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Der jungen Ärztin Ricarda werden im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts zahlreiche Steine in den Weg gelegt. Ihr Vater tut alles, um sie an einen einflussreichen Mann zu verheiraten, doch sie will einen anderen Weg einschlagen. Ricarda sieht nur einen Ausweg und begibt sich mutig auf die Reise nach Neuseeland. In der Hafenstadt Tauranga angekommen will sie ein neues Leben beginnen, doch sie hat nicht mit einem mächtigen Widersacher gerechnet. Nur knapp und mit der Hilfe des attraktiven Farmers Jack Manzoni entgeht sie einem Mordanschlag. Jack verliert sein Herz an die schöne Ärztin - doch kann sie ihm trauen? Neu überarbeitete Originalausgabe.
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Roman
Copyright 2018 © Anne Laureen
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben und verbreitet werden.
Covergestaltung:
Corina Bomann unter Verwendung von Motiven von David M. Schrader (shutterstock) & Tkach & LarysaZabrotskaya (creativemarket)
ISBN: 978-3-96353020-3
12. Februar 1894, Pazifischer Ozean
Sie fragte sich, wann es endlich aufhören würde. Vier Tage schon befanden sie sich in diesem Sturm und es war keine Besserung in Sicht. Ihr Schiff stöhnte und ächzte wie ein verletztes Tier und war den Urgewalten scheinbar schutzlos ausgeliefert.
Ricarda hatte sich in eine Ecke der Kabine gekauert, die Beine fest an die Brust gezogen. Ihr langes blondes Haar fiel unordentlich über ihre Schultern, ihr graues Reisekleid war zerdrückt und von Flecken übersät. Normalerweise war es nicht ihre Art, sich so zu zeigen, doch in diesem Fall lohnte es nicht, sich umzuziehen. Der Sturm würde jegliche ihrer Bemühungen wieder zunichtemachen.
Genauso unordentlich wie ihr Äußeres war ihre Unterkunft. Der Inhalt ihrer Tasche war in alle Himmelsrichtungen verstreut. Das Einzige, was sie zu sich geholt hatte, um es vor weiterem Umherfliegen zu bewahren, war ein lederbezogener Kasten, der ein Stethoskop enthielt. Alles konnte verloren gehen, nur das nicht. Auch wenn es vielleicht in ein paar Stunden nicht mehr von Bedeutung sein würde.
Ein Sturm von nie gekannter Gewalt tobte über die SS Madeleine hinweg. Noch wenige Tage zuvor hatte es den Anschein gehabt, als könnten sie den Rest der Fahrt bei gutem Wetter hinter sich bringen. Die Passagiere hatten ein traumhaft blaues Meer zu Gesicht bekommen und dramatische Spiele aus Wolken und goldenem Licht, wie es sie nur in diesen Breiten gab.
Neuseeland sei nicht mehr weit, hatte Ricarda die Matrosen reden gehört und zu träumen begonnen. All die wunderbaren Schätze des Landes, von denen sie bislang nur gehört hatte, würde sie bald schon selbst in Augenschein nehmen können: Grüne Ebenen, schneebedeckte Hügel, goldene Strände, Tiere und Pflanzen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und Menschen mit goldener Haut und fremdartigen Riten.
Doch dann hatte sich der Himmel zu einer dunkelgrauen Masse verdichtet, durch die kein einziger Strahl Tageslicht mehr drang. Das Heulen des Sturms übertönte schon bald das Stampfen der Maschinen, und das Meer wurde zu einem titanischen Ungeheuer. Wellen donnerten gegen den Schiffsrumpf, als wollten sie ihn durchlöchern, und schließlich überspülten sie das Oberdeck. Ein Teil der Ladung war weggerissen worden, das Gerücht, dass ein paar Seeleute ebenfalls von Bord gegangen waren, machte die Runde. Und nicht allein das machte den Passagieren Angst. Immer dann, wenn sich der eiserne Koloss unter einem riesigen Brecher aufbäumte, schien jedes Teil für sich zu ächzen. Alles zusammen ergab eine markerschütternde Kakophonie, der sich niemand entziehen konnte. Selbst, wenn sie sich die Ohren zuhielt, spürte Ricarda die Vibrationen in dem Stahlrumpf, der sie alle barg.
Man hatte ihnen gesagt, dass sie ruhig bleiben sollten. Dass das Schiff, auf dem sie waren, ihre Sicherheit gewährleisten würde, wenn sie sich nur an die Weisungen des Kapitäns hielten. Ricarda zweifelte daran. Die Madeleine war von Land besehen mächtig, aber nun schien sie einem Papierschiffchen gleichzukommen, das vom Wasser mitgerissen wurde, ohne über sein Schicksal bestimmen zu können.
Als das Tosen für einen Augenblick weniger wurde, gewahrte Ricarda ein Weinen am Ende des Ganges. Ob es von einer Frau oder einem Kind kam, konnte sie nicht heraushören, die Stimme klang einfach nur schrill und verzweifelt.
Ricarda überlegte kurz, ob sie nachsehen sollte, was passiert war. Vielleicht hatte jemand Schmerzen oder war verletzt worden. Es wäre nicht das erste Mal auf ihrer Reise, dass sie Passagieren ärztliche Hilfe zukommen ließ. Es gab zwar einen Schiffsarzt, aber nachdem die Leute herausgefunden hatten, dass es eine weitere Person mit medizinischen Kenntnissen gab, hatte man an ihre Tür geklopft und um Hilfe gebeten. Vor allem die Leute, die nicht das Privileg einer Kabine besaßen und die Reise im Zwischendeck des Schiffes verbringen mussten, kamen zu ihr. Überall an Bord nannte man sie thegerman nurse.
Eigentlich hätte das ihren Stolz verletzen sollen, doch Ricarda unternahm nichts gegen diese Bezeichnung. Sie hatte den Leuten bewusst nicht erzählt, dass sie in Wirklichkeit Ärztin war, denn sie fürchtete, auf die gleiche Ablehnung wie anderswo zu stoßen. Von einer Krankenschwester ließ man sich gern verarzten, denn sie verletzte nicht die gottgegebene Ordnung, nach der Frauen sich nicht mit Männern gleichstellen sollten.
Ricarda hätte es egal sein können. Während der Überfahrt hätte sie sich unbeteiligt geben, in ihrer Kabine bleiben und nichts von ihrem Wissen preisgeben können. Aber der Eid, den sie abgelegt hatte, hielt sie dazu an, den Menschen zu helfen ‒ besonders den Passagieren im unteren Deck, die sich nicht zum Arzt wagten aus Angst, etwas dafür bezahlen zu müssen. Also nahm sie in Kauf, dass man sie für eine Krankenschwester hielt. Gleichzeitig schwor sie sich, dass sie versuchen würde, das zu ändern, wenn sie erst einmal angekommen war.
Die Vernunft sagte ihr, dass es dumm wäre, die Kabine zu verlassen. Alle anderen verharrten in ihren Quartieren, wie es ihnen der Kapitän geraten hatte. Doch das Weinen hörte und hörte nicht auf, und schließlich gab sich Ricarda einen Ruck. Sie griff nach dem Kästchen, öffnete es und legte sich das Stethoskop um den Hals. Dann zog sie sich am Handlauf hoch, der an der Wand neben der Tür angebracht war, damit sich die Passagiere festhalten konnten, falls es auf dem Schiff zu unerwarteten Erschütterungen kam. Sie wagte nicht zu hoffen, dass es da draußen vernünftiges Licht gab. Die Lampen waren vielleicht sogar ganz ausgefallen. In den vergangenen Stunden hatten sie derart stark geflackert, dass Ricarda das Licht in der Kabine gelöscht und sich mit der Dunkelheit begnügt hatte.
Als sie nach der Türklinke griff, ertönte ein dumpfes, metallisches Geräusch, das Ricarda nicht nur hören, sondern auch in ihrer Brust fühlen konnte. Es klang wie eine Warnung, dennoch öffnete sie die Tür und trat auf den Gang.
Licht gab es noch, doch wie schon zuvor in ihrer Kabine flackerte es stark. Der lange, rotgemusterte Teppich, der den Boden des Korridors bedeckte, hatte Wellen geschlagen, sodass sie aufpassen musste, nicht zu stolpern.
Ricarda strebte dem Handlauf an der Wand zu und hielt sich daran fest. Das Schiff bewegte sich noch immer, aber sie kam recht gut voran, also ging sie auf die Tür zu, hinter der sie die weinende Person vermutete.
Hinter den anderen Türen, die sie passierte, konnte sie leise Stimmen vernehmen. Die Leute hofften gewiss ebenso wie sie, dass sich der Sturm endlich legen würde.
Noch ein kleines Stück brachte Ricarda hinter sich, dann hatte sie die Kabine erreicht. Das Schild mit der Nummer 9 hing schief, vermutlich war es schon beim Ablegen nicht mehr richtig befestigt gewesen und der Sturm hatte das Übrige besorgt.
Das Weinen war inzwischen nur noch ein Schluchzen, doch sie bezweifelte, dass es der Person besser ging. Als sie die Tür öffnete, gewärtig, dass die Insassen der Kabine ihr Eindringen für unhöflich halten würden, erblickte sie eine Frau, die über einen Mann gebeugt war. Soweit es Ricarda erkennen konnte, war er leichenblass und seine Augen offen und starr. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte, doch sie kam nicht mehr dazu, etwas zu unternehmen.
Die Dampflokomotive stieß ein langgezogenes Pfeifen aus, als sie sich mit ihrer Waggonlast dem Lehrter Bahnhof näherte. Zuvor war der Zug an rußgeschwärzten Häusern vorbeigefahren, an kümmerlichen Arbeiterunterkünften mit notdürftig geflickten Fenstern, an Wäscheleinen, auf denen ergraute Wäsche vergeblich zum Trocknen aufgehängt worden war.
Berlin hatte sich nicht verändert, seit Ricarda das letzte Mal hier gewesen war. Nun stand sie am Fenster ihres Abteils, und mit den vorbeifliegenden Eindrücken kehrten Erinnerungen zu ihr zurück. Erinnerungen an ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen und weißer, gestärkter Schürze, das nur zu gern in die Arbeiterviertel von Berlin lief, um mit den Kindern dort zu spielen, obwohl sie doch ins feine Charlottenburg gehörte. Erinnerungen an eine junge Frau, die hart darum gekämpft hatte, ihren Traum zu verwirklichen, und die nun ihr Ziel erreicht hatte. Diesmal würde sie für immer nach Berlin zurückkehren und nicht nach Ablauf von einigen Wochen wieder eine lange Zugreise auf sich nehmen müssen. Jetzt würde sie endlich mit dem Leben beginnen können.
Die bis fast zum Bersten vollgepackte, rot geblümte Teppichstofftasche stand neben ihr auf dem Sitz. Einer der Männer, mit denen sie ihr Abteil geteilt hatte, hatte darauf bestanden, ihr das schwere Gepäckstück von der Ablage zu holen, obwohl sie es auch allein geschafft hätte. Sie war vielleicht von zierlicher Gestalt, dennoch wohnte ihrem Körper eine Kraft inne, die schon so manchen Menschen ins Staunen versetzt hatte.
Wahrscheinlich würde sie sich jetzt wieder daran gewöhnen müssen, dass Männer versuchten, ihr alles aus der Hand zu nehmen, die Taschen, die Arbeit, das Denken.
Nicht, dass es in der Schweiz anders gewesen wäre. Sie erinnerte sich noch an die seltsamen Blicke der Leute, als sie ihnen auf die Frage hin, was sie hier täte, antwortete: »Ich studiere Medizin.« Auch ihre Kommilitonen hatten sie zunächst wie eine Aussätzige oder wie einen Paradiesvogel behandelt. Das Studium war den Frauen hier seit einigen Jahren erlaubt, aber nur wenige nutzten diese Möglichkeit. Es waren vorwiegend Frauen aus dem Ausland, die hier ein Studium aufnahmen. Ricarda hatte zahlreiche russische Jüdinnen getroffen, die sich in verschiedenen Wissensgebieten eingeschrieben hatten. Medizinerinnen waren aber eher selten anzutreffen. In ihrem Jahrgang war sie die Einzige gewesen. Es war natürlich nicht ausgeblieben, dass ihr die Geschichte von Marie Heim-Vögtlin zu Ohren gekommen war, die hier als erste Schweizer Frau das Medizinstudium abschloss und promovierte.
Ricarda hatte ihr Bildnis in einem der Bücher der Universität entdeckt und war ihr auf einem der medizinischen Vorträge begegnet, die sie gehalten hatte. Sie war eine Frau, die auf den ersten Blick ein wenig streng und unscheinbar wirkte, aber in ihrem Blick loderte das gleiche Feuer der Entschlossenheit wie bei ihr. Die Heim-Vögtlin führte eine äußerst gut gehende Praxis in Zürich und stand in dem Ruf, eine sehr gute Ärztin zu sein.
Nachdem Ricarda von ihr gehört hatte, war sie zu einer Art Vorbild geworden. Es war schon seit Langem ihr Traum gewesen, Ärztin zu werden. Beim ersten Mal, als sie ihn ihrem Vater vorgetragen hatte, war sie sieben Jahre alt gewesen. Sie hatte seine Arzttasche entdeckt, all die fremdartigen Instrumente bewundert und dann mit entschlossen vorgestreckter Brust erklärt, dass sie dasselbe wie er machen wolle.
Heinrich Bensdorf hatte darüber zunächst gelacht, seine Kleine auf den Arm gehoben und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben.
»Das ist doch nichts für Mädchen, schon gar nicht für meine kleine Prinzessin«, waren seine Worte gewesen.
Doch Ricarda, die an jenem Abend mit glühenden Wangen im Bett gelegen und über ihren Wunsch sogar die geliebten Kekse zur Nacht liegengelassen hatte, war davon überzeugt gewesen, dass sie werden wollte, was ihr Vater war. Die Träume von der Prinzessin waren schlagartig verschwunden, sie kehrten nicht einmal zurück, wenn sie Zeuge einer Prozession des Kaiserpaares und ihrer Kinder wurde. Sie wollte Ärztin sein, wollte Menschen helfen, wie es ihr Vater tat.
Heinrich Bensdorf und besonders seine Frau hofften, dass sich der Wunsch verlieren würde. Aber das tat er nicht. Ricarda begann schließlich, sich nachts in die Praxis, die zum Wohnhaus gehörte, zu schleichen und die medizinischen Bücher ihres Vaters zu studieren. Einmal erwischte er sie dabei, doch anstatt sie zu schelten, hatte er gelacht und das Buch, das ihr beim schreckhaften Aufspringen vom Schoß geglitten war, aufgehoben.
»Du meinst es also ernst?«
Ricarda hatte genickt.
»Und wie viele von den Büchern hast du schon gelesen?«
»Zehn waren es. Vielleicht auch ein paar mehr.«
Der Vater hatte sie lange angesehen. »Und hast du auch verstanden, was dort geschrieben steht?«
Kopfschüttelnd hatte sie verneint.
»Nun, ich denke, wenn du älter wirst, wirst du auch verstehen«, hatte Bensdorf daraufhin entgegnet und sie bei der Hand genommen.
Überhaupt hatte sie ihren Vater als den sanfteren Elternteil in Erinnerung. Ihre Mutter, geplagt von Migränen und anderen Unpässlichkeiten, hatte nie viel Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. In ihren Augen war Ricarda nur die Chance, sich mit einer bedeutenden Familie zu verbinden. Von daher hatte sie Ricardas Entschluss, der mit den Jahren immer stärker und fester geworden war, immer lautstarker missbilligt. Letztlich jedoch war es ihr Vater gewesen, der sich hatte erweichen lassen …
Die Bilder der Erinnerung wurden fortgewischt, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Rauch hüllte die Gleise ein und umschloss die Wartenden einen Moment lang wie Nebel. Ricarda versuchte zu erkennen, ob jemand von ihrer Familie da war, um sie abzuholen, aber sie sah kein bekanntes Gesicht. Sie hatte ihren Eltern schon vor ein paar Wochen telegrafiert, dass sie zu kommen gedachte, aber sie erwartete nicht wirklich, dass ihr Vater oder gar ihre Mutter am Bahnsteig stehen und auf sie warten würden. So etwas mochte es vielleicht in anderen Familien geben, aber nicht in ihrer.
Als der Zug vollständig zum Stehen gekommen war, griff Ricarda ihre Tasche und verließ das Abteil. Im Gang hatte sich eine Schlange gebildet. Einige Studenten, die mitgereist waren, unterhielten sich lautstark, während sich hinter ihr weitere Reisende aufreihten. Es dauerte nicht lange, bis sich die Leute hinter ihr über das Verhalten der Studenten empörten.
Ein Lächeln huschte über Ricardas Gesicht. Als sie nach Zürich gereist war, hatte sie solch ein Verhalten als empörend empfunden, aber mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt. Jetzt konnte sie sich darüber nur amüsieren, denn sie wusste, was der Grund für solch eine Ausgelassenheit war.
Wäre sie keine Frau gewesen, hätte sie sich wahrscheinlich ebenfalls ausgelassener verhalten. Ja, vielleicht wäre sie sogar zu den Burschen gegangen, hätte sich mit ihnen verbrüdert und wäre nach dem Verlassen des Zuges mit ihnen in ein Lokal eingezogen, um das Ende des Semesters zu feiern. Aber so etwas ziemte sich nicht für eine Frau, nicht einmal in einem Land, in dem sie studieren durfte. Und erst recht nicht in Preußen, wo das nicht erlaubt war.
Endlich ging es weiter und Ricarda verließ schließlich den Zug. Die Menschen warteten bereits darauf, einsteigen zu können, viele von ihnen musterten sie neugierig, wahrscheinlich fragten sie sich, warum nicht ihr Begleiter die schwere Tasche trug.
Doch nur einen Moment später hatte sie sie hinter sich gelassen. Zugluft erfasste ihre Röcke, ein eisiger Hauch strich über ihre Wangen. Ein paar Haarsträhnen lösten sich aus ihrer Frisur und umwehten ihren Kopf wie luftige Bänder.
Zuhause. Endlich.
Das Wetter in Zürich unterschied sich nur unwesentlich von dem in Deutschland, dennoch war die Luft in Berlin anders. Spree und Havel gaben ihr etwas Sumpfiges, die Fabriken hüllten die Stadt mit dem Rauch aus den Schloten ein und dazwischen konnte man einen Hauch der märkischen Felder wahrnehmen, die die Metropole umgaben. Es war der Geruch ihrer Kindheit, den sie aus tausenden heraus erkennen würde.
Tief atmete sie ein, und nachdem sie sich ein Stück von den Gleisen entfernt hatte, blieb sie stehen, setzte die Tasche ab und blickte auf zu der Stahlkonstruktion über ihrem Kopf.
Der Lehrter Bahnhof war einer der jüngsten in Berlin, es gab ihn erst seit knapp zwanzig Jahren. Vor ein paar Jahren hatte man den Hamburger Bahnhof geschlossen, seitdem ging es mit dem Lehrter stetig bergauf. Ricarda, die schon immer großes Interesse an Modernisierung hatte, registrierte ein paar Neuerungen und machte auch die Tauben aus, die auf den Metallstreben darauf warteten, dass ihnen ein barmherziger Passagier ein paar Brotkrumen zuwarf. Es waren mehr geworden. Offenbar sprach es sich auch unter den Geflügelten herum, dass sich mit der Erweiterung des Bahnhofes die Zahl der Passagiere und des Futters erhöhten. Leider hatte sie nichts dabei, was sie ihnen geben konnte. Sie hatte ihren Proviant, den ihr ihre Zimmerwirtin mitgegeben hatte, auf der langen Reise vollständig verbraucht.
Ricarda strich ihr blaugraues Reisekostüm, das aus einem einfach geschnittenen Rock und einer kurzen Jacke mit gebauschten Ärmeln bestand, glatt, zog den Schal um ihren Hals ein wenig fester und richtete den Mantel. Dann nahm sie ihre Tasche wieder auf und schritt in Richtung Ausgang.
Hinter ihr ertönte ein schrilles Pfeifsignal, das die Reisenden aufforderte, die Türen hinter sich zu schließen. Wenig später setzte sich die Lok schnaubend und ächzend in Bewegung, doch Ricarda blickte sich nicht nach ihr um. Sie durchquerte die Bahnhofshalle, in der ein Drehorgelspieler die Wartenden unterhielt und ein paar Jungen versuchten, die Zeitungen über ihrem Arm für ein paar Pfennige unter die Leute zu bringen.
Auch Ricarda wurde von einem dieser Burschen angesprochen, doch sie schüttelte den Kopf und trat schließlich aus der Tür.
Berlin war wirklich Berlin geblieben. Unzählige Schornsteine schickten ihren Rauch in den grauen Himmel und es sah nach Regen aus, genau wie an dem Tag, als sie nach Zürich aufgebrochen war. Sollte sie dies als gutes oder schlechtes Omen nehmen? Es konnte bedeuten, dass die Stadt ihr ihre Kühnheit verziehen hatte. Es konnte aber auch heißen, dass sich nichts geändert hatte.
Kurz ließ sie ihren Blick über den Bahnhofsvorplatz schweifen. Von hier aus konnte sie zahlreiche, immer höher aufragende Gebäude ausmachen. Die Studentenbande von vorhin bestieg gerade lauthals singend eine der Droschken und ließ sich wahrscheinlich schnurstracks zum erstbesten Lokal fahren.
»Fräulein Ricarda!«, rief plötzlich eine Stimme hinter ihr. Als sie herumwirbelte, sah sie Johann, den alten Kutscher ihrer Familie. Er stand unweit des Landauers der Bensdorfs, der zwischen zwei Droschken abgestellt war, die auf Passagiere warteten. Für gewöhnlich sahen das die Kutscher nicht gern, aber Johann war nicht auf den Mund gefallen und wusste sich zu verteidigen, falls einer auf die Idee kam, ihm auf die Pelle zu rücken.
Mitgekommen war von ihrer Familie natürlich niemand. Ihr Vater hatte in der Praxis oder in der Charité zu tun, und ihre Mutter wäre gar nicht erst auf die Idee gekommen, ihre Tochter vom Bahnhof abzuholen, selbst dann nicht, wenn sie nicht in eine ihrer gesellschaftlichen Pflichten eingebunden gewesen wäre. Ihren Töchtern Liebe entgegenzubringen, war vielleicht etwas für einfache Frauen, aber nicht für sie.
Dafür strahlte Johann Bartels, der schon vor ihrer Geburt in den Diensten ihrer Familie gestanden hatte, umso mehr. Sein Haar war sei ihrem letzten Zusammentreffen deutlich weißer geworden, aber seine Augen waren noch immer die eines jungen Mannes.
»Guten Tag, Johann, wie geht es Ihnen?«, rief Ricarda und umarmte den Kutscher. Seinem Mantel entströmte der gewohnte Geruch von Pferd und einem Hauch Rasierwasser, mit dem er nicht nur sein Kinn behandelte, sondern auch seine Haarpracht glattstrich.
Ihre Mutter hätte es gewiss missbilligt, dass sie einem Mitglied des Personals so nahe kam, doch Johann war für sie beinahe so etwas wie ein Großvater. Manchmal hatte er sie heimlich auf dem Kutschbock sitzen lassen, wenn ihre Eltern nicht da waren und sie es geschafft hatte, ihrem Kindermädchen für einen kurzen Augenblick zu entwischen. Er hatte ihr die Pferde gezeigt und einiges über sie erzählt. Und manchmal hatte er ihr auch Geschichten aus dem Krieg erzählt, in dem er als ganz junger Mann gedient hatte.
Liebend gern hätte sie jetzt vorn bei ihm gesessen, doch sie hielt es für besser, den Platz einzunehmen, der kein Getuschel bei der feinen Berliner Gesellschaft hervorrufen würde. Sie war ohnehin schon fast so etwas wie eine Geächtete, denn sie hatte es gewagt, zu studieren.
»Ist das alles, was Sie an Gepäck haben?«, fragte der Kutscher und deutete auf ihre Tasche. Ricarda nickte.
»Ja, den Rest habe ich per Post aufgegeben. Wenn er noch nicht angekommen ist, wird er wohl im Laufe der Woche eintreffen.«
»Oder gar nicht«, neckte Johann sie, während er ihr die Tasche abnahm, die Kutschentür öffnete und das Behältnis auf einen der Sitze hievte.
»Was sollte man einer armen Studentin schon stehlen?«, fragte sie und nahm auf den Lederpolstern Platz. Johann hatte das Verdeck nur zur Hälfte aufgeklappt, sodass sie sich bei der Fahrt die Stadt ein wenig besehen und richtig heimkommen konnte.
»Ich denke doch, Sie sind jetzt eine richtige Ärztin, Fräulein Ricarda«, sagte der Kutscher und schwang sich auf den Kutschbock.
»Das stimmt«, entgegnete Ricarda, und nun schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Mehr denn je wurde ihr bewusst, welchen Schritt sie gewagt und bewältigt hatte. Sie hatte etwas geschafft, von dem Frauen hier in Preußen nur träumen konnten.
Hier war es den Frauen noch immer verboten, sich überhaupt in einem Hörsaal blicken zu lassen. Die meisten würden natürlich das tun, was ihre Mutter eigentlich auch für sie geplant hatte. Heiraten, Kinder bekommen und sich dann auf Bällen und in Salons totlangweilen. Sie jedoch hatte schon immer ein anderes Leben gewollt. Wie sicher einige andere Frauen auch. Und sie hatte die Chance erhalten, es zu führen.
»Nun gut, Frau Doktor, ich nehme an, Sie wollen schnurstracks nach Hause.«
»Das will ich Johann«, antwortete sie, doch ihre Stimme klang dabei nicht so froh, wie sie eigentlich sollte. Sie wusste, was sie erwartete. Ihr Vater würde dabei noch das Erfreulichste sein, was sie zu Gesicht bekommen würde.
»Nun gut, dann los.« Johann ließ die Peitsche über die Köpfe der Pferde knallen und der Landauer ruckte an.
Ein Jahr war es her, seit Ricarda ihr Elternhaus zum letzten Mal zu Gesicht bekommen hatte. Die wunderschöne Villa in Charlottenburg kam in ihren Ausmaßen einem Palast nahe. Als sie noch klein war, hatte sie es tatsächlich für ein Schloss gehalten. Das weißgetünchte, im klassizistischen Stil gehaltene Gebäude hatte zwei Stockwerke und an einer Seite reckte sich ein kleiner Turm in die Luft. Weitläufige Blumenrabatten umgaben das Haus, dahinter erstreckte sich ein kleiner Park, in dessen Mitte sich ein kleiner, künstlich angelegter See und ein Pavillon befanden. Dort hatte sie früher immer gesessen und Pflanzen betrachtet. Einige von ihnen hatte sie gezeichnet. Die Bilder lagen noch immer in der Schublade des Schreibtisches, der in ihrem Zimmer stand. Vielleicht war es an der Zeit, sie wieder hervorzuholen.
Im vergangenen Winter war sie hier gewesen, um sich ein paar Tage der Ruhe vom Studium zu gönnen. Sie hatte sich mit ihrem Vater über Fortschritte in der Medizin unterhalten, auf Bällen getanzt und Schlittenfahrten außerhalb von Berlin unternommen. Nie hatte sie sich so frei und lebendig gefühlt.
Doch diesmal lag etwas Bedrückendes auf dem Anwesen. Äußerlich hatte sich natürlich nichts geändert, es war mehr ein Gefühl, das sich auf Ricardas Brust legte, sobald die Kutsche durch das Tor gefahren war. Es war, als hätte sie ihr Korsett zu fest geschnürt. Die Fenster des Hauses, in denen sich die grauen Wolken spiegelten, schienen auf einmal zu unbarmherzigen Augen zu werden, die sie beobachteten und über sie richteten.
Sie brauchte Johann nicht zu fragen, wo ihre Mutter war. Da sie die Kutsche nicht in Anspruch nahm, würde sie im Haus sein, beschäftigt mit allerlei Dingen im Haushalt und mit Vorbereitungen zur nächsten Wohltätigkeitsveranstaltung.
Ricarda hatte es sich insgeheim gewünscht, aber nicht wirklich erwartet, dass sie nach draußen kommen und ihr freudig um den Hals fallen würde.
Nachdem das Gefährt gehalten hatte, stieg sie aus und nahm die Tasche an sich. Immerhin kam ihr der Hausdiener entgegen, um sie zu begrüßen.
»Die gnädige Frau schickt mich, ich soll Ihnen ausrichten, dass sie Sie in ihrem Salon erwartet.«
»Danke, Martin.« Ricarda widersetzte sich dem Versuch des Dieners, die Tasche an sich zu nehmen und ging mit forschem Schritt voran. Ihre Schritte hallten laut vom Marmorfußboden der Eingangshalle wider, der mächtige Kronleuchter über ihrem Kopf klimperte leise unter dem Windzug, der ihr und Martin in das Haus folgte.
Die Bensdorfs konnte man getrost als eine Berliner Ärztedynastie ansehen. Im 17. Jahrhundert ließ sich hier der erste Bensdorf nieder, und abgesehen von einigen wenigen Unterbrechungen hatte die Familie immer wieder gute und angesehene Ärzte hervorgebracht. Die Bensdorfs waren dabei gewesen, als die Charité gegründet wurde. Sie hatten einige hervorragende Ärzte in der Klinik gestellt und bei wichtigen Entdeckungen mitgeholfen. Ihr Vater selbst war ein Freund von Dr. Koch, der mittlerweile in dem von ihm geschaffenen königlich-preußischen Institut für Infektionskrankheiten tätig war.
In all den Jahren waren die Bensdorfs zu einer der angesehensten Familien Berlins geworden, zu einem Mittelpunkt der Gesellschaft.
Eigentlich sollten sie stolz auf mich sein, dass ich die Tradition weiterführe, ging es Ricarda durch den Sinn.
Doch sie war eine Frau, und der war es vorbestimmt, einen angesehenen Mann zu heiraten und die Familie weiterzuführen. Jedenfalls war dies die Ansicht ihrer Mutter.
Ricarda durchquerte die bekannten Gänge, und je näher sie dem Salon kam, desto schwerer erschien ihr die Tasche. Ihre Hände wurden feucht und ihr Pulsschlag erhöhte sich.
Nach einer Weile stand sie vor der hohen, doppelflügeligen Schiebetür, hinter der sich das Reich ihrer Mutter befand. Zwei große Scheiben waren in die Tür eingelassen, doch es war nicht etwa das Milchglas, das sie aus der Universität kannte. Es war eine kunstvolle Glasarbeit aus verschiedenfarbigen, opaken Scheiben, die zwei große blaue Irislilien darstellten. Zusammengefügt waren die Scheiben durch dünne Bleistreifen, wie man sie auch in Kirchenfenstern fand. Der Vergleich mit einer Kathedrale war keineswegs so abwegig, wie man vielleicht denken konnte. Ihre Mutter hütete den Salon wie ein Heiligtum. Schon als Kind war es Ricarda schwergefallen, diese Räume zu betreten, und das war auch jetzt noch der Fall. Es war, als sei dieses Zimmer das Innere des Herzens ihrer Mutter. Auch dort war sie nie wirklich hineingekommen und würde jetzt noch mehr Schwierigkeiten haben. Vielleicht würde ihre Mutter sie nun ganz außen vor lassen.
Sie konnte Stimmen hinter der Tür vernehmen. Ein bekannter Duft nach Jasmin strömte ihr entgegen. Wahrscheinlich hatte sie wieder ein paar ihrer Freundinnen zum Tee geladen. Von denen würde sie sich dann mit missbilligenden Blicken bedenken lassen müssen, ohne dass ihre Mutter auch nur auf die Idee kam, etwas zu tun, um es ihrer Tochter leichter zu machen.
Die Stimmen auf dem anderen Ende des Raumes verstummten plötzlich. Wahrscheinlich hatten die Frauen mitbekommen, dass jemand vor der Tür war, und nun warteten sie, dass sie eintrat. Jede weitere Minute, die sie zögerte, würde ihr von ihrer Mutter vorgehalten werden, auch nach einem Jahr würde sich nichts daran geändert haben.
Ricarda fasste sich also ein Herz und klopfte. Als sie die Stimme der Mutter vernahm, schob sie einen der Flügel beiseite und trat, mit der Tasche noch immer in der Hand, ein.
Wie immer thronte Susanne Bensdorf regelrecht in der Mitte des Raumes, hinter einem chinesischen Tischchen, auf dem eine Teekanne aus Porzellan nebst einer Gebäckplatte und drei Gedecken stand.
Sie trug ihr Nachmittagskleid aus grünem Musselin und ihre Haare waren sorgsam zu Locken onduliert und hochgesteckt. In ihren Ohren funkelten zwei Saphirohrringe, die Ricarda noch nie gesehen hatte. Die funkelnden Steine wetteiferten mit ihren hellen Augen, die nie ihre distanzierte Kühle verloren – auch dann nicht, als sie ihre Tochter erblickte.
Frau von Hasenbruch und Frau Heinrichsdorf, ihre beiden besten Freundinnen, waren bei ihr, ebenfalls aufgeputzt, als würde der Kaiser persönlich jeden Augenblick durch die Tür schreiten. Es waren sehr alte Freundinnen ihrer Mutter. Edith von Hasenbruch entstammte eigentlich einer bürgerlichen Familie, doch sie hatte es geschafft, die Aufmerksamkeit eines Adligen zu erregen, der sie prompt zu seiner Frau machte. Sie war durchaus eine gutaussehende Frau, und Ricarda hätte sie wahrscheinlich sympathisch gefunden, wenn da nicht dieser schnippische Ausdruck um ihre Lippen gewesen wäre, der ihr etwas Unberechenbares gab.
Marlene Heinrichsdorf gab dagegen zumindest äußerlich ein anderes Bild ab. Die Arztgattin war rundlich und wirkte mit ihren gedeckten Kleidern und der hochgesteckten Frisur wie eine freundliche Gouvernante, doch dieser Anblick täuschte.
Ihr Mundwerk war genauso scharf wie das ihrer Freundinnen, nur dass sie für gewöhnlich pflegte, ihre Opfer subtil anzugehen. Sie redete mit solch freundlichen Worten, dass es schwer fiel, darunter die Beleidigung zu vernehmen. Und wenn man sie bemerkte, konnte man nicht einmal entsprechend reagieren, ohne ungehobelt zu wirken.
Ricarda war immer schon froh gewesen, wenn sie nicht mit diesen beiden Frauen in einem Raum sein musste. Besonders in den letzten Jahren, bevor sie zum Studium aufbrach, hatte sie immer wieder nach Ausflüchten gesucht, um an den Teegesellschaften nicht teilzunehmen zu müssen. Abgesehen davon, dass jedermann, der diesen Salon betreten durfte, sie wegen ihres Ansinnens für eine Närrin hielt, war es einfach nicht mehr ihre Welt. Schon damals wollte sie sich lieber in Laboratorien aufhalten und forschen. Ihre Mutter wusste das, doch immer wieder hatte sie versucht, sie auf ihre Seite zu ziehen. Anfangs mit süßen Worten, dann mit vorgeschützter Migräne und Übellaunigkeit.
Der heutigen Runde würde sie allerdings nicht so leicht entkommen können. Vermutlich hatte ihre Mutter ihre Freundinnen gerade deswegen eingeladen.
»Ricarda, Liebes!«, sagte ihre Mutter und erhob sich. Ihr Kleid raschelte leise, als sie mit den würdevollen Bewegungen, die ihr schon immer zueigen waren, auf ihre Tochter zukam.
Ricarda war verwundert. Angesichts der Teegesellschaft hätte sie einen anderen Empfang erwartet, doch die Stimme ihrer Mutter klang beinahe erfreut. Oder war dies nur das Zuckerbrot, das es vor der Peitsche zu kosten gab?
Ricarda musterte ihre Mutter prüfend. Auf ihrem porzellanfarbenen Gesicht lag ein verhaltenes Lächeln, die Spuren von Alter und unterdrückten Gefühlen waren sorgsam übertüncht worden, sodass es wie eine Maske wirkte, die beim Karneval getragen wurde. Ricarda hatte sich so oft gewünscht, dass sie einmal dahinter schauen könnte, doch ihre Mutter hatte ihr nie einen Blick in ihr Innerstes gewährt.
»Guten Tag, Mutter«, sagte Ricarda und ließ zu, dass sie sie umarmte. Auch das war neu. Ihre Mutter hatte sie selbst in ihrer Kindheit nur ein paar Mal umarmt. Ihr Vater war derjenige, der sie auf den Arm gehoben hatte und sich manchmal auch dazu hinreißen ließ, sie auf seine Schultern zu heben. Aber ihre Mutter hatte stets eine kühle Distanz zu ihr bewahrt.
»Lass dich anschauen!«, sagte nun diese Frau, die ihrer Mutter nur im Äußeren zu gleichen schien, und legte die Hände auf ihre Schultern.
Ricarda befürchtete, dass so etwas kommen würde wie »Du bist aber groß geworden« oder »Du hast dich verändert« ‒ jene schrecklichen Sätze, die ihr ihre Tanten immer entgegengeschleudert hatten, ohne wirklich zu wissen, wie groß oder anders sie zuvor gewesen war.
Doch ihre Mutter sah sie nur für einen Moment an, ließ dann ihre Hände wieder sinken und fragte: »Wie war deine Reise? Stell die Tasche ab, ich werde Rosa rufen, damit sie sie auf dein Zimmer bringen kann.«
Ihre Mutter führte sie zu dem kleinen Tisch, an dem die beiden Damen saßen. Ricarda begrüßte sie, und stellte ihre Tasche neben den Tisch.
Inzwischen betätigte ihre Mutter die Dienstbotenklingel, und wenig später erschien Rosa, eines der Dienstmädchen. Sie strich sich die gestärkte Schürze glatt und knickste.
»Rosa, sorgen Sie dafür, dass die Tasche meiner Tochter auf ihr Zimmer kommt. Und bringen Sie noch ein weiteres Gedeck.« Offenbar hatte ihre Mutter tatsächlich vor, sie länger in diesem Raum zu halten.
Das Dienstmädchen knickste erneut, ergriff die Tasche und schleppte sie aus dem Raum. Ein Augenblick klammer Stille entstand, als sich Ricarda zu den beiden anderen Damen auf einen der seidenbezogenen Empire-Stühle setzte.
»Ihre Mutter erzählte uns, dass Sie studiert hätten«, machte Frau von Hasenbruch den Anfang, während sich Frau Heinrichsdorf noch ein wenig zurückhielt. Diese beschränkte sich darauf, sie zu mustern, als versuchte sie, Anzeichen einer ansteckenden Krankheit auf ihrem Gesicht zu finden.
Offenbar hatte ihre Mutter das wirklich erst jetzt gegenüber ihren Freundinnen erwähnt, denn bei der letzten Feier, die ihre Eltern gegeben hatten, war sie noch nicht darauf angesprochen worden. Und das, obwohl sie da schon im fünften Studienjahr gewesen war und kurz darauf ihre Assistenzzeit begonnen hatte.
»Ja, das habe ich. Medizin«, entgegnete Ricarda kurz angebunden und fürchtete sich nun doch ein wenig vor dem, was folgen würde. Offenbar wollte ihre Mutter es ihren Freundinnen überlassen, sie zu diskreditieren.
»Nun, ist es nicht ein wenig ungewöhnlich, dass eine Frau studieren geht? Und dann noch in diesem Bereich?«
»Das ist es, Frau von Hasenbruch. Aber ich bin davon überzeugt, dass ein Studium Frauen durchaus zuträglich sein kann. Außerdem haben wir eine Familientradition zu wahren, da erschien es mir nur folgerichtig, das Medizinstudium zu wählen.«
Ricarda wusste, dass sie in diesem Augenblick auf sehr dünnem Eis stand. Die beiden Frauen vertraten die gleichen Ansichten wie ihre Mutter. Eine Frau war nicht dazu da, um sich herumzutreiben und der Wissenschaft zu frönen. Sie gehörte ins Haus und zu einem Mann. Ihr Verweis auf die Familientradition machte es nicht besser, denn damit führte sie ihrer Mutter nur vor Augen, dass sie nach ihrer Geburt nicht mehr imstande war, weitere Kinder zu bekommen. Hätte sie noch einen Sohn geboren, wäre die Tradition von ihm weitergeführt worden, aber nichts war so gekommen, wie es sich Susanne Bensdorf gewünscht hatte.
Dass sie mit ihrer Antwort Missmut erregt hatte, bekam sie durch das Schweigen zu spüren, das ihren Worten folgte.
Schließlich fand sich Frau Heinrichsdorf dazu bereit, sie aus dieser Lage zu erlösen, allerdings hatte das seinen Preis, wie Ricarda im nächsten Augenblick merkte.
»Und was gedenken Sie nun zu tun?«, fragte die Arztgattin mit einer Freundlichkeit, die nahezu alarmierend war.
»Zunächst werde ich mich erst einmal von der Reise erholen und dann auf das Weihnachtsfest vorbereiten. Außerdem gibt es einige gesellschaftliche Verpflichtungen, denen ich nachgehen muss.«
Ricarda wusste, was die Frau eigentlich wissen wollte. Die Jahre an der Züricher Universität hatten ihr Menschenkenntnis beigebracht. Sie wollte wissen, ob sie gedachte, das erlernte Wissen anzuwenden und zu arbeiten, oder ob sie sich endgültig dem den Frauen vorbestimmte Schicksal ergeben würde. Wahrscheinlich hätten es die beiden Damen lieber gehört, wenn sie geantwortet hätte, dass sie jetzt Ausschau nach einem Bräutigam halten würde.
»Nun, gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen ist weitaus angebrachter für eine junge Frau als das, was diese Suffragetten tun, die neuerdings überall aus dem Boden zu schießen scheinen.«, entgegnete Frau Heinrichsdorf, und Ricarda entging weder der Unterton noch der verstohlene Blick zu ihrer Mutter.
Sie hatte durchaus von den Frauenrechtlerinnen gehört, die abwertend Suffragetten genannt wurden und für die Rechte der Frauen kämpften. In Zürich war sie diesen Damen etliche Male über den Weg gelaufen, die von ihr verehrte Marie Heim-Vögtlin hatte diese Bewegung öffentlich unterstützt. Die Frauenrechtlerinnen setzten sich für das Wahlrecht ein, das den Frauen noch immer verwehrt war. Den beiden Freundinnen ihrer Mutter würde das sicher nichts bedeuten, im Gegenteil, es würde ihnen vielleicht sogar ein Gräuel sein. Doch Ricarda hatte sich schon immer gefragt, warum Frauen denn nicht über die Geschicke eines Landes mitbestimmen sollten. Warum sie nicht studieren sollten. Frauen war ebenso wie Männern ein Verstand gegeben, warum sollten sie ihn nicht nutzen? Warum sollten sie nur dazu verdammt sein, Kinder zu gebären, den Haushalt zu führen und sich, sofern ihr Gatte reich genug war, zu langweilen?
»Ja, man hat in letzter Zeit so Einiges von diesen Frauen gehört«, pflichtete ihr Frau von Hasenbruch bei. »Erst vor Kurzem haben sie sich gar vor der Reichskanzlei versammelt und lauthals das Wahlrecht für Frauen eingefordert. Wenn das der Kanzler Bismarck wüsste! Die Polizei musste schließlich kommen und diese Weibsbilder vertreiben. Unschicklich ist so etwas, wenn Sie mich fragen.«
Ricarda bemerkte, dass die Gräfin sie von der Seite her musterte. Sie blickte ihre Mutter an, die ihre goldgerandete Teetasse an die Lippen hob und tat, als würden sie sich gerade über etwas Belangloses wie das Wetter unterhalten. In Wirklichkeit war sie wohl auch gespannt, wie die Reaktion ihrer Tochter aussehen würde.
Das war also die Peitsche, die dem Zuckerbrot folgte.
Ricarda war es mit einem Mal, als würde ihr die Luft abgeschnürt werden. Sie hätte den beiden aufgeblasenen Frauen, die in ihrem Leben wohl noch nie etwas Nützliches getan hatten, und auch ihrer Mutter am liebsten entgegengeschleudert, dass nichts daran falsch war, wenn Frauen für ihre Rechte eintraten, zu wählen oder zu studieren. Doch sie brachte die Worte nicht hervor. Nicht, weil sie keinen Mut dazu hatte, sondern weil sie wusste, dass diese Worte umsonst sein und nichts ändern würden.
Wieder entstand ein unangenehmer Moment der Stille. Die Frauen erwarteten eine Reaktion von ihr, und zwar eine, die den gesellschaftlichen Normen entsprach. Aber die würde sie ihnen nicht liefern können.
Ricarda blickte hilfesuchend zur Tür. Wo blieb Rosa nur mit dem Gedeck?
»Nun, vielleicht sollten wir ein weniger unangenehmes Thema anschneiden«, sagte ihre Mutter schließlich.
Irrte sie sich oder sah sie einen zufriedenen Zug um die Lippen ihrer Mutter? Hatte sie sie bewusst bloßstellen wollen?
Ricarda hielt es nun nicht mehr länger aus. Da das Dienstmädchen mit dem Gedeck noch immer nicht da war, wollte sie die Gelegenheit nutzen, um sich zu verabschieden, bevor sie gänzlich die Contenance verlöre und die beiden Vetteln noch den Skandal bekamen, den sie wollten.
»Entschuldigen Sie bitte, ich denke, ich sollte mich jetzt ein wenig ausruhen. Ich fürchte, mir fehlt nach der langen Reise die Konzentration, um eine unterhaltsame Gesprächspartnerin zu sein.«
Damit erhob sie sich von ihrem Platz. Die beiden Freundinnen blickten sie echauffiert an, das Gesicht ihrer Mutter war weiterhin eine Maske.
»Aber Liebes, dein Tee …«, sagte sie, doch wenn sie gehofft hatte, dass sich Ricarda mit diesen Worten zum Bleiben bewegen ließ, hatte sie sich getäuscht.
»Danke, aber im Moment brauche ich nur etwas Ruhe.«
»Aber sicher doch, Kind.«
Ihre Mutter lächelte sie an, und nachdem sie ihr und ihren beiden Besucherinnen zugenickt hatte, verließ sie den Salon.
Als sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, lehnte sie sich gegen die Wand und schloss die Augen. So lange, bis sie Schritte vernahm. Rosa kam herbei, in der Hand das von ihrer Mutter gewünschte Gedeck. Als sie Ricarda erblickte, blieb sie stehen und starrte sie verwundert an.
»Bringen Sie das Gedeck zurück in die Küche, Rosa, es wird nicht mehr gebraucht«, sagte sie zu dem Dienstmädchen, das noch immer wie versteinert dastand und nicht so recht zu wissen schien, wem sie eher gehorchen sollte.
»Nun gehen Sie schon, ich brauche es wirklich nicht«, fügte Ricarda hinzu, worauf Rosa knickste und dann kehrt machte.
Noch einen Moment verharrte Ricarda an der Wand, wissend, dass ihre Mutter und ihre Freundinnen ihre Stimme gehört hatten, doch das kümmerte sie nicht. Schließlich löste sie sich von ihrem Platz und ließ die Salontür hinter sich.
Es war nicht so, als würde eine Last von ihr abfallen, aber etwas leichter war ihr nun doch zumute. Gleichzeitig schwor sie sich, den Salon in den nächsten Tagen zu meiden. Aber wahrscheinlich würde sie ohnehin anderes zu tun haben. Ricardas Entschluss, etwas zu versuchen, was vor ihr wohl nur wenige erfolglos versucht hatten, stand fest. Und wenn sie Glück hatte, würde sie wenigstens ein Mensch in diesem Haus darin unterstützen.
Sie strebte ihrem Zimmer zu und kam auf halbem Wege an der Treppe vorbei.
»Ricarda!«
Der Ruf ließ sie augenblicklich innehalten. Als sie sich umwandte, sah sie einen Mann an der Treppe stehen. Er trug einen dunklen Gehrock zu ebenso dunklen Hosen. Das Hemd darunter war blütenweiß und gut gestärkt, die Schuhe blankpoliert. An der Krawatte gewahrte Ricarda ein Funkeln, es war die goldene Nadel, die sie ihm zum Geburtstag geschickt hatte.
»Vater!«
Ricarda rannte ungestüm die Treppe hinunter. Heinrich Bensdorf breitete die Arme aus und als sie ihn erreicht hatte, fing er sie auf. Es war wie früher, als sie noch ein Kind war, das sich freute, dass er von der Arbeit nach Hause kam.
»Ich dachte mir, ich mache heute ein wenig eher Schluss, wenn meine Tochter nach so langer Zeit heimkehrt.«
Ricarda barg das Gesicht an der Schulter des Vaters. Wenigstens er verhielt sich wie immer. Und er roch auch noch so wie immer. Seinem Anzug entstieg ein leichter Karbolgeruch, der sich mit dem Geruch nach Kölnisch Wasser an seinem Kragen mischte. Sein graues Haar schmiegte sich weich an ihre Wange und für einen kurzen Moment fühlte sie sich in ihre Kinderzeit zurückversetzt.
Vielleicht war ihr Vater enttäuscht gewesen, dass sie kein Junge war, gerade weil ihre Mutter kein weiteres Kind zur Welt bringen konnte. Aber das hatte er ihr nie gezeigt.
»Es ist schön, dich wiederzusehen«, sagte sie und drückte ihn an sich. »Dich habe ich von allen am meisten vermisst.«
»Das lass nicht deine Mutter hören, es wird sie kränken.«
Sie weiß es ohnehin, dachte Ricarda, dann korrigierte sie: »Ich habe euch beide vermisst. Ein Jahr kann so furchtbar lang sein.«
»Das stimmt, aber jetzt bist du hier. Du hast dein Diplom und bist eine richtige Ärztin.«
»Du hättest sehen sollen, wie die Professoren bei meiner Prüfung dreingeschaut haben. Beinahe zwei Stunden haben sie mich dabehalten und mir alle möglichen Fragen gestellt.«
»Und du hast sie beeindruckt.«
»Sie haben mir immerhin ein magna cum laude gegeben. Soweit ich weiß, haben das in meinem Jahrgang nur fünf Ärzte bekommen.«
Bensdorf lächelte, fasste sie, wie schon die Mutter zuvor, an den Schultern, und nachdem er sie einen Moment lang angelächelt hatte, sagte er: »Ich bin stolz auf dich. Wir beide sind es.«
Ein Lächeln huschte über Ricardas Gesicht. »Dankeschön.«
Einen Moment lang sahen sich das blaue und das braune Augenpaar an, dann schlug der Vater vor: »Lass uns zu deiner Mutter gehen.«
Ricarda schüttelte den Kopf. »Da war ich gerade. Sie hat Besuch und die Damen waren ziemlich geschockt darüber, dass ich studiert habe. Sie vermuten jetzt sogar unterschwellig, dass ich eine dieser Frauenrechtlerinnen bin, die Hosen tragen und die Männer erschrecken.«
Bensdorf lachte auf. »Dann schätze ich mal, dass ihre beiden besten Freundinnen da sind. Alle anderen haben sich mittlerweile mehr oder weniger damit abgefunden, dass du studiert hast.«
Ricarda seufzte. »Wenigstens werden sie etwas zu erzählen haben, wenn sie zurückkehren. Manchmal wünschte ich nur, Mutter würde sie mir nicht vorziehen.«
»Das tut sie nicht«, entgegnete ihr Vater, doch in seiner Stimme schwang das Wissen mit, dass seine Frau noch nie eine wirkliche Beziehung zu ihrer Tochter hatte. Jedenfalls keine, die über die Hoffnung, sie gut zu verheiraten, hinausging.
Ricarda wollte schon fragen, warum sie sie dann den Fragen dieser beiden alten Fregatten ausgesetzt hatte, doch sie wollte sich diesen Moment mit ihrem Vater nicht verderben.
»Was hältst du von einem kleinen Spaziergang?«, fragte Bensdorf nun, wahrscheinlich, weil er die Diskussion über diesen Sachverhalt ebenfalls nicht vertiefen wollte.
»Sehr viel«, entgegnete Ricarda und hängte sich bei ihrem Vater ein.
Den Rest des Tages verbrachte Ricarda auf ihrem Zimmer. Der Spaziergang hatte ihr gut getan, und sie hätte ihn noch eine Weile fortsetzen können. Doch ein Laufbursche war erschienen und hatte ihren Vater zum Geheimrat Hohenfels gerufen. Ihn plagte wieder einmal das Asthma, kein Wunder bei dieser Witterung. Ricarda hätte beinahe gebeten, mitkommen zu dürfen, aber wahrscheinlich hätte der Geheimrat dann vor Schreck einen Herzanfall bekommen. Konservativ wie er war, würde er keine Ärztin an seinem Krankenlager dulden.
Nachdem sie sich kurz umgesehen hatte, begann sie, ihre Tasche auszupacken. Sämtlichen Kleidern, die sie fein säuberlich eingepackt hatte, haftete trotz der Wäsche noch der Geruch der Universität und des Sektionssaales an. Andere mochten ihn als unangenehm empfinden, für Ricarda bedeutete er Freiheit und Erinnerung an eine wechselvolle Zeit. Sie würde darauf bestehen, dass sie nicht gewaschen wurden, auch wenn ihre Mutter gewiss etwas daran auszusetzen hatte.
Als sie die Kleider auf dem Bett ausgebreitet hatte, hängte sie das Diplom, das sie zum Abschluss erhalten hatte, an die Wand. Sie hatte es gleich am Tag nach der Abschlussfeier rahmen lassen, damit es in ihrer Tasche keinen Schaden nahm. Liebevoll strich sie mit dem Finger über das Glas.
Als der Abend über der Villa hereinbrach, stand sie mit klopfendem Herzen vor dem Spiegel und betrachtete sich.
Das Reisekostüm hatte sie gegen eines ihrer besten Kleider ausgetauscht, das sie während der Studienzeit zu Hause gelassen hatte. Es bestand aus blauem Taft, der geheimnisvoll raschelte, wenn sie sich bewegte. Das Mieder war Ton in Ton mit feinen Blumenranken bestickt, an der Knopfleiste befand sich eine schmale weiße Spitze, die dem Kleid jugendliche Frische verlieh. Eigentlich war dieser Aufzug viel zu viel für ein simples Abendessen, aber Ricarda hatte dieses Kleid bewusst gewählt. Genauso, wie den Zeitpunkt für ihr Vorhaben.
Sie hätte durchaus noch warten und ein paar friedliche Tage hier verleben können. Ricarda war sich nur zu gut dessen bewusst, dass sie schlimmstenfalls auf wenig Gegenliebe für ihren Vorschlag stoßen würde. Aber sie wollte es versuchen. Immerhin war sie jetzt vierundzwanzig Jahre alt, und die Zeit würde für sie nicht anhalten. Nachdem sie noch einmal den Sitz ihres Kleides und ihrer Frisur überprüft hatte, verließ sie ihr Zimmer und betrat den Korridor, der zum Esszimmer führte. Von unten strömte ihr ein wunderbarer Duft entgegen.
Zur Feier des Tages hatte ihre Mutter die Köchin Ella wohl angewiesen, Braten zu machen, was Ricardas Leibgericht war.
Während ihrer Studienzeit hatte sie nicht oft das Vergnügen gehabt, Braten zu essen. Ihre Pensionswirtin hatte nur Studenten beherbergt, was nicht besonders viel einbrachte. Also gab es meist Eintopf mit Schmalz oder Hühnchen, nur an Feiertagen bekamen ihre Herbergsgäste Braten vorgesetzt. Und der war nicht mal halb so gut gewesen, wie der, den Ella zauberte.
Ricarda ging die Treppe hinunter und strebte dem Esszimmer zu. Noch war niemand außer ihr da.
An der Tür blieb sie stehen, überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bot. Die Tafel war wunderhübsch gedeckt, beinahe zu festlich für ein normales Abendessen. Ricardas Blick streifte über die rosafarbenen Rosen, die durch keine Perlenstränge miteinander verbunden waren. Drei Gedecke lagen vor ihr.
Da sie wusste, dass ihre Eltern die beiden Enden des Tisches für sich in Anspruch nahmen, begab sie sich zu dem Platz in der Mitte. Auf dem goldgerandeten Teller lag eine Serviette, die von einem rosengeschmückten Ring zusammengehalten wurde. Nachdem sie ihn kurz berührt hatte, wanderte ihr Blick zu dem Bild über dem Kamin, in dem das Feuer heftig prasselte.
Es zeigte Walter Bensdorf, ihren Urgroßvater. In der Kleidung, die im 18. Jahrhundert üblich war, saß er an seinem Schreibtisch und blickte seinen Betrachter direkt an. Er trug eine Perücke, wie sie heute nur noch in Gerichtssälen zu finden war, und das Blau seines Gehrocks stach auch noch nach all den Jahren aus dem dunklen Hintergrund hervor.
Es ist fast das Blau, das ich heute trage, dachte Ricarda. Was er wohl dazu sagen würde, dass seine Urenkelin in seine Fußstapfen getreten ist?
Im nächsten Moment vernahm sie Schritte und eine Frauenstimme. Es war ihre Mutter, in Begleitung ihres Vaters. Wenige Augenblicke später traten die beiden durch die Flügeltür.
»Ricarda, du bist ja schon hier?«, wunderte sich Bensdorf und geleitete seine Frau zur Tafel. Den Regeln des Anstands folgend zog er den Stuhl zurück, damit sie sich setzen konnte, dann ging er zu seinem Platz.
»Ja, ich dachte mir, ich komme besser rechtzeitig. In Zürich habe ich schon ziemlich früh zu Abend gegessen.«
Ricarda entging nicht der Blick ihrer Mutter, der ihren Worten stumm hinzufügte: in einer Spelunke.
Vielleicht hätte sie sonst eine Bemerkung dazu gemacht, doch dieser Abend war viel zu wichtig, um ihn frühzeitig zu verderben.
Der Vater lächelte ihr zu, dann winkte er dem Dienstmädchen, das unauffällig in der Tür erschienen war.
»Rosa, Sie können mit dem Auftragen des ersten Ganges beginnen.«
»Sehr wohl, Herr Bensdorf.« Mit diesen Worten und einem Knicks verschwand das Mädchen wieder aus dem Raum.
Ein Moment lang herrschte klammes Schweigen. Ricarda blickte zu ihrer Mutter, dann zu ihrem Vater. Beide sahen einander kurz an, und es schien, als hätten sie beim Herunterkommen über etwas Ernsthaftes gesprochen.
Ricarda fühlte sich ein wenig ratlos. Schwiegen sie vor dem Essen neuerdings immer? Sonst hatte ihr Vater doch immer ziemlich lebhaft über seine Arbeit berichtet. Jetzt wirkte es so, als hätten ihr Vater und ihre Mutter ein Geheimnis, das sie nicht erfahren sollte.
»Nun, ich denke, wir sollten anstoßen.«
Heinrich Bernsdorf erhob sich und ging zu der Anrichte, auf der in einem Sektkühler eine Flasche Champagner stand. Er goss drei Gläser ein und trug sie nacheinander zu den Plätzen seiner Frau und seiner Tochter. Mit dem letzten Glas trat er an seinen Platz und prostete Ricarda zu.
»Auf den erfolgreichen Abschluss deines Studiums und deine Rückkehr.«
Ricarda lächelte ihm zu, dann nahmen sie alle einen Schluck aus den Gläsern. Es war schon eine Weile her, dass sie Champagner getrunken hatte. Da sie allerdings nicht viel Alkohol vertrug und für heute Abend einen klaren Kopf brauchte, stellte sie das Glas wieder beiseite. Ihr Vater setzte sich, und eigentlich wäre es jetzt der Zeitpunkt gewesen, mit der Konversation anzufangen. Doch wieder wurde es still.
Ricarda war angesichts des Toasts zuversichtlich gewesen, doch dieses Gefühl schwand in den folgen Minuten.
Als ihr die Stille zu viel wurde, räusperte sie sich und fragte: »Nun Vater, wie war es denn bei dem Herrn Geheimrat?«
Augenblicklich fiel die seltsame Starre von ihm ab.
»Besser, als ich nach der dringlichen Anforderung erwartet hätte. Natürlich verbietet mir die Schweigepflicht, über sein Leiden Auskunft zu geben. Aber ich glaube, er wird noch einige Winter durchstehen.«
»Gut zu hören«, entgegnete Ricarda, und bevor das Schweigen wieder eintreten konnte, fragte sie:
»Hast du mal wieder mit Dr. Koch gesprochen?«
»Natürlich. Wir sehen uns seit der Eröffnung des Institutes zwar nicht mehr so häufig, aber Robert hat ein neues Verfahren zur Desinfektion entwickelt. Er erprobt es gerade im Institut. Außerdem redet er seit Wochen vom Reisen. Die Arbeit wird ihm keine Zeit dazu lassen, aber wie ich ihn kenne, wird er an dem Gedanken festhalten.«
Bevor Ricarda fragen konnte, wohin er zu reisen plante, wurde der erste Gang aufgetragen: Kürbissuppe mit Muskat und Butter. Ricarda liebte diese Suppe, bedauerlicherweise kannte sie das Rezept nicht, sonst hätte sie es ihrer Züricher Pensionswirtin zum Abschied gegeben.
»Welche Pläne hast du für die nächste Zeit?«, fragte Heinrich Bensdorf, nachdem er sich den Mund mit der Serviette abgetupft hatte.
Jetzt war es soweit.
Natürlich könnte sie sich in die Behauptung flüchten, dass sie sich erst einmal ausruhen und Weihnachtseinkäufe erledigen wollte. Aber das erschien ihr nicht richtig. Ihre Eltern sollten wissen, was sie wirklich wollte.
Also atmete sie tief durch und antwortete: »Ich möchte mich bei der Charité bewerben. Für eine Assistenzzeit. Ich habe zwar schon eine in Zürich absolviert, aber an einem Frauenklinikum. Die Charité bietet deutlich mehr Möglichkeiten.«
Diese Worte hatten wahrscheinlich denselben Effekt, wie die Ankündigung, sie sei von einem Herumtreiber schwanger. Ihrer Mutter entglitt der Löffel. Er landete scheppernd auf dem Tellerrand, etwas Suppe ergoss sich über das Kleid. Susanne Bensdorf räusperte sich, rückte den Löffel wieder zurecht und griff nach der Serviette, um sich abzutupfen.
Auch wenn sie vorgab, beschäftigt zu sein, konnte man sehen, dass ihr das Blut aus den Wangen gewichen war.
Ricarda sah nicht zur Seite, doch sie wusste, dass das Dienstmädchen, das darauf wartete, abräumen zu dürfen, betreten den Kopf senkte. Hilfesuchend blickte sie zu ihrem Vater.
Gerade von ihm hätte sie einen Funken Verständnis erwartet, vielleicht das verschmitzte Lächeln, das er immer aufgesetzt hatte, wenn er bemerkte, dass er seiner Tochter eine bestimmte Idee nicht ausreden konnte. Doch diesmal war seine Miene wie aus Wachs gegossen.
»Was ist?«, fragte sie und legte ihren Löffel ebenfalls beiseite. Du hättest es wissen müssen, ging es ihr durch den Kopf. Doch zurücknehmen konnte sie jetzt nichts mehr. Was sie sagen wollte, hatte sie gesagt. Jetzt musste sie die Konsequenzen hinnehmen. »Ist es euch nicht recht, dass ich arbeiten will?«
Wieder blickte sie zu ihrer Mutter, die den Kopf noch immer gesenkt hielt und mit der Serviette hantierte. Der Fleck ließ sich dadurch sicher nicht entfernen, aber so brauchte sie ihre Tochter wenigstens nicht anzusehen.
Nun ergriff Heinrich Bensdorf das Wort. »Wir haben dir das Studium ermöglicht, damit du deinen guten Verstand nicht ungenutzt lassen musst«, begann er, und Ricarda kannte ihn gut genug, um seinen Satz vollenden zu können.
»Aber ihr habt nicht damit gerechnet, dass ich diesen Beruf auch ausüben will, oder?«, fragte sie, bevor ihr Vater weitersprechen konnte. Das war respektlos, aber in diesem Augenblick hatte sie wohl ohnehin schon alles verdorben.
»Wir sind davon ausgegangen, dass du dein Studium beendest und dann heiratest, ja.«
»Heiraten?« Ricarda schnaufte und warf die Serviette neben den Teller. Der Appetit war ihr nun vollständig vergangen und sie hatte das Gefühl, einen Stein verschluckt zu haben.
Einen Moment lang wanderten ihr Blick über das Tischtuch und die Platten. Dann sah sie ihren Vater an.
»Ja, du wirst heiraten«, bekräftigte er. »Deine Mutter und ich haben beschlossen, dass dies das Beste für dich ist.«
Ricarda fiel aus allen Wolken. »Ich soll also in einem Haushalt versauern?«, entgegnete sie, und es fiel ihr schwer, ruhig zu bleiben. »Du, der du mich zum Studium ermuntert hast, willst, dass meine einzige Aufgabe in Zukunft das Vorbereiten von Empfängen ist? Dass ich in einem Salon langweilige Teestunden abhalte und mit der Tapete an der Wand eins werde, während mein Mann tun und lassen kann, was er will?«
Sie wusste, dass dieser Hieb direkt in die Richtung ihrer Mutter zielte, doch das war ihr egal. Wahrscheinlich hatte sie die Zeit ihrer Abwesenheit genutzt, um ihren Vater auf ihre Seite zu ziehen, um ihn dazu zu bringen, zuzustimmen, dass sie lieber heiraten als in ihrem Beruf arbeiten sollte.
»Wie redest du mit deinem Vater?«, meldete sich jetzt ihre Mutter zu Wort. Das brachte das Fass zum Überlaufen.
»Ich rede mit ihm wie mit jemandem, der Verrat an seiner Tochter begeht!«
»Ricarda!« Ihr Vater schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Gläser und Teller klirrten leise.
»Ich dulde keine Beschuldigungen und Frechheiten von dir, egal, ob du studiert hast oder nicht! Du bist immer noch meine Tochter und wirst tun, was ich für dich für richtig halte!«
Ricarda starrte ihn fassungslos an. War der Mann, der an diesem Tisch saß, wirklich ihr Vater oder ein dreister Doppelgänger, den ihre Mutter engagiert hatte, um sie dorthin zu bekommen, wo sie sie haben wollte?
Heinrich Bensdorf musterte seine Tochter unnachgiebig. Ricarda wurde klar, dass sie ihn durch nichts von seinem Standpunkt abbringen konnte. Diesmal nicht. Vielleicht hätte sie in diesem Augenblick etwas sagen sollen, aber ihr fielen keine passenden Worte ein. Sie konnte nur daran denken, dass sie die Forderung zu heiraten, von ihrer Mutter erwartet hätte – von ihrem Vater allerdings nicht.
Wütend sprang sie auf und stürmte zur Tür.
In den nächsten Tagen würde man sie wahrscheinlich mit Missachtung strafen, aber das würde sie nicht von ihrem Ziel abbringen. Es bedeutete nur, dass sie jetzt etwas härter kämpfen musste.
Noch spät in der Nacht saß Ricarda am Schreibtisch, im Schein ihrer Petroleumlampe, und schrieb an ihrer Bewerbung. Aus Gewohnheit trug sie dabei ihr Korsett, denn sie hatte das Gefühl, dass es sie bei ihrem Vorhaben stützen würde. Ansonsten trug sie nur ihr Leibchen und ihre Spitzenunterhosen. Ihre Pantoffeln standen vor dem Bett, das Kleid lag unordentlich über dem Stuhl daneben. Es hatte ihr kein Glück gebracht.
Kratzend bewegte sich die Feder über das Blatt, wobei Ricarda aufpassen musste, dass kein Fleck auf das Papier kam, ein Unterfangen, das gar nicht so einfach war. Sie schrieb mit dem Federhalter, den sie bereits im Studium benutzt hatte. Sein Alter und der Grad der Abnutzung waren ihm deutlich anzumerken. Außerdem durfte sie das Schreibgerät nicht allzu heftig in das Tintenfass stoßen – so gern Sie es auch gewollt hätte.
Als sie den Abschnitt, in dem es um ihre Ausbildung ging, beendet hatte, lehnte sie sich zurück und betrachtete ihr Werk.
Eigentlich hatte sie andere Pläne gehabt. Nach ein paar Tagen Erholung wollte sie in aller Ruhe ihre Unterlagen sammeln und ihr Schreiben in Schönschrift, die unter der schnellen Schreiberei an der Universität etwas gelitten hatte, verfassen.
Jetzt saß sie hier, übermüdet, mit brennenden Augen und tintenbeschmierten Fingern wie eine Schülerin am Mädchengymnasium, die in den Karzer gesteckt worden war. In ihrem Inneren rumorte es. Hätte sie damit rechnen sollen, dass ihre Eltern versuchen würden, sie zu verheiraten?
Nein, das hatte sie nicht vorhersehen können. Ihr Vater hatte sich bis zu dem Abendessen wie immer verhalten, es hatte keine Anzeichen gegeben. Und auch wenn ihre Mutter ihr seit Langem schon eine Heirat ans Herz legte, war sie bislang nicht so versteift darauf gewesen. Umso härter hatte es sie getroffen, dass sie zu Heiratsmaterial degradiert worden war.
Mit zitternden Fingern drehte sie das Schreibgerät in ihrer Hand. Es war bereits der dritte Versuch. Bei allen anderen hatte sie sich verschrieben, die Blätter zusammengeknüllt und einfach auf den Boden geworfen.
So hatte sie es auch in ihrem Studentenzimmer gehalten, während sie ihre Hausarbeiten geschrieben hatte. Ihre Mutter wäre darüber sicher schockiert gewesen, doch seit dem Streit im Esszimmer hatte sich niemand blicken lassen. Ihre Mutter wäre sowieso nicht gekommen und ihr Vater hatte anscheinend nicht vor, seinen Entschluss zu revidieren.
Sie konnte also mit den Papierknäueln verfahren, wie sie wollte. Ricarda bedauerte nur, dass es hier kein Bildnis ihrer Eltern gab, mit diesem hätte sie Zielübungen durchführen können.
Aber wichtiger, als ihrem Ärger über Susanne und Heinrich Bensdorf Luft zu machen, war es nun, die Bewerbungspapiere fertigzubekommen.
Seltsamerweise kam ihr nun wieder ihr erster Tag im Hörsaal in den Sinn. Die Studenten hatten sie angesehen, als hätten sie eine Erscheinung. Der Professor hatte versucht weiterzumachen wie immer, doch die Stille war unnatürlich. Ricarda hatte gewusst, dass es an ihr lag, sie hatte auch die Blicke gespürt, die über ihren Rücken geglitten waren. Sie waren wie Hände gewesen, die sie ohne Erlaubnis angefasst hatten. Den ganzen Tag über war es so gegangen, egal, in welcher Vorlesung sie auch erschienen war. Und bei einem Tag voller seltsamer Blicke war es nicht geblieben. Über Wochen hinweg hatten die Studenten so getan, als gehöre sie nicht hierher. Dann hatten das Getuschel und die spitzen Bemerkungen begonnen.
Würde das auch so sein, wenn die Bewerbung auf den Tisch des Leiters der Charité flatterte? Würde ihre Bewerbung Grund zur Belustigung sein?
Ricarda legte den Federhalter wieder zum Schreiben an, doch anstatt die Spitze aufzusetzen, ließ sie sie einen Moment lang über dem Blatt schweben. Ein kurzer Anfall von Zweifel brachte sie dazu, zu der Fensterscheibe zu blicken, gegen die sich die Dunkelheit lehnte wie ein frierender Landstreicher. Ein paar Gaslaternen konnte sie im Dunkel erkennen. Aufgereiht wie eine Perlenkette schienen sie über der Straße zu schweben, ohne ihre Umgebung nennenswert zu beleuchten.
Vor all dem Dunkel erkannte sie die Konturen ihres Gesichts, das von der Lampe auf dem Schreibtisch beleuchtet wurde. Würden die Männer jemals akzeptieren, dass hinter ihrer schönen Fassade auch ein bemerkenswerter Verstand steckte? Würden sie je akzeptieren, dass Frauen nicht nur Gebärmaschinen und Mittel zur Befriedigung ihrer Lust waren?
Eine Antwort fand sie nicht und so schaute sie wieder auf das Blatt vor sich.
»Oh nein«, stöhnte sie auf, als sie sah, dass sich ein Tintentropfen rasend schnell darauf ausbreitete, genau an der Stelle, an der sie schrieb, dass sie ihr Studium in Zürich absolviert hatte.
Sie würde das Schreiben also noch einmal aufsetzen müssen. Wütend warf sie den Federhalter von sich, der dabei noch ein paar Tintentropfen auf der Tischplatte verspritzte, und knüllte das Blatt zusammen.
Die Nützlichkeit einer Schreibmaschine kam ihr in den Sinn, und auch, dass sie sich eine besorgen könnte, um Tintenflecke zu vermeiden. Aber so viel Zeit wollte sie sich nicht nehmen. Die Bewerbung musste das Haus verlassen haben, bevor ihr Vater ihr ihren zukünftigen Mann vorstellen konnte. Mit einem eigenen Gehalt würde sie nicht mehr erpressbar sein durch die Zuwendung ihrer Eltern. Und vielleicht würde auch jeglicher von ihrem Vater erwählter Heiratskandidat die Flucht ergreifen vor einer »Suffragette«.
Diese Vorstellung brachte wieder ein wenig Licht in ihr Gemüt. Sie ergriff ein neues Blatt, wischte die Spitze des tropfenden Federhalters mit einem Stück Löschpapier ab und begann von Neuem.
Am nächsten Vormittag wachte sie erst recht spät auf. Kurz wähnte sie sich noch in Zürich, doch als sie die leuchtend weißen Gardinen und die gediegenen Blumentapeten sah, wusste sie wieder, wo sie sich befand.
Seufzend erhob sie sich. Auf dem Boden waren noch immer die zusammengeknüllten Papierstücke verstreut, auf dem Schreibtisch befanden sich die Unterlagen, die sie in der vergangenen Nacht noch fertigbekommen hatte – ohne Tintenflecke.
Dennoch würde sie sie vorsichtshalber noch einmal durchsehen, damit man sie nicht wegen eines Formfehlers zurückweisen konnte.