Das Glückskeksprinzip - Angela Berger - E-Book

Das Glückskeksprinzip E-Book

Angela Berger

4,7

Beschreibung

Sie sollte wirklich besser zuhören! Als die New Yorkerin Ella für eine Bekannte bei einem Mittagessen-Lieferdienst einspringt, scheint sie in einem ganz seltsamen Schuppen gelandet zu sein… Und wieso begreift eigentlich niemand, dass sie nicht Ashley, ihre Bekannte, sondern Ella ist? Als sie dann auch noch durch verschiedene unglückliche Umstände als Glücksforscherin beim beliebten Fernsehsender HQN in die Fernsehshow »Patty for Lunch« gezerrt wird und einem Millionenpublikum Glückstipps geben soll, ist das Chaos perfekt. Zum Glück gibt es Mr. Yaos Glückskekse mit passenden Tipps! Und Jack Winter, den beliebten und überaus attraktiven Talkmaster, der Ella bereitwillig aus der Patsche hilft. Und natürlich ihren guten Freund Eric, der immer für sie da ist. Alles scheint sich langsam wieder zum Guten zu wenden – bis Ella einer zwielichtigen Sache auf die Spur kommt. Ella weiß plötzlich nicht mehr, wem sie trauen kann. Sie gerät in einen Strudel aus Lügen, Verwirrungen und Gefahr. Sehr großer Gefahr sogar…

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Buch

Als die unkomplizierte Ella nach einem halbjährigen Auslandsaufenthalt zu ihrer Familie nach New York zurückkehrt, springt sie mehr aus Goodwill für eine verunfallte Bekannte in einem Lunch-Lieferdienst ein. Dumm nur, dass das makrobiotische Lokal strenge Ernährungsrichtlinien verfolgt und Ella alles andere als diszipliniert ist, wenn es ums Essen geht. Und als wäre das nicht schon Ärger genug, wird Ella auch noch vom beliebten New Yorker Fernsehsender HQN mit einer Glücksforscherin verwechselt, die an diesem Tag gerade verhindert ist. Ella landet in einer Live-Sendung und muss einem Millionenpublikum Glückstipps geben. Mit viel Selbstvertrauen, einer großen Portion Charme und vor allem Mr. Yaos Glückskeks-Tipps avanciert Ella zum Publikumsliebling. Sie lernt den charmanten Talkmaster Jack Winter kennen und ohne es zu wollen, schwebt Ella bald im siebten Himmel. Alles scheint perfekt zu sein! Bis auf Ellas Verdacht, dass sie einer zwielichtigen Angelegenheit auf die Spur gekommen sein könnte …

Autorin

Angela Berger ist 1973 in der Nähe von Basel als Angela D’Angelo in eine norddeutsch-süditalienische Familie hineingeboren worden. Was an und für sich schon Stoff für ein Buch gewesen wäre. Als Kind und Jugendliche begnügte sie sich aber noch damit, ihre Erlebnisse in fantasievolle Aufsätze einfließen zu lassen. Erst später, als sie im Zürcher Unterland mit dem Schreiben eigener Bücher begann, wurde ihre Familie miteinbezogen. Nur ein bisschen allerdings, denn das Leben hält genug Alltagsepisoden bereit, die sich als Stoff in einem Buch wiederverwerten lassen. Und wenn mal gar nichts mehr geht, muss auch ihr Mann, mit dem sie seit 1999 glücklich verheiratet ist, als Inspirationsquelle herhalten. Heimlich natürlich. Das Glück sollte man schließlich nicht zu sehr herausfordern!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1

Kapitel 1: Sechs Wochen zuvor

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil 2

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Prolog

Als mich die Scheinwerfer mit voller Wucht anleuchteten, zuckte ich nicht einmal mehr mit den Wimpern. Mittlerweile war ich durch und durch Profi.

Entspannt lehnte ich mich auf dem Sofa zurück und genoss den Moment. Der neue Duft, den mir Priscilla empfohlen hatte und den ich heute trug, drang angenehm aber unaufdringlich in meine Nase. Meine neuen, goldblonden Strähnchen umrahmten mein Gesicht und ich fühlte mich hübscher denn je. Meine dunkelblonden Haare Matteo anzuvertrauen, hatte sich als im wahrsten Sinne des Wortes goldrichtige Entscheidung erwiesen. Priscilla hatte mir heute ein sensationelles Make-up verpasst. Meine grünen Augen strahlten richtiggehend (wo fand sie auch immer diese Wahnsinns-Mascaras?!), und mit dem neuen Lipgloss wirkten meine Lippen unglaublich voll.

Nie hätte ich es früher gewagt, mich als Schönheit zu bezeichnen, aber heute, jetzt, gerade in diesem Moment, da war ich es … ich war … schön! Schön, beliebt und mittlerweile ziemlich bekannt. Diesen Moment wollte ich einfach nur genießen und für die Ewigkeit festhalten.

Ich, Ella Bondini, 28 Jahre alt, Tochter eines Kochs (naja, Starkochs …) und einer liebenden Stiefmutter, war heute berühmt, beliebt und schön! Niemals hätte ich mir das erträumt. Ich war einfach nur glücklich.

Ben, unser Aufnahmeleiter, machte ein dezentes Zeichen in Pattys und meine Richtung, Patty nickte ihm kaum merklich zu. Ben gab der Regie ein Zeichen. »Wir sind auf Sendung in drei, zwei, eins …« Dann ertönte der vertraute Jingle der Show. Patty war wie immer voll präsent, sobald die Kameras an waren.

»Guten Morgen und herzlich willkommen zurück zu Patty for Lunch! So, und jetzt kommen wir zu meinem absoluten Lieblingsteil der Show, und ich bin sicher, es geht Ihnen auch so! Neben mir sitzt unsere Glücksforscherin, unsere absolute Expertin für Glück, unsere beliebte Ashley. Herzlich willkommen, Ashley!«

Ich spürte das mir bereits vertraute Kribbeln im Bauch, eine Mischung aus Nervosität, Spannung und Vorfreude auf die Anrufer, die heute meinen Rat hören wollten.

»Hallo Ashley, wie geht es Ihnen heute?«, säuselte Patty in meine Richtung.

»Bestens, danke Patty!«, säuselte ich zurück. Die Fernseh-Ashley war mittlerweile ein Teil von mir geworden. Ella hatte ich in der Maske zurückgelassen.

Patty setzte ihren Million-Dollar-Smile auf. »Und wie umwerfend Sie heute wieder aussehen.« Dann fügte sie gespielt tadelnd hinzu: »Ich werde wohl meine Maskenbildnerin feuern müssen und mir Ihre schnappen.« Was ich ihr durchaus zugetraut hätte!

»Ja, nicht wahr, was ein bisschen Mascara und Lipgloss so alles ausrichten«, flötete ich zurück.

Unverhohlen schoss ihr Blick auf mein Augen-Make-up und ich konnte es in ihrem Hirn förmlich rattern hören. Was, um Himmels Willen trägt sie heute?!

»Ja dann, genug der Nettigkeiten (wie bitte?). Als Erstes interessiert uns natürlich, was Sie uns heute als Glücksgegenstand des Tages mitgebracht haben. Zeigen Sie doch mal her!«

Ich konzentrierte mich auf den Gegenstand, den ich heute Morgen noch in aller Schnelle auf dem Parkplatz des Fernsehstudios aufgesammelt hatte und der jetzt in meiner Handtasche lag.

»Was ist es denn, ich sehe gar nichts!« Unglaublich, wie ungeduldig Patty war! »Richtig, Patty, noch sehen Sie nichts. Lassen Sie mich Ihnen zuerst eine Frage stellen: Was war das erste, was Sie dachten, als Sie heute aus dem Fenster geschaut haben?«

Hatte sie überhaupt etwas anderes wahrgenommen als ihr Spiegelbild?

Patty rümpfte die Nase und überlegte. Dann erhellte sich ihr Gesicht: »Ich habe gedacht, wie schön, ein neuer Tag!« Das durfte doch nicht wahr sein …

Diesmal sprach ich langsam und bedächtig, fast wie zu einem Kind. »Aha, und dann, als Sie sich über den Tag gefreut hatten, was ging Ihnen durch den Kopf, als sie zum Beispiel das Wetter wahrgenommen hatten.«

»Ach so, ja, also, es regnete.« Bingo, Patty!

»Richtig, es regnete. Was denken wir in der Regel, wenn es regnet?« Patty schürzte ihre Lippen. »Regen ist nicht so toll. Ich mag lieber Sonnentage.« Na also!

»Genau so geht es mir auch, Patty, und genau so wird es auch den meisten Zuschauern gehen. Wir lassen uns also vom Wetter diktieren, ob es ein guter oder ein schlechter Tag wird. Wir nehmen das dann sozusagen als Tagesmotto auf. Und was passiert mit einem Menschen, der am Morgen sein Tagesmotto bestimmt? Er ist festgefahren. Er wird praktisch blind für alles, was nicht in sein Tagesmotto passt. Man blickt nicht mehr nach links oder nach rechts. Und deshalb habe ich heute beschlossen, mein Tagesmotto »Ach schade, es regnet!« zu ignorieren. Ich habe versucht, jedes noch so kleine Detail aufzusaugen. Und wissen Sie, was mir aufgefallen ist? Die Natur freut sich über Regen, alles sprießt und gedeiht. Die Tiere lieben Regen, die Pflanzen lieben Regen, ja sogar die Steine lieben Regen.«

Ich zog feierlich einen Kieselstein aus der Tasche.

»Schauen Sie diese Schönheit an. Sie schreit förmlich heraus: ›Danke für den Regen! Heute ist ein guter Tag!‹ Und genau daran werde ich mich heute orientieren. Mit diesem Stein in meiner Tasche. Nicht mit einem enttäuschten Blick gen Himmel, sondern mit einem dankbaren Blick auf alles um mich herum.«

Mann, das war so ziemlich der größte Schrott, den ich in letzter Zeit von mir gegeben hatte, aber ich hatte einfach keine Zeit für etwas anderes gehabt und war darum unglaublich dankbar über meinen Fund auf dem Parkplatz gewesen.

Gespannt wartete ich Pattys Reaktion ab. Sie war immer noch damit beschäftigt, den Stein zu betrachten. Dann blickte sie ehrfurchtsvoll in die Kamera und sagte. »Sie haben es gehört. Denken Sie heute an diesen Stein.« Und dann, stolz auf ihre eigene Eingebung: »Nennen wir ihn den Stein der Demut.« Hihi, das war ja noch bescheuerter, schade, dass mir das nicht eingefallen war! »Danke, Ashley, für diese Lektion!«

Einen Moment lang lächelten wir uns an, und es schien eine richtige Harmonie zwischen uns zu herrschen.

»So, wie ich höre, haben wir bereits den ersten Anrufer in der Leitung. Wir sind gespannt, wer heute ein bisschen Glück von Ashley erfahren wird. Hallo, mit wem spreche ich?«

Das war mein Lieblingsmoment. Die Vorfreude auf den Anrufer. Wer war es heute? Ein Mann, der einen Rat für seine Ehe brauchte? Eine Frau in einer Lebenskrise? Ein Kind, das in der Schule beliebter werden wollte? Für alle hatte ich den passenden Ratschlag bereit.

Ich lehnte mich lächelnd zurück.

Der Anrufer schien zu zögern: »E… E… Eric, mein Name ist Eric.« Eric, mein Eric?!

Ich spürte, wie ich zu schwitzen anfing. Eric???

Patty ermutigte den wortkargen Anrufer: »Hi Eric, schön, Sie kennenzulernen! Wie kann unsere Ashley Ihnen denn helfen?« Und augenzwinkernd: »Geht es um eine Frau?«

Eric atmete hörbar aus. »Ja. Es geht um eine Frau. Um die Frau, die ich liebe.«

Was, er liebte mich?

Patty fragte: »Und was wünschen Sie sich von der Frau, die Sie lieben?«

Er liebte mich? Er liebte mich!!! Wieso war ich nur so blind gewesen! Eric liebte mich, direkt vor meiner Nase und ich war zu dumm, zu beschäftigt, zu verpeilt gewesen, um es zu bemerken.

»Du liebst mich?«, hauchte ich kaum hörbar.

Patty konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Na, Sie Dummchen, er liebt doch nicht Sie. Also, Eric, um was geht es denn?«

»Es geht um die Frau, die ich liebe«, wiederholte er.

»Schön, das wissen wir bereits!« Langsam wurde Patty ungeduldig. »Und wo liegt jetzt das Problem?«

»Das Problem ist, dass sie nicht ehrlich ist. Sie lügt. Sie lügt alle an. Sie lügt mich an, sie lügt ihr Umfeld an.« Seufzend fügte er an: »Sie lügt sogar sich selbst an.«

Ich war wie erstarrt.

Patty schaute mich erwartungsvoll an. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Also Eric, das klingt gar nicht gut. Lügen ist Gift für eine Beziehung!« Selbstgefällig fügte sie an: »Also ich würde diese Person abschießen. Weg. Finito. Raus aus Ihrem Leben.« Zufrieden mit ihrem Urteil und langsam in Fahrt gekommen blickte sie eindringlich in die Kamera. Mit ihrer einstudierten typischen Patty-Zeigefinger-Pose unterstrich sie ihren letzten Satz: »Ihr Verlust wird gleichzeitig auch Ihr Glück sein, glauben Sie mir, Eric!«

Dann wandte sie sich wieder mir zu: »Das würden Sie doch auch sagen, oder Ashley?«

Ich wollte meinen Mund öffnen, aber es kam kein Ton heraus. Er liebte mich und ich, ich hatte alle angelogen. Wie um alles in der Welt konnte ich nur so dumm sein!

»Ashley? Sind Sie noch bei uns?«, hörte ich Pattys Stimme wie von weit her. »Ashley?!«

Dann wurde alles schwarz vor meinen Augen.

Das letzte, was ich hörte, bevor ich ohnmächtig wurde, war Eric, der unendlich traurig sagte: »Sie haben wohl recht, Patty. Ich hänge jetzt auf.«

Teil 1

»Nutze die Gunst der Stunde, solange sie dir gewährt wird.« (aus Mr. Yaos Glückskeks-Sammlung)

1

Sechs Wochen zuvor

»Das würde ich besser nicht essen!«

Die alte Dame schaute mich etwas pikiert an. Wie war nochmal ihr Name gewesen? Glenda, Rhonda, Cynthia? Hätte ich ihr doch besser zugehört …

»Hören Sie, ähm …« Ich machte eine hilflose Geste.

»Ruth!«, soufflierte meine Sitznachbarin etwas beleidigt. Ruth? Ich sollte wirklich besser zuhören!

»Hören Sie, Ruth«, als ich ihren Namen benutzte, legte ich versöhnlich meine Hand auf ihren Arm. »Dieser Salat ist eindeutig nicht mehr frisch! Und mit Ihrem …«

Was war es schon wieder gewesen, das sie tagtäglich plagte? Diabetes, Cholesterin, Nierensteine?

»In Verbindung mit Ihrem, äh, Leiden könnte das sogar lebensgefährlich sein!«

»Meinem Tinnitus? Junge Dame, ich glaube wirklich, Sie lesen zu viele Krimis!«

Und damit zeigte sie mit spitzen Fingern auf meine Intouch, die ich aufgeschlagen auf meinem Schoß liegen hatte. Ruth hatte mir, seit wir in Mailand ins Flugzeug gestiegen waren, ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Kein Wunder, dass ich da den Überblick etwas verloren hatte.

»Und überhaupt, wie kommen Sie darauf?«, sagte sie mit bereits vollem Mund. »Ich esse jeden Tag Gemüse und bin noch ganz fit!« Während sie das sagte, spuckte sie mir einige Mikrosalatresten ins Gesicht. Na wenigstens würde uns gemeinsam das Zeitliche segnen.

»Nein Ruth, Gemüse ist nicht das Problem. Oh, und natürlich sehen Sie für Ihr Alter noch super aus!« War sie fünfundsechzig, fünfundsiebzig, fünfundachtzig? Irgendwas mit fünf.

Ruth bedachte mich mit einem selbstzufriedenen Nicken.

»Aber Rohkost, verstehen Sie, Rohkost wie zum Beispiel Salat ist gefährlich. Aber nur im Flugzeug, sonst natürlich nicht. Ich habe einmal einen Artikel über Flugzeugkost geschrieben. Glauben Sie mir, das wollen Sie gar nicht genauer wissen.«

Jetzt schien Ruth etwas skeptisch zu werden. »Was sind Sie, der Flugzeugarzt?«

Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Nein Ruth, ich bin Journalistin. Normalerweise schreibe ich über verschiedene Lokale in New York und bewerte sie. Das heißt, das habe ich bis vor einem halben Jahr gemacht. Und das mit der Flugzeugkost hat mich persönlich interessiert. Mein Dad und ich reisten früher viel herum und flogen dementsprechend oft. Da wollte ich einfach mal wissen, was in Flugzeugen so geboten wird, also kulinarisch gesehen.«

Ruth war jetzt beim Dessert angelangt. Einem Brownie mit Vanillesauce. Ein Teil der Sauce hatte es sich auf ihrem Kinn gemütlich gemacht. Plötzlich rümpfte sie die Nase. Ich setzte schon an zu der Frage, ob mit dem Brownie etwas nicht stimmte. Doch Ruth war schneller. »Und Ihre Mutter, die war ganz alleine zu Hause, während Sie herumreisten? Also diese modernen Familien haben mir noch nie zugesagt!«

Wie üblich, wenn es um Mom ging, verspürte ich einen kleinen Stich. Nach all den Jahren noch. »Nein, meine Mom war nicht zu Hause. Sie war auch sonst nirgends. Sie ist an Krebs gestorben, als ich zehn war.«

Ruth schien nicht das Bedürfnis zu verspüren, sich zu entschuldigen oder mir eine Beileidsbekundung zukommen zu lassen. Im Gegenteil, jetzt kam sie erst recht in Fahrt. Der Kaffee, den sie in der Hand hielt und in den sie mindestens fünf Zuckertütchen geleert hatte, schwappte etwas über und landete auf ihrem Kostüm, als sie wild gestikulierend fortfuhr: »Und dann reist der Herr Papa einfach mit seiner Tochter in der Weltgeschichte herum?«

Ich seufzte. »Nein, natürlich nicht einfach so. Mein Dad hat früher junge, vielversprechende Köche geschult und ihnen beim Aufbau eines eigenen Betriebs geholfen. Für diese Schulungen reiste er sehr viel herum. Nach dem Tod meiner Mutter verließen wir die Staaten, wir lebten damals in Boston, und zogen nach Mailand. Mein Vater kommt ursprünglich von dort. Er leitete die Schulungen dann von Mailand aus, was für ihn sogar einfacher war. Ich besuchte, wie alle Kinder (dies sagte ich in besonders eindringlichem Ton, aber Ruth schien den Wink nicht zu bemerken) eine Schule. Eine International School, um genau zu sein.«

Hier unterbrach mich Ruth. »Ach, sprechen Sie denn kein Italienisch?«

Meine Geduld war langsam am Ende, trotzdem erwiderte ich freundlich: »Ich spreche fließend italienisch, aber mein Dad hatte diese Schule extra für mich ausgesucht, damit ich später keine Mühe im Ausland haben sollte, eine weiterführende Schule zu besuchen. In den Schulferien begleitete ich meinen Dad dann zu seinen Schulungen. Als ich vierzehn war, zogen wir nach New York und dort wurde unser Leben auch ruhiger.«

»Aha.« Jetzt schien Ruth zufrieden zu sein. Sie kaute genüsslich an einem Cookie, das sie uneingepackt aus ihrer Handtasche gezogen hatte und ignorierte die Krümel, die auf ihrem Schoß landeten. Als sie den letzten Bissen in den Mund geschoben hatte, leckte sie sich den Finger ab und pickte mit dem nassen Finger die restlichen Krümel aus ihrem Schoß. Dann beschloss sie wohl, dass sie satt war und fegte den Rest krümeliger, von Spucke eingedickter Masse weg.

Direkt auf meine Intouch.

Mit der benutzten Serviette putzte sie sich die Nase. »Umpf jtzt rrssst rrrr Vtr lllene, oder was?«

»Bitte, was?«, fragte ich höflich.

Nachdem sie sich mit der allerletzten, nicht vollständig durchnässten Ecke der Serviette einen Popel aus der Nase gezogen hatte, wiederholte sie: »Und jetzt reist Ihr Vater alleine?«

Bevor ich antworten konnte, kam ihr aber schon eine andere, zündende Idee: »Ich habs, jetzt schulen Sie andere Köche, darum waren Sie in Mailand!«

Sehnsüchtig schaute ich meine verschmutzte Intouch an. Okay, lesen konnte ich auch noch später.

»Mein Vater besitzt jetzt ein Restaurant in New York. Damit hat er alle Hände voll zu tun. Und nein, ich schule niemanden. Ich hatte die Nase voll von meinem Job und war für sechs Monate als freie Journalistin in Mailand. Dort habe ich nur ein klein wenig über Essen geschrieben und alles andere, was mich interessiert hat. Ich wollte einfach mal was anderes machen.«

»Und was machen Sie, wenn Sie zurück in New York sind?«, unterbrach mich Ruth.

Tja, da hatte sie den Nerv getroffen. Was machte ich, wenn ich zurück in New York war?

»Da ich meine Wohnung aufgegeben habe, werde ich vorübergehend bei meinem Dad, seiner neuen Frau und meinem jüngeren Halbbruder einziehen. Dann werde ich mir in Ruhe überlegen, was ich tun möchte.«

Ruth riss die Augen auf: »Er hat wieder geheiratet?! Niemals hätte ich meinen George – Gott habe ihn selig – mit einem anderen Mann betrogen!«

Wie bitte? »Ich verstehe nicht ganz. Mein Dad hat seine zweite Frau erst vier Jahre nach Moms Tod getroffen. Das ist doch kein Verbrechen.«

»Ach!« Ruth stieß verächtlich die Luft aus. »Ich sage Ihnen eines, Kindchen, wenn er Ihre Mutter geliebt hätte, wirklich geliebt hätte, hätte er niemals, niemals wieder geheiratet.« Während sie das sagte, stieß sie mir ihre verpopelte Serviette in die Seite.

Ich seufzte resigniert. In diesem Moment musste ich an Gina denken, meine Stiefmutter. Sie hatte in Dads Restaurant gekellnert und Dad hatte sich Knall auf Fall in die kleine Italienerin mit dem großen Herzen verliebt. Antonio und Gina. Das hatte von Anfang an gepasst.

Sie war das Beste, was meinem Dad, vier Jahre nach Moms Tod, hatte passieren können. Und bestimmt auch das Beste, was mir hatte passieren können. Gemeinsam standen wir den Rest meiner Pubertät durch und ich hatte endlich wieder einen Mamaersatz, der mir mit Rat und Tat zur Seite stand. Gina war der absolute Dreh- und Angelpunkt unserer Familie geworden. Dad und ich hatten sie von Anfang an bedingungslos geliebt.

Und Nick, mein süßer, kleiner Bruder, war das größte Geschenk für uns alle gewesen. Ich hatte Dad und Gina immer wieder in den Ohren gelegen, dass ich noch unbedingt einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester wollte. Natürlich waren die beiden skeptisch, schließlich hatte Gina die Vierzig schon überschritten. Doch auch Gina hatte sich sehnlich ein Kind gewünscht, und so hatten sie der Natur ihren Lauf gelassen und es war gekommen, wie es kommen musste.

Von Anfang an liebten wir Nick heiß und innig. Wir stritten uns sogar darum, wer ihn wickeln durfte. Er war ein durch und durch zufriedenes Kerlchen und daran hatte sich bis heute nichts geändert.

Ich lächelte, als ich an meinen mittlerweile elfjährigen Bruder denken musste. Er war so klug, lustig und talentiert. Er brachte immer gute Noten nach Hause und war dabei trotzdem ein bodenständiges Kerlchen mit vielen Flausen im Kopf. Mann, hatte ich meine Familie vermisst!

Ruth schien mich von der Seite her zu beobachten. »Und wie hieß noch mal das Restaurant Ihres Vaters?« Offenbar hatte sie beschlossen, ihre Abneigung gegen Dad vorübergehend zurückzustellen.

Oder sie wollte einfach nur wissen, wie die Synagoge des Teufels hieß.

»Lo Spino, Dad ist der Besitzer des Lo Spinos.« Wieder riss Ruth die Augen auf. Diesmal allerdings nicht vor Entsetzen, sondern eher überrascht. »Er besitzt das Lo Spino?!« Ruth war ganz außer sich. »Meine Freundin würde für einen Platz im Lo Spino sterben! Aber dieser Schickimicki-Laden ist ja immer so ausgebucht.« Und mit vorwurfsvollem Unterton füge sie an: »Und unbezahlbar.«

Ausgebucht, ja, da hatte sie recht. Aber unbezahlbar war das Lokal nicht. Dads Devise war immer gewesen, dass Essen zwar durchaus etwas Besonderes und auch Teures sein dürfe. Aber immer im Rahmen und immer verhältnismäßig.

Ruth starrte mich immer noch an. Wahrscheinlich rang sie innerlich mit sich, ob sie meinem Dad vergeben solle, schließlich konnte er ihr noch von Nutzen sein, oder ob sie ihrem George – Gott habe ihn selig – die Stellung halten würde. Okay, ich könnte ihr etwas auf die Sprünge helfen.

»Wie heißt Ihre Freundin denn?«, fragte ich sanft.

»Jade«, antwortete Ruth. Ich spürte, wie sie mir ins Netz ging.

»Sagen Sie Jade, ich werde etwas arrangieren. Und kommen Sie ja nicht nur zu zweit. Bringen Sie ruhig Ihre Freundinnen mit! Geht aufs Haus.«

Ruths Mund öffnete sich weit. Vor lauter Aufregung vergaß sie offensichtlich, ihn wieder zu schließen. Ich versuchte, daran vorbeizuschielen.

»So, und jetzt werde ich etwas schlafen. Schließlich sind es noch einige Stunden bis New York.«

Damit klopfte ich mein Kissen in die richtige Position und schloss meine Augen.

Als ich aufwachte, war Ruth fleißig damit beschäftigt, in meiner Intouch zu lesen. Ich überlegte gerade, ob ich es schaffen würde, mich noch etwas länger schlafend zu stellen, als sie schon anfing, mit mir zu sprechen. Wie um alles in der Welt …?

»Miley Cyrus ist ein Flittchen!«

Ich versuchte, eine passende Antwort zu geben, aber Ruth war offenbar nicht an meiner Meinung interessiert. Ohne Pause fügte sie an: »Und diese Madonna erst. So ein Luder! Sollte sich mal was schämen. Tanzt wie eine Prostituierte an der Stange. Pah, und so etwas stellt noch Kinder in die Welt!«

Ich schaute mich verstohlen um und inspizierte die Reihen. Ich entdeckte niemanden, der aussah wie Miley Cyrus oder Madonna. »Aber sie machen beide wirklich gute Musik«, versuchte ich einzulenken. Irgendwie mochte ich es nicht, wenn über Abwesende so hergezogen wurde.

Ruth bedachte mich mit einem Blick, der keine Widerrede zuließ. »Quatsch, gute Musik. Lärm ist das, nichts als Lärm!«

In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ein Streit mit Ruth über die aktuellen Charts nicht glücklich für mich enden würde. Das war wohl einfach nicht ihr Jahrhundert. Ruth schlug die Intouch mit einem Knall zu und verstaute sie in ihrer Tasche. Gleich neben einem übrig gebliebenen Keks und der verpopelten Serviette vom Mittagessen.

Ich würde mir wohl eine neue kaufen müssen.

Ein Blick auf den Monitor zeigte mir, dass wir bereits in einer Stunde landen würden. Beim Gedanken an das baldige Wiedersehen mit meiner Familie wurde mir ganz warm ums Herz. Ich lächelte Ruth an: »Wie war er denn so, Ihr George?«

»Mein George?« Ruth sprach den Namen ihres verstorbenen Ehemannes ganz zärtlich aus. Es schien also doch ein Herz in dieser Brust zu schlagen. »Er war der hübscheste Junge in der ganzen Stadt. Sonntags holte er mich immer zum Eis essen ab. Alle Frauen wollten ihn haben, aber mich hat er geheiratet.« Dies sagte sie mit einem verklärten Gesichtsausdruck.

»Und was war in Ihrer Beziehung so besonders?« Jetzt hatte sie mich wirklich neugierig gemacht.

»Ach, Kindchen, wir haben uns halt einfach geliebt. Er war für mich da und ich für ihn. Wenn es etwas zu sagen gab, haben wirs gesagt. Aber Streit gab es nie! Er war der Topf und ich war sein Deckel.«

»So einfach ist das?«, ich war echt erstaunt. Das klang so simpel.

»So einfach ist das.« Für Ruth schien das Thema beendet zu sein.

»Dann verstehe ich, dass kein späterer Mann Ihrem George das Wasser hätte reichen können!« Irgendetwas in ihrer Erklärung hatte mich berührt. Ob ich das auch eines Tages von einem Mann sagen würde? Der Deckel zum Topf. Ein Klischee. Aber Hand aufs Herz, wer wünschte sich das nicht!

Lächelnd wandte ich mich wieder Ruth zu. Vielleicht konnte ich ihr noch eine Geschichte entlocken. Was war schöner als wahre Liebe!

Ruth hatte die verklebte Intouch wieder aus ihrer Handtasche geholt und hielt mir das Cover entgegen.

»Hier, sehen Sie den da?« Zwischen zwei Brownie-Resten konnte man noch knapp den Kopf von Justin Timberlake erkennen. Er hielt, links von sich, ein Schokolade verschmiertes Etwas im Arm. Vermutlich seine Jessica.

Ruth wischte liebevoll das Gesicht von Justin Timberlake sauber.

Dann sagte sie: »Also den würde ich natürlich nicht von der Bettkante stoßen.«

Als wir endlich in New York landeten, hatte ich eine gestresste Ruth an meiner Seite. Ihre Freundin Betty hatte eine Meldung auf der Voicemail hinterlassen, dass sie es nicht mehr pünktlich zum Flughafen schaffen würde. Ich bot ihr an, ein Taxi für sie zu besorgen, aber sie lehnte dankend ab. Zu teuer!

Nach einem Blick auf ihr Gepäck (hatte sie nicht behauptet, nur für ein paar Tage in Mailand gewesen zu sein?!) ließ ich mich erweichen und hinterließ wiederum Dad eine Nachricht auf der Voicemail, ob er nicht einen Fahrer des Restaurants für Ruth zur Verfügung stellen könne. Nach zwei Minuten erhielt ich eine Nachricht: »Erledigt!« Dad war echt ein Schatz.

Ruth und ich tauschten unsere Nummern aus. Schließlich hatte ich noch ein Versprechen einzulösen. Und, ganz ehrlich, sie hatte mich wirklich unterhalten.

Als ich den Ausgang erreichte, entdeckte ich gleich meine vollständige Familie. Nick hatte ein Riesentransparent gemalt und schwenkte es enthusiastisch. Gina weinte hemmungslos. Und Dad überragte mit seinen 1 Meter 88 wie üblich die meisten.

Ich schloss alle drei gleichzeitig in die Arme und wir verhedderten uns lachend in Nicks Transparent.

»Tesoro!«, sagte Gina immer und immer wieder, und strich mir liebevoll übers Haar.

»Sag mal, bist du geschrumpft?«, meinte Dad schmunzelnd. Ich boxte ihn in den Bauch.

»War das laaaaaangweilig ohne dich!« Nick strahlte und ignorierte Dads und Ginas tadelnden Blick.

Es war so schön, wieder zu Hause zu sein.

Als wir eine Stunde später in unserer Penthouse-Wohnung im Herzen Manhattans ankamen, überkam mich ein großes Glücksgefühl. Ich atmete den Duft der Wohnung ein und fühlte mich gleich wieder zu Hause.

Dann trat ich auf die Terrasse hinaus. New York wurde zu Recht als die Stadt bezeichnet, die niemals schläft. Überall brannten noch Lichter, und auf den Straßen herrschte auch jetzt noch reger Verkehr. Die Energie dieser Stadt war einfach ansteckend. Die New Yorker waren stolz auf ihre Stadt. Verständlich. New York hatte eine Magie, die man einfach erlebt haben musste!

Auch hier nahm ich einen tiefen Atemzug. Das alles, die Stadt, den Lärm, die Lichter, den Geruch und vor allem meine Familie hatte ich so vermisst!

Während ich mein altes Zimmer bezog und meine Sachen auspackte, kochte Dad für uns seine fantastischen Spaghetti alla Napoletana.

Als wir dann alle am Tisch saßen, war es wie zu alten Zeiten. Nick unterhielt mich mit seinen Schulgeschichten, Gina nahm mich alle paar Minuten wieder in den Arm, und Dad lächelte zufrieden vor sich hin. Es war perfekt!

Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten. Immer und immer wieder diesen Samstagabend im Februar durchlebt.

So sollte es für immer bleiben …

Wie hätte ich auch wissen sollen, dass mein Leben ab sofort im Chaos versinken würde.

2

»Na los!«, ganz ungeduldig schob mir Nick meinen Glückskeks zu. »Öffne ihn endlich!«

Es war Sonntagabend und wir feierten meine Heimkehr bei unserem Lieblingschinesen.

Mr. Yao war vor Freude ganz außer sich gewesen, als er mich gesehen hatte! Sofort hatte er mir seinen speziellen Haar-Wuschler zukommen lassen. Einen von der Sorte, der jede Frisur ruinierte. Dann hatte er uns allen eine Extrarunde Frühlingsrollen spendiert.

Jetzt, eine Stunde später und nach der frittierten falschen Ente mit Erdbeereis, fühlte ich mich kurz vor dem Platzen.

Wie so oft, wenn wir auswärts aßen, bewunderte ich Dad insgeheim. Ich kannte wenige Menschen, die so gut kochten wie er und gleichzeitig so unheikel waren mit fremdem Essen. Im Gegenteil, er liebte es, auswärts zu essen und neue Dinge zu probieren. Als Kind war ich in der Schule immer ganz stolz darauf, wie häufig ich bei McDonald’s essen durfte. Für die meisten Italiener vor etwa zwei Jahrzehnten ein absolutes No-Go! Für Dad hingegen eine angenehme Abwechslung und wohl in erster Linie ein Gefallen an seine Tochter.

Als Familie kochten wir leidenschaftlich gerne zusammen. Aber genau so gerne aßen wir woanders und ließen uns verwöhnen. Als wir das Chinese Duck – gleich um die Ecke bei uns – entdeckt hatten, hatten wir das Lokal und seinen Besitzer sofort ins Herz geschlossen und drei interessante Dinge festgestellt:

Mr. Yao hatte einen speziellen Sinn für Humor.

Das

Chinese Duck

schien seinen Namen der Tatsache zu verdanken, dass Mr. Yao schlicht und einfach

Oriental Mandarin

,

Chinese Corner

oder auch

Lucky Spring Roll

nicht hätte aussprechen können.

Glückskekse waren so ziemlich das Bescheuertste, was China je auf den Markt gebracht hatte.

Als uns nach einigen Besuchen aufgefallen war, was für ein Ausbund an nichtssagenden Weisheiten in diesen Keksen steckte, hatten wir einfach nicht widerstehen können. Wir mussten sie parodieren! Nick und ich wechselten uns darin ab, den Spruch pantomimisch darzustellen. Die anderen sollten raten, was im Keks stand.

Vor allem Nick kam immer wieder auf die abstrusesten Ideen, wie die hohlen Sprüche darzustellen seien. Wir hatten schon oft Tränen gelacht. Die Sprüche nahmen wir nach Hause und sammelten sie. Einige Male hatten wir auch schon unsere Gäste damit unterhalten.

Wer brauchte Tabu, wenn er Glückskekse hatte!

Jetzt war ich also an der Reihe. Ich öffnete meinen Keks und las für mich: Wer zuhören kann, ist ein reicher Mensch! Okay, das konnte doch nicht so schwer sein.

Ich tat so, als quasselte ich Gina voll (die links von mir saß). Gina kicherte, Nick tadelte »Schscht, sie ist noch nicht fertig!« und Dad sagte: »Ein Mann, ein Wort – eine Frau, ein Wörterbuch!« Na super.

»Hey!«, Gina stupste ihn in die Seite (was sie sehr oft tat, obwohl es bei ihr eher liebevoll als abschreckend wirkte).

Na dann, zweiter Versuch. Diesmal mimte ich eine aufmerksame Zuhörerin. Ich hörte der Speisekarte in meiner Hand interessiert zu (mmh, war dieser Schokopudding etwa neu im Sortiment?), dann öffnete ich unter dem Tisch meine Brieftasche und holte einige Dollarscheine heraus. Nach ein paar Sekunden ließ ich sie aus der Speisekarte auf mich sprudeln.

»Ich habs!« Nicks Augen glänzten begeistert. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!«

Dad schmunzelte: »Ach was, in China fallen doch keine Äpfel von den Bäumen.«

»Echt?«, meinte Nick.

»Keine Ahnung!« Dad strich ihm liebevoll übers Haar. »Also ich tippe auf: Auch Speisekarten haben Gefühle!« Dies sagte er in seiner typisch Glückskeks erklärenden Manier, mit erhobenem Zeigefinger und eindringlichem Ton und wir konnten nicht anders als zu lachen.

»Fast«, sagte ich, »also eigentlich ist es: Wer zuhören kann, ist ein reicher Mann!«

»Na, sag ich doch!«, meinte Dad.

»Jetzt bin ich dran!« Nick war schon ganz aufgeregt. Er las seinen Spruch und wurde richtig rot vor Vorfreude. »Cool, der ist besonders doof!«

Wir anderen machten uns bereit. Nick nahm unsere Servietten, faltete sie zu einem Strick zusammen und hängte sich fiktiv daran auf. Dabei ließ er röchelnd seine Zunge herausbaumeln.

»Shit happens?«, schlug ich vor.

»Falsch. Und zudem bin ich noch nicht fertig!« Jetzt hielt Nick einen unsichtbaren Stift in der Hand und tat so, als löse er eine Rechenaufgabe. Irgendwie schien er aber nicht auf die richtige Lösung zu kommen, denn er strich das Resultat, das er irgendwo in die Luft zeichnete, immer wieder durch. Dazu machte er ein Gesicht wie sein Schulfreund Tommy, der immer zum Schreien aussah, wenn er sich fest konzentrierte. Gina und ich lachten schallend. Dad sah uns fragend an.

»Insider«, meinten Gina und ich wie aus einem Mund.

»Und?« Nick schaute uns erwartungsvoll an.

»Der Tod ist ein Rätsel?«, probierte ich.

»Bezahle deine Schulden, solange du noch am Leben bist!« Dad hängte an das Ende seines Satzes kein Fragezeichen, wie ich es getan hatte, im Gegenteil, mit seinem Zeigefinger und der üblichen Theatralik untermauerte er seine These.

Nick kicherte. »Dad, du solltest Glückskekssprüche-Erfinder werden!«

In diesem Moment wurden wir von Mr. Yao unterbrochen. »Haben die Hellschaften noch einen Wunsch?«

Mit einem Blick auf die zufriedene Runde meinte Dad: »Nein danke, Mr. Yao, ich denke, wir wollen zahlen.«

Strahlend wuschelte mir Mr. Yao noch einmal durchs Haar. Mann, sogar das hatte ich vermisst!

»Schön, dass unsele Miss wiedel zu Hause ist.« Wobei er das U von Hause in leicht singendem Tonfall sagte.

»Hat sie in Italien ihle lichtige Familie besucht, he?« Dabei zwinkerte er mir verschwörerisch zu.

Schmunzelnd zwinkerte ich zurück. Ich war die einzige in der Familie, die nicht braune Haare und braune Augen hatte. Meine richtige Mama Anna kam auch aus dem Norden Italiens und hatte mir ihre dunkelblonden Haare und grünen Augen vererbt.

Von Dad hingegen hatte ich die Größe. Mit meinen 1 Meter 75 war ich für eine Frau eher groß. Und ich war auch – entgegen Dads Behauptung – in Mailand nicht geschrumpft!

Da Gina und Nick dunkelhaarig und klein waren, passte ich also gemäß Mr. Yaos spitzfindiger Beobachtung nicht in diese Familie. Alle Versuche, ihm zu erklären, dass Gina nicht meine leibliche Mama war und Nick, in Erwartung der Naturgesetze, noch wachsen würde, waren kläglich gescheitert. Mr. Yao hatte nur müde abgewunken. Für ihn war klar: Ich war ein Kuckucksei! »Is viellei Posbote blond gewese, he?«, hatte er mehr als einmal gesagt, um dann in sein schallendes Mister-Yao-Lachen zu verfallen. Wie gesagt, spezieller Humor.

So war Mr. Yao eben, und wir mochten ihn wirklich. Letztes Jahr hatte er sogar eine neue Serie Glückskekse – extra für unser Spiel! – bestellt. Ganz stolz hatte er uns damit überrascht und glücklich dabei gelacht.

»Genau«, antwortete ich auf Mr. Yaos ursprüngliche Frage. »Ich habe alle getroffen, die ganze Familie. Aber sagen Sie ja denen nichts!« Und damit deutete ich auf Gina, Dad und Nick.

Mr. Yao lachte sein Mister-Yao-Lachen und lief davon, um die Rechnung zu holen.

Dad meinte mit ernster Miene: »Vielleicht werdet ihr auf meinem Sterbebett erfahren, dass dieser alte Charmeur tatsächlich recht hatte. Ein gut gehütetes Geheimnis. Nur Anna und ich wussten davon. Mal sehen, ob ich die Bombe je platzen lassen werde.«

»Also was jetzt, der Postbote?«, meinte ich schmunzelnd.

»Ach, ich stelle mir da lieber jemand Spannenderen vor«, meinte Dad. »Zum Beispiel der Personal Trainer!« Er ließ aufreizend seine Muskeln spielen.

Gina knuffte Dad wieder in die Seite. »Als ob es in Italien vor fast 30 Jahren schon Personal Trainer gab! Da wäre es eher der Dorfpfarrer gewesen.«

An Nicks säuerlichem Gesicht merkten wir, dass das Gespräch eine Wende nahm, die ihm nicht behagte. Wie sollte es auch, bei seinen elf Jahren. Also wechselten wir das Thema.

»Und, Nick?« Gina war am schnellsten. »Wer ist denn jetzt gestorben?« Nick schaute etwas bedeppert drein.

»Dein Glückskeks. Was stand denn drin?«, half ihm Gina auf die Sprünge.

Nicks Gesicht erhellte sich. »Ihr kommt nicht drauf, oder?«

»Nein«, meinte ich, »außer Dad hatte recht mit seinen Schulden.«

Wie auf Kommando kam Mr. Yao mit der Rechnung.

Nick hatte eine blendende Idee. »Mr. Yao, raten Sie mal! Was könnte das bedeuten?« Er spielte die ganze Performance für Mr. Yao noch einmal ab.

»Hmm.« Mr. Yao kratzte sich am Kinn. »Lass mich übellegen. Aaahh, nul die Toten machen keine Fehlel mehl!«

Nicks Kinnlade klappte herunter. Ungläubig sagte er: »Stimmt! Wieso wussten Sie das?«

Mr. Yao nickte weise. »Ist altes chinesisches Splichwolt.«

Und damit übergab er uns die Rechnung.

3

Am nächsten Morgen – ich träumte gerade von einem riesigen Blumenfeld voller Schokoküsse die ich genüsslich in mich reinfutterte – wurde ich von einem lauten Knall neben dem Bett geweckt. Verärgert schlug ich die Augen auf.

Ebenso verärgert blickte mich Miss Chanel an.

Miss Chanel war Ginas weiße Perserkatze, die Dad ihr vor fünf Jahren geschenkt hatte. Gina hatte sich damals sehnlichst die neue Tasche von Chanel gewünscht, aber zu ihrem Ärger war die ausverkauft gewesen. Zum Spaß hatte sie Dad gesagt: »Dann kaufe ich mir halt eine Katze.«

Als Dad einige Wochen später von einem Kunden erfuhr, der einen Wurf Perserkatzen zu verkaufen hätte, konnte er einfach nicht widerstehen und besorgte Gina die niedlichste Katze aus dem Wurf. Ein süßes, weißes Weibchen, das ihn treuherzig anblickte und seine Hand ableckte. Gina war vor Freude geschmolzen und die Chanel-Tasche war vergessen. Nicht ganz allerdings, denn zum Spaß beschlossen Gina und Dad, die Katze »Miss Chanel« zu nennen. Schließlich gab es Miss Chanel in unserem Haus nur dank Chanel oder eben dank nicht Chanel. Sie war ein extrem süßes Kätzchen und wickelte uns alle schnell um den Finger.

Nach einigen Monaten entdeckten wir Folgendes: Miss Chanel war eigentlich ein Mister Chanel.

Naja, das lange Fell halt und so.

Umso älter sie, also er, wurde, wurde sie, also er, immer griesgrämiger und fetter. Nichts mehr mit niedlichem Kätzchen. Da wir uns aber alle mittlerweile so an »Miss Chanel« gewöhnt hatten, blieb sie, also er, einfach »Miss Chanel«. Sehr zum Missfallen von ihr, ihm, wie uns schien. Grundsätzlich hasste er alles, was mit Nichtbeachtung, Nichtfütterung oder Nichtstreichelung (das allerdings nur, wenn es Madam, äh, Monsieur in den Kram passte) zu tun hatte. Und ganz besonders hasste er seinen Namen. Das »Miss« schien er als persönlichen Affront zu betrachten. Aber eben, wie es so ist mit eingefleischten Gewohnheiten. Wir konnten es nicht ändern. Miss Chanel blieb Miss Chanel.

Nur etwas männlicher und irgendwie dauerbeleidigt.

Jetzt war auf jeden Fall Zeit fürs Frühstück und da ich die einzige war, die ihre Zimmertüre über Nacht offen gelassen hatte, war ich Miss Chanels Opfer. Ich schob den Fettklops etwas beiseite um zu begutachten, was da gerade kaputt gegangen war. Neben dem Bett lag Nicks hübscher, selbstgemachter Fotorahmen, den er mir zu meiner Rückkehr geschenkt hatte. Darin hatte er eine kleine Collage unserer Familie gemacht. Das Glas war jetzt allerdings zersplittert und auch den Rahmen würde ich kleben müssen.

Ich schaute Miss Chanel mit betont strenger Miene an. Miss Chanel gähnte und fing an, sich zu putzen. Ich überlegte mir, ob ich sie bei Gelegenheit bei Mr. Yao abgeben sollte. Zum Export nach China. Ich würde auch keine Fragen stellen.

Mit einem Ruck fegte ich das Monster vom Bett (immerhin kam jetzt ein Laut des Protestes von ihren Lippen) und bückte mich nach dem Rahmen. Die Scherben würde ich später aufwischen, aber den Rahmen wollte ich gleich kleben.

Ich ging in die Küche, da ich wusste, dass Gina da auch ihren Sekundenkleber aufbewahrte. Miss Chanel folgte mir schnurrend. Alles, was Gina versorgte, war immer wieder am gleichen Ort zu finden und mit einem Griff nahm ich den Sekundenkleber zur Hand.

Miss Chanel schaute mich erwartungsvoll an. Ganz kurz überlegte ich, als Alternative zu China eine kleine Menge des Klebers in Miss Chanels Futter zu mischen. Aber bestimmt würde die Kröte Lunte riechen.

Also klebte ich zuerst den Rahmen, so gut es ging und machte mich dann seufzend daran, der Nervensäge das Frühstück zu servieren. Wurde aber auch Zeit!, sagte Miss Chanels Blick.

»Ella, schon auf?« Ganz verschlafen schlenderte Gina in die Küche. Gähnend fügte sie an: »Es ist doch erst Viertel vor sechs!«

Dann entdeckte sie die zufrieden essende Katze und meinte: »Ach Schätzchen, immer Türen schließen zum Schlafen. Ohropax sind nicht schlecht. Und im Zweifelsfall einfach tot stellen. Capito? Und jetzt würde ich vorschlagen, du legst dich noch ein bisschen aufs Ohr.«

Grummelnd gab ich Gina einen Kuss und schlenderte zurück in mein Zimmer.

Beim Weggehen hörte ich noch: »Und du, Madame, gibst jetzt mal Ruhe! Denk dran, meine Freundin Miranda wünscht sich schon lange einen neuen Bettvorleger. Verstanden?!«

Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war es schon helllichter Tag. Ausgeschlafen und voller Enthusiasmus schwang ich die Beine aus dem Bett, um dann sofort einen stechenden Schmerz zu spüren.

Mist, die Scherben!

Fluchend humpelte ich in das angrenzende Bad und versorgte die Wunde am Fuß. Dann saugte ich die Scherben mit meinem kleinen Handsauger ein. Dad verwendete diesen in seinem Restaurant und ich hatte mir unbedingt einen für zu Hause gewünscht. Ich liebte dieses Teil. Leider würde er eine Miss Chanel nicht fassen können.

Als ich in die Küche kam, war Gina gerade am Telefon. Nick war bereits in der Schule und soweit ich mich erinnern konnte, hatte Dad heute ein wichtiges Treffen mit einem Lieferanten.

»Hör zu, ich frage sie. Sie ist jetzt aufgestanden. Ich rufe zurück, okay? Bis später!« Mit diesen Worten legte sie auf.

Ich setzte einen Espresso mit der Caffettiera auf. »Und was solltest du mich fragen?«

»Zuerst trinkst du den Kaffee, dann reden wir.« Gina war unglaublich einfühlsam. Sie wusste, dass ich am Morgen erst nach dem ersten Kaffee funktionierte.

Und tatsächlich, nach dem ersten Schluck spürte ich schon, wie meine Lebensgeister langsam geweckt wurden. Wer auch immer dieses Getränk entdeckt hatte, hätte den Nobelpreis dafür erhalten sollen!

»Und?«, wiederholte ich.

»Das war Michelle, eine Freundin aus dem Elternrat. Ihre Tochter hat sich gestern beim Bowling den Oberschenkel gebrochen. Frag nicht, wie sie das geschafft hat! Ashley, so heißt die Tochter, sollte heute einen neuen Job anfangen. In so einem schicken Lokal an der Fifth Avenue. Ach, ich sag dir, da ist die Tochter wie die Mutter. Nur das Beste vom Besten. Du solltest Michelle mal sehen, nur Markenklamotten …«

Als sie meinen Blick sah, merkte sie, dass sie sich verzettelt hatte.

»Scusa cara! Also, Ashley sollte heute einen neuen Job anfangen. Lunch ausliefern oder so. Wie gesagt, in so einem schicken Laden. Auf jeden Fall wusste Michelle ja, dass du wieder zurück bist und im Moment nicht arbeitest. Und jetzt hat sie gefragt, ob du nicht für Ashley einspringen wolltest. Da du dich auch mit Essen auskennst und so. Und da du Zeit hast. Du könntest es dir auch einfach nur mal anschauen.«

Gina schaute mich erwartungsvoll an. Sie war so ein Schatz. Wenn sie Zeit gehabt hätte, wäre sie bestimmt eingesprungen. Einfach, um ihre Freundin nicht hängen zu lassen. Ich seufzte. Mit diesem Hundeblick kriegte sie immer alle rum.

Aber ehrlich, ich hatte im Moment eh nichts Besseres zu tun, da könnte ich mir den Laden auch mal anschauen. Bis ich mich entschieden hatte, was, für wen und wie ich in Zukunft arbeiten sollte, konnte ich auch einer Freundin von Gina aushelfen. Oder der Tochter der Freundin von Gina. Es gab nichts zu verlieren, nur neue Erfahrungen zu machen. Und eines war klar: Ich liebte neue Erfahrungen!

»Okay, sag deiner Freundin, sie soll sich keine Sorgen machen. Ich bin dabei!«

4

Es gibt Menschen, die beherrschen die Kunst des Zuhörens perfekt. Sie wissen, wann sie nicken, wann sie still zuhören oder wann sie eine interessierte Frage stellen sollten. Geschickt lassen sie abwechselnd ein »Ah«, ein »Oh« oder ein wissendes »Mmh« einfließen. Egal, was um sie herum geschieht, sie lassen sich durch nichts ablenken. Solche Menschen sind immer beliebt. Sie werden als Freunde geschätzt. Jeder hat sie gerne um sich. Sie geben dem Gegenüber einfach ein gutes Gefühl, und die Welt wird durch sie tatsächlich ein Stück besser. Meine ganze Familie ist so.

Außer mir.

Nicht, dass ich nicht an meinen Mitmenschen interessiert wäre, im Gegenteil, ich höre gerne zu, wenn jemand etwas Spannendes zu erzählen hat. Aber, und das ist echt ein Problem, meine Gedanken schweifen einfach immer wieder ab.

»Ella, Schatz, du bist nicht unaufmerksam. Du hast einfach zu viel Fantasie. Dein Kopf hat meistens gar keinen Platz mehr für andere Dinge«, behauptete mein Dad immer. Vielleicht hatte er recht, aber irgendwie überzeugte mich diese Einschätzung noch nicht ganz.

Ich bin die Königin des Abschweifens. Schon in der Schule hatte ich Mühe, den Lehrern zu folgen. Ich war nicht schlecht in der Schule, im Gegenteil, ich schrieb eigentlich immer gute Noten, aber ich konnte schlicht und einfach nicht zuhören. Ich langweilte mich unglaublich schnell. Unverständlicherweise ließen mir das die meisten Lehrer durchgehen.

Alle, bis auf Miss Adelaide Girdle-Cumber.

Sie unterrichtete so wie sie hieß. Umständlich, streng, langweilig, unerbittlich. Nach unserer Rückkehr nach New York begleitete sie meinen schulischen Weg die restlichen drei Jahre lang als Englischlehrerin in der High School. Sie behauptete, aus London zu kommen, meine Freunde und ich waren aber sicher, dass sie direkt aus der Hölle kam.

Auch heute noch, wenn ich abschweife, ploppt häufig Miss Adelaide Girdle-Cumbers Gesicht vor mir auf und ich höre sie mit ihrer nasalen Stimme sagen: »Aaah, Miss Ella hat sich wieder einmal ausgeklinkt. Na, junge Dame, was habe ich gerade erzählt?« Nicht was sie gesagt hatte, war schlimm, sondern wie sie es gesagt hatte. Mit dieser faltigen, arroganten, gnadenlosen Art. Natürlich konnte ich nicht wiedergeben, was sie gesagt hatte. Dazu fehlten mir fünfzig Jahre Altersunterschied und ein Doppel-Nachname mit Bindestrich.

Jetzt aber – einige Stunden nach Ginas Telefonat mit Michelle – fehlte mir etwas anderes und zwar wichtige Informationen zu meinem Gegenüber. Ich war gerade dabei, mich zu fragen, an wen mich der Typ an der Wand erinnerte (und war zu dem Schluss gekommen, dass es auf jeden Fall nicht der Dalai Lama war) als ich mit dem vertraut-verhassten: »Aaah, Miss Ella hat sich wohl wieder einmal ausgeklinkt!« in die Gegenwart zurückgeholt wurde.

Gina war vor Freude ausgeflippt, als ich zugesagt hatte und eine dankbare Michelle hatte mir daraufhin ganz aufgeregt den Weg zu dem Lokal erklärt.

Hier saß ich nun an Lisas Schreibtisch (oder hieß sie Tina?) und ließ mir gerade die Firmenphilosophie erklären. War es möglich, dass ich mich so lange ausgeklinkt hatte? Ich hatte doch nur kurz das Bild an der Wand betrachtet!

»… und deshalb ist es uns so wichtig, dass bei uns nur Leute arbeiten, die zu hundert Prozent an unser Credo glauben. Toll Ashley, dass du dich bei uns gemeldet hast!«

Ashley?

Hatte ihr denn gar niemand gesagt, dass ich nur die Aushilfe war?

»Nori’s Secret nimmt solche Dinge ernst und darauf sind wir stolz.«

Nori’s Secret?

Wer um alles in der Welt war Nori?! Etwa die kleine Schwester von Victoria? Ich würde hier noch verrückt werden …

Verstohlen schaute ich durch die verglaste Scheibe des Büros. Nein, da draußen war definitiv kein Kleiderladen. Hier wurde Essen produziert. Nur, welches Essen? Nervös blickte ich in Lisas (Tinas?) Gesicht. Sie schien von meiner Verwirrung noch gar nichts gemerkt zu haben.

Fröhlich plauderte sie weiter: »Eine Filiale hier an der Fifth Avenue zu eröffnen, hat sich als goldrichtige Entscheidung herausgestellt. Wir werden von Kunden nur so überrannt. Deshalb haben wir unseren Lunch-Lieferdienst ins Leben gerufen. Unsere Kunden bestellen online und wir liefern pünktlich aus. Jeden Tag gibt es Tagesspecials, die natürlich am besten laufen.«

Mit einem Blick in die Unterlagen sagte sie: »Wie ich sehe, hast du schon an einigen Orten gejobbt. Finde ich immer toll, wenn so junge, engagierte Menschen wie du sich für ihre Grundsätze stark machen. Wo im Ausland warst du denn für Greenpeace?«

Ähm, wo im Ausland war ich denn für Greenpeace? Ashley hätte ihr darauf bestimmt eine Antwort geben können. Ich schaute etwas verlegen auf den Boden. Wann genau hatte ich den Moment verpasst?

»Mailand, ich war für ein halbes Jahr in Mailand!«, sagte ich mit einem schiefen Lächeln.

»Mailand, das ist ja spannend! Was macht Greenpeace denn in Mailand?« Interessiert legte Tina Lisa ihre Hand ans Kinn.

Auweia!

»Also Greenpeace ist, äh, in Mailand vor allem für, für …«

Ich räusperte mich, um Zeit zu gewinnen. »Ja, also in Mailand kümmert sich Greenpeace um, um … um die Tauben!!!«

Das war nicht mein Ernst! Ausgerechnet um diese Kacker sollte sich Greenpeace kümmern? Verlegen schaute ich den Schreibtisch an. Das würde sie mir doch nicht abkaufen, oder? Neben »meinen« Bewerbungsunterlagen entdeckte ich einen adressierten Brief. Ich schielte etwas genauer hin. »Nori’s Secret« stand darauf. Und danach: «Lisa Miller.« Also wenigstens dieses Geheimnis hatte ich gelüftet!

Ich schaute Lisa erwartungsvoll in die Augen.

»Das ist ja mal was!«, meinte sie. »Ich muss sagen, ich habe zu Tauben keine so gute Beziehung.« Grinsend fügte sie an: »Wie wohl alle New Yorker!«

Dann klopfte sie entschlossen auf den Tisch. »Aber es ist gut zu wissen, dass alle Geschöpfe dieser Erde jemanden haben, der sich um sie kümmert.«

»Ja, nicht wahr!« Dankbar stimmte ich in ihr Lachen ein.

»Ja gut, Ashley, ich denke, wir sind uns einig. Du kannst gerne morgen bei uns anfangen! Wie du bereits angegeben hast, kennst du dich hier in der Gegend sehr gut aus. Ich denke, das sollte also kein Problem sein.«

Irgendwie wurde mir diese Ich-bin-ja-so-toll-und-kenne-mich-überall-aus-und-habe-bereits-Walen-den-Pogeputzt-und-weiß-sogar-was-Noris-Geheimnis-ist-Ashley immer unsympathischer!

»Du darfst dir gerne noch etwas zu essen holen an der Theke! Wir haben wieder einige neue Sachen und es ist wichtig, dass du alles kennst. Ich stelle dich auch gleich den anderen vor.«

Lisa verließ vor mir ihr Büro. Resigniert packte ich meine Sachen zusammen. Was genau war ich hier eigentlich im Begriff zu tun? Hallo, es ging darum, jemandem einen Gefallen zu machen! Entschlossen schulterte ich meine Tasche. Ich musste reinen Tisch machen, ob es mir passte oder nicht. Ich war nicht Ashley, ich hatte noch nie einen Cent für Greenpeace gespendet und ich hatte keinen blassen Schimmer, wer Nori war!

Beim Hinausgehen fiel mein Blick wieder auf das Bild des Pseudo-Dalai-Lamas. Naja, es könnte auf jeden Fall nicht schaden, herauszufinden, wer das war. Unter dem Bild war sein Name eingraviert und darunter so etwas wie fünf Lebensweisheiten. Ich zückte mein Handy und schoss ein Bild davon.

In diesem Moment kam Lisa wieder herein. Ich spürte, wie ich anfing zu schwitzen. Jetzt würde ich es ihr erklären müssen …

»Wunderbar, nicht wahr«, sagte sie mit einem verklärten Gesichtsausdruck. »Was er alles für uns getan hat. Ich vergöttere ihn.« Sie vergötterte ihn?!

War das etwa Jesus?

Nein, unmöglich! Nicht in dieser Bildqualität.

Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte. Lisa schien mein Schweigen als Zustimmung zu werten. Sie nahm meine Hand. Entschlossen sagte sie: »Komm jetzt Ashley, der Rest des Teams will dich kennenlernen.«

Der Laden war ziemlich voll mit Gästen. Schien gut zu laufen. Seltsam, dass ich nie etwas davon gehört hatte. Schließlich kannte ich viele Lokale in der Stadt. Eine Wand war voll mit Bildern von Celebrities, die meisten hielten eine strahlende Lisa im Arm. Nicht schlecht! In der Mitte prangte das größte Bild von allen. Darauf war Madonna zu sehen.

Sofort erschien vor meinem geistigen Auge eine mahnende Ruth, die vor versammelter Mannschaft heraus posaunte: »Dieses Luder ruiniert das ganze Betriebsklima!« Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was sie über all die anderen prominenten Gäste zu sagen gehabt hätte. Mit all meiner Willenskraft wischte ich Ruths Bild beiseite und wandte mich der Widmung auf dem Bild zu. Madonna hatte in schwungvollen Lettern geschrieben: »An meine Familie. Ich liebe euch.« Also, das war jetzt tatsächlich ein bisschen zu dick aufgetragen. Trotzdem, solche Referenzen waren im Gastgewerbe Gold wert.

Lisa steuerte mit mir auf die Theke zu. Dort lächelten mich zwei Frauen und ein Mann an.

Lisa stellte mich ihnen nacheinander vor: »Das sind Dana, Mandy und Tom. Leute, das ist Ashley.« Alle drei sahen unglaublich gut aus. Sie hatten so etwas Frisches an sich, wie nach einem langen Urlaub. Und als wäre das nicht genug, waren alle so schlank. Wie Models. Also diese Küche musste ich mir noch einmal genauer ansehen. Ich war auch schlank aber diese Drei waren schlank-schlank. Ich streckte ihnen nacheinander meine Hand hin und brachte ein halbes Lächeln zustande.

»Und die Leute in der Küche stelle ich dir morgen vor. Die meisten sind schon gegangen.«

Morgen. Das war mein Stichwort. Ich würde etwas sagen müssen. Meinetwegen würde ich morgen erscheinen, aber ich musste vorher noch Einiges klarstellen. Ich holte tief Luft und setzte gerade zu einer Erklärung an, als Lisa fröhlich verkündete:

»Ashley war in Mailand.« Anerkennend fügte sie hinzu: »Für die Tauben.«

»Wow!«, meinte Dana gelangweilt.

»Cool!«, sagte Tom und betrachtete dabei die Salate in der Auslage.

Mandy gähnte. Dann sah sie leicht an mir vorbei. »Krass!«

Okay, sie waren vielleicht superhübsch aber nicht so die Hellsten. Irgendwie beruhigend.

»Was darf ich dir denn anbieten?«, sagte Lisa. »Unsere Buchweizen-Pfannkuchen müsstest du eigentlich ausprobieren. Die haben eine neue Rezeptur. Dazu unseren hauseigenen Getreidekaffee.« Sie machte Dana ein Zeichen.

»Die Pfannkuchen klingen super«, sagte ich, »am liebsten mit viel Topping. Schokolade, wenn ihr habt. Und wenn es geht einen Latte Macchiato dazu. Ich stehe nicht so auf Getreidekaffee.«

Wie auf Kommando war es ganz still im Laden. Einige Gäste starrten mich unverhohlen an. Andere tuschelten. Dana, Mandy und Tom bedachten mich mit einem ungläubigen Blick. Totenstille. Irgendetwas von dem, was ich gesagt hatte, war falsch gewesen. Schnell ließ ich meine Bestellung nochmals an mir vorübergehen.

Pfannkuchen, Topping, Latte.

Vielleicht hatte der Buchweizen-Pfannkuchen gar kein Topping? Na gut, ich würde es noch einmal versuchen. Oder besser, ich würde alles rückgängig machen.

»Kleiner Scherz. Ich nehme die Empfehlung des Hauses«, sagte ich so laut, dass auch alle es hören konnten.

Ein Raunen ging durch die Reihen. Dann wandten sich die meisten wieder ihrem Sitznachbarn zu. Lisas Gesicht war kurzzeitig entgleist. Jetzt versuchte sie, ein Lächeln aufzusetzen.

»Also Ashley, solche Witze machen wir hier eigentlich nicht. Aber da du für die Tauben in Mailand warst, werde ich noch einmal beide Augen zudrücken.«

Uff …

Vor lauter Dankbarkeit beschloss ich, für heute noch Ashley zu bleiben. Genug der Überraschungen. Ich machte mich brav über den Pfannkuchen her (mmh, gar nicht so schlecht!), trank ohne zu Murren den gewöhnungsbedürftigen Getreidekaffee und lächelte Lisa brav an.

Später, als Lisa sich mit einem ermahnenden: »Und keine unpassenden Witze mehr, Ashley!« von mir verabschiedet hatte, machte ich es mir in der hintersten Ecke des Lokals auf einem flauschigen Sessel gemütlich. Hier war ich endlich ungestört! Ich zog mein Handy aus der Tasche und googelte als Erstes »Nori’s Secret«. Wenigstens hatten sie eine gute Internetverbindung.

Kein Wunder, schließlich musste man ja eine Madonna bei Laune halten.

Super, sie hatten eine eigene Website, die würde mir bestimmt weiterhelfen! Gespannt las ich alle Informationen zu Nori’s Secret durch. Es schien sich um eine Kette zu handeln, die vor allem in Kalifornien und auch hier in New York sehr erfolgreich lief. Interessiert schaute ich die Angaben zur Küche etwas genauer an und hielt erstaunt inne.

Makrobiotisches Essen?!

Hatte ich nicht erst kürzlich etwas darüber gelesen in Verbindung mit Gwyneth Paltrow? Und war die nicht eng mit Madonna befreundet? Das war bestimmt der Link! Ich googelte »makrobiotische Ernährung«.

Als Erstes stieß ich auf das Bild des »Dalai Lamas«. Der Typ hieß in Wirklichkeit Georges Ohsawa und war ein japanischer Philosoph, der mittlerweile schon verstorben war. Er schien der Begründer dieser Ernährungsweise zu sein. Allerdings schien es sich mehr um eine Lehre zu handeln. Nicht nur die Ernährung war ausschlaggebend, sondern auch die Haltung, die man zum Leben hatte. Ich las: »Bei der makrobiotischen Ernährung kombiniert man die Einfachheit beim Essen und die Vermeidung von Giften in Lebensmitteln mit den Prinzipien des Zen-Buddhismus.« Aha.

Als nächstes stieß ich auf so etwas wie fünf Lebensprinzipien von Ohsawa, er nannte sie seine »Glücksmerkmale«. Moment mal, waren die nicht unter dem Bild in Lisas Büro aufgelistet gewesen? Ich verglich sie mit denen auf meinem Handy und tatsächlich, sie stimmten überein! Fasziniert las ich, was er als wichtig empfand:

Die Fähigkeit zur Freude in einem langen und interessanten Leben mit tollen Erfahrungen.

Das Freisein von Angst und Sorge bezüglich des Geldes.

Eine instinktive Überlebensfähigkeit zur Vermeidung von Unfällen, Krankheiten und frühzeitigem Tod.

Die Fähigkeit zu lieben, verbunden mit dem Verständnis und der Annahme der unendlichen Ordnung des Universums zu allen Zeiten und auf allen Ebenen.

Eine angeborene Selbstlosigkeit sowie gute Manieren. Hierzu gehört auch, niemals zu versuchen, der Erste zu sein, aus Angst der Letzte zu werden.

Also wo der Typ recht hatte, hatte er recht!

Ich dachte an Belinda aus dem College. Die Kuh war über Leichen gegangen, um ja immer gut dazustehen. Sie war der Liebling der Lehrer gewesen. Wir Studenten hatten sie gehasst. Bestimmt hatte er solche Menschen im Kopf als er seinen letzten Glaubenssatz formulierte. Ein cleveres Köpfchen, dieser Ohsawa. Trotzdem würde ich mir ganz bestimmt kein Bild von ihm über mein Bett hängen! Was möglicherweise auch in seinem Sinn gewesen wäre.

So, jetzt wollte ich aber wissen, um was es bei dieser Ernährung überhaupt ging. Ich scrollte etwas herunter. Zuerst stieß ich auf Lebensmittel, die bei dieser Ernährung absolut verboten waren. Entsetzt las ich: »Die makrobiotische Ernährung erlaubt kein Fleisch, keine tierischen Fette, keine Milchprodukte, keine Eier, keine künstlichen Süßungsmittel oder Zusatzstoffe und nur einige Früchte und Gemüsesorten. Verzichtet wird auf: Avocados, Kartoffeln, Tomaten, Auberginen, Paprika, Spargeln, Rüben. Kaffee, Alkohol, Schwarzer Tee und einige scharfe Gewürze werden konsequent gemieden.«

Langsam begriff ich, was vorhin schief gelaufen war!

Weiter hieß es: »Die makrobiotische Ernährung besteht zu fünfzig Prozent aus Getreide und Reis, die weitgehend unverarbeitet sind, zu fünfundzwanzig Prozent aus Gemüse (Blatt-, Knollen-, Wurzelgemüse), das gekocht, gebraten, gedünstet oder manchmal auch roh gegessen wird, zu dreizehn Prozent aus pflanzlichem Eiweiß (Bohnen, Kichererbsen, Linsen, Seitan, Tofu, Algen), zu sechs Prozent aus Suppen (zum Beispiel Miso-Suppe) und Getränken (Wasser, Tee und Getreidekaffee) (alles klar!) und zu sechs Prozent aus weißem Fisch und Dessert. Es wird nur biologische und regional angebaute Kost gegessen. Die Zubereitung der Speisen erfolgt ausschließlich mit Holz, Glas, Emaille oder rostfreiem Stahl.«

Geschockt blickte ich auf. Wer um alles in der Welt tat sich das freiwillig an?!

Ich stieß einen Seufzer aus und las frustriert weiter. Mein Blick fiel auf ein mir bereits bekanntes Wort: Nori! Ich las die dazu gehörende Information. Jetzt verstand ich! Nori war eine von verschiedenen Algenarten, die als Gemüse gegessen wurden. Alles klar! Hätte man sich alternativ für Wakame oder Arame entschieden, wäre mir schon von Anfang an ein Licht aufgegangen. Diese Algen kannte ich. Aber Nori? Ich musste schmunzeln. Irgendwie passte alles zusammen. Kein Schimmer, wer oder was Nori war und kein Schimmer, wo ich hier gelandet war. Aber langsam kam Licht ins Dunkle.

Eine letzte Sache wollte ich noch wissen. Ich googelte »Madonna und makrobiotische Ernährung« und wie nicht anders zu erwarten, stieß ich auf folgende Information: Madonna war so etwas wie die Vorreiterin dieser Ernährung in Amerika und hatte sie der breiten Masse zugänglich gemacht. Also allen bis auf mir.

Dasselbe tat ich mit Gwyneth Paltrow. Mal sehen, ob mein Instinkt richtig gewesen war. Aha, das war ja interessant! Gwyneth Paltrow war lange Zeit eine Verfechterin dieser Ernährung gewesen. Später schien sie sich davon zu distanzieren, was gemäß diesem Bericht zu einem Bruch zwischen ihr und Madonna geführt hatte.

Allerdings … sachte, sachte, Ella! Über Promis wurde so viel Schrott geschrieben. Tatsache war, dass Gwyneth Paltrow einen coolen Blog im Internet hatte und darin spannende Gesundheitstipps gab. Ich liebte ihren Blog! Was sie sonst tat oder nicht tat ging mich nichts an.

Ich legte mein Handy beiseite und versuchte, das Gelesene zu verdauen.

Den weisen Georges Ohsawa in Ehren, aber das alles war nichts für mich. Ich war ja schon zu willensschwach, um auf Fleisch zu verzichten (was ich aus ethischen Gründen gerne getan hätte!), aber alles andere? Spätestens, als ich den Kaffee unter den No-Gos entdeckt hatte, war für mich die Sache klar gewesen: Danke, aber nein danke!

Ich ließ das Handy in meine Tasche gleiten und sah mich im Lokal um. Es waren erstaunlich viele Besucher hier. Waren das etwa alles überzeugte Makrobioten oder wie auch immer man die nannte? Ich musste jetzt echt eine Entscheidung treffen. Wie sollte ich weiter vorgehen? Am besten, ich würde jetzt gleich reinen Tisch machen und Lisa alles beichten! Sie würde sich zwar jemand anderen suchen müssen, aber das war ja nicht das Ende der Welt. Bestimmt gab es in dieser Stadt noch mehr Ashleys, Ambers, Tiffanys oder wie auch immer diese Girls alle hießen, die diesen Job mit Handkuss machen würden.

Ich packte meine Tasche, straffte die Schultern und stapfte entschlossen in Richtung Lisas Büro. Durch die Scheibe sah ich, dass Lisa gerade am Telefon war. Das, was sie am anderen Ende hörte, schien sie ziemlich unglücklich zu machen.

Ich wollte mich gerade unbemerkt vom Acker machen als Lisa mich entdeckte. Sie machte mir ein Zeichen, zu warten. Okay, ich würde mich der Wahrheit also gleich noch stellen müssen. Auch gut.

Lisa beendete das Telefonat und winkte mich herein. Ich öffnete die Türe und wappnete mich innerlich. Es war zwar unangenehm, aber es musste getan werden.