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1910: Als Winzerin Helena bei einem Kuraufenthalt den attraktiven Franzosen George de Villiers kennenlernt, scheint eine strahlende Zukunft vor ihr zu liegen. Doch ein tragisches Unglück bringt sie um ihre große Liebe - und ihre Lebensgrundlage. Bankrott und hochschwanger macht sie sich auf den Weg zu ihrer Schwiegermutter Louise nach Neuseeland. Sie hofft, auf deren Weingut Frieden und neue Hoffnung zu finden, doch der Empfang ist mehr als kühl. Louise gibt Helena die Schuld für den Tod ihres Sohnes und behandelt sie wie eine Aussätzige. Schon bald erkennt Helena, dass auch Louise Probleme hat. Die örtliche Abstinenzlerbewegung setzt alles daran, sie aus Wahi Koura zu vertreiben. Dazu ist ihnen jedes Mittel recht, nicht einmal vor Mord schrecken sie zurück. Als es schließlich zu einer Katastrophe kommt, müssen die Frauen zusammenhalten. Aber gelingt ihnen das? Und kann Helena ihr Herz einer neuen Liebe öffnen? Der Roman erschien im Jahr 2011 bereits unter dem Titel "Die Sonne von Wahi-Koura". Die vorliegende Ausgabe wurde neu bearbeitet und mit neuem Titel versehen.
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Seitenzahl: 433
Neu überarbeitete Ausgabe 2018
Copyright 2018 © Anne Laureen
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben und verbreitet werden. Covergestaltung: Corina Bomann unter Verwendung von Motiven von Marina.Markizova (Creative Market) und Maly Designer (shutterstock)
Das Werk erschien im Jahr 2011 bereits unter dem Titel "Die Sonne von Wahi-Koura" beim Lübbe-Verlag. Diese Ausgabe wurde neu bearbeitet und mit neuem Titel versehen.
Ka mate, ka mate, ka ora, ka ora
Ka mate, ka mate, ka ora, ka ora
Tenei te tanagata puhuruhuru
Nana nei i tiki mai whakawhiti te ra
A upane, kaupane
A upane, kaupane, whiti ra.
Ich sterbe, ich sterbe, ich lebe, ich lebe
Ich sterbe, ich sterbe, ich lebe, ich lebe
Dies ist der haarige Mann,
der die Sonne holte und sie wieder zum Scheinen brachte
Ein Schritt aufwärts, noch ein Schritt aufwärts.
Ein Schritt aufwärts, noch ein Schritt aufwärts, die Sonne scheint.
(Kriegstanz, komponiert von Te Rauparaha 1820)
Wiesbaden 1910
Nach einem strengen Winter und einem verregneten Frühjahr verwöhnte der Sommer Wiesbaden mit Sonnenschein und Blütenpracht. Die Beete mit bunten Blumen im Garten des Kurhauses leuchteten. Seltene Stauden und Palmen verbreiteten ein exotisches Flair. Vogelgezwitscher erklang in den Baumkronen, untermalt vom Plätschern der Brunnen, die den Platz vor dem neoklassizistischen Gebäude zierten. Helena von Lilienstein war überwältigt von all dieser Schönheit. Sie schloss die Augen und atmete den Blütenduft ein.
Als Kurgesellschafterin Sophie von Brockums hatte die Zweiundzwanzigjährige nur wenige Augenblicke der Ruhe. Die Schwester ihres Vaters litt an einem Lungenleiden und war deshalb noch mürrischer als sonst. Ständig hielt sie ihre Nichte mit Wünschen auf Trab. Doch heute konnten weder der prächtige Kurpark noch der Sonnenschein sie zu einem Spaziergang aus dem Hotel locken. Während Helena die Natur genoss, zog es Sophie vor, in ihrem Zimmer zu bleiben, wo sie ihrer Nichte noch vor wenigen Minuten Vorhaltungen gemacht hatte. Die alte Dame wollte einfach nicht begreifen, warum Helena noch immer nicht verheiratet war.
»Tante, du weißt doch, dass mir die Verantwortung für mein Weingut keine Zeit dazu lässt«, hatte Helena erklärt, ohne jedoch zu Sophie durchzudringen.
»Ein Gatte sollte dir diese Last abnehmen, damit du dich um die wahren Pflichten einer Frau kümmern könntest«, hatte sie erwidert. »Vergiss nicht, dass Frauen nicht zum Arbeiten geboren sind! Die Bildung, die ich dir ermöglicht habe, diente doch eigentlich dazu, aus dir eine geistreiche Ehefrau zu machen, die sich in der Kunst der Konversation versteht. Die französischen Dichtungen Baudelaires! Oder die Sittenromane der Jane Austen! So gern würde ich dich an der Seite eines englischen Lords oder eines französischen Compte sehen!«
Helena stand der Sinn aber nicht nach Kinderkriegen und Abendgesellschaften. Ihre Liebe hatte schon immer dem väterlichen Weingut gehört. Nach dem frühen Tod der Eltern trug sie die Verantwortung für den Familienbetrieb. Zeit, um auf Bällen und Empfängen nach einem Bräutigam Ausschau zu halten, hatte sie nicht. Natürlich wollte sie eines Tages heiraten, doch warum sollte sie nicht auch als Winzerin erfolgreich sein?
Sophie hatte für diese moderne Ansicht allerdings gar nichts übrig. Immer wieder versuchte sie, das Interesse der vornehmlich englischen oder französischen männlichen Kurgäste auf ihre Nichte zu lenken. Dabei übersah sie geflissentlich, dass die jüngsten von ihnen doppelt so alt wie Helena waren.
Ach, wenn sie nur einsehen würde, dass sich die Zeiten geändert haben, dachte Helena nun, während sie auf der Parkbank die wärmende Sonne genoss.
Da ertönten Schritte.
Helena schlug die Augen auf.
Ein Mann stand vor ihr. Er war etwa Mitte dreißig und trug einen braunen Tweedanzug. Schwarze Locken umrahmten ein markantes, sonnengebräuntes Gesicht.
Wie lange hat er mich wohl schon beobachtet?, fragte sie sich erschrocken.
»Excusez-moi, Mademoiselle, ich wollte Sie nicht aus Ihrer petite sièste reißen.«
»Ein Mittagsschläfchen?«, fragte Helena lachend. Glaubte dieser Mann, dass sie ihn nicht verstehen würde? Wollte er sie zum Narren halten?
»Nein, nein, Monsieur, ich habe nur die Stille genossen. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich suche die Trinkhalle.« Er lächelte gewinnend. »Können Sie mir sagen, wo ich sie finde? Übrigens sprechen Sie ganz formidabel Französisch.«
Dass ein völlig Fremder ihre französische Aussprache lobte, kam für Helena unerwartet. Im Stillen dankte sie nun Tante Sophies Bekanntem, einem Sprachlehrer, der sie nicht nur in französischer, sondern auch in englischer Sprache unterrichtet hatte.
Sie musterte den Mann vor sich neugierig. Die Trinkhalle des Kurhauses, in der man jederzeit Quellwasser zu sich nehmen konnte, war eigentlich nicht zu übersehen. Kaum zu glauben, dass er sie nicht gefunden hatte ... Doch sie wollte nicht unhöflich sein. Was für Augen, dachte sie, während sie das Gefühl hatte, in dem hellen Blau zu versinken.
»Vielen Dank. Nun, Sie müssen nur geradeaus gehen. Hinter dem Pavillon befindet sich der Eingang.«
»Ah, merci beaucoup.« Der Mann rührte sich nicht von der Stelle.
Was wollte er denn jetzt noch? Helena zwang sich, nicht nervös an ihrem Ärmel zu zupfen.
»Halten Sie mich bitte nicht für unverschämt, aber dürfte ich Sie bitten, mich zur Trinkhalle zu begleiten?«
»Haben Sie etwa Angst, sich zu verlaufen?«
»Nein, Ihre Beschreibung war sehr gut, doch in Ihrer Begleitung ist der Weg sicher angenehmer.«
»Ich kenne ja nicht mal Ihren Namen!«
Dass sie in wenigen Minuten von ihrer Tante erwartet wurde, verschwieg Helena.
»Bitte verzeihen Sie!« Der Fremde deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Laurent de Villiers. Wir Neuseeländer vergessen schon mal unsere Manieren.«
»Neuseeländer? Das ist ja kaum zu glauben!«
»Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen meinen Pass, Mademoiselle.«
Diese Wendung war Helena peinlich. Sie hatte ihn nicht als Lügner hinstellen wollen. Sie senkte verlegen den Kopf. Über Neuseeland wusste sie nicht viel mehr, als dass diese Insel irgendwo in der Südsee lag. Aber vielleicht hatte er ihr ja tatsächlich etwas vorgeflunkert. »Was treibt Sie denn hierher nach Wiesbaden?«, fragte sie deshalb. »Ich habe Sie für einen Franzosen gehalten. Ist Neuseeland nicht eine englische Kronkolonie?«
»Das ist richtig; dennoch gibt es dort zahlreiche Franzosen. Aber dürfte ich Ihren Namen erfahren, bevor ich Ihnen verrate, was mich hierhergeführt hat?«
Helena war hin und her gerissen. Der Mann verhielt sich sonderbar, aber er hatte etwas Faszinierendes an sich. »Ich bin Helena von Lilienstein.«
Monsieur de Villiers nahm ihre Hand und hauchte einen formvollendeten Kuss darüber. »Es ist mir eine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle Lilienstein.«
Helena errötete und schlug die Augen nieder.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
»Keinesfalls, nur ...«
Er wartete ihren Einwand nicht ab, sondern nahm gleich Platz. Viel zu nah. Helena rückte unwillkürlich etwas zur Seite. Tausend Schmetterlinge schienen in ihrem Bauch zu flattern.
»Ich bin vor einem Jahr nach Deutschland gekommen, weil ich hier fern von den Ansprüchen meiner Mutter leben kann«, erklärte De Villiers nun.
»Was verlangt sie denn von Ihnen?«, fragte Helena verwundert.
»Dass ich den Familienbetrieb übernehme. Aber ich habe andere Ambitionen.« Theatralisch breitete er die Arme aus. »Ich möchte den Himmel erobern!«
Helena lachte. »Nichts weiter als das?«
»Das genügt doch, oder? Auf den Spuren des Ikarus wandeln …«
Mit ähnlicher Leidenschaft hätte sie vom Weinbau sprechen können. »Sie wissen aber sicher, welches Schicksal Ikarus erlitten hat.«
Laurent nickte. »Er flog zu nahe an die Sonne, seine Flügel schmolzen, und er stürzte ab. Aber mir wird das nicht passieren! Ich werde in einer Maschine aus Eisen, Holz und Tuch fliegen. Kein Wachs und keine Federn. Haben Sie je von Otto Lilienthal gehört? Oder von den Gebrüdern Wright?«
Helena bemerkte, dass seine Augen vor Begeisterung leuchteten. »Von Lilienthal habe ich gehört. Seine Flugapparate waren nicht besonders erfolgreich.«
»Immerhin ist er tausend Mal damit gesegelt. Die Gebrüder Wright haben das erste Motorflugzeug gebaut. Und Henri Farman ist im vergangenen Jahr ein Flug von drei Stunden gelungen, bei dem er hundertachtzig Kilometer zurückgelegt hat. Ich will diesen Rekord verbessern. Nein, ich werde die gesamte Fliegerei revolutionieren!«
»Und wie stellen Sie sich das vor?«
»Ich habe Kontakt zu Louis Béchereau aufgenommen, der an einem ganz neuartigen Flugzeug arbeitet. Ich unterstütze ihn und fliege für ihn. Wir werden Geschichte schreiben!«
Sein eindringlicher Blick stürzte Helena in Verlegenheit. Sie räusperte sich, griff nach dem Buch, das neben ihr lag, und umklammerte es wie einen Rettungsanker. »Wollten Sie nicht eigentlich zur Trinkhalle?«, brachte sie schließlich hervor.
Laurent funkelte sie schelmisch an. »Ich muss gestehen, dass dies eigentlich nur eine Ausrede war, um Sie in ein Gespräch zu verwickeln. Ich beobachte Sie schon seit einer Woche, und mir wollte kein besserer Vorwand einfallen, um Sie anzusprechen.«
Eine Woche! Helena musste ihn fragend angesehen haben, denn er fügte rasch hinzu: »Ich habe einen Bekannten, den ich hin und wieder besuche, wenn er sich im Kurhaus aufhält. Bei meinem Besuch letzte Woche habe ich gesehen, wie Sie mit einer älteren Dame hier angekommen sind. Von dem Augenblick an wollte ich wissen, wer Sie sind. Und aus lauter Angst, dass Sie wieder abreisen könnten, ohne dass ich Ihren Namen in Erfahrung gebracht habe, bin ich auf die Sache mit der Trinkhalle verfallen.«
Helena vergaß vor lauter Anspannung zu atmen. »Also gut!« Sie erhob sich von der Bank. »Machen wir einen kleinen Spaziergang. Ich wünsche allerdings, dass Sie mir noch mehr von sich erzählen.«
Laurent lächelte breit, sprang auf und bot ihr seinen Arm an. »Das wird sich einrichten lassen. Hoffentlich langweile ich Sie nicht.«
»Wir werden sehen«, gab Helena lächelnd zurück und hängte sich bei ihm ein. Meine Tante wird sicher schon wach sein, überlegte sie, aber jetzt habe ich eine gute Entschuldigung, wenn ich mich verspäte.
Drei Jahre später …
Seit Stunden lag Helena de Villiers wach und lauschte dem Vogelgezwitscher, das den Beginn eines strahlenden Septembermorgens begleitete. Die Sonne malte ein bizarres Muster an die Zimmerdecke, wurde allmählich kräftiger und tauchte den Raum in rotgoldenes Licht.
Helena verspürte eine ungeduldige Vorfreude. Schon seit Kindertagen liebte sie den Herbst, der die Winzer für die Mühen des zurückliegenden Jahres belohnte und zugleich noch einmal all ihr Können forderte.
Zärtlich blickte sie zu ihrem noch schlafenden Ehemann, bevor sie in ihren Morgenmantel schlüpfte und zum Fenster eilte. Hinter dem Glas erstreckte sich der Garten, den sie nach der Hochzeit mit einigen exotischen Stauden versehen hatte – ein Andenken an ihre erste Begegnung im Kurpark. Tautropfen glitzerten auf dem Buchsbaum, der einen schmalen Kieselweg einfasste. Das Laub der Blutbuche im Zentrum des Gartens leuchtete rot, ebenso wie der Wilde Wein, unter dem die weiße Kuppel eines kleinen Pavillons emporragte.
Helena lächelte in sich hinein. Damals in Wiesbaden hätte sie nicht geglaubt, dass sie eines Tages mit Laurent vor den Altar treten würde. Doch nur drei Monate später, als die ersten Schneeflocken fielen, hatte er um ihre Hand angehalten.
Tante Sophie war überglücklich gewesen. Leider hatte sich ihr Lungenleiden derart verschlechtert, dass sie noch vor Helenas Hochzeit gestorben war.
Das junge Paar lebte auf Helenas Weingut. Obwohl auch Laurent aus einer Winzerfamilie stammte, zeigte er allerdings nur wenig Interesse für ihre Arbeit. Seine Leidenschaft galt ausschließlich dem Fliegen, und da Helena ihn über alles liebte, hatte sie nie versucht, ihn davon abzubringen.
Siehst du, Tante Sophie, dachte sie manchmal, obwohl ich verheiratet bin, arbeite ich noch immer und habe keine Zeit für Kaffeekränzchen und Empfänge. Und das gefällt mir so. Nur hätte ich gern früher ein Kind bekommen ...
Der Arzt hatte Helena zu Gelassenheit geraten. Es sei normal, dass manche Frauen erst zwei oder drei Jahre nach der Hochzeit schwanger würden. Da auch Laurent nicht beunruhigt wirkte und nicht darauf drängte, Vater zu werden, hatte Helena sich in ihrem neuen Leben als Ehefrau und Verwalterin des Gutes eingerichtet und genoss es.
Ein Scheppern riss Helena aus ihren Gedanken. Das Leben in der Küche war schon vor gut einer Stunde erwacht. Obwohl die Dienstmädchen sich bemühten, leise zu gehen, vernahm Helena in der Stille deutlich deren Schritte. Kaffeeduft waberte ins Zimmer.
Helena unterdrückte ein leichtes Unwohlsein. Seit Wochen war sie erschöpft und verspürte morgendliche Übelkeit. Zunächst hatte sie eine Magenverstimmung vermutet, aber dann hatten sich die Anzeichen verdichtet, dass sie endlich schwanger war. Am Vortag hatte ein Besuch beim Hausarzt ihr Gewissheit verschafft.
Sie musste Laurent unbedingt davon erzählen, am besten noch am heutigen Tag.
Als sich ihr Mann regte, wandte sie sich um. Mit seinem verwuschelten schwarzen Haar und den strahlend blauen Augen wirkte er noch immer so anziehend wie damals im Kurgarten.
»Du bist ja schon wach!« Gähnend stand er auf. »Kannst es wohl kaum noch erwarten, bis die Lese beginnt.«
»Das weißt du doch!« Sie lächelte versonnen und dachte: Und noch etwas kann ich kaum noch erwarten. Vielleicht sollte ich es ihm jetzt sagen …
Laurent trat zu ihr und schloss sie in die Arme. Der Duft seiner Haut ließ sie wohlig erschaudern und weckte das Verlangen nach ihm.
Aber sie spürte deutlich seine Unruhe. Schon machte er sich los, gab ihr noch einen flüchtigen Kuss und verschwand im Badezimmer.
Auch für ihren Mann stand Großes bevor. Seit Tagen redete er von nichts anderem als von dem neuen Flugzeug, das sein Freund Béchereau baute. Die Fertigstellung war nur noch eine Frage von wenigen Tagen. Béchereau hatte Laurent versprochen, dass er den neuen Stahlvogel als Erster fliegen dürfe. Helena sah dem mit Sorge entgegen, denn sie wusste ihren Mann lieber bei sich auf der Erde als in der Luft. Da sie wusste, wie viel ihm diese Premiere bedeutete, ließ sie sich jedoch nichts anmerken.
Beim Frühstück saß sie schweigsam gegenüber von Laurent, der sich der Morgenzeitung widmete, und drehte unruhig die Tasse in der Hand. Der Kaffee war bereits kalt, und die Rosinenwecke auf ihrem Teller hatte sie noch nicht angerührt.
Sie musste es ihm sagen, aber sie hatte das Gefühl, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war.
»Wie wär’s, wenn wir nachher einen Spaziergang durch den Weinberg machen würden?«, schlug sie schließlich vor. »Nur wir zwei.«
Vielleicht ist es albern, so zu zögern, aber diese Nachricht braucht den richtigen Rahmen, dachte sie. Gleichzeitig war ihr unwohl dabei zu wissen, dass Dienstmädchen am Esszimmer vorbeihuschten und womöglich die Ohren spitzten.
Laurent legte die Zeitung beiseite. »Ich fürchte, das werden wir auf heute Abend verschieben müssen.« Ein zufriedenes Lächeln trat auf seine Züge. »Ich habe es dir noch nicht erzählt, aber … die Maschine ist fertig! Gestern hat mir Béchereau die Nachricht geschickt.«
Vor Schreck brachte Helena keinen Ton heraus. Mit geweiteten Augen starrte sie ihren Mann an.
»Wir werden heute den ersten Testflug durchführen. Einige wichtige Herren der Société Pour les Appareils Deperdussin werden zugegen sein. Wenn alles so läuft, wie wir es uns vorstellen, wird die Firma das Modell in die Produktion aufnehmen. Und ich kann immer behaupten, dass ich der Erste war, der es geflogen hat.«
Helena war vor Angst wie gelähmt. Ohne sich im Flugzeugbau auszukennen, wusste sie, dass ein Testflug besonders gefährlich war. Erst wenn eine Maschine in der Luft war, zeigten sich ihre Schwächen.
»Freust du dich denn gar nicht für mich?«
Helena zuckte zusammen. »Natürlich freue ich mich.« Sie trank einen Schluck Kaffee. »Aber ist das Flugzeug nicht ein bisschen zu schnell fertig geworden? Vor zwei Wochen hast du gesagt, dass es bis zur Fertigstellung noch gut einen Monat dauern wird.«
Ein Schatten huschte über Laurents Gesicht.
Wusste ich es doch!, dachte Helena empört. Man hat die Arbeiten wegen der Industriellen beschleunigt.
Zärtlich griff Laurent nach ihrer Hand und küsste ihre Fingerspitzen. »Keine Sorge, mein Liebling, unsere Techniker verstehen ihr Handwerk! Diese Sache ist wichtig. Die Herren von der Societé sind nicht gerade für ihre Geduld bekannt. Und die Konkurrenz schläft nicht. Das weißt du ebenso gut wie ich.«
»Aber ich kann nicht abstürzen, wenn beim Keltern etwas falsch gemacht wird. Denk an die Geschichte von Ikarus!«
»Ich werde nicht abstürzen, ma chérie.« Er stockte, als käme ihm wieder in den Sinn, was er bei ihrer ersten Begegnung im Park gesagt hatte, und setzte hinzu: »Immerhin sind meine Flügel aus Stoff, Holz und Eisen und nicht aus Wachs und Federn. Außerdem sehe ich den Weinberg nur zu gern von oben.«
Enthoben aller Sorgen, dachte Helena, schluckte die Erwiderung jedoch hinunter und nickte. Sie wusste, dass Laurent sich niemals ändern würde. Der Weinbau interessierte ihn nicht. Den überließ er nur zu gern seiner Frau. Aber daraus hatte Laurent ja nie ein Geheimnis gemacht. Und sie wollte keinen Streit mit ihm. Helena beschloss, die gute Nachricht auf den Abend zu verschieben. Wahrscheinlich würde er sie dann besser aufnehmen als jetzt, wo er mit dem Kopf bereits über den Wolken war. Die Neuigkeit würde ihn vermutlich nur zerstreuen.
Laurent schaute sie noch eine Weile zärtlich an, dann leerte er seine Tasse und erhob sich.
»Willst du nichts essen?«, fragte Helena, denn sie hätte ihn gern noch etwas länger bei sich behalten.
»Ich bringe wahrscheinlich erst etwas herunter, wenn der Testflug gelaufen ist. Heute Abend werde ich dir haarklein berichten, was die Konstrukteure gesagt haben. Und wie es sich angefühlt hat, dort oben zu sein – frei wie ein Vogel.«
Damit beugte er sich über sie und legte die Arme um ihre Schultern. »Wir werden Geschichte schreiben, Helena. Und ich werde es mir nicht nehmen lassen, über den Weinberg zu fliegen und dir zuzuwinken.« Damit gab er ihr einen Kuss und verabschiedete sich.
Nachdem sie ihr Kopftuch geknotet hatte, trat Helena vor die Tür. Ebenso wie ihre Arbeiter trug sie grobe Kleidung: Leinenhose, Baumwollhemd und kniehohe Stiefel. Das hatte ihr in den ersten Jahren große Verwunderung eingebracht und in der feinen Gesellschaft von Koblenz empörtes Getuschel ausgelöst. Doch mittlerweile hatten sich zumindest ihre Leute daran gewöhnt.
Ende September waren alle Tätigkeiten auf dem Weingut darauf ausgerichtet, einen reibungslosen Ablauf der Lese zu gewährleisten. Pressen wurden überprüft, Erntekörbe ausgebessert, Fässer geschwefelt und vom Weinstein befreit oder aussortiert – sofern das Reinigen nicht mehr möglich war. Ein rauchiger Duft nach Holz drang aus der hauseigenen Küferei, da die neuen Fässer ihre Rauchversiegelung erhielten.
Die Betriebsamkeit auf dem Hof erfüllte Helena mit ungeheurem Tatendrang. Mit dem Vorsatz, einige Trauben zur Probe zu ernten, um ihren Reifegrad zu bestimmen, eilte sie zum Schuppen, wo die Lesebütten standen. Unterwegs hielt sie einen jungen Burschen an, der einen Holzkasten zum Kelterhaus trug. »Sind das die neuen Korken, Michael?«
»Ja, Frau de Villiers, sie sind gerade angekommen.« Der Bursche klappte den Deckel auf. Die Korken lagen fein säuberlich sortiert in der Kiste. An den Längsseiten war bereits der Umriss einer Lilie, das Markenzeichen des Weingutes Lilienstein, eingebrannt.
Helena nahm einen Korken heraus und drehte ihn zwischen den Fingern.
Ein sehr guter Korken. Acht Jahresringe, glatte Spiegel, wenig Poren. Die besten Korken, die sie seit Jahren hatte. Zuversichtlich lächelnd legte sie den Korken zurück und ließ den Burschen ziehen.
»Guten Morgen, Frau de Villiers! Auf ein Wort!«
Helena wandte sich um. Aus dem Kelterhaus eilte ihr Kellermeister Ludwig Bergau mit einem Spaten in der Hand entgegen. Seine Miene wirkte besorgt.
»Guten Morgen, Herr Bergau! Ist das Wetter nicht herrlich?«
Bergau, ein hochgewachsener, kräftiger Mann Anfang fünfzig, räusperte sich, als habe er einen Frosch im Hals. »Es gibt da etwas, was Sie sich anschauen sollten.«
Helena stutzte. »Worum geht es denn?«
»Das sollten wir besprechen, wenn wir oben sind. Ich will keine Pferde scheu machen, aber heute Morgen ist mir beim Rundgang etwas aufgefallen.«
Helena wurde unwohl zumute. Wenn Bergau besorgt war, dann sicher aus gutem Grund. War etwas mit den Rebstöcken? Einige von ihnen kümmerten ein wenig, aber das hatte sie bisher der Sommerhitze zugeschrieben. »Also gut, gehen wir!«
Nachdem sie den Gutshof hinter sich gelassen hatten, erklommen sie den Weinberg auf dem Südhang des Lahntals. Der unter ihnen gelegene Fluss glitzerte im Sonnenschein, der von keiner einzigen Wolke getrübt wurde. Ideales Flugwetter, ging Helena durch den Kopf, und in Gedanken schickte sie Laurent, der in diesen Minuten vermutlich in seine Maschine stieg, einen liebevollen Gruß.
Die Rebstöcke an dem Spalier, zu dem Bergau sie führte, boten einen äußerst traurigen Anblick. Besorgt betrachtete Helena die schlaffen, bräunlich verfärbten Blätter.
»Ich habe diese Stöcke schon eine Weile im Auge. Anfänglich habe ich genau wie Sie vermutet, dass die Hitze an dem Zustand schuld ist. Aber jetzt ist mir aufgefallen, dass auch andere Stöcke kränkeln. Vermutlich haben sie sich die Reblaus eingefangen.«
Bergau griff behutsam nach einer Traube und zog sie unter dem Laub hervor. Die Beeren waren bräunlich gelb und schrumpelig. »Sehen Sie? Die Pflanze verdurstet. Gallen habe ich an den Blättern zwar noch nicht entdeckt, doch das muss nichts heißen.«
Obwohl sie bisher von dieser Plage verschont geblieben waren, kannte Helena die Anzeichen von Reblausbefall. Ihr Vater hatte sie bereits als junges Mädchen in den komplizierten Fortpflanzungskreis dieses Schädlings eingeweiht. In diesem Zyklus gab es eine Phase, in der die Reblauseier, geschützt von netzartigen Gebilden, den Gallen, an den Unterseiten des Laubes hafteten. Das war ein sicheres Zeichen für den Befall mit Blattrebläusen, den harmloseren Vertretern dieser Art. Wurzelrebläuse waren wesentlich gefährlicher, denn deren Auftreten bemerkte man erst, wenn die Weinstöcke bereits nachhaltig geschädigt waren.
Helena presste die Lippen zusammen. Die Reblausplage hatte in Baden ganze Weinberge vernichtet. Wenn sich der Verdacht bewahrheitete …
»Soll ich die Wurzeln freilegen?« Bergaus Stimme riss sie aus den Gedanken.
»Nehmen Sie den dort drüben.« Helena deutete auf einen besonders schwächlichen Stock.
Bergau setzte den Spaten an.
Erschaudernd verschränkte Helena die Arme vor der Brust. Bitte, lieber Gott, lass es ein Irrtum sein!, flehte sie still.
Ein Brummen am Himmel lenkte sie ab. Sie legte den Kopf in den Nacken und beschirmte die Augen mit der rechten Hand.
Laurent! Das Flugzeug war wirklich imposant. Die Spannweite der Flügel war enorm, der Rumpf glänzte silbern. Der mächtige Propeller und die Räder blitzten in der Sonne. Leider flog es zu hoch, sodass Helena ihren Mann in der Führerkanzel nicht erkennen konnte. Dennoch winkte sie, als die Maschine mit ohrenbetäubendem Lärm über sie hinwegdonnerte. Dann wandte sie sich wieder dem Kellermeister zu, der seine Arbeit gerade beendete.
»Da haben wir sie.« Bergau strich Erdklumpen von den Wurzeln.
Helena schlug entsetzt die Hand vor den Mund, als sie die Verdickungen entdeckte. Sie ähnelten kleinen Kartoffelknollen, aber in Wirklichkeit waren es Geschwüre, mit denen sich die Pflanze vergeblich der Schädlinge zu erwehren suchte.
»Wurzelrebläuse«, stellte Bergau grimmig fest. »Wir sollten die Stöcke ausgraben und verbrennen. Vielleicht gelingt es uns dann noch, die Plage in Schach zu halten.«
Helena schloss die Augen. Sie wusste, dass auch Verbrennen nicht viel brachte, wenn die Reblaus erst einmal im Boden war. Aber vielleicht konnten sie wenigstens noch einen Teil der Trauben verwenden.
»Lassen Sie die Stöcke vernichten«, wies sie ihren Kellermeister an. »Wir werden die Lese vorziehen und retten, was noch zu retten ist.«
Helena war sich darüber im Klaren, dass die verfrühte Lese der Qualität des Weins schaden würde. Aber was sollte sie sonst tun?
Nachdem der erste Schock vergangen war, kamen ihr die Tränen. Sie weinte nur ungern vor ihren Leuten, aber seit sie in anderen Umständen war, reagierte sie wesentlich emotionaler auf ihre Umwelt.
Bergau reichte ihr sein Taschentuch. »Keine Sorge, Frau de Villiers, das kriegen wir in den Griff. Im Badischen sucht man bereits nach einer Lösung. Vielleicht können wir ja einige Stöcke retten.«
Helena nickte, doch ihre Tränen ließen sich nicht eindämmen. Dankbar nahm sie Bergaus Taschentuch an. Über der verschlissenen Spitzenborte waren die Initialen A.B. eingestickt. Agnes Bergau, seine Frau, war erst vor wenigen Monaten an Krebs gestorben.
Während Bergau auf den Hof zurückkehrte, um die Arbeiter zu holen, blickte Helena wie betäubt ins Lahntal. Mehrere tausend Rebstöcke standen auf den Hängen Spalier wie Soldaten bei einer Parade. Ein wunderbarer Anblick, besonders jetzt, wo sich die Blätter allmählich gelb und rot verfärbten.
Papas ganzer Stolz, dachte sie. Werde ich ihn bewahren können?
Noch sehr gut erinnerte sie sie sich an den Tag, an dem sie die Herrin von Lilienstein wurde. Der Verlust ihrer Eltern hatte sie furchtbar mitgenommen, aber sie hatte sich zusammengerissen und mit der Arbeit begonnen. Weder die Konkurrenz noch düstere Prophezeiungen seitens ihrer Neider hatten sie davon abhalten können, erfolgreich zu sein. Sie malte sich bereits aus, wie sich ihre Konkurrenten höhnisch die Mäuler über das Weingut zerreißen würden, wenn sie erführen, dass die Rebläuse hier grassierten.
Erneut brummte es über dem Weinberg. Als Helena aufsah, schoss Laurents Maschine über sie hinweg.
Plötzlich stotterte der Motor. »Oh, mein Gott!«, schrie Helena, als schwarzer Rauch aus dem Triebwerk drang.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die Rauchspur am Himmel. Bilder und Erinnerungen schossen blitzlichtartig durch ihren Kopf: Laurents zärtliches, leidenschaftliches Gesicht über ihr, Laurent, der sie zum Abschied küsste, Laurents glühende Liebesworte …
Vor Angst und Anstrengung wimmernd, erklomm Helena den Hang. Zwischendurch stolperte sie, aber sie rappelte sich schnell wieder auf.
Vielleicht schaffte er es noch.
Ein Schwindel zwang sie, Atem zu schöpfen. Obwohl Seitenstiche einsetzten, lief sie weiter und ignorierte, dass ihr Weinblätter ins Gesicht klatschten. Als sie den Gipfel der Anhöhe beinahe erreicht hatte, krachte es markerschütternd und der Boden erzitterte unter ihren Füßen. Alle Kraft zusammennehmend, kämpfte sich Helena nach oben.
Nein! Er darf nicht abgestürzt sein. Bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass er überlebt!, flehte sie. Er darf nicht sterben.
Oben angekommen sah sie eine Rauchsäule. Der Wind wehte den Gestank von Treibstoff zu ihr hinüber.
»Laurent!«
Schluchzend mühte sie sich durch Weinstöcke und Gestrüpp, bis sie schließlich das benachbarte Feld erreichte. Sie spürte weder die Stoppeln des abgeernteten Getreides unter den Schuhsohlen, noch bemerkte sie die zu Hilfe eilenden Männer.
Verzweifelt lief sie auf das flammende Inferno zu, bis die Hitze sie stoppte. Ihre Lunge brannte, und ihre Schläfen pochten. Schwarze Punkte trübten ihre Sicht, aber sie starrte erwartungsvoll in die Flammen. Doch Laurent erschien nicht.
Die schmerzliche Erkenntnis raubte Helena den Atem: Nie wieder würde sie ihn spüren. Und er würde nie erfahren, dass …
Da zerriss eine Explosion die Stille, und die Druckwelle schleuderte Helena zu Boden. Eine Männerstimme schrie ihren Namen.
»Laurent«, stöhnte Helena leise, dann wurde alles schwarz.
»Laurent!« Die Finsternis wich. Langsam öffnete Helena die Augen. »Laurent, wo bist du?«
»Gott sei Dank, sie ist wach!«, flüsterte eine Frauenstimme. »Peter, hol den Herrn Doktor!« Wenig später schob sich das rundliche Gesicht ihrer Haushälterin Martha in ihr Blickfeld. »Frau de Villiers, bleiben Sie bitte ruhig! Es wird alles gut.«
»Wo ist mein Mann?« Helenas Stimme klang rau. »Was ist passiert? Warum liege ich im Bett?«
»Psst! Sie dürfen sich jetzt nicht aufregen.« Martha kämpfte mit ihrer Beherrschung, als sie ihr sanft die Schulter streichelte. »Denken Sie an Ihren Zustand!«
Vergeblich versuchte Martha, Helena davon abzuhalten, sich auf den Ellenbogen zu stützen. Helena mühte sich hoch und wollte sich aufsetzen, aber ein Schwindel zwang sie zurück in die Kissen.
Indes klappte eine Tür, und Schritte näherten sich. Karbolgeruch stach Helena in die Nase. Hatte sie etwa ihr Kind verloren?
»Gut, dass Sie kommen, Herr Doktor!« Martha entfernte sich vom Bett. An ihre Stelle trat ein Mann mit Vollbart und ergrautem Haar, auf dessen Nase ein Zwicker saß.
»Frau de Villiers, wie geht es Ihnen?«
Dr. Alois Mencken betreute Helenas Familie schon seit vielen Jahren und hatte ihr in der ersten Zeit nach dem Tod ihrer Eltern beigestanden.
»Bestens«, schwindelte Helena, denn ihr eigenes Wohlergehen war vorerst Nebensache für sie. »Ist etwas mit meinem Kind?«
Dr. Mencken erstarrte, dann schob er das Plumeau ein wenig beiseite und setzte sich auf die Bettkante. »Frau de Villiers, wie Sie wissen, bin ich Ihrer Familie seit vielen Jahren verbunden. Ich darf und kann Sie nicht belügen. In diesem Fall, hinsichtlich Ihres Zustands, würde ich es gern tun, aber …« Er stockte.
Helena wurde ungeduldig, brachte aber keinen Ton hervor. Stattdessen füllten ihre Augen sich mit Tränen, denn eine unerklärliche Panik ergriff von ihr Besitz.
»Was ist los, Herr Doktor?«, fragte sie zitternd.
Die Augen des Arztes glänzten feucht hinter den runden Brillengläsern. »Ihr Mann ist bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Die Explosion hat …«
Helena schnappte erschrocken nach Luft und schlug die Hand vor den Mund. Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Die schwarze Rauchfahne, die dem Flugzeug folgte, als es auf den Hang zuraste. Der Knall, das Krachen, das Feuer.
»Glücklicherweise hat Ihr Kind bei Ihrem Sturz offenbar keinen Schaden genommen«, fuhr der Arzt fort. »Und Ihre leichte Gehirnerschütterung und die Schürfwunden werden bald vergehen.«
Helena sagte nichts. Wie ein wildes Tier tobte die Trauer in ihr. Sie weigerte sich zu glauben, dass Laurent wirklich tot war. Sie starrte an Mencken vorbei ins Leere.
»Es tut mir furchtbar leid«, fügte der Arzt hinzu. »Sie können sich auf meine Hilfe verlassen; ich werde für Sie tun, was ich kann.«
Bei diesen Worten barst etwas in Helena. Klagend wälzte sie sich zur Seite, sie zog die Knie an den Bauch drückte ihr Gesicht ins Kissen.
Während sie weinte, wachte der Arzt wortlos neben ihr. Irgendwann legte er eine Hand auf ihre bebende Schulter. »Bitte beruhigen Sie sich wieder, Frau de Villiers. Denken Sie an Ihr Kind! Ihr Gatte hätte gewollt, dass es gesund auf die Welt kommt.«
»Er wusste es nicht einmal«, schluchzte Helena. »Ich dachte, die Nachricht würde ihn ablenken. Vielleicht wäre das alles nicht passiert, vielleicht wäre er nicht geflogen, wenn ich es ihm gesagt hätte. Hätte ich ihn bloß davon abgehalten zu fliegen!«
»Sie dürfen sich nicht die Schuld an dem Unglück geben, Frau de Villiers. Manche Dinge geschehen, egal, was man tut.«
Die Worte des Arztes prallten an ihr ab.
»Es ist meine Schuld! Ich hätte ihm von unserem Kind erzählen müssen!«
Helena weinte so lange, bis sie erschöpft war. Nur vage vernahm sie die Stimme des Arztes, der Martha anwies, sie nicht aus den Augen zu lassen. Dann schlief sie endlich ein.
Hawke’s Bay, Dezember 1913
Unter dem Tuten des Schiffshorns drängten die Passagiere der »White Lily« in Napier von Bord. Helena strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie sich in der Menge treiben ließ. Die Meeresbrise, die am Matrosenkragen ihrer schwarzen Bluse zerrte, brachte nur wenig Erfrischung. Bereits jetzt war es hier wärmer als im Hochsommer in Deutschland.
Doch nicht nur die Hitze, die sich durch ihr dunkles Kostüm noch zu verstärken schien, machte ihr zu schaffen. Die Gerüche von Fisch, Seetang, Motorenöl und Schweiß versetzten ihren Magen in Rebellion.
Im Gegensatz zu dem recht komfortablen Dampfer, der sie nach Auckland gebracht hatte, ähnelte die »White Lily« eher einem größeren Fischkutter mit Passagierkabinen. Die vergleichsweise kurze Strecke bis Napier hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt, und Helena freute sich darauf, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Bis dahin konnte es allerdings noch dauern.
Als ihr schwindelig wurde, tastete sie mit der freien Hand nach dem Geländer der Landungsbrücke und hielt sich daran fest. Beinahe bereute sie, dass sie das Angebot eines Passagiers, ihre Tasche zu tragen, ausgeschlagen hatte. »Ich bin schwanger und nicht krank«, hatte sie ihm harsch geantwortet. Aber nun schien ihr Gepäck mit jeder Minute schwerer zu werden.
Als die Menge ins Stocken geriet, erlaubte sich Helena einen Blick nach oben. Die Wolke, die das Schiff zum Hafen begleitet hatte, leuchtete golden über ihnen. Nichts deutete mehr darauf hin, dass die sechs Wochen, die sie auf See verbracht hatten, von ziemlich wechselhaftem Wetter geprägt waren. In der Zeit hatte Helena mit der Seekrankheit zu kämpfen gehabt, die auch die Mittel des Schiffsarztes nur wenig lindern konnten.
Der Ankunft an der neuseeländischen Küste sah sie erwartungsvoll, aber auch unruhig entgegengesehen. Sie fragte sich, wie ihre Schwiegermutter sie empfangen würde. Wie sie sich hier ein neues Leben aufbauen sollte.
Als die Landebrücke unter ihren Füßen heftiger schwankte, schob sie die Gedanken beiseite. Die Menge vor ihr bewegte sich wieder. Sorgsam auf ihre Schritte achtend, schloss sich Helena an. Dr. Mencken, den sie vor der Abreise konsultiert hatte, hatte ihr geraten, Stürze zu vermeiden, um keine Fehlgeburt zu riskieren.
Der Fischgeruch wurde unerträglich, als Helena den Kai erreichte. Hier war der Lärm ohrenbetäubend. Rufe von Marktschreiern mischten sich mit den Stimmen der Ankommenden und lautem Begrüßungsjubel, der einem Paar galt, das offenbar von der Hochzeitsreise zurückkehrte. Eine Mitreisende, die Helena an Bord kennengelernt hatte, versuchte, ihre siebenköpfige Kinderschar zu bändigen.
»Alles Gute, Mistress Waxwood!«, rief Helena ihr zum Abschied auf Englisch zu und winkte.
Die Angesprochene erwiderte die Geste, bevor sie einem hochgewachsenen Mann in die Arme fiel. Es war ihr Ehemann, der in Neuseeland Arbeit gefunden und die Familie endlich zu sich gerufen hatte.
Der Anblick dieses Glücks versetzte Helena einen leichten Stich. Ihr Kind würde ohne seinen Vater aufwachsen müssen ...
Als ihr Tränen in die Augen schossen, wandte sie sich schnell ab. Neugierigen Mitreisenden hatte sie erzählt, dass der Vater ihres Kindes in Neuseeland auf sie warten würde. Glücklicherweise hatte sie bei der Überfahrt eine Einzelkabine gehabt, in der sie ungestört um Laurent trauern konnte.
»Madame de Villiers?«
Helena wandte sich um. Die Stimme gehörte zu einem mittelgroßen, etwas gedrungenen Mann mit dunkler Haut und dichtem schwarzen Haar. Er trug einen dunklen Anzug mit tadellos gestärktem Hemd und Krawatte. Fragend musterte er sie.
»Ja, die bin ich. Helena de Villiers.«
Der Mann verneigte sich kurz und sagte dann auf Französisch: »Mein Name ist Didier. Ich bin der Kutscher Ihrer Schwiegermutter. Sie hat mir aufgetragen, Sie abzuholen.«
Helena atmete erleichtert auf. Trotz Ankündigung hatte sie nicht damit gerechnet, dass man sie tatsächlich abholen würde. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Didier.« Helena reichte dem Mann forsch die Hand, worauf sie einen verwunderten Blick erntete. Unsicher zog sie sie wieder zurück. Offenbar war es hier nicht Brauch, Bedienstete per Handschlag zu begrüßen.
»Ist das Ihr ganzes Gepäck?« Der Kutscher deutete auf die Teppichstofftasche in ihrer Hand.
Helena bejahte und reichte sie ihm. Sie hatte nur das Nötigste mitgenommen. Alles andere hatte sie zu Geld gemacht und es in die Säume ihrer Kleider eingenäht.
»Kommen Sie, ich bringe Sie zur Kutsche. Bis nach Wahi-Koura ist es ungefähr eine Stunde Fahrt. Wir werden noch vor Einbruch der Dunkelheit dort sein.«
Der Zustand des Landauers, der am Kutschenstand des Hafens wartete, überraschte Helena. Die Räder waren mehrfach geflickt, der Anstrich des Fonds blätterte ab. Staub bedeckte die Federn, die Polster wirkten durchgesessen und hatten Risse. Dazu bildete das gepflegte Aussehen der beiden Apfelschimmel einen großen Kontrast.
Didier hievte ohne Umschweife die Tasche auf die Gepäckablage.
Während Helena ihn dabei beobachtete, fragte sie sich, ob er vielleicht ein Maori war, von denen sie auf dem Schiff so einiges gehört hatte. Geschichten von mutigen Kriegern und mysteriösen Riten der Ureinwohner Neuseelands hatten ihre Neugierde geweckt. Didier danach zu fragen wagte sie aber nicht.
Sie machte es sich in der Kutsche so bequem wie möglich. Doch schon beim Anfahren merkte sie, dass das Gefährt alles andere als komfortabel war.
Didier lenkte es umsichtig durch die Stadt, die am Fuß einer grünen Bergkette lag. Die meisten Häuser Napiers waren im englischen Stil errichtet. Zwei Fabrikschornsteine schickten dunklen Rauch in den Himmel. Zahlreiche Geschäfte in den Seitenstraßen boten Waren des täglichen Bedarfs an. Helena notierte sich im Geiste den Standort eines Drugstores für den Fall, dass sie ein Mittel gegen Kopfschmerzen oder Schwellungen benötigte. Häuser, an denen teilweise noch gebaut wurde, deuteten auf ein stetiges Wachstum hin. Gut gekleidete Menschen bevölkerten die Gehsteige ebenso wie Arbeiter und Bettler. Hin und wieder sah Helena auch Männer in Arbeitskleidung, die Didier ähnelten. Die prachtvollen Stammesgewänder, die man ihr auf der Reise beschrieben hatte, entdeckte sie nirgends. Auch schien es keine Automobile zu geben, die in Deutschland immer häufiger wurden. Die Menschen hier fuhren offenbar ausschließlich mit Kutschen oder Planwagen.
Als sie aus der Stadt hinausrollten, verschwand der Druck auf Helenas Magen. Die frische Luft strich sanft über ihr Gesicht. Exotische Vögel stimmten ihre Gesänge in den wogenden Baumkronen an und schenkten ihr ein wenig Frieden. Allerdings nur für eine Weile, bis die Erinnerung an die vergangenen Monate wieder schmerzte wie eine schlecht verheilte Wunde.
Laurents Tod war nur der Anfang von Helenas Unglück gewesen. Misery needs company, Not braucht Gesellschaft – diesen Spruch hatte Helena auf dem Dampfschiff von einem Matrosen aufgeschnappt. Er beschrieb gut, was ihr in den vergangenen Monaten widerfahren war. Der Reblausbefall war trotz schnellen Eingreifens nicht aufzuhalten gewesen. Ein kostbarer alter Weinstock nach dem anderen war abgestorben. Die Trauben von den scheinbar gesunden Stöcken hatten sich als minderwertig erwiesen. Als wäre das noch nicht genug des Unglücks, hatte die Societé auch noch Schadensersatz für die abgestürzte Maschine gefordert, deren Entwicklung sie finanziert hatte. Sie behauptete, dass der Fehler allein beim Piloten gelegen habe, da dieser eine zweite, nicht genehmigte Runde geflogen sei. Da niemand Laurents Unschuld beweisen konnte und ein Gerichtsverfahren wesentlich teurer gekommen wäre, hatte Helena schließlich nach zermürbenden Verhandlungen einem Vergleich zugestimmt. Den Schaden durch den Reblausbefall hätte sie vielleicht noch verkraftet, doch durch die Zahlung an die Societé waren ihre Finanzreserven erschöpft. Auf Anraten ihrer Bank hatte Helena deshalb ihr Anwesen verkauft. Von dem Erlös hätte sie zwar eine Zeit lang leben können, aber er reichte nicht aus, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Und was hatte sie denn anderes gelernt als das Winzerhandwerk?
Bekannte rieten ihr, sich so schnell wie möglich wieder zu verheiraten, ein Rat, den Helena geradezu empörend fand. Kaum war ihr geliebter Laurent unter der Erde, da sollten sie sich einen neuen Ehemann suchen? Wie herzlos musste man sein, um solche Ratschläge zu erteilen?
Helena seufzte traurig. Überdies war dieser Rat vollkommen weltfremd: Welcher gutsituierte Junggeselle träumte schon von einer mittellosen Witwe, die noch dazu von jemand anderem schwanger war?
Es gab nur eine Möglichkeit, ihrem Elend zu entkommen, und die hatte sie ergriffen: Sie hatte beschlossen, nach Neuseeland auszuwandern und ihre Schwiegermutter um Aufnahme zu bitten.
Auf den ersten Blick eine gute Entscheidung, wenn sie die Landschaft betrachtete. Helena verscheuchte die trüben Gedanken und legte den Kopf in den Nacken, um in den Himmel zu sehen. »Das Land der weißen Wolke« hatte ein Passagier diesen Flecken Erde genannt. Ein schöner Name, fand Helena.
Als sie den Blick wieder auf die grünen Berghänge richtete, knarzte es unter ihr plötzlich laut. Ein harter Ruck warf Helena nach vorn. Sie schrie auf und klammerte sich am Sitz fest, konnte aber nicht verhindern, dass sie den Halt verlor. Hart fiel sie auf die Knie und stieß sich einen Arm.
»Ho!«, rief Didier und sprang vom Kutschbock, sobald die Pferde standen. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Madame? Sind Sie verletzt?« Vorsichtig half er Helena auf.
»Nein, nein, keine Sorge!«, antwortete sie. »Ich habe mir bloß den Arm gestoßen. Was ist passiert?«
»Ich werde gleich mal nachsehen. Vermutlich ist eine der alten Flickstellen im Hinterrad gebrochen. Sie sollten wohl besser aussteigen, damit ich den Schaden gleich beheben kann.«
»Können Sie das selbst reparieren?«
»Kein Problem. Ich hab mal ein paar Jahre als Stellmacher gearbeitet.« Didier half Helena aus der Kutsche. Dann schälte er sich aus seiner Jacke und machte sich wortlos an einem der Räder zu schaffen.
Als der erste Schrecken verflogen war, setzte sich Helena auf einen großen Stein am Wegrand. Böse war sie über diese Unterbrechung nicht, denn jetzt hatte sie die Gelegenheit, sich die farbenprächtigen Blüten anzusehen, die die Hänge bedeckten. Zu gern hätte Helena die Namen all dieser Pflanzen gewusst, die in intensivem Rot, kühlem Blau und tiefem Gelb erstrahlten.
Nun, die Erforschung der fernen Flora musste sie auf später verschieben, aber auch die Vegetation am Wegrand war interessant. Riesige Farne wogten in der sanften Brise. Durch das mit Blumen gesprenkelte Gras krochen seltsame Insekten. Helena nahm eines, das sowohl Ähnlichkeit mit einem gepanzerten Wurm als auch mit einer Heuschrecke hatte, auf die Hand und betrachtete es.
»Lassen Sie die lieber, wo sie ist, Madame!«, warnte der Kutscher sie. Offenbar hatte er sie aus dem Augenwinkel beobachtet. »Wenn man nur eine von diesen Schrecken auf sein Grundstück lässt, hat man bald Tausende von den Viechern. Weta sind sehr fruchtbar.«
»Weta?«
»So heißen sie. Nach dem Gott der hässlichen Dinge, den die Maori wetapunga nennen.«
Helena musste lachen. Sie fand das Insekt ganz und gar nicht hässlich – eher wehrhaft und stark. Sie betrachtete es noch eine Weile, bevor sie es auf den Boden setzte. »Ich hatte nicht vor, sie mitzunehmen. Ich wollte sie mir nur anschauen.«
Der Kutscher wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Helena zog einen zerknitterten Brief aus ihrer Tasche. In der schweren Zeit waren die Zeilen ihrer Schwiegermutter ihr einziger Rettungsanker gewesen.
Werte Madame de Villiers,
es betrübt mich sehr, vom Dahinscheiden meines Sohnes Laurent zu hören. Ich habe keine Kenntnis davon, ob Sie mit der Geschichte unserer Familie vertraut sind, aber da Sie mir schreiben, wird mein Sohn Ihnen von mir erzählt haben. Ich gebe zu, unser Verhältnis war nicht besonders gut. Wie Sie sicher wissen, setzte er mich von seiner Hochzeit mit Ihnen erst Monate später in Kenntnis und mied auch sonst jeden Kontakt zu mir. Unter den von Ihnen geschilderten Umständen bin ich jedoch bereit, Sie auf meinem Weingut aufzunehmen – des Kindes wegen. Geben Sie mir telegrafisch Bescheid, wann Sie in Napier ankommen, damit mein Kutscher Sie abholen und nach Wahi-Koura bringen kann.
Louise de Villiers
Helena faltete den Brief wieder zusammen. Zugegeben, er war nicht besonders freundlich formuliert. Außerdem war Louise de Villiers praktisch eine Fremde für sie. Laurent hatte kaum über seine Mutter geredet und stets gereizt reagiert, wenn er auf sie angesprochen wurde. Nach anfänglichem Streit hatte Helena das Thema deshalb ruhen lassen. Das bereute sie nun. Ich hätte mehr über sie herausfinden müssen, dachte sie. Dann wüsste ich, was mich erwartet.
Schwer seufzend verstaute sie den Brief wieder in der Tasche.
»Madame, die Kutsche ist wieder reisefertig.«
»Schon?«
»Es war nur ein kleiner Schaden. Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.«
Didier schnallte den Werkzeugkasten auf die Gepäckablage und half Helena einzusteigen.
Nach etwa einer Stunde Fahrt entlang eines breiten Flusses, den Didier Wairoa River nannte, tauchte auf einem grün bewachsenen Hügel ein aus sandfarbenen Steinen errichteter Herrensitz auf. Der Eingang wurde von vier hohen Säulen flankiert. In den Fenstern spiegelte sich das Sonnenlicht, und das rot gedeckte Dach schien zu glühen. Der Weinberg zog sich über einen großen Hang und reichte fast bis ans Flussufer. Für einen Moment fühlte sich Helena an die Lahn zurückversetzt. Nur hatte die Sonne dort nicht so intensiv gestrahlt.
Wahi-Koura. Auf der Reise nach Napier hatte ein Matrose Helena diesen Namen mit »Goldener Ort« übersetzt.
Ein passender Name, fand Helena, während sie versonnen ihren Bauch streichelte. Hoffentlich wird unsere Zukunft hier ebenso golden wie das Licht.
Als die Kutsche auf den Hof rumpelte, wurden sie von ein paar Männern neugierig beobachtet. Der Kleidung nach zu urteilen, waren es Winzergehilfen. Helena winkte ihnen zum Gruß zu und betrachtete dann das Herrenhaus, das aus der Nähe noch imposanter wirkte. Sie wunderte sich darüber, dass die Eingangssäulen von deutlich sichtbaren Rissen verunziert waren.
»Wie ist denn das passiert?«, fragte sie Didier, der auf das Rondell vor der Eingangstreppe zuhielt.
»Sie meinen die Risse?«
Helena nickte.
»Das kommt von den Beben. Wir leben in der Nähe eines Vulkans. Hin und wieder wackelt hier die Erde.«
Sie muss gewaltig gewackelt haben, dachte Helena beunruhigt, als die Kutsche anhielt.
»Da wären wir, Madame!« Didier sprang vom Kutschbock.
Helena hatte keinen großen Empfang erwartet. Doch als niemand zu ihrer Begrüßung vor die Tür trat, wurde sie unruhig. Rechnete ihre Schwiegermutter noch nicht mit ihrer Ankunft? Oder hatten sie sich durch das Malheur so sehr verspätet, dass sie bereits andere Verpflichtungen hatte?
Als der Kutscher die Schlagtür öffnete, um Helena hinauszuhelfen, fragte sie: »Ist Madame de Villiers heute nicht zu Hause?«
Ein Schatten zog über das Gesicht des Kutschers. Er senkte verlegen den Blick. »Madame hat mich angewiesen, Sie zu ihr zu führen, sobald wir eingetroffen sind.«
Helena schüttelte verwirrt den Kopf. Eigentlich gehört es sich doch für eine Hausherrin, den Besuch an der Haustür zu empfangen. Galt diese Regel hier vielleicht nicht?
Die Eingangshalle erinnerte Helena an das Entrée eines französischen Châteaus. Ein prächtiger Kristalllüster hing wie eine schwere Traube von der Stuckdecke herab. Der Fußboden war aus poliertem Marmor und bildete ein Schachbrettmuster in Rot und Cremeweiß. Was für ein verschwenderischer Luxus!, dachte sie, während ihr Blick die goldgerahmten Gemälde streifte, die Landschaften zeigten.
Vor einer hohen, mit goldenen Schnitzereien verzierten Flügeltür machten sie schließlich Halt. Der Kutscher klopfte.
»Entrez!«, rief eine dunkle, energische Frauenstimme.
Vor Helenas geistigem Auge erstand das Bild einer willensstarken Person, die Ähnlichkeit mit ihrem geliebten Laurent hatte.
»Madame, ich bin soeben mit Ihrer Schwiegertochter –«
»Sie soll reinkommen!«
»Sehr wohl.«
Helena entging nicht, dass der Kutscher bei dem barschen Ton zusammengezuckt war und sie nun fast mitleidig ansah. Sie strich ihr schwarzes Reisekostüm glatt und straffte sich.
Über den Schreibtisch gebeugt saß eine schlanke Frau im Witwenkleid. Ihr graumeliertes Haar war im Nacken zu einem strengen Chignon zusammengesteckt. Der Federhalter in ihrer Hand kratzte über einen Briefbogen.
»Bonjour, Madame de Villiers.«
Die Frau, deren Gesichtszüge recht sympathisch und unbestimmt exotisch wirkten, sah nicht auf. Konzentriert schrieb sie weiter. Erst, als sie den Satz beendet und mit Löschpapier abgetupft hatte, hob sie den Kopf, sah ihre Schwiegertochter jedoch nicht an.
»Ihre Aussprache lässt zu wünschen übrig«, sagte sie so beiläufig, als spräche sie vom Wetter.
Helena ballte die Fäuste. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Ihr wurde plötzlich übel, aber sie riss sich zusammen. Vor einer Frau, die sie mit solch offensichtlicher Abneigung empfing, wollte sie keine Schwäche zeigen.
Dennoch brachte sie kein Wort heraus.
»Man möchte meinen, dass Laurent Ihre bestenfalls schulischen Französischkenntnisse verbessert hat«, fuhr Louise ruhig fort. Nun trafen auch ihre Augen auf Helena. »Ihr Brief ließ jedenfalls darauf schließen. Aber man hört noch sehr deutlich, dass Sie Deutsche sind.«
»Daran ist doch nichts Schlechtes, oder?« Wider Willen lächelte Helena unsicher. »Für den Standort seiner Wiege kann kein Mensch etwas.«
Louises Augen wurden schmal. »Für seine Wiege mag kein Mensch etwas können, wohl aber für den Umgang, den er pflegt.«
»Madame, ich versichere Ihnen –«
»Schweigen Sie! Meine Zeit ist zu kostbar für irgendwelche Erklärungen. Laurent gehörte nicht in Ihr Land!«
»Und wohl auch nicht zu mir, nicht wahr?«, platzte Helena heraus. Sie hatte sich eigentlich beherrschen wollen. Aber die schroffe Behandlung Ihrer Schwiegermutter konnte sie nicht einfach so hinnehmen.
Die Frau musterte sie eisig. Ihr Blick blieb an Helenas gerundetem Leib hängen. »Nun ja, was passiert ist, ist passiert.«
Helena war fassungslos. Kein Wort der Begrüßung! Kein Wort des Bedauerns! War diese Frau denn ein Eisblock?
»Da Ihre Ehe wohl rechtsgültig war und Sie Laurents Kind erwarten, bin ich bereit, Ihnen zu helfen. Aber nur deshalb. Sie hatten kein Interesse an mir als Ihre Schwiegermutter, also erwarten Sie von mir auch kein Interesse an Ihnen.«
Helena rang mit den Tränen. Es war wohl doch keine gute Idee, sich bei dieser Frau zu melden und sie um etwas zu bitten. »Madame de Villiers«, hob sie an, um Fassung bemüht. »Ich will weiß Gott nichts geschenkt haben. Wenn Sie erlauben, werde ich gern für meine Unterkunft und Versorgung arbeiten. Dass Laurent den Kontakt zu Ihnen abgebrochen hat, tut mir sehr leid. Ich habe mir immer gewünscht, es wäre anders. Und leider hatte er durch … das Unglück nicht die Chance, seine Haltung zu revidieren.«
»Das Unglück?« Louise schlug wütend mit der Hand auf die Tischplatte, ihre Augen blitzten. »Es war kein Unglück. Sie haben zugelassen, dass er seinen Dummheiten nachgeht, anstatt ihn an seine Pflichten zu erinnern. Also sind Sie mit verantwortlich für das, was geschehen ist!« Sie richtete den rechten Zeigefinger wie eine Waffe auf Helena. »Sie haben Ihn auf dem Gewissen!«
Helena wich verstört zurück. Wieder sah sie die schrecklichen Minuten des Absturzes vor sich. Wie konnte sie ihr nur vorwerfen, schuld an Laurents Tod zu sein?
Vor Verzweiflung, aber auch Wut krampfte sich ihr Magen zusammen. In diesem Augenblick trat ihr Kind gegen die Bauchdecke. Helena stöhnte und presste die Hand auf den Leib. »Didier!«, hallte Louises Stimme über Helena hinweg. Das Unwohlsein ihrer Schwiegertochter schien sie nicht zu bemerken.
Der Kutscher erschien sogleich in der Tür. »Sie wünschen, Madame?«
»Bring diese Person in den leer stehenden Flügel, und sorge dafür, dass sie sich ausruht! Wir wollen doch nicht, dass das Kind Schaden nimmt.«
Mit frostigem Blick wandte sie sich wieder dem Schreibtisch zu.
Helena glaubte zu fallen, so schwindlig war ihr plötzlich. Ihr brach erneut der Schweiß aus, ihr Gesichtsfeld wurde an den Rändern schwarz und verengte sich. Sie drehte sich um und tastete sich leise keuchend zur Tür.
Da wurde sie von Didier gepackt und gestützt. »Kommen Sie, Madame, Sie müssen sich ausruhen. Die Reise war beschwerlich«, redete er ihr sanft zu.
Zugleich beschämt und verärgert über sich selbst, ließ Helena sich von ihm hinausführen.
In der Halle bugsierte er sie auf ein kleines Sofa. Helena atmete tief durch. Das Unwohlsein wich allmählich. Nur der Schweiß klebte ihr unangenehm auf Stirn und Nacken.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Didier ehrlich besorgt.
»Ja, danke, es ist schon besser«, antwortete sie, denn sie wollte keine Schwäche mehr zeigen. »Könnten Sie mir vielleicht meine Tasche holen?«
»Natürlich. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Während Helena dem Kutscher nachsah, fragte sie sich, warum sich Louise ihr gegenüber so feindselig verhielt.
Tränen füllten ihre Augen, während sie die Arme um den Körper schlang. Erneut regte das Ungeborene sich, und obwohl es diesmal nicht unangenehm war, schnürte sich Helenas Kehle noch fester zusammen. Sie fragte sich, ob sie das Richtige getan hatte. Oder sollte sie sich eine andere Bleibe suchen?
»Madame?« Didier stand in der Tür, mit der Tasche in der Hand. Aus ihren Gedanken schreckend, fuhr Helena herum. »Alles in Ordnung? Oder soll ich einen Arzt rufen?«
Einen Arzt, der erst in einer Stunde hier ist, dachte Helena, und ihr Gesicht verfinsterte sich.
»Nein, nicht nötig. Hin und wieder wird man in meinem Zustand von Übelkeit geplagt, aber das geht vorbei.« Fahrig wischte sie sich übers Gesicht, als sie Didiers prüfenden Blick bemerkte.
»Kommen Sie, es ist nicht weit bis zu Ihrem Zimmer.« Didier bot ihr seinen Arm an, doch sie verzichtete dankend auf die Hilfe. Der aufsteigende Trotz kräftigte sie wieder. Helena straffte sich entschlossen. Louise sollte keinen Anlass finden, ihre Schwiegertochter für schwach und unwürdig zu halten.
Im Westflügel des Hauses war es still und roch nach Staub. Der Wind, der draußen kaum spürbar war, heulte in den Gängen wie ein Rudel Wölfe. Helena erschauderte. Der Gang, in dem sie ihr Zimmer vermutete, wurde vom Licht der Abendsonne erhellt, das durch zwei große Fenster fiel. Obwohl Helena die Sauberkeit an diesem Ort bemerkte, wollte ihre Beklommenheit nicht weichen.
Vor einer einfachen braunen Flügeltür machten sie Halt. Didier ließ ihr beim Eintreten den Vortritt. Der spärlich möblierte Raum war zwar hell, wirkte aber durch den weißen Anstrich nahezu steril. So musste es wohl in einem Sanatorium aussehen.
Helena bat den Kutscher, die Tasche neben dem einfachen Messingbett abzustellen. Ebenso wie der Schrank und die Kommode wirkte es seltsam deplatziert, so als hätte das Zimmer eigentlich eine andere Bestimmung gehabt.
»Ich werde die Köchin bitten, Ihnen etwas zu Essen zu schicken«, verkündete Didier. »Sie müssen umkommen vor Hunger.«
Das war zwar nicht der Fall, aber Helena dankte ihm trotzdem.
»Wenn ich sonst noch irgendwas für Sie tun kann, sagen Sie es mir bitte«, setzte er hinzu. »Ich bin nicht nur der Kutscher von Madame, sondern auch das Mädchen für alles, wie es die Europäer nennen.«
Helena lächelte. »Sie sind ein Maori, nicht wahr?«
»Ja, das bin ich.« Didier reckte sich stolz.
»Und wie sind Sie zu Ihrem Namen gekommen? Didier ist doch gewiss nicht typisch für Ihr Volk.«
»Madame hat ihn mir gegeben. Sie hat mich nach dem Tod meiner Mutter aufgenommen.«
»Und wie lautet der Name, den Ihre Mutter Ihnen gegeben hat?«
»Darüber möchte ich lieber nicht sprechen.«
Helene räusperte sich verlegen. »Oh, entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Haben Sie nochmals vielen Dank!«
Didier verharrte an der Tür und trat verlegen auf der Stelle.