elegant, die nach letzter Mode kurze Weste blau-weiß-rot gestreift. Sein ungepudertes Haar fiel schon vom Wind zerzaust über den Kragen, was ihm trotz seiner ebenmäßigen Gesichtszüge etwas höchst Unternehmungslustiges gab. Mit ihm wehte ein Hauch von Schwarzpulvergeruch herein, er hielt seine Taschenuhr hoch über den Kopf und rief, es sei höchste Zeit. «Allez, mes amis!»
Schlagartig kam Bewegung in die Gesellschaft. Gläser und Tassen klirrten, Stühle und Sessel wurden gerückt, die Stimmen in fröhlicher Aufregung lauter und eiliger. Die Schwäne und die Gänschen flatterten zwischen ihren Familien auf, folgten Arnold zu seinem Zeichen als Erste in den Garten, umwuselt von den Kindern, gefolgt vom Rest der Gesellschaft, niemand wollte den richtigen Moment verpassen.
Carl Brestetten sah zufrieden und ein wenig melancholisch, wie sein Sohn Johanna in den Garten führte, die schmalen jungen Köper schon vertraut ganz nah beieinander.
Er bot Madame Wörsinger seinen Arm, sie traten als Letzte in den Garten, gerade als die Kanone einen Böller schoss, unter vielstimmigem Vivat-Rufen einen zweiten und einen dritten.
Dreimal Salut auf der Harvestehuder Alsterwiese zur Feier der großen Revolution um Punkt zwölf Uhr dreißig – akkurat zu der Minute, wenn die Zeiger im fernen Paris auf 12 Uhr zeigten und die Salutschüsse über das Champ de Mars hallten. Später hieß es, sie seien noch in Versailles zu hören gewesen, wo der König schon nicht mehr residieren durfte.
Auf den Alsterwiesen sang der Chor der weißen jungen Damen das Lied, das der Kaufmann Georg Heinrich Sieveking als glühender Anhänger der in Frankreich erkämpften Werte gedichtet hatte. Es waren zahlreiche Strophen, schnell fielen die anderen Gäste beim Refrain mit ein, ganz nach Temperament freudig, begeistert oder ergriffen. An diesem Nachmittag wurde noch viel gesungen und gejubelt, auch angestoßen auf das Ende der Despotie in Frankreich und bald im übrigen Europa. Es wurde auch getanzt, Violine und Flöte ersetzten das marode Pianoforte aufs Beste, und der verehrte alte Dichterfürst Friedrich Gottlieb Klopstock las im Eichenhain bei der Krugkoppel zwei für dieses Fest gedichtete Oden an die Freiheit aller Menschen.
Ja, es war ein großes Fest. Schon bald wurde viel davon gesprochen, auch Zeitungen berichteten, sogar in Paris. Dabei war hier und da auch zu lesen, die Senatoren und die Syndici, überhaupt die Vertreter der städtischen Obrigkeit, seien wie die in der Stadt lebenden Adeligen und Diplomaten auf diesem Fest nicht gesehen worden, obwohl man miteinander bekannt, befreundet oder sogar verwandt sei und sich keinesfalls zukünftig aus dem Weg gehen wolle.
Auch am äußeren Rand des Festes wurde die Abwesenheit der Obrigkeit bemerkt. Hinter den Hecken um den Gasthausgarten hockten Zaungäste im Gras oder in den Baumkronen. Kinder und alte Frauen zumeist, für die dieses Spektakel das größte Ereignis ihres Sommers war. Allerdings waren sie von der ungewöhnlich kargen Bewirtung der Herrschaften enttäuscht. Wenn die Revolution die Reichen so sparsam und bescheiden machte, dass für die hungrigen Zaungäste nichts blieb, konnte der ganze französische Aufruhr nur unchristlicher Betrug sein. Immerhin besann sich die Köchin und verteilte an die Kinder und die Alten, die lange genug ausgeharrt hatten, bei der Hintertür dunkles Brot mit gesalzenem Schmalz.
Einer unter den Zuschauern dachte ähnlich wie die Enttäuschten, obwohl er sich nicht wegen übrig gebliebener fetter Krümel hinter einer Hecke barg. Er war ein hagerer Mann mit kantigem Gesicht, er trug als Einziger Schuhe, sein Hemd war sauber und ohne Flicken. Er beobachtete das Treiben in dem Gasthaus und im Garten, sah die Kleider, das feine Geschirr und die Gläser, auch den Schmuck der Frauen, die gepflegten Pferde und Wagen im Hof, die Kutscher und Diener, die auf ihre Herrschaften warteten. Und er hörte auf die Gespräche, die Lieder, die Oden. Er erkannte viele der Gäste, von denen jedoch kaum einer ihn kennen würde, träte er aus dem Schatten der Hecken in den lichten Garten.
Schließlich hatte er genug gesehen und gehört, von den Menschen auf beiden Seiten der Hecke, und traf kühlen Herzens eine Entscheidung, während er den Weg zurück zur Stadt einschlug. Er hatte vor langer Zeit gelernt, sich unsichtbar zu machen, so beachtete ihn auch hier niemand. Nur die drei Alten, denen er im Vorbeigehen eine Münze zugesteckt hatte, erinnerten sich, dass er ein Bein nachzog, nicht sehr und ob das rechte oder das linke?
Als er am Ende des Eichenhains den Fahrweg zur Stadt erreichte, hallte noch einmal ein Kanonendonner durch den beginnenden Abend. Das letzte Schwarzpulver sollte nicht unverbraucht bleiben.
Ein großer Schwarm Rabenkrähen flog mit wütendem Gekrächz aus den Eichen auf. Er blieb stehen und sah ihnen nach, diesem Schwarm schwarzer Silhouetten gegen den sich rötenden Abendhimmel. Plötzlich fröstelte ihn, und er beeilte sich, die Stadt hinter den sicheren Wällen und Toren zu erreichen.
Oktober 1812
Der Passagier lehnte in sicherer Entfernung von der Reling am Kajütdach der Anna, einer Einmast-Galiot, und fühlte sich unbehaglich. Er dachte flüchtig, dabei durchaus liebevoll an seine Familie, die ihn in einer ganz anderen Weltgegend oder an Bord eines ganz anderen Schiffes wähnte, und blickte wieder zum Himmel hinauf. Auch in tiefster Nacht wurde es auf dem glänzenden Meer nie so dunkel, so rabenschwarz wie an Land. Jetzt zogen schlierige Wolken von Westen heran und verbargen die Mondsichel und die Myriaden von Sternen, die in klaren Nächten das Firmament so überwältigend erscheinen ließen.
Er war nicht sicher, ob er diese unendliche, glitzernde Schwärze mit dem geheimnisvollen Feld der Milchstraße wunderbar oder beängstigend fand. In Nächten wie dieser tendierte er zu beängstigend, was er nie jemandem anvertrauen würde, nicht einmal seiner Familie. Er war ein findiger, aber kein über die Maßen phantasievoller Mensch. Die Findigkeit entsprang der Vernunft und half bei Alltäglichem wie auch in jeglicher Notlage, in diesen Jahren brauchte er das mehr denn je zuvor. Eine rege Phantasie hingegen, die selbst in Natürlichem wie dem Nachthimmel Apokalyptisches fürchtete, zählte er zu den weiblichen Schwächen. Sie verleitete zu falschen Entscheidungen, seien sie leichtsinnig oder hasenherzig. Da er das aus der Vergangenheit sehr wohl wusste, verbot er sich, seine Gedanken ins Ungewisse oder gar Unheimliche driften zu lassen, von Gefühlen gar nicht erst zu reden. Meistens gelang es.
Also gefiel ihm die sich verdichtende Wolkendecke, ähnlich wie die Seidenvorhänge in den vertrauten Salons, die mit der nächtlichen Schwärze ungewisse Bedrohungen von den Straßen aussperrten.
Was den unendlichen Himmel betraf, war das natürlich ein veritabler Selbstbetrug, den er sich gern erlaubte. Das Meer zeugte von mehr als genug Unendlichkeit. Immerhin gab es auf Erden Küsten, und hier am Rande des Wattenmeeres konnte man darauf vertrauen, bald eine zu erreichen. Es kreisten schon erste Möwen in der Luft. Niemand bezweifelte die Nützlichkeit der Meere, vom Land, mit festem Boden unter den Füßen und bei freundlichem Wetter war der weite Blick über das Wasser auch von ästhetischem Reiz. Nichts gegen eine Strandpromenade, aber anders als für einige Männer, die er kannte, zählte das Reisen auf dem Meer für ihn zu den unangenehmeren Abenteuern.
In dieser Nacht war die See ruhig, nur nach dem Ausbooten bei der Helgoländer Düne war ihm übel gewesen. Der Steuermann hatte grinsend etwas von Landratten gemurmelt und einen brennend scharfen Schnaps angeboten. Erstaunlicherweise hatte der geholfen.
Das Boot glitt nun ruhig durch das Wasser nach Osten, am Horizont ließ sich die Dämmerung schon erahnen. Fröstelnd zog er seinen Umhang unter dem Kinn fester zusammen, lauschte auf die Geräusche der Takelage und hinaus in eine beruhigende Stille. Das Meer konnte laut sein, es konnte murmeln, rauschen oder brüllen, und auch der Wind beherrschte viele Geräusche und Melodien, viel Schreckenerregendes, dieses Tosen, Donnern und Jaulen. Nur auf offener See, wenn es bei vollen Segeln und gleichmäßigem Wind rasant voranging, hörte man ihn nicht.
Bevor der Reisende, die Männer an Bord kannten ihn als Lukas Mannheimer, in seinen Erinnerungen nach dem Grund für dieses Phänomen suchen konnte, kam Bewegung in die Besatzung. Das kleine Boot mit seiner speziellen Takelage erforderte nur vier erfahrene Männer, plötzlich wurden die braunen Segel gerefft, vom Bug meldete eine gedämpfte Stimme in gleichmäßiger Monotonie, welche Wassertiefe das Senkblei anzeigte.
Wie viel Faden brauchte eine plattbodige Galiot unter dem Kiel, bevor sie auf Grund lief? Was nicht lebensbedrohlich wäre, ein solches Boot konnte ohne Gefahr zu kentern auf den Sänden liegen und auf die nächste Flut warten, die es wieder in Fahrt brachte. Aber das kostete Zeit und bedeutete ganz besonders in diesen Jahren und in dieser Gegend Gefahr.
«Sie verschwinden besser unter Deck.» Die Stimme des Schiffers war nun kaum mehr als ein Raunen, während er mit dem Kinn über das nur noch matt schimmernde schwarze Wasser wies. Das Wetter konnte sich auf See schnell verändern, «in Windeseile». Das wusste auch Lukas Mannheimer. Er folgte dem Blick des Schiffers. Im ersten Moment sah er nichts als diese diffuse Düsternis, dann erkannte er den Grund für die Unruhe der Männer. Eine Nebelwand schob sich heran, wie ein immer größer werdendes bleiches Phantom aus den Tiefen der See.
«Nebel», murmelte er, «die Sände in der Nähe …»
Der Schiffer nickte und fragte knapp: «Die Post …?»
Sein Passagier klopfte, wegen der Frage etwas irritiert, mit dem rechten Mittelfinger an seine Schläfe. «Alles da drin», raunte er, «der sicherste Platz.»
Seit er an Bord war, hatte er immer wieder memoriert, was er auswendig gelernt hatte und auf gar keinen Fall vergessen durfte. Wie jeder Mensch vergaß er manches, was er jedoch zwischen London und Helgoland oder Helgoland und den Kontinent an Worten beförderte, vergaß er nie. Darin war er gut. Es war nicht nur eine Gabe, sondern auch das Ergebnis fleißigen Übens mit den Techniken, die in solchen Geschäften von jeher eingesetzt wurden. Es hieß übrigens, Frauen verstünden sich darauf am besten.
Beide, der Schiffer und der Reisende, wussten, dass geheime Worte, Aufträge, Pläne, Namen, sogar Karten und Bilder am sichersten im Kopf transportiert wurden, notfalls ergänzt durch einige gut verschlüsselte Schreiben voller vermeintlich belangloser Plaudereien, die auch den argwöhnischsten Feind in die Irre führten.
Mit der Ladung unter Deck sah es anders aus. Auf dieser Fahrt verbargen sich zwischen der üblichen Schmuggelware, den Säcken und Fässern mit Kaffee, Tabak, Zucker, Baumwolle oder anderen Kolonialwaren, weder Gewehre noch Munition. Diesmal ging es um eine beachtliche Menge Gold. Jedem, der damit geschnappt wurde, drohte das Standgericht. Die Douaniers waren längst verhasster als Napoleons Soldaten und Beamte.
Der Schiffer sah mit schmalen Augen in den Nebel hinaus. «Unter Deck», wiederholte er entschieden, aber der Mann unter dem schwarzen Umhang zog nur abwehrend die Schultern hoch. Der Schiffer sollte ihn ruhig für wagemutig halten, was er in den meisten Fällen auch war, aber in engen, kaum schulterhohen Kajüten unter Deck war er es nicht. Dort wurde ihm die Brust zum Ersticken eng, und er konnte nur ans Ertrinken denken, ans Eingeschlossensein, wenn sich die See aufbäumte, das Boot wie ein Spielzeug kentern ließ und mit allem, was darauf noch lebte, in die Tiefe riss. Das dachte er, und schlimmer noch: Das fühlte er dort in seinem ganzen Körper sogar bei seichtem Wellengang. Obwohl ihn diese hinderliche Lächerlichkeit beschämte, gelang es ihm nicht, sie zu besiegen.
«Nicht nur Nebel.» Die Stimme des Kapitäns war noch tonloser, die des Mannes mit dem Lot verstummt, alle lauschten reglos mit angehaltenem Atem.
War das Nebelspuk, oder waren das Stiefel auf Decksplanken? Schlugen dort fremde Taljen an Masten oder Reling, Holz gegen Holz? Waren das Stimmen? Französische und holländische? Flüche? Streit? Der Nebel war ein versierter Betrüger, er schluckte oder veränderte alle Geräusche und malte falsche, manchmal phantastische Bilder.
Dies waren kein Lug und Trug. Die Galiot fuhr nicht mehr allein durchs Wattenmeer.
Ein dunkler Schemen schob sich durch den Dunst, langsam, als halte jemand die Zeit an. Nicht zum ersten Mal verstand Mannheimer die Sache mit den Geisterschiffen. Er hatte das belächelt, nun kroch ihm Kälte tief unter die Haut. Womöglich wäre ein Geisterschiff besser gewesen – nicht mehr weit von der Galiot näherte sich ein Kanonenboot der Douaniers.
Aber auch tückische Nebel können zu Verbündeten werden, wenn sie sich rasch immer mehr verdichten. Die französischen Stimmen wurden lauter, hektischer. Riefen sie Befehle? Bestimmt waren es Befehle. Die Besatzung hatte die Galiot entdeckt und war sich ihrer Beute sicher. Dennoch – kam sie nicht mehr näher? Die Stimmen wurden schärfer. Kein Zweifel: Das feindliche Patrouillenboot steckte auf einem der Sände fest. Mannheimer beherrschte das Französische gut, aber diese speziellen Flüche französischer Seeleute und Zöllner waren ihm nicht geläufig. Was er bedauerte – es wäre ein großer Spaß als neue Gedächtnisübung.
Schlagartig wurden die Männer auf der Anna wieder lebendig, niemand achtete mehr auf Geräuschlosigkeit, alle wussten, was jeder nun zu tun hatte. Und dass es schnell gehen musste. Sehr schnell. Mit langen Staken gelang es, die Anna in eine Strömung zu drehen, die nur erkannte, wer die See besser verstand als das Land, und wieder hinaus ins Meer zu bugsieren. Bis die nächste Hochflut das größere und um vieles schwerere Kanonenboot freigab, vergingen genug Stunden, um eine andere Route Richtung Küste zu fahren.
Wieder meldete die Stimme beim Bug die Tiefe, vier Faden, fünfeinhalb Faden … Nicht mehr ganz so monoton wie zuvor, und der Steuermann stieß einen triumphierenden Pfiff aus – gab es Besseres, als dem Feind knapp entkommen wieder aufs offene Meer hinauszufahren und rasch Fahrt aufzunehmen?
Der Donner der Kanone zerriss die Stille, teilte den Nebel wie ein Messer, die Kugel verfehlte die Anna um wenige Fußbreit. Das Boot schwankte im mit Schlick und Sand aufbrodelnden Wasser, fing sich und kam davon. Kein Mann war über Bord gegangen, aber drüben auf dem anderen Boot, längst nicht weit genug zurück, wurde der wütende Befehl zum Nachladen gegeben. Der Mann, der sich Lukas Mannheimer nannte, bemerkte, dass er betete. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit.
Arnold Brestetten musterte sein Spiegelbild von Kopf bis Fuß, schließlich nickte er zufrieden. Er legte immer Wert auf eine gepflegte Erscheinung, an einem Abend wie dem heutigen war es ihm jedoch besonders wichtig. Der neue dunkelblaue Frack mit dem hohen Kragen saß tadellos, die Rockschöße vielleicht ein wenig zu lang? Aber Monsieur Flarins Urteil zählte, er war ein exzellenter Schneider und wurde ständig mit Neuigkeiten aus Paris versorgt. Übrigens nicht nur, was die Mode betraf. So hieß es. Es hieß auch, der Generalgouverneur des Départements des Bouches de l’Elbe Marschall Davout sei vor dem Abmarsch nach Russland im Atelier Flarins gesehen worden, eine bessere Empfehlung gab es nicht.
Brestetten zupfte an seinem elegant bis hoch unters Kinn gebundenen Halstuch mit dem Jabot über der plissierten weißen Hemdbrust und strich eine in die Stirn fallende Locke zurecht. Obwohl er fünfundvierzig Jahre zählte, war sein Haar noch voll und erst an den Schläfen ergraut. Auch damit war er zufrieden. Er vermisste die altmodischen Perücken mit ihrem ständigen Reismehl-Geriesel nicht, obwohl sie recht praktisch gewesen waren. Nun forderte nicht nur die Garderobe Beachtung, sondern auch die Frisur. Johanna hatte ihn neulich deswegen geneckt. Es war schön gewesen, seine Frau lächeln zu sehen, und sei es wegen solcher Nichtigkeit.
Friedrich Estrups Gesicht erschien hinter ihm im Spiegel. Der prüfende Blick des Dieners war einzig auf die Garderobe Brestettens gerichtet, nicht auf sein eigenes Spiegelbild, das würde er sich kaum erlauben. Er zupfte ein Haar von der Schulter seines Herrn und trat einen Schritt zurück. Dann nickte er knapp und machte dieses Geräusch mit Kehle und Nase, das entfernt an das sanfte Schnauben eines Ponys erinnerte und bedeutete, es gebe nichts auszusetzen oder zu korrigieren.
Brestetten unterdrückte ein Lächeln. Estrup diente ihm schon viele Jahre, seine Gegenwart war selbstverständlich und vertraut. Er nannte ihn immer bei seinem Familiennamen, nie einfach Friedrich, was freundlicher und passender geklungen hätte. Es bedeutete jedoch keinen Mangel an Respekt oder gar übertriebener Distanz. Estrup gefiel ihm einfach besser, und es gab schon genug Friedriche um ihn herum.
In der letzten Zeit achtete Estrup noch penibler als gewöhnlich auf die Garderobe seines Herrn. Brestetten hatte den Verdacht, die zahlreichen fremden Soldaten in der Stadt trügen daran Schuld. Nach der langen Zeit unter der Besatzung hegte Estrup wenig Sympathien für sie, was er natürlich nie aussprach. Aber Brestetten hatte bemerkt, wie er deren schmucke Uniformen samt der verwegen dekorierten Hüte oder Helme prüfend musterte. Inzwischen beachtete er nur noch die der höheren Offiziere.
Seit sechs Jahren war die Stadt, war ganz Norddeutschland wie der größere Teil Mitteleuropas von Abertausenden französischen Soldaten, Verwaltungs- und Justizbeamten und Zöllnern besetzt und kontrolliert, mit den neuen französischen Gesetzen neu organisiert, die nördlichen Küstenländer wie andere Teile Europas seit fast zwei Jahren vollständig annektiert, einverleibte Teile Frankreichs. Vom spanischen Cádiz bis zum ostpreußischen Tilsit, von Amsterdam und Antwerpen bis Wien und Neapel. Hamburg, Bremen oder Emden, auch Lübeck, Hannover oder Osnabrück waren nun französische Städte im Kaiserreich Napoleons. In Rathäusern, Gerichten, jeglicher Verwaltung bis zur Lotterie musste nun nach dem neuen französischen Recht, allgemein Code Napoléon genannt, geurteilt, geplant und verwaltet und organisiert werden.
Die Kontinentalsperre blockierte nahezu die gesamte europäische Küstenlinie und die Flussmündungen für alle Schiffe der nicht mit Frankreich verbündeten Nationen. Bis dahin war Hamburg der bedeutendste nordeuropäische Hafen für den Handel gewesen, besonders mit Großbritannien, ob für Manufakturwaren, Steinkohle aus nordenglischen Gruben oder die begehrten Kolonialwaren aus aller Welt. Mit der Sperrung dieses Hafens und aller möglichen Ausweichhäfen sollte die englische Wirtschaft und so das ganze Empire ruiniert werden, ruiniert und eine leichte wehrlose Beute für die geplante französische Okkupation.
Bisher ruinierte Napoleon damit weniger die englische als andere europäische Wirtschaften. Nicht zuletzt traf es inzwischen auch den französischen Handel und einige Industrien, die Versorgung der Bevölkerung.
Arnold Brestetten erinnerte sich genau, wie prachtvoll die Besatzer anzusehen gewesen waren, als sie in tadelloser Marschordnung der verschiedenen Waffengattungen mit Fanfaren, Trommeln und klingendem Spiel eingerückt waren, zu Fuß, zu Pferd, der mächtige Tross mit den Wagen. Schon tief in der Nacht, lange vor Sonnenaufgang, waren die herannahenden Trommeln in der Stadt zu hören gewesen. Diese französische Armee, deren Soldaten zu weit mehr als der Hälfte Spanier, Holländer, Rheinländer oder Pfälzer waren – Männer aus Ländern, die schon zu Frankreichs Satelliten geworden waren. Er hatte sich beeindrucken lassen und gedacht, vielleicht war es letztlich förderlich für die Stadt, wenn dieser frische französische Wind den Staub von dem Althergebrachten aufwirbelte. Die oft jahrhundertealten Strukturen und Gesetze bedurften grundlegender Erneuerungen. Wenn es auf diese Weise endlich gelang – warum nicht?
Er hatte den Gedanken für sich behalten, aber bald bemerkt, dass er damit nicht allein war. Napoleons Plan, Europa zu vereinnahmen und nach seinen Vorstellungen und Überzeugungen neu zu gestalten, reformieren und verwalten, war tatsächlich nicht nur auf Abwehr oder Widerstand gestoßen.
Inzwischen waren jedoch viele Schlachten geschlagen worden, auf allen Seiten waren Hunderttausende gefallen, durch feindliche oder eigene Kugeln, Säbel oder Bajonette, gestorben an einem Fieber, der Ruhr oder dem Wundbrand, an Kälte oder Hunger. Viele einfach an Erschöpfung des Körpers und der Seele. Nicht nur die Soldaten dieser Vielvölkerarmee wurden zu Opfern der Kriegszüge, wo ganze Armeen durchzogen, wurden auch ganze Landstriche verheert, «leer gefressen» und niedergetrampelt zurückgelassen, oft schon vor den Gefechten. Wie es so ist im Krieg. Umso mehr, je länger er dauert.
Nun war auch Napoleons große Schlacht um Moskau siegreich geschlagen worden, im September, und es hieß, ganz Moskau habe tagelang in Flammen gestanden. Allerdings kursierte das Gerücht, mit dem Sieg sei es so eine Sache, nämlich eine völlig ungewisse. Die Russen selbst hätten ihre Hauptstadt vor Napoleons anrückender Armee in ein Flammenmeer verwandelt, mitsamt den unermesslichen Vorräten für den nahen Winter, auf die die französischen Marschälle und Generäle für ihre Soldaten und die Pferde sicher gezählt hatten.
Arnold Brestetten nahm das Gerücht als Tatsache, noch erreichten Nachrichten die Stadt an der alles kontrollierenden Zensur vorbei über die noch bestehenden Handelsverbindungen. Hin und wieder dachte er über die fernen Kriegsgeschehen nach, aber nicht gerne. Seine Aufgabe war es, die Familie in dieser schwierigen Zeit zu behüten und was von seinen Geschäften übrig war, vor dem Bankrott zu bewahren. Beides diente zugleich dem Wohlergehen seiner Stadt in der Zukunft, wie die auch aussehen mochte. Dazu bedurfte es hin und wieder einer gewissen Flexibilität im Denken und Handeln. Er verstand sich in aller hanseatischen Ehrbarkeit als einen pragmatischen Mann. Wie viele andere Kaufleute und Bankiers hatte er seine Handelsgeschäfte rechtzeitig nach London verlagern können, die drei Großsegler, an denen er Parten hielt, fuhren weiter als Frachtschiffe für Kolonialwaren über den Atlantik, unter englischer oder norwegischer Flagge. Das war ein geteiltes, doch immer noch ertragreiches Geschäft. Nur sein neuer Geschäftszweig, die See-Assekuranz, lag brach.
In solchen Zeiten waren ein neuer Frack und ein pompöser Ball eine angenehme Zerstreuung und notwendige Pflicht. Es war der letzte für ein solches Kleidungsstück geeignete Stoff aus Johannas geheimen Vorräten gewesen. Gut geeignet für Jacken oder ganze Mäntel für die Damen seines Hauses, aber Johanna hatte recht, wie meistens. Zu einer Siegesfeier des Kaisers konnte ein Brestetten nicht in einem abgetragenen Frack erscheinen. Außerdem war es eine zweckmäßige Investition auch für zukünftige Feiern.
Als Hüter der Garderobe seiner Herrschaft hatte Estrup ein geübtes Auge. Die Kleidung eines hanseatischen Kaufmannes, sei sie noch so perfekt und aus besten Stoffen gearbeitet, konnte kaum mit den Uniformen der Offiziere konkurrieren. Also achtete er bei der Kleidung seines Herrn nicht nur auf Solidität, Schicklichkeit und Gediegenheit, sondern zugleich auf die Eleganz. Ein Arnold Brestetten, allseits geachteter Bürger einer Hansestadt, nun einer Bonneville de l’Empire, konnte nicht dürftiger erscheinen als die Uniformierten mit ihren albernen Federbüschen, Tressen, blitzenden Stiefeln, mit Emblemen und Mustern goldbestickten Röcken, prangenden Orden. Erst recht nicht in dieser Zeit.
Gerade deshalb hatte er das Atelier Flarins empfohlen, als es die Schneiderei Küpper & Söhne am Rödingsmarkt plötzlich nicht mehr gab.
Estrup beugte ein Knie und zupfte zuerst das linke, dann das rechte Hosenbein über Brestettens Waden zurecht und ließ ganz nebenbei den Unterarm über die polierten schwarzen Stiefel seines Herrn gleiten, nur um nichts zu versäumen. Er würde es nie erwähnen, aber er war sehr stolz darauf, wie es ihm gelungen war, diese Stiefel über die Jahre zu pflegen, dass sie immer noch für einen Ball passten. Jedenfalls in Zeiten, die den Kauf so exzellenten Schuhwerks nahezu unmöglich machten. Er erhob sich, nun ohne das Ponyschnauben, und trat mit zufriedener Miene einen Schritt zurück.
«Danke.» Brestetten strich beiläufig über die Stickerei auf seinen Ärmel-Aufschlägen. «Ich fürchte, mit den Jahren werde ich noch eitel.»
«Tja», sagte Estrup und erlaubte sich, verhalten zu grinsen, was sein Gesicht in viele Falten legte und ihm dennoch ein erstaunlich jungenhaftes Aussehen gab.
«Aha, ich verstehe», erklärte Brestetten launig, «sprich es ruhig aus. War ich das immer schon? Ein wenig? Das stimmt, und es hat nie geschadet. Alle Geschäfte laufen besser, wenn sie in erfreulicher Umgebung und Garderobe abgeschlossen werden, vom Heiratsantrag bis zum Schiffsverkauf.» Oder Friedensverhandlungen, schoss es ihm durch den Kopf, doch das sagte er nicht. «Ist Hoove hier?»
«Der Stallmeister wartet in der Diele.» Er räusperte sich, wie ein Kammerdiener sich diskret, gleichwohl sprechend räusperte. «Ich meine natürlich im kleinen Entree. Die Diele mit dem Portal zum Gänsemarkt gehört ja nun Franzosen.»
Ihre Blicke trafen sich über Arnold Brestettens Schulter im Spiegel. «Stimmt, Estrup, dem französischen Zolldirektor mit seiner Bedienung und einer Entourage von Sekretären. Wir haben Glück gehabt. Diesen Seitenflügel können wir für uns behalten, und du musst weiterhin nur mir in den Frack helfen, nicht auch noch dem Zolldirektor. Und nebenbei», er zupfte mit kritischem Blick seine Halsbinde zurecht, «es ist doch nur eine Frage der Zeit. Hoove ist also da und wartet?»
Estrup nickte, seine Lippen waren immer noch schmal. «Ja, mit der Pferdepeitsche.»
«Tatsächlich? Es sind nur wenige Schritte bis zum Apollo-Saal, keine engen Gassen, und alles wird voller Soldaten sein. Aber Hoove weiß, was er tut», fuhr er nach einem letzten Blick in den Spiegel fort und begann, seine Handschuhe anzuziehen, sorgfältig Finger um Finger glatt streichend. «Und Mademoiselle Sophia?»
«Das Fräulein wartet schon im Salon. Sie sieht sehr präsentabel aus, wenn ich das so sagen darf.»
Die Tür zu Brestettens Ankleidezimmer flog auf. Estrup zog scharf den Atem ein, und Arnold Brestetten fuhr unwillig herum.
«Du meine Güte, Amanda.» Vor ihm stand die ältere seiner beiden Töchter, die Schönheit des Hauses und der Familie, manche sagten: der Stadt. Niemand würde das offen infrage stellen, heute jedoch gab es gerade damit ein Problem.
«Du kannst auf gar keinen Fall Sophia mitnehmen, Vater», rief Amanda, Empörung in der Stimme und bemüht, es nach Kummer und Leid klingen zu lassen, worauf weder ihr Vater noch Estrup hereinfielen. «Das gehört sich nicht, das ist nicht comme il faut! Überhaupt nicht! Sie ist nicht einmal mit dir verwandt, es wird schreckliches Gerede geben, und außerdem ist sie Witwe …»
Brestetten hob ärgerlich abwehrend die Hand, erstaunlicherweise schwieg Amanda sofort. Sie war siebzehn Jahre alt und von heftigem Temperament, was sie gewöhnlich ebenfalls recht gut verbarg. Heute nicht. Ihr dunkles, fast schwarz glänzendes Haar war perfekt zu einem dieser vermeintlich vom Wind zerzausten Lockenschöpfe frisiert, in ihren tiefblauen Augen blitzte es zornig. Tatsächlich blitzte es nur in einem, dem rechten, das andere war fast gänzlich zugeschwollen und tief gerötet, am oberen Lidrand klebte ein dicklicher gelber Eiterpunkt. Auch für eine der schönsten Damen der Stadt war diese so passend Gerstenkorn genannte Augenentzündung kein Vergnügen. Am Abend eines großen Balles zu Ehren des Einzugs Kaiser Napoleons in Moskau, somit des endgültigen Sieges über das Zarenreich, war es eine Katastrophe. Niemals würde Mademoiselle Brestetten mit einem so blamablen, nebenbei auch ziemlich schmerzhaften Makel das Haus verlassen. Allein der Gedanke, so verunstaltet einen Ball zu besuchen, insbesondere einen, zu dem alle geladen waren, die im Arrondissement Rang oder Namen oder beides hatten, war eine Ohnmacht wert. Nicht hinzugehen leider ebenso.
«Das ist Unsinn, Amanda. Deine Mutter ist unpässlich, wie wir alle wissen. Natürlich ist sie die vom Präfekten erwartete Begleitung. Gerade an diesem Abend wäre es mehr als unhöflich, ja», betonte Brestetten, «geradezu ein Affront, der Einladung ohne eine andere Dame aus meinem Haus zu folgen. Natürlich hättest du deine Mutter vertreten können, es wäre mir eine Freude gewesen, obwohl du genau genommen ein Jahr zu jung bist. Du hast dich dagegen entschieden, was in diesem Fall eine gute Entscheidung ist. Aber, mein liebes Kind, niemanden kann es stören oder gar brüskieren, wenn mich die erwachsene Nichte meiner zum allgemeinen Bedauern erkrankten Gattin begleitet. Im Übrigen ist sie keine Witwe, sie war nur verlobt. Das ist auch tragisch, aber es ist drei Jahre her und hat nie jemanden außerhalb der Familie interessiert. Kurzum – Sophia kann mich zu einem offiziellen Anlass begleiten, und so wird es geschehen. Nein, Amanda, keine weitere Debatte.»
«Aber Papa! Sie wird dich blamieren! Unser ganzes Haus wird sie blamieren! Es ist ein Ball, und alle werden dort sein, alle, die etwas zählen. Und – Sophia ist sicher klug, ja, wirklich klug, auch freundlich, nun ja, meistens, und immer schrecklich wohlerzogen, aber», Amandas schon gerötetes Gesicht verzog sich kindlich verzagt, und eine einsame Träne quoll aus ihrem geschwollenen Auge, «aber wirklich, liebster Papa, sie ist eine blamable Tänzerin.»
Brestettens Brauen hoben sich, tatsächlich wusste er nichts von Sophias Talenten in Sachen Tanz, es hatte keine Gelegenheit gegeben, das zu erfahren. Doch es gab wahrhaftig Wichtigeres.
«Sophia begleitet mich. Punktum. Ich bin sicher, auch in London gab es gute Tanzmeister. Du wirst von mir nicht erwarten, eine der Damen vom Theater zu engagieren, die sich für solche Gelegenheiten zur Verfügung stellen.»
Er hätte ihr nun erklären können, was kürzlich in Johannas Heimatstadt geschehen war, als die Damen der ersten Bremer Familien sich höflich, aber entschieden geweigert hatten, den Einladungen der französischen Offiziere und hohen Beamten, also letztlich ihrer neuen Regierung, zu folgen. Entweder man erscheine in angemessener Garderobe und Stimmung zu dem Bal paré mit Feuerwerk, so wurde ihnen mitgeteilt, oder bewaffnete Soldaten geleiteten die Damen auf die Wälle zu Schanzarbeiten. Dienstmädchen, Wäscherinnen oder Bettelfrauen als Vertretung zu schicken, sei strikt untersagt, die angedrohten Strafen waren rüde gewesen. Die französischen Sitten und Anordnungen wurden allgemein immer rauer.
Brestetten wusste nicht, ob einige der Damen die Schanzarbeiten vorgezogen hatten. Er mochte auch nicht entscheiden, ob es demütigender war, neben Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten an der Neubefestigung der Wälle zu schuften oder zu solchen Bedingungen teuer herausgeputzt zu einem Ball zu erscheinen. Jedenfalls fand er es unnötig, seine zarte Tochter mit solchen Geschichten zu belasten.
Sophia Benedikt wartete im Salon und sah, wie Estrup gesagt hatte, präsentabel aus. Wobei unklar war, was er damit gemeint hatte. Gewöhnlich benutzte man bei den Damen Begriffe wie reizend, anmutig, ganz entzückend und zauberhaft, auch schmuck oder hübsch, sogar würdig. Letzteres allerdings vornehmlich bei älteren Damen. Sophia war also präsentabel. Sie saß im mauvefarbenen, hoch unter dem Busen geschnürten Kleid aus weich fließendem Musselin kerzengerade auf der Klavierbank, ihr Dekolleté war dezent von feiner cremefarbener Spitze bedeckt, das leicht gelockte Haar von einer zwischen Aschblond und Hellbraun unschlüssigen Farbe mit einem Schildpattkamm aufgesteckt und mit Perlennadeln ihrer Tante Johanna geziert. Kurze Locken umrahmten das schmale Gesicht, ein recht bescheidener Busch von Straußenfedern ersetzte einen der Mode mehr entsprechenden größeren Kopfputz.
Die Hände in über ellbogenlangen Handschuhen ruhig im Schoß gefaltet, betrachtete sie die Tasten wie Forschungsobjekte. Jeder im Haus wusste, wie gefällig sie zu spielen verstand. Sie spielte auch gerne, gleichwohl vermied sie es in Gesellschaft, obwohl sie in ihrem Zimmer eine Schachtel mit eigenen Noten aus ihren Londoner Jahren verwahrte, die allgemeinen Beifall gefunden hätten.
Arnold Brestetten verharrte einen Moment in der Tür, ihm gefiel, was er sah. Sophia bemerkte ihn, erhob sich und schloss leicht, gefühlvolle Menschen würden es zärtlich nennen, den Deckel über der Tastatur. Wer sie nicht kannte, würde ihr Lächeln nur als angedeutet verstehen, aber es war einfach ihre Art. Arnold, überhaupt alle Brestettens, wussten das längst. Sophia Benedikt war ein stilles junges Fräulein, genau genommen mit einigen mehr als zwanzig Jahren für ein Fräulein nicht mehr ganz jung. Jeder empfand sie als aufmerksam, höflich, liebenswürdig, was sie tatsächlich war. Ihre gewisse Beharrlichkeit in manchen Überzeugungen und Vorlieben wurde ebenso selten bemerkt wie die melancholische Färbung ihres ruhigen Naturells. Sie war keine glänzende Schönheit wie ihre Cousine Amanda, doch auch recht manierlich anzusehen.
In der Stadt hatte es bald nach ihrer Ankunft geheißen, sie sei eine arme Verwandte, die die großzügigen Brestettens in ihre Familie aufgenommen hatten. Obwohl das Gerücht von den für gewöhnlich bestens informierten Dienstboten als Irrtum erklärt worden war, hielt es sich hartnäckig. Tatsächlich war sie nicht gerade eine vermögende Erbin, aber ihr würde, wenn London wieder erreichbar war, ein solides Polster, überwiegend dank einiger Anteile an der British East India Company, eine angenehme Unabhängigkeit ermöglichen. Inzwischen wurde nicht mehr darüber gesprochen, Gerüchte räumten gewöhnlich bald aktuelleren, somit interessanteren Neuigkeiten den Platz. Die junge Benedikt gehörte eben zu den Brestettens, so wie in vielen Familien neben Geschwistern und Eltern weitere Verwandte ohne eigenen Haushalt lebten, zumeist bedürftige Cousinen, ledig gebliebene oder verwitwete Tanten. Männer kamen in solchen Arrangements selten vor.
Sophia lebte nun seit gut zwei Jahren in Hamburg. Ihre Mutter Mary war wie Johanna Brestetten eine geborene Meyer zu Lunde aus dem Bremischen, sie waren Cousinen zweiten Grades. Die Benedikts hielten sich seither in Philadelphia auf, inzwischen womöglich sogar in Washington, der neuen Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika, das war ungewiss.
Sophias Bruder Christopher reiste als so leidenschaftlicher wie kenntnisreicher Botaniker und Zeichner auf einem Dreimaster der British East India Company nach China, um für die Londoner Kew Gardens in Europa noch unbekannte Pflanzen zu finden und nach England zu schmuggeln. Die Auftraggeber spekulierten auf Gewürzpflanzen, so profitable wie Muskatnuss-, Zimt- oder Gewürznelkenbäume, von Tee oder Arzneipflanzen wie dem geheimnisvollen Chinarindenbaum gar nicht erst zu reden. Doch auch exotisch Blühendes und Duftendes für die reichen englischen Gärten und Landsitze war überaus willkommen und ein gutes Geschäft.
Sophia hatte lange nichts von ihrem Bruder und ihren Eltern gehört, Post aus Übersee bedeutete immer eine Weltreise, meistens über viele Monate, manchmal Jahre. In diesen Zeiten aber war Post ungewiss wie ein Gewinn in der Lotterie.
Ein so langer Besuch in Hamburg war nicht geplant gewesen. Sophia hatte ihren Eltern folgen sollen, sobald die sich in der Hauptstadt der jungen Vereinigten Staaten eingerichtet hatten – aber die Politik und besonders die Küstenblockaden rund um den europäischen Kontinent hatten alles verändert. Reisen nach Übersee waren von vielen Häfen, besonders von Hamburg aus, nur schwer und teuer zu arrangieren und in diesen kriegerischen Zeiten noch gefahrvoller als in friedlichen Jahren. Frankreich lag längst auch mit den einst bewunderten amerikanischen Staaten im Zwist, diese wiederum neuerdings mit England im Krieg, das gegenseitige Versenken oder ertragreichere Kapern der Schiffe war an der Tagesordnung.
Sophia hatte den größeren Teil ihres Lebens mit ihren Eltern und ihrem Bruder in London gelebt. In jener Nation, die der zu Kaiser Napoleon I. aufgestiegene korsische General und Erster Konsul Bonaparte um jeden Preis ruinieren und in sein Reich einverleiben wollte, egal wie viele Schlachten und Tote, Wirtschaftskrisen und Bankrotte das kostete.
Sophia Benedikt saß also in Hamburg fest. Nach den vielen Jahren an der Themse empfand sie sich manchmal mehr als Engländerin denn als Bremerin oder Norddeutsche. Sophia sei eine Weltbürgerin, hatte Johanna Brestetten neulich bei einem Abendessen mit einigen lange vertrauten Gästen gesagt, und alle hatten sich freundlich amüsiert gezeigt. Sie hatte ihre Nichte jedoch voller Überzeugung so bezeichnet, obwohl eine unauffällige Person wie Sophia kaum in diese Kategorie zu passen schien. Anders als ihre Eltern und ihr Bruder mochte sie wenig gereist sein, nur über die Nordsee und die Themse, die Elbe flussaufwärts nach Hamburg. Verglichen mit den allermeisten, selbst wohlhabenden Männern wie Frauen, bedeutete das jedoch eine ganze Menge.
Im Übrigen kannte Sophia noch viel mehr von der Welt. Jedenfalls theoretisch. Sie besaß einen winzigen Taschenglobus, auf dem nachträglich die Fahrten von Captain Cook um Afrika nach der Südsee eingezeichnet worden waren, die sie oft und genau studiert hatte. Das Abschiedsgeschenk von Christopher hatte sie trösten sollen, als er in die weite Welt aufbrach und sie sehr lange durch Tausende von Meilen voneinander getrennt bleiben würden. Von der Ungewissheit, ob er überhaupt zurückkomme oder irgendwo auf den Ozeanen verschollen bleibe, hatten sie nicht gesprochen.
Der kleine Globus und die Gedankenreisen zu Christopher und ihren Eltern hatten sie animiert, in der Bibliothek der Brestettens und jener der Börsen-Halle, des Club-Lokals Hamburger Kaufleute, nach Reiseberichten und Atlanten zu stöbern. Damit hatte sie immer neue imaginäre Abenteuer in ihr unbekannte Welten unternommen. Da sie über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte, könnte sie langweilige Teenachmittage bunt und interessant machen. Es hatte sie niemand dazu aufgefordert, und sowieso war solcher Art männliche Unterhaltung für junge Damen unpassend.
Natürlich hatte es auch großartige Bälle, Festmahlzeiten oder Gartenfeste gegeben, als Hamburg noch keine Bonne Villedel’Empire, sondern eine Freie Reichsstadt gewesen war, eine sehr wohlhabende Stadt mit Verbindungen in Handel und Politik in die halbe Welt und einer ganzen Zahl sehr wohlhabender Familien und Handelskontore.
Obgleich der begüterte Teil der Hamburger Gesellschaft für seine üppigen «Schmausereien» berüchtigt war, für reich gedeckte Tafeln mit vielen Gängen und besten Weinen, besonders gern französischen, war es eine bürgerliche Handels- und Hafenstadt geblieben, deren Bewohner zu genießen, aber auch zu rechnen verstanden. Es gab geradezu fürstlich lebende Familien in der Stadt, die meisten Hansestädter blickten jedoch mit einem Anflug von Herablassung auf überbordenden Luxus und leichtfertige Verschwendung adeliger Häuser, Höfe und Residenzen.
Auf Brestettens und Sophias Weg vom Haus am Gänsemarkt zum Apollo-Saal an der Große Drehbahn genannten schmalen Straße stauten sich auf der Dammtorstraße schon Kutschen und Wagen. Es waren tatsächlich nur wenige Schritte, keinesfalls genug, um auch nur ein Pferd vor den kleinen zweisitzigen Wagen zu spannen. Ohnedies wäre der gleich vor ihrer Haustür zwischen den mit festlich gekleideten Gästen besetzten Gefährten, den wachhabenden Soldaten wie den Neugierigen, den Bettlern und Taschendieben stecken geblieben.
Das letzte große Fest der Franzosen lag erst wenige Wochen zurück. Am 15. August war der Geburtstag des Kaisers in aller Opulenz begangen worden, auch mit einem Tedeum in der konfiszierten und katholisch geweihten kleinen Michaeliskirche, mit Diner, Ball und Feuerwerk, einem Wettkampf im Vogelschießen. Es hieß, diese Huldigung habe die Stadt und ihre Bewohner 15000 Francs gekostet. Eine umso beachtlichere Summe, als Hamburgs Armenkassen längst leer waren und viele dringend der Hilfe bedurften. Diese Staatsfeierlichkeiten verliefen immer auf die gleiche Weise, Ball mit Diner im Apollo-Saal, prächtige Illumination und im Hof eine Suppenküche für die Armen, die durch geöffnete Fenster zudem in den Genuss der Musik kamen.
Brestetten fühlte sich plötzlich unbehaglich. Für einen flüchtigen Beobachter wirkte das Gewusel in den Straßen um den Festsaal wie ein fröhlicher Menschenauflauf, dennoch spürte er eine unterschwellige Anspannung bei den Menschen, die die Straßen säumten. Unruhen, flüsterte die Gedankenstimme in seinem Kopf, die ihn neuerdings belästigte. Von Unruhen in anderen Departements war in der Börsen-Halle gesprochen worden. Es gäre im Volk, hieß es.
Die Familie Brestetten hatte mit dem ganzen aufgeklärten Freundeskreis an der Alster mitgefeiert, als sich der Sturm auf die Bastille, das Fanal zum Beginn der Revolution, zum ersten Mal jährte. Er selbst hatte die Jubelböller gezündet, am Tag vor seiner Verlobung mit Johanna. Es war ein fröhliches Fest gewesen. Niemand hatte sich damals vorgestellt, welch blindwütigen Blutzoll diese Befreiung von der absoluten Herrschaft des Adels und des Klerus, somit von Unterdrückung, Hunger und Rechtlosigkeit, die Menschen in Frankreich bald kosten sollte. Und wie wenige Jahre es dauern sollte, bis der neue Kaiser der Franzosen Europa grundlegend veränderte. Trotz aller Opfer – man musste darauf vertrauen, dass nach einer Zeit des Übergangs Vernunft und Frieden zu neuer Prosperität führten. Ja, so würde es sein. Arnold Brestetten liebte solche Sätze.
Allerdings gärte es tatsächlich. Nicht nur in den Hamburger Straßen, Höfen und Kellern, in den Norddeutschen Departements von der Ems bis ins Lübeckische. Auch in anderen Landesteilen und Regionen des früheren Heiligen Römischen Reichs. In der Stadt war man auf die Nachrichten beschränkt, die von der strikten Zensur gelenkt wurden, doch Informationen waren wie Wasser, selbst wenn die Kanäle verstopft wurden, fanden sie einen Weg. Wie über die Unruhen in Tirol und die Kämpfe in Spanien. Im dänischen Altona mit seiner offenen Grenze zum neu-französischen Hamburg waren Nachrichten und Zeitungen noch frei. Mehr oder weniger.
Nun war er doch froh, dass sein Kutscher ihm und Sophia den Weg durch die bunte Menge bahnte. Hoove hielt die Pferdepeitsche erhoben in der Hand, er musste sie nicht benutzen. Seine kräftige Statur und das wettergegerbte Gesicht mit der grimmigen Miene reichten zu respektvollem Abstand. Vor ihm teilte sich die Menge auf eine Weise, wie sie es allein vor einem eleganten, schon älteren Herrn im Frack mit einer in einen schützenden blauen Umhang und einen indischen Shawl gehüllten Dame nicht getan hätte. Er hielt Sophia ein wenig fester am Arm, als es nötig gewesen wäre, sicherheitshalber, und suchte besorgt ihren Blick, aber sie schaute nur mit heiterem Interesse auf das Gewusel und folgte Hoove mit leichtem Schritt.
Schon am Fuß der breiten Treppe, die zum Festsaal hinaufführte, hörte man die Musik. Gäste strömten in die Vorhalle, die Stimmung war ausgezeichnet. Sollte es unter den Geladenen einige geben, denen die Siegesnachrichten aus Moskau nicht gefielen, wurde das gut verborgen. Brestetten überließ Sophia am Entree einem Mädchen, das sie in eines der Nebengelasse führte, wo die Damen Mäntel und Überschuhe ablegen und an großen Spiegeln ein letztes Mal Frisur und Garderobe richten konnten. Er hörte sie in ihrem weicher als üblich klingenden Französisch mit dem Mädchen sprechen und dachte, er sollte sie ermahnen, mehr Distanz zu dem in französischen Diensten stehendem Personal zu halten. Man wusste nie, was sich hinter einem harmlos devoten Gesicht verbarg.
Er vergaß den unangenehmen Gedanken gleich, als ihn einige der französischen Offiziere und höheren Beamten begrüßten, und man ging gemeinsam plaudernd zum Saal hinauf.
Er liebte diese besondere Atmosphäre zu Beginn eines Festes, dieses sorglos Animierte elegant gekleideter Menschen, die besondere Mischung von Stimmen und Musik, das Trappeln eilender Kellner und Diener, Gläserklirren, Geräusche vorfahrender Wagen. Arnold Brestetten lebte im Bewusstsein dazuzugehören und auf der richtigen Seite zu sein. Gewöhnlich war ihm das keinen Gedanken wert, als Sohn einer wohlhabenden und angesehenen Familie war es immer so gewesen. Als Erbe und Nachfolger seines Vaters hatte er die Familiengeschäfte erheblich erweitert, nicht zuletzt um die See-Assekuranz. Selbst in diesen besonderen Zeiten hatte er es verstanden, ein erfolgreicher Mann zu bleiben. Erst während der letzten Wochen kostete es ihn hin und wieder Mühe, der aufflackernden Frage auszuweichen, was in diesem neuen hanseatischen Frankreich denn die richtige Seite sei, und besonders, ob diese Seite von Dauer war oder ob es Zeit wurde, womöglich höchste Zeit, diskret zur anderen Seite alte Verbindungen wieder enger zu knüpfen.
Der Damensalon glich eher einem Boudoir als einer Garderobe für die eilige Kontrolle der Abendtoilette. Die Kerzen erhitzten den Raum, Sophia roch Schminke und süßliches Parfum, ihr sanftes Eau de Cologne verlor sich gleich darin. Ein knappes Dutzend festlich gewandeter Damen drängte sich vor den Spiegeln. Keine hatte ihr eigenes Mädchen mitgebracht. Sie schienen einander zu kennen und halfen sich auf schwesterliche Weise, hier eine verrutschte Locke, dort eine Rüsche oder einen Haarputz zu richten. Ihre unermüdlichen Stimmen klangen heiter und wie gewöhnlich in den Minuten vor einem großen Ball ein wenig schrill. Hier galt eine Frage der Familie und Reiseplänen, dort einem Zuviel oder Zuwenig an Rouge auf den Wangen oder der Unmöglichkeit, bezahlbare Kleiderstoffe für die Wintersaison aufzutreiben. Niemand sprach über den Anlass des Balls und die neuerdings kursierenden Gerüchte. Gerade hier, im Vorraum des Offiziellen, hatte Sophia erwartet, unbedacht ausgeplauderte Neuigkeiten zu hören, andere als in den offiziellen Bulletins, die zum Diner im Saal zu hören sein würden.
«Mademoiselle Benedikt?» Eine zierliche Dame löste sich aus den Schönen vor dem dritten Spiegel. Ihr Ballkleid wirkte nur auf den ersten Blick schlicht, anders als den Kleidern der übrigen Frauen fehlte ihm nur jedes Zuviel an Zierrat, auch das zurückhaltende Dekolleté unterstrich die Anmutung kultivierter Eleganz. «Bonsoir, Mademoiselle.» Sie nickte Sophia mit einem aufmunternden Lächeln zu und trat mit einer einladenden Geste zur Seite. «Möchten Sie einen Platz vor dem Spiegel?», fragte sie und fuhr gleich fort: «Sie sehen bezaubernd aus, wenn Sie mir erlauben, das zu bemerken. Oh, Pardon», ihr leises Auflachen klang ein wenig beschämt, «Sie erkennen mich nicht in dieser – nun, in dieser Umgebung und Toilette? Natürlich, Sie kennen mich nur mit Nadel und Faden, Maßband und Schere im hellen Tageslicht.»
«Madame Fleuron!» Sophia errötete, was so überflüssig wie unangemessen war. «Natürlich erkenne ich Sie. Aber es stimmt, erst auf den zweiten Blick. Wie dumm von mir. Sie sehen so – so fürstlich aus, so strahlend. Sie sind immer elegant», beeilte sie sich zu versichern, «aber ich kenne Sie wirklich nur in grauen Kleidern, das Haar immer unter einer Haube versteckt. Dabei ist es von einer wunderbaren Farbe, eine Schande, es zu verstecken. Sie sollten …» Sie schwieg abrupt und rieb sich undamenhaft gründlich die Nase. «Ich plappere», stellte sie fest, und Madame Fleuron lachte, nun ganz ohne Befangenheit.
Inzwischen hatten sich die anderen Damen um sie versammelt und machten neugierige Gesichter. Nun verstand Sophia, warum sie in keiner eine Freundin oder Bekannte des Hauses Brestetten entdeckte, von denen sicher einige eine Einladung zur Jubelfeier über Napoleons größten Sieg erhalten hatten und ihr auch bereitwillig gefolgt waren. Ein Gesicht glaubte sie zu erkennen, doch nicht aus den Salons der hanseatischen Familien, sondern von der Bühne des Gänsemarkt-Theaters, ihr würde noch einfallen, in welcher Rolle.
Madame Fleuron hingegen hielt sich ab und zu im Haus der Brestettens auf, allerdings nur im Nähzimmer mit dem großen Dachfenster. Sie verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter als Schneiderin und Stickerin, auch für die Damen im Haus am Gänsemarkt. Es war lange her, seit Aimée Rosalie Comtesse Fleuron la Montagne mit ihrem Mann aus dem Frankreich der Revolution geflohen war, als einzige Überlebende ihrer Familie. Inzwischen war sie Witwe, fast genauso lange nannte sie sich nur noch Aimée Fleuron.
«Seid nicht so neugierig», wandte sie sich mit gespielter Strenge an die anderen Frauen, «Mademoiselle Benedikt hat sich nur verirrt. Sie ist eine Nichte der Brestettens und sicher die Begleitung Monsieur Brestettens, da Madame nicht wohl ist. Man hat davon gehört. Und nun – vite, vite, Mesdames! Wir werden längst erwartet.»
«Aha, eine Nichte», ein kurzes Kichern aus dem Hintergrund ging in einem zweistimmigen Glucksen unter, «so nennt man das?»