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Als der alte Gutshofbesitzer Konrad Corbis unerwartet stirbt, hinterlässt er seiner Frau und den drei Kindern ein Millionenvermögen. Kurz darauf stirbt auch seine Frau. Kommissar Heiko Degen wird misstrauisch und lässt die Fälle untersuchen. Danach wird auch der älteste Sohn Johannes Opfer eines Mordanschlags. Somit steht fest, dass Degen es erneut mit einem Serienmörder zu tun hat. Degen begibt sich auf Spurensuche und die dunklen Geheimnisse von Konrad kommen ans Licht. Korruption, Betrug, Missbrauch. Es gibt viele Opfer, doch wer will die Familie Corbis auslöschen? Geht es nur um das Erbe oder ist Rache das Motiv des Täters? Nach dem Fall des Kreidemörders eine neue Herausforderung für Heiko Degen!
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Seitenzahl: 442
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Für Anja
Michael Reh
Ein Kriminalroman aus dem Alten Land
1 Wenn der Tag nach Regen schreit
2 Endlich
3 Rommé
4 Zwei Meter tiefer
5 Blut ist dicker als …
6 Am Morgen vor dem Tag
7 So nicht!
8 Kinder auf dünnem Eis
9 Hades
10 Dreck am Stecken
11 Quartett
12 Stranger in the Night
13 Figaro
14 Lebenslänglich
15 Negative Streicheleinheiten
16 Der Rest ist Schweigen
16 Dem Schicksal schaut keiner in die Karten
17 Nachtblüten
18 Teamwork
19 Vernetzung
20 Unter jedem Dach ein Ach
21 Hilfestellung
22 Girlpower
23 Die im Dunkeln sieht man nicht
24 Sei nicht bang
25 Es ist nie gut
26 Der Wulstling
27 Nachruf
28 Leere
28 Eklat
29 Wenn sich einer aus dem Staub macht, wird es schmutzig
30. Am Morgen vor dem Sturm
31 Das Herz
32 Tödlicher Schnitt
33 Wer mit dem Teufel frühstückt, braucht eine lange Gabel
34 Demaskierung eines Phantoms
35 Architectural Digest
36 Die Hölle wird nicht kalt
37 Der Haken an der Sache
37 Shalimar
38 Da, wo der Hund begraben liegt
39 Der Drahtzieher
40 Das Spiel ist aus
41 Epilog
Johannes Corbis stellte den Scheibenwischer auf die nächsthöhere Stufe. Aber das nützte auch nicht viel, denn sein alter Audi fiel langsam auseinander. Das Gummi hatte sich von den Scheibenwischern gelöst und somit verband sich der Staub mit den Regentropfen und hinterließ nichts als schlammige Streifen auf der Windschutzscheibe. Er schlug wütend mit der flachen Hand auf das Lenkrad. So ein Mist.
Das passte wunderbar zu diesem beschissenen Tag, diesem furchtbaren Abend, der genauso endete, wie er heute Morgen befürchtet hatte. Johannes schaute auf die nasse Straße, die nur mühsam von den altersschwachen Scheinwerfern aufgehellt wurde. Straßenbeleuchtung in dieser entlegenen Gegend? Fehlanzeige.
Flaches Land, Knüste, Niemandsland: hoch im Norden.
Der angekündigte Sturm war unübersehbar im Anzug, die mächtigen Wolken fegten mit großer Geschwindigkeit über den dunklen Abendhimmel. Er konnte die schweren Tropfen auf das Dach des Autos fallen hören. Sommergewitter. Hatte er nie gemocht, schon als Kind nicht. Regen, Donner und am nächsten Tag alles unter Wasser und verschlammt. Hier auf dem Gut hatten sie erst die Straßen geteert, nachdem er ausgezogen war. Ausgezogen? Quatsch. Geflüchtet!
Müde wischte er sich über die Augen, schaute kurz in den Rückspiegel und stöhnte frustriert auf, als er das zerrüttete Gesicht sah, das ihm entgegenblickte. Er konnte sich und der Welt nichts mehr vormachen. Seine besten Jahre waren eindeutig vorbei und das jahrelange Gesaufe und die zwei Schachteln Zigaretten, die er sich täglich durch die Lungen zog, hatten ihre Spuren hinterlassen.
Dicke Tränensäcke unter den Augen und heruterhängende Lefzen wie bei einem alten Jagdhund blickten ihm deprimiert aus seinem müden Gesicht entgegen. Tiefe Falten auf der Stirn und die dünner werdenden Haare, von grauen Strähnen durchzogen. Unumkehrbar, außer, er würde sich liften lassen. Am besten ein Ganzkörperlifting, damit der nicht zu übersehende Speckwanst auch gleich mit beseitigt werden konnte.
Alles Quatsch. Er wusste, dass das nicht die Lösung war. Solange er jeden Tag eine halbe Flasche Wodka trank und Kette rauchte, sah er nach einem Jahr genauso aus wie jetzt. Haribo und der täglich in sich reingestopfte Sahnekuchen taten ihr Übriges. Vor ein paar Jahren hatte er fünfzehn Kilo abgespeckt. Hatte sich besser gefühlt, aber die Dämonen in seiner Seele saßen tief, fest verankert. Der Ruf nach Wodka war stärker als seine Disziplin, irgendeine Ausrede fand er immer! Ehrlichkeit ist ein einsames Wort.
Er sah die Schachtel mit den Zigaretten, die auf dem Beifahrersitz lag. Leer. Johannes stöhnte leise auf und griff umständlich hinter sich, um seine Tasche vom Rücksitz nach vorne zu holen. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen rechten Arm. Wie immer dachte er sofort an einen Herzinfarkt, der ihn früher oder später zwei Meter tiefer legen würde. Am besten früher als später, dachte er und hustete laut.
In diesem Moment zuckte ein Blitz auf und keine zwei Sekunden später hallte ein unglaubliches Grollen durch die nasse Abendluft. Beinahe hätte er die Abbiegung verpasst. Johannes bremste automatisch und hielt den Wagen an. Ein Scheideweg. Genau das war es. Es musste sich was ändern. Er musste sich ändern! Er spürte es. Aber er wusste auch, dass ihm die Kraft dazu fehlte, der Antrieb, ein Grund!
Er nahm eine neue Packung aus der Tasche, riss die Plastikverpackung ungeduldig auf, hustete wieder und zündete sich dann mit leicht zitternder Hand eine Zigarette an. Inhalierte tief. Der Motor lief weiter und ein neuer Blitz erhellte die dunkle Landschaft. Vor ihm die leere Kreuzung, ein matschiger Feldweg. Dahinter die dunklen Felder, auf denen im Frühjahr der Spargel wuchs. Rechts ab ging es Richtung Hamburg, links nach Bremervörde. Wie oft hatte er schon hier gestanden, früher mit seinem Fahrrad, heute mit der altersschwachen Blechkiste, die nur noch der Rost zusammenhielt. Damals wie heute hatte er sich nur weg gewünscht. Weg aus dieser norddeutschen Tiefebene mit ihren Wiesen und Schafen, den Maisfeldern, den Kühen, weg von den einfältigen Bauern, die nur die Ernte, Schweine, Spargel und das Saufen im Kopf hatten. Weg von Dorfbewohnern und ihren neuen Eigenheimen, die so eng nebeneinander gebaut wurden, dass man dem Nachbarn in die Suppe spucken konnte.
Weg von dem Getratsche, dem monotonen Leben, das sang- und klanglos gelebt wurde. Die Zukunft schon früh im Leben aufgebraucht.
Genervt verzog Johannes den Mund.
Er wusste was Landleben bedeutet. Es hatte nichts mit der Vorstellung zu tun, die Redakteure von neumodischen Hochglanzmagazinen den drangsalierten Städtern verkauften. Raus aufs Land. Ruhe abseits des hektischen Stadtlebens. Gemütlichkeit. Alles Quatsch. Aufgewachsen auf dem großen Viehhof seines Vaters, Entschuldigung, dem Gut, wie Konrad es nannte, den Johannes in seinem Kopf und auch in Gesprächen mit Freunden und der Presse nur als Erzeuger und gerne auch als Arschloch bezeichnete. Konrad, sein Übervater, dieser selbstgefällige alte Besserwisser, der ihn nie unterstützt hatte, nur an seinem Hof und seinem Ruf als erfolgreichster Landwirt der ganzen Stader Region interessiert war.
Behütete Kindheit auf dem Land gab es nicht für Johannes und seine Geschwister. Da hieß es nur zackig raus, Kühe melken, Heu einholen, Stall ausmisten, Klappe halten oder man hatte sich gleich wieder eine Ohrfeige eingefangen. Seine Mutter war gestorben, als er gerade zwölf war. Konrad wurde unausstehlich, noch fremder als zuvor, trank zu viel und Familienleben fand nicht statt. Johannes hielt die Klappe und zählte die Stunden bis zu seinem achtzehnten Geburtstag, an dem er endlich gehen konnte. Andrea, die neue Frau an Konrads Seite, tat ihr Übriges, um ihm das Leben schwer zu machen. Eine dumme, einfältige Pute, die nur das nachschnatterte, was Konrad ihr in den hohlen Kopf gesetzt hatte. Aber der Betrieb lief gut, die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln, und in Konrads Fall die besten Rinder, die meiste Milch. Hochgelobt, erfolgreich, geschätzt und gefürchtet. Das war der alte Sack im Landkreis, dazu ehrenamtlich tätig.
Aber Johannes durchschaute das ganze scheinheilige Getue und die geschickten Manipulationen seines Vaters, der andere ohne Ehrgefühl und Anstand über den Tisch zog. Immer mehr Land kaufte, mehr Hormone in sein Vieh spritzte, bessere Preise für das Fleisch und die Milch erzielte. Auch jetzt noch, obwohl Konrad bereits Mitte siebzig war. Der hatte so viel Dreck am Stecken, dessen war sich Johannes sicher. Es war nicht alles koscher auf dem Gut Kahl, das sein Vater vor einem halben Jahrhundert irgendjemandem abgequatscht hatte, für’n Appel und ein Ei.
Jetzt war seine Leber im Arsch, das lag in der Familie, sie tranken alle viel, aber ansonsten war er fit, das alte Schlachtross. Klopfte sich ständig stolz auf die immer noch muskulöse Brust und posaunte zu allen Gelegenheiten, dass er ein Leben lang draußen gearbeitet hatte: Hart, ehrlich, unerbittlich. Kein Warmduscher und Weichei wie sein Sohn, dieser Schmierenkomödiant, diese Memme, die es zu nichts gebracht hatte. Der sich vom Hof gemacht hatte, als er dringend gebraucht wurde. Johannes wusste, was sein Vater von ihm hielt, er zeigte ihm seine Verachtung jedes Mal unverhohlen, wenn sie sich notgedrungen begegneten. Da nützte auch der Grimme Preis nichts, die Goldene Kamera oder der Deutsche Fernsehpreis, den er vor zehn Jahren für die Darstellung eines Kommissars in einem erfolgreichen Film bekommen hatte. Johannes verzog schmerzerfüllt das Gesicht, die ganze Schulter und sein Nacken waren verspannt, aber es war mehr die Missachtung Konrads, die wehtat. Immer noch und jedes Mal, seit Kindertagen tief verankert in seiner schutzlosen Jungenseele.
Egal, was er gemacht hatte.
Mit 18 von zuhause weg und mit 21 Jahren bereits am deutschen Schauspielhaus. Mit 25 im Fernsehen, der erste Film, bekannt in ganz Deutschland. Bambi als größte neue Hoffnung, Rubrik Schauspieler. Talent, ja das hatte er, keine Frage. Aber er war auch hungrig nach dem Leben, gierig nach Anerkennung, kaschierte seine Unsicherheit geschickt.
Ein Überflieger, grandios, aber auch als eingebildeter Fatzke angesehen. Das brach ihm schnell das Genick und kostete ihn den Ruf. Nicht nur bei den Kollegen, die ihn durchschauten. Auch bei den Castingagenten, den Regisseuren. Die Branche war klein, das Gerede groß. Talent allein reichte nicht aus in diesem Job. Und mit jedem schlafen konnte er auch nicht. Vorprogrammierter Absturz. Drogen, Alkohol, Nutten. Nach einem Skandal richtete die Bildzeitung ihn öffentlich und ohne Skrupel hin. Es ging um Sex mit einer Minderjährigen. Himmel, das Mädchen war fünfzehn, sah aus wie Mitte zwanzig und hatte es faustdick hinter den Ohren, woher sollte er denn alles wissen? Zur Tatzeit zugedröhnt, nicht aufnahmefähig, sein Gehirn auf den Schwanz reduziert.
Fuck. Erneut schlug Johannes auf das Lenkrad. Seitdem hatte er den Absprung nicht mehr geschafft. Hier mal eine Rolle als Nebendarsteller in einer dieser unsäglichen Vorabendserien, ansonsten Provinztheater in schlechten Boulevardstücken. Er hatte die Schnauze voll.
War es das? Würde er wie so viele andere als versoffener Ex enden? Waren Sie nicht mal berühmt? Was ist aus dem ehemaligen Schauspielstar geworden? Kleine Rubrik auf der letzten Seite eines Magazins? Nein, danke! Dann lieber ab in die Elbe, wo die Strömung am stärksten ist.
Nur sein Erbe konnte ihn letztendlich retten. Der Alte hatte so viel Kohle auf dem Konto, hatte sein Leben lang gespart, und selbst wenn die dumme Pute die Hälfte bekam und der Rest unter den Geschwistern aufgeteilt wurde, so würde es dennoch reichen.
Für einen Neuanfang, vielleicht im Ausland, eine Reality Show, eine One-Man-Show. Irgendetwas. Hauptsache nicht mehr die Lüge, die er zurzeit lebte. Das letzte halbe Jahr war furchtbar gewesen! Kein Auftritt, leben von der Stütze oder von gepumptem Geld. Vegetieren in seinem Scheißapartment in einer Seitenstraße der verschissenen Reeperbahn, die immer mehr verkam. Zwei Stockwerke unter ihm ein Imbiss, der die ganze Nacht geöffnet hatte und wo sich die Besoffenen in den frühen Morgenstunden die Köpfe einschlugen oder sich eine Spritze setzten. Eine Straße weiter der Goldene Handschuh und der ganze bürgerliche Abschaum, der es nun schick fand, dorthin zu gehen, nachdem Heinz Strunk ein Buch daraus gemacht hatte. Verfilmt wurde es auch, natürlich ohne ihn. Er hätte den Killer Honka besser gespielt, so viel stand fest. Aber nein, musste ja wieder so ein Jungschauspieler sein, das neueste Talent. Genau wie er, damals, vor 25 Jahren. Scheiße, wo war die Zeit geblieben?
Der Kiez! Verkommene Gegend, überfüllt von Billotouris, die irgendeine Erotik am Wochenende suchten, die es nicht gab.
Zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt Dutzende von Drogendealern, die ungestört ihren Geschäften nachgingen, die Bullen hatten anderes zu tun. Alles grande Kacke! Den Kiez konnte sich keiner mehr schönreden.
Ein Schmerz zuckte erneut durch Johannes’ rechte Hand, da war er also, der Infarkt. Aber es war nur die Glut der abgebrannten Zigarette, die seinen Zeigefinger versengte. Er öffnete das Fenster einen Spalt, warf den Stummel auf die Straße.
Der Wind peitschte den Regen ins Innere des Wagens. Gott Sei Dank war es nicht kalt, Mitte August, der Winter ließ noch drei Monate auf sich warten, bevor Hamburg und Umgebung in der Dunkelheit und die ramschige Reeperbahn im Neonlicht versinken würden.
Wie lange hatte er hier gestanden? Er schaute auf sein Handy. Kurz nach 22 Uhr. Wettervorhersage: Regen bei 17 Grad und Sturm bis übermorgen. Na super.
Johannes bog rechts ab Richtung Stade. Nach ein paar Minuten kam er durch Engelschoff. Hatte hier nicht irgendwo diese verrückte alte Schachtel gelebt mit einer Giftmörderin, die über 30 Jahre lang im Auftrag Gottes unterwegs war? Was für eine Story, da würden sie bestimmt noch einen Film draus machen.
Vielleicht könnte er ja den Kommissar spielen? Obwohl der im richtigen Leben eher ein adretter Typ war. Schwul natürlich. Wie hieß er noch? Heiko irgendwas. Kam auch hier aus der Gegend. Johannes hatte ihn als kleinen Jungen gekannt, er war mit seinem jüngeren Bruder Tobias zur Schule gegangen. Hatte irgendeinen komischen Nachnamen. Er überlegte, kramte den Namen aus irgendeiner Rinde seines malträtierten Gehirns hervor. Schwerter? Nee. Degen, richtig. Heiko Degen. Hatte den Fall gelöst und den sogenannten Kreidemörder nach dreißig Jahren gestellt. Als Held gefeiert, den ersten Serienkiller in Stade gefasst, war jetzt Hauptkommissar.
Da gabs auch noch einen Bildhauer, der wohnte auch auf dem Anwesen, einer großen, alten Apfelplantage. Amerikaner. Na, wenn die beiden nicht was miteinander hatten, fraß Johannes einen Besen. Passte doch! Zwei Schwucken und eine alte Schachtel.
Clara Jolcke hieß sie. Lebte seit Jahrzehnten auf dem Hof. Früher hatten sich die Jungs einen Spaß gemacht, ihr die Scheiben einzuwerfen. Mutprobe! Johannes schüttelte den Kopf. Der Kreidemörder hatte alle seine Opfer den sieben Todsünden entsprechend ausgewählt. Selbst Clara und dieser Bildhauer wären beinahe Hopps gegangen, wenn nicht Heiko, der weichgespülte Hengst, sie gerettet hätte. Wie auch immer er das angestellt hatte. Ein Einstein war er früher jedenfalls nicht gewesen.
Die Zeitungen waren monatelang voll von der Story und dem smarten Degen. Der Prozess für den Kreidemörder hatte alles nochmal aufleben lassen. Nicht schuldfähig, lautete das Urteil. Ein Killer, der nicht alle Tassen im Schrank hatte und nach Ochsenzoll verfrachtet wurde. End of Story! Kam einfach so davon. Je verrückter, desto besser: Kam man nicht in den Knast, auch nach bewiesenem Mord nicht. Sechsfachem Mord.
Ob die Klapse besser als der Knast war? Bestimmt nicht, aber für jemanden, der eh einen an der Waffel hatte, auch egal!
Er dachte nach. Irgendein längst vergessenes Gefühl stieg in Johannes hoch! Er musste lachen: Interesse! Konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das Gefühl das letzte Mal gehabt hatte, Jahre her. Er war kein Autor, schreiben konnte er nicht, zu langsam, zu umständlich. Aber spielen konnte er, Emotionen verkaufen. Und das war doch durchaus Stoff für einen Film.
Vielleicht sollte er morgen mal seine alten Kontakte aufleben lassen und diese Story anbieten. Noch hatte keiner, seines Wissens nach, ein Buch draus gemacht, obwohl der Fall die gesamte Gegend in Atem gehalten hatte.
Er holte tief Luft, schloss das Fenster, steckte sich eine neue Zigarette an und hustete so laut, dass er sich selbst erschrak. Aber er fuhr dennoch besser gelaunt in die große Glitzerstadt, die ihm auf einmal nicht mehr ganz so trostlos erschien, wie noch vor einer Stunde.
Konrad schaute auf den Wecker, wie jeden Morgen seit über einem halben Jahrhundert. Es war 6 Uhr.
Früher, als er noch selbst die Kühe melken musste, ging der Zirkus schon um 4 Uhr morgens los. Das Melken übernahmen jetzt die Maschinen. Der Technik sei Dank. Dennoch, 6 Uhr war eine gute Zeit um aufzustehen, da hatte man sich dann um 13 Uhr die Mittagsstunde ausdrücklich verdient. Und ewig grüßt das Murmeltier.
Konrad stützte sich mit beiden Armen ab, aber der Schwindel hatte ihn sofort wieder im Griff. Die ganze Nacht gekotzt, das steckt man nicht so leicht weg mit Mitte siebzig, Mist. Kannte er so nicht.
Vielleicht hatter er doch was Falsches gegessen, aber was? Und wann? Gestern Abend eine Suppe, die war aus der Dose, Andrea hatte keine Lust zu kochen. Nichts Außergewöhnliches. Die Pilze, die er am Wochenende gesammelt hatte, lagen noch in der Küche.
Mittags war er noch beim Friseur in Stade gewesen, Andrea hatte ihn dahingeschleppt. Irgend so ein Zausel in der Innenstadt, viel geredet hatte er, aber sein Handwerk verstand der Mann gut. Keine Frage.
Auch besser so bei dem Preis! Er war Mitte vierzig, hatte einen leichten Akzent aus dem Süden, kam offensichtlich nicht aus Stade, war aber seit einigen Jahren hier ansässig. Irgendwie kam ihm der Mann vertraut vor, aber woher? Es war nicht wichtig. Der sollte ihm die Haare schneiden. Punkt. Der Salon war zu neumodisch für Konrads Geschmack: Stahl, Chrom, Spiegel, zu viel Licht von oben.
Aber der Kaffee schmeckte gut, die Kopfmassage war auch nett und man konnte sogar etwas essen. Belegte Brötchen, ein Omelett. Lecker, aber natürlich viel zu teuer.
Der Friseur verstand was von Marketing. Ein Geschäftsmann, so wie Konrad. Die Preise waren schon extrem hoch, aber er hatte das Talent, den Frauen zu vermitteln, dass sie einzigartig, ja schön waren.
Andrea strahlte jedes Mal wenn sie da raus kam, und auf die paar Euros kam es nicht an. Geld hatte Konrad genug. Wie viel genau wusste keiner außer ihm selbst, und das sollte auch so bleiben. Arbeiten musste er jedenfalls schon seit Jahren nicht mehr, aber was hätte er tun sollen? Jagen? Reisen? Fernsehen? Unwirsch schüttelte er den Kopf, der sich sofort mit einem weiteren stechenden Schmerz bedankte.
Er richtete sich wieder auf, es ging, er torkelte etwas unsicher ins Bad, um dann ein paar Sekunden später auch noch den Rest der Suppe vom Abend, gemischt mit dem Wodka der Nacht, ins Klo zu kotzen. Das würde dann ja wohl reichen mit der Suppe, hatte Andrea abends spitz bemerkt. Kein Wunder, dass sie schlechte Laune gehabt hatte: Der Besuch seines Sohnes stand im Raum wie ein Kessel Teer. Stinkend, klebrig, schwarz wie die Nacht! Johannes!
Konrad würgte und hielt sich mit den Händen an der Kloschüssel fest. Johannes. Dieser Spacken, ein Versager. Schauspieler. Was war das denn für eine Beschäftigung? Ein Beruf jedenfalls nicht. Egomane Narzissten, die sich in irgendwelchen Problemen anderer auf der Bühne suhlten und dafür Applaus bekommen wollten. Konrad verstand nichts davon, Kunst und Künstler waren ihm suspekt. Lustig war Johannes nie gewesen. Seine Rollen waren immer deprimierend und zogen Konrad runter. Genau wie sein ältester Sohn, der den Hof hätte übernehmen sollen. Hätte!
Aber das wollte er nicht, nein, die Bühne musste es sein. Und jetzt trat er in miserablen Komödie auf, bei denen es nichts zu lachen gab. Andrea hatte ihn zur Premiere ins Stadeum geschleppt. Jahrmarktstheater! Schämen sollte der Junge sich.
Gestern war er dann in dieser verrosteten Blechkiste auf den Hof gekommen. Unrasiert, er stank nach Fusel und Zigaretten, die er Kette rauchte. Geld wollte er. Er sei pleite. Konrad sei es ihm schuldig. Schließlich hätte er als Kind viel auf dem Hof gearbeitet. Viel gearbeitet? Konrad schnaubte. Johannes wusste gar nicht, was das bedeutete.
Erneut würgte der alte Mann und erbrach nur noch Schleim und etwas Blut, der Magen war leer. Schweiß fiel ihm auf die Hände, die immer noch die Kloschüssel umkrampften. Sein Atem ging stoßweise, sein Herz pochte laut. Er musste in die Küche, etwas essen. Ganz schnell! Oder Andrea Bescheid geben, sie schlief in einem anderen Zimmer, nachdem sie sein Geschnarche jahrelang ertragen hatte.
Konrads Libido war noch nicht ganz verloschen, aber wenn sie alle paar Wochen mal Sex hatten, von Liebe keine Spur, schlief er danach lieber allein ein. Von Vor- oder Nachspiel hielt er nicht viel. Raus mit dem Schleim und gut war es. Seine Vorlieben, was Sex betraf, lagen woanders. Mühsam holte er Luft und stand auf, ließ den Klodeckel runter und setzte sich. Füllte das Zahnputzglas mit Wasser und trank gierig.
Wird schon, er würde hier nicht schlapp machen, so wie sein Sohn, dieses Weichei, der schon bei jeder Bewegung an den nächsten Herzinfarkt dachte. Tobias, sein Jüngster, war auch nicht viel besser, aber immerhin erfolgreich mit eigener Firma.
Natürlich war die in Hamburg! Der wollte auch weg aus der Gegend, weg vom Hof, vom Melken und vom Güllegeruch. Von harter Arbeit, anpacken, zupacken, machen! Wütend schüttelte Konrad den Kopf.
Jetzt saß Tobias im Anzug an einem Schreibtisch. Machte in Immobilien. Immerhin hatte er Geld und verbrachte die Freizeit nicht beim Saufen wie sein älterer Bruder, sondern beim Sport. So sah er auch aus, muskulös, fit, Vollbart! Wäre ein guter Bauer geworden, aber Viehzucht war ihm genauso fremd wie Raumfahrt.
Was er privat trieb, wusste Konrad nicht, es war ihm auch egal. Seine Söhne waren fremde Männer, erwachsen, die sollten mal selbst mit sich klarkommen, es war nicht mehr sein Problem.
Ihm war auch nichts geschenkt worden, er hatte sich alles selbst erarbeitet, mit seinen Händen und einem guten Gespür fürs Geschäft. Nix mit Demeter und dem ganzen neumodischen Quatsch der Ökobauern. Sechzehn Stunden Arbeit am Tag, keinen Sonntag! So war das hier! Das hatte er auch gestern Abend zu Johannes gesagt. Von ihm bekam der keinen Cent. Nur über seine Leiche.
Es sei denn, Johannes würde für ihn arbeiten. Bedarf gab es auf dem Anwesen genug und man sollte nicht alles den Ausländern überlassen. Wütend hatte sein Sohn ihn angestarrt, Andrea war gerade ins Zimmer gekommen.
»Ich hoffe, du stirbst bald, oder verreckst elend. Dir konnte man nie was Recht machen und jetzt bleibst du hier in dieser verlorenen Gegend auf deinem Geld sitzen und hast beide Söhne aus dem Haus getrieben. Rutsch mir doch den Buckel runter, du alter Geizkragen.«
Johannes hatte die Enttäuschung und Wut in seinen Augen nicht verbergen können. Er hatte die Zigarette auf dem alten Eichentisch in der Halle ausgedrückt, sich den Rest des Wodkas in den Rachen gegossen und war verschwunden, nachdem er Andrea noch »und du bist auch nicht besser, du alte Mitläuferin«, an den Kopf geworfen hatte. »Fickt euch doch alle!«
Und schon war er weg und hatte die Tür des Hauses offengelassen, obwohl draußen bereits das Unwetter getobt und den Regen ins Haus gepeitscht hatte.
Es war kurz vor 22 Uhr gewesen und Konrad hatte die Flasche dann selbst geleert, sie war ja nur noch halbvoll. Andrea war schon im Bett, als er kurz nach eins das erste Mal gekotzt hatte.
Es kann nicht der Wodka sein, dachte er jetzt, da hatte er schon ganz andere Mengen im letzten halben Jahrhundert vertilgt.
Er schaute aus dem Fenster, es war jetzt hell, kurz nach sieben. Eine Stunde hatte er im Bad vertrödelt. Entschlossen stand er auf, ignorierte den Schwindel, ging in die Küche und setzte den Kaffee auf, wartete, während die auch schon in die Jahre gekommene Maschine lautstark das Wasser durch das braune Pulver quälte. Es regnete immer noch.
Er wischte sich mit leicht zitternder Hand über die feuchte Stirn, nahm zwei Aspirin aus dem Wandschrank und machte sich ein Brot.
Viel Butter, Salami, da würde ihm das Zittern schon vergehen. An der Wand hing ein altes Foto. Meta, seine erste Frau. Sie war schon lange tot. Die Jungs, gerade mal acht und elf, nein Quatsch, Johannes war zwölf geworden. Sie war plötzlich umgekippt, ohne jede Vorwarnung, noch keine vierzig. Leberschaden hieß es, was wusste er schon. Sie war tot, Ende, Basta. Das Warum war dann auch wurscht, machte sie nicht mehr lebendig.
Er soff zuviel. Immer schon, seitdem er fünfzehn war. Aber auf dem Hof, der in der ganzen Gegend nur als Gut Kahl bekannt war, funktionierte er immer. Er lag auf einer kleinen Anhöhe, weit vom Schuss zum nächsten Dorf. Das passte ihm gut, er hatte keine neugierigen Nachbarn, bis auf den alten Eckhoff. Konrad hatte das alte Gehöft vor einem halben Jahrhundert günstig gekauft, es war halb verfallen gewesen, und er hatte es mit Krediten aufgebaut! Der alte Kahl war schon mit einem Fuß im Grab gewesen, seine Tochter willig, sie hatten ein paar Mal Spaß im Heu miteinander gehabt. Lang wars her.
Wütend schlug er mit der Faust auf die Anrichte.
Er schindete sich, baute aus, immer weiter. Die Geschäfte waren nicht unbedingt legal. Die Kinder seit Metas Tod unausstehlich, kaum zu bändigen. Er wusste nicht, wie er mit ihnen umgehen sollte, denn das hatte er nicht gelernt, hatte selbst schon mit dreizehn Jahren als Knecht in den Ställen gestanden. Liebe? Fehlanzeige! Kriegsjahre. Er konnte die Kinder und sich selbst nur mit Arbeit disziplinieren. Nur Gesche war anders. Verbunden mit dem Land, mit der Erde, mit den Rindern, sie liebte den Hof. Auch wenn er seine Tochter nicht unbedingt als Nachfolgerin und Erbin sah, so musste er doch zugeben, dass sie die beste Lösung war. War ein hübsches Ding, dachte er, so wie ihre Mutter. Gleicher Dickschädel, unwillig, ungezähmt. Sie hatte sich wieder beruhigt, vielleicht hatte sie auch alles vergessen. Aber er wusste es besser, wusste, dass sie nicht mit ihm unter einem Dach leben wollte.
Jetzt hatte sie einen Freund, so einen Künstler, er war Bildhauer. Ein Ausländer. Amerikaner. Immerhin war sein Urgroßvater aus der Gegend, also gab es norddeutsches Blut in ihm!
Konrad hatte ihn neulich mal gesehen. Weichgespültes Mannsbild, aber das waren sie ja alle, die neuen Männer von heute, so ein Schiet. Er machte Skuplturen aus Zement, Kreide, Ton, alles nackte Frauen.
Und lebte auf dem alten Apfelhof, wo letztes Jahr die Morde passiert waren. Er wäre beinahe selbst ein Opfer des Kreidemörders geworden, wenn ihn der Kommissar und diese nervige Sievers nicht gerettet hätten.
Gisela Sievers, eine Quatschelse vor dem Herrn, die mit Andrea auf der Schule gewesen war. Und die sich immer noch alle zwei Wochen zum Kaffee trafen und dann ohne Punkt und Komma alles beredeten, was ihnen in den Sinn und Unsinn kam. Konrad verließ jedes Mal das Haus, wenn die Sievers im Anmarsch war. Blöde Kuh. Aber nun hatte sie im letzten Jahr vor Weihnachten mit diesem Kommissar alle gerettet und war auch noch befördert worden. In ihrem Alter. Mit 64. Und dann war ihr Bild auf dem Titel des Stader Tageblatts erschienen. Andrea war ziemlich neidsch und doch gebumfidelt, dass sie nun eine berühmte Freundin hatte, berühmt für Stade! Immerhin! Verdorri nochmal. Da konnte die Sievers jetzt den Kopf mit den selbstgestrickten Mützen noch höher tragen, dachte er.
Und Geld hatte sie wohl auch geerbt. Die alte Bertha Jensen war gestorben. Konrad hatte ihren Mann, den alten Jensen, gut gekannt. Der war mit Viehzucht beschäftigt gewesen. Mit dem war nicht gut Kirschen essen und Konrad hatte sich oft mit ihm in der Wolle gehabt.
Ihr Sohn, noch so ein Warmduscher, hatte einen Demeterapfelhof an der Oste aufgebaut und war auch ein Opfer des Kreidemörders.
Bertha hatte den Hof nach seinem Tod geerbt und dann teuer verkauft. An den Schwager von Clara Jolcke, der alten Schachtel, die seit 35 Jahren im alten Haus in der Plantage lebte und die ihren Mann abgeknallt hatte.
Die hätte mal lieber gleich im Knast sterben sollen. Aber angeblich war sie ja rehabilitiert, war ja alles der Kreidemörder. Ob Konrad das alles so glauben konnte? Es war ihm wurscht, Verrückte gabs hier genug!
Zwei Millionen hatte die alte Jensen geerbt.
Unglaublich, sie saß da in ihrem Altenheim in Hemmoor, starrte auf die Wand des gegenüberliegenden Supermarkts, erbte so viel Geld und war ein halbes Jahr später tot. Das meiste der Millionen ging an wohltätige Vereine, aber die Sievers bekam eine ganze Stange Geld. Auch noch Glück gehabt! Sie war mit ihrem Mann und den Söhnen jetzt auf einer Kreuzfahrt und kam nächste Woche wieder, dann musste er sich das dumme Geschnatter wieder anhören.
Der Kaffee war fertig. Gierig trank er einen großen Schluck und stopfte das Salamibrot in sich hinein. Ihn würde hier nichts unterkriegen, auch das bisschen Gekotze nicht. Und der Regen würde nachlassen, nur ein kurzes Unwetter. Es war eben August, da passierte das schon mal.
Konrad trank den Kaffee aus, es ging ihm jetzt besser. Er ging in den Stall, sah nach dem Rechten, prüfte die Melkmaschine, schaltete den Computer im Büro ein. Ab morgen war der August, laut Wetterbericht, wieder so, wie er sein sollte. Gut so!
Mittags fuhr er schnell zum Combi und in die Gärtnerei, bestellte Dünger für den Garten. Am Abend machte er eine Flasche Wodka auf und den Fernseher an. Andrea, die tagsüber bei einer Freundin in Bremervörde gewesen war, fand ihn gegen 21 Uhr bewusstlos neben seinem Sessel, ein gelber Schaum klebte vertrocknet in seinen Mundwinkeln.
»So, ihr Lieben! Das ist dann der passende Einstieg zur ersten Rommérunde nach meinem Urlaub! Hand!«
Gisela legte die Karten auf den runden Holztisch, volles Haus, zwei Joker, alles Caro und Kreuz. Und das nach drei Runden. Heiko verdrehte die Augen, Tom stöhnte theatralisch und zwinkerte ihr zu, Clara zuckte mit den Schultern. Schoko, Toms Vizlarüde, blickte von einem zum anderen. Dann drehte er sich um und schaute auf die alte Kastanie, die neben der Scheune stand. Clara Jolcke legte die Karten auf den Tisch, ein miserables Blatt! Macht nix, sie verlor sowieso immer. Ihr Ehrgeiz lag in anderen Bereichen. Heiko Degen, Hauptkommissar aus Stade, legte seine Karten offen, das waren mindestens 150 Punkte. Tja, Pech im Spiel, Pech in der Liebe. Schwamm drüber, als Single lebte es sich gut und wo fand man bitte, abgesehen von Heiko, einen Mann in Stade, der nicht verheiratet, smart und schwul war? Fehlanzeige. Er war nur froh, dass Tom und Clara die Attentate des Serienmörders im letzten Jahr überlebt hatten. Der Fall hatte die vier zusammengeschweißt.
Schon vorher war die Verbindung zwischen ihnen da gewesen, aber dem Tod springt man nicht so leicht von der Schippe. Das verbindet!
Seit Beginn des Sommers spielten sie am Donnerstagabend, so alle Zeit hatten, Rommé bei Clara im Garten. Zur Not auch freitags.
Toms Hund Schoko war natürlich auch dabei, hätte als Maskottchen dieses seltsamen Kartenclubs nicht fehlen dürfen.
Tom Morten, Ende dreißig, Bildhauer aus den USA, der sich vor eineinhalb Jahren hier in der Einsamkeit am Ostebogen niedergelassen hatte, um der Welt und seiner kreativen Durststrecke zu entkommen, war nach der Tragödie mit dem Kreidemörder hiergeblieben. Er liebte die Gegend, außerdem kümmerte er sich um Clara, ob sie wollte oder nicht. Die qualmte immer noch was das Zeug hielt, Schlaganfall hin oder her, scheiß auf den Diabetes! Die Pillen, die sie jeden Tag schluckte, halfen schon. Zumindest noch eine Zeit lang. Ein Stehaufmännchen, nicht unterzukriegen. Nicht vom Knast, in dem sie zehn Jahre unschuldig gesessen hatte, nicht von der Gesellschaft, die sie danach ausgeschlossen hatte, nicht von der Einsamkeit, in der ihre Katzen Onken und Bünting ihre einzigen Freunde waren. Was für eine Metamorphose, dachte Tom und schaute sie an. Ihre Lebensfreude war zurückgekehrt. Sie verpasste nach wie vor keine Folge von »Rote Rosen«, aß haufenweise Pralinen und anderen Süßkram. Aber aus der unwirschen Einsiedlerin, die durch den Schmerz der Ungerechtigkeit innerlich über Jahrzehnte vereiste, war in den letzten sechs Monaten ein anderer Mensch geworden. Sie nahm wieder am Leben teil. Auch die alten ausgebeulten Jogginghosen und den Wollpullover hatte sie inzwischen durch eine Leinenhose und lange Blusen ausgetauscht und sie ging, zur Überraschung aller, auch mal zum Friseur. Gisela hatte sie mitgenommen. Die beiden ungleichen Frauen waren Freundinnen geworden. Giselas Lebensmotto »nicht lang schnacken« passte perfekt zu Claras sprödem Pragmatismus.
Gisela nahm nie ein Blatt vor den Mund. Warum auch? Und schon gar nicht in dieser Viererrunde. Das wäre ja noch schöner.
Clara nahm die Karten vom Tisch und mischte sie.
Es war ein warmer Spätsommerabend im August. Das Unwetter der letzten Woche hatte sich verzogen.
»Sei froh, dass du nicht hier warst. Ich hatte das Gefühl, die Welt geht unter, sowas habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Ich dachte, die Kastanie fällt aufs Haus oder das Reetdach fliegt auf die andere Seite der Oste. Das war wirklich ein Sturm, der es in sich hatte.«
Clara schaute Gisela mit großen Augen an. »Aber wie war denn die Kreuzfahrt? Für mich wäre das nichts!«
»Na ja, das Schiff war schon sehr beeindruckend, das hätte ich nicht gedacht. Aber bei dem Preis ja auch irgendwie zu erwarten. Wir waren ja noch nie auf See mit so einem Luxusdampfer. Der Service war super, das Wetter auch, die Ägäis im August. Wenn es da regnen würde, könnte die Welt ja gleich untergehen. Die Sonnenuntergänge waren besser als auf jeder Postkarte. Alles sehr schön, aber nochmal würde ich das auch nicht machen. Die Leute waren sehr etepetete und irgendein Typ aus Hamburg, Journalist natürlich, erkannte mich und dann war es mit der Ruhe vorbei. Der Kreidemörder von morgens bis abends. Wäre ich bloß nie auf der Titelseite vom Tageblatt gelandet.«
Gisela schaute Clara an und konnte den Schmerz über das, was im letzten Jahr passiert war, in ihrem faltigen Gesicht sehen. Dass sie das überhaupt so gut weggesteckt hatte, wunderte sie oft. Aber sie kannte Clara inzwischen auch gut genug, um nicht in Sentimentalitäten zu verfallen. Es nützte ja auch nichts, alte Suppen aufzuwärmen, die schmeckten eh nicht. Also, nicht lang schnacken.
»Aber ansonsten nett, ja doch, ich kann nicht meckern. Nochmal kriegt mich allerdings keiner auf so einen Dampfer. Und wenn ich nicht geerbt hätte, wären wir da nie mitgefahren. Das Geld ist besser woanders aufgehoben.« Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch.
»Clara, nun ist es gut, es hat sich schon mal jemand totgemischt!«
Sie verdrehte die Augen. »Das Geld, ach ja. Mal schauen, was wir damit machen. Ein Haus habe ich, die Kinder sind versorgt und ein neues Auto brauch ich nicht. Kommt Zeit, kommt Rat. Hier war hoffentlich alles ruhig? Kein neuer Mord in Sicht? Bei Heiko ist ja in den letzten zwei Wochen nichts Außergewöhnliches auf dem Schreibtisch gelandet.«
Clara teilte die Karten aus. Heiko schaute sie belustigt an: »Nein, Gisela, bisher ist kein neuer Kreidemörder aufgetaucht und während deiner Kreuzfahrt auf dem Luxusdampfer habe ich mich selbst um den Schreibtisch gekümmert. Noch leben alle, oder sind eines natürlichen Todes gestorben, soweit ich weiß.«
Er schmunzelte und nahm die Karten auf. Ah, das sah doch schon mal gut aus, diese Runde würde er gewinnen, so viel stand fest! Gisela sah ihn an, ein durchdringender Blick. Auch sie nahm die Karten auf.»Wir werden sehen. Morgen ist die Beerdigung vom alten Corbis, den hat es auch früher erwischt, als ich gedacht habe. Mitte siebzig, gesoffen wie ein Loch, aber keinen Tag die Arbeit verpasst. Und jetzt hat ihm die Leber wohl einen Strich durch die noch nicht geschriebenen Rechnungen gemacht. Laut seines Arztes. Dazu hat er noch geraucht wie ein Schlot. Zwei Packungen Reval, ohne Filter. Schaffte er locker. Es soll ja nicht gesund sein, wenn Mann oder Frau zu viel raucht.«
Ein kleiner Seitenblick zu Clara. Die zog, anstatt einer Antwort, erstmal ausgiebig und sehr lange an ihrer Zigarette.
»Und nun liegt er bald zwei Meter tiefer. Mit dem war auch nicht alles koscher. Viele Freunde hatte er nicht. So viel ist sicher.«
Gisela besah sich stirnrunzelnd das unsägliche Blatt, das Clara ausgeteilt hatte. Mann, die konnte gut mischen. Aus jedem Dorf ein Köter! Wie sollte sie denn bitte schön diese Runde gewinnen?
»Kanntest du ihn gut? Woher kommt er denn, war er immer schon auf diesem Gut, wie heißt das noch? Kahl, oder? Guten Spargel haben sie, aber ist das nicht eher ein Rindshof? Die haben ja riesige Ställe.«
Clara hatte offensichtlich auch kein besseres Blatt. Gisela versuchte, Ordnung in ihr eigenes Kartenchaos zu bringen, aber das würde auch nichts nützen.
»Ach ja, der Spargel, auch so eine Nummer, die Konrad vor Jahren da abgezogen hat. Er bezichtigte damals seinen Nachbarn, den alten Eckhoff, unerlaubten Dünger zu benutzen. Ich möchte allerdings auch nicht wissen, wie viel Chemie in Konrads Kühen steckt, so wie die aussehen. Jedenfalls landete der Fall wirklich vor Gericht. Der alte Eckhoff hatte ganz offensichtlich Mist gebaut und musste sein Land versteigern lassen, kaufen wollte es hier keiner mehr. Und natürlich ging die Versteigerung an Konrad. Der hat dann die oberste Schicht Land abtragen und reinigen lassen, Kohle hatte er ja damals schon genug. Der alte Eckhoff starb ein Jahr später, er war schon in den Achtzigern, glaube ich. Sein Sohn, der Thomas, wollte eine gerichtliche Untersuchung. Er bezichtigte Konrad, aber das führte zu nichts. Man fand keine Spuren, die auf Mord hinwiesen. Jedenfalls führen die beiden bis heute einen Minikrieg und Thomas klagt zu jedem passenden und auch unpassenden Moment gegen den alten Corbis. Sie sind ja immer noch Nachbarn. Ich bin gespannt, ob er auch zur Beerdigung kommt.«Sie legte eine Karte ab. Heiko sah Gisela erstaunt an. »Gab es denn damals keine toxikologischen Befunde? Das war kurz bevor ich hier anfing beim Kommissariat, ich erinnere mich. Die Römer war damals doch auch schon da. Vielleicht weiß sie mehr?«
Gabriele Römer war Ärztin und und Pathologin in Stade und hatte den Fall des Kreidemörders, wenn auch auf sehr unorthodoxe Weise, mit aufgelöst.
»Da musst du sie schon selbst fragen. Sie fand meine Beförderung wohl übertrieben. Du kannst eh besser mit ihr. Sie denkt nach wie vor, dass ich nur eine nervige Quasselstrippe bin. Und dass sie meine Mützen unsäglich findet, hat sie oft genug betont. Unsäglich! Was für ein blödes Wort. Die sollte sich mal an die eigene gepuderte Nase fassen, bevor sie auf mich losgeht. Oder auf andere, sie kann ja sehr rabiat sein, wenn es sein muss. Davon kann Clara ein Lied singen.«Dass Gisela die Römer nicht mochte, war kaum zu überhören. Clara machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Lass die Römer, sie hat sich ja bei mir entschuldigt, nachdem sie mich umbringen wollte. Wir machen alle Fehler und sie hat ihren eingesehen. Ging ja nochmal gut.«
Tom schaute schaute Clara an. Sie ließ sich wirklich durch nichts aus der Ruhe bringen. Wenn man wusste, was sie über Jahrzehnte durchgemacht hatte und besonders im letzten Jahr, war es erstaunlich, dass sie ihren Lebenswillen nicht verloren hatte. Aber die Ereignisse im letzten Jahr hatten sie eher befreit als niedergemacht. Sie erwiederte seinen Blick und kniff ein Auge zu. Dann streckte sie ihm die Zunge raus und lachte. Verrückte Nudel. »Wirklich, wie kann man etwas gegen meine Mützen haben, die bringen zumindest Farbe ins Leben.«
Gisela lachte den Ärger über die Römer weg. »Dieses Jahr bekommt ihr alle eine Mütze zu Weihnachten und wehe ihr tragt sie nicht! Wo waren wir? Ah, Konrad! Das Gut hat er vor einem halben Jahrhundert der Tochter des alten Kahl abgequatscht, die beiden hatten auch was miteinander. Munkelte man. Sie ist dann weggezogen, keine Ahnung, was aus ihr geworden ist oder wo sie lebt, falls sie noch lebt. Baroness Juliana von Kahl, eine sehr schöne Frau, aber die Familie hatte schon damals kein Geld mehr, der Hof war halb verrottet. Nur die Nase trug sie noch hoch. Der alte Kahl starb plötzlich von heute auf morgen. Herzinfarkt, Leberzirrhose. Ich habe es vergessen. Ich kannte ihn auch nicht weiter, ich war ja noch ein Kind als das passierte. Und wir lebten in Hemmoor, zwanzig Kilometer entfernt, eine Weltreise! Meine Mutter meinte zwar, dass das alles nicht mit rechten Dingen zuging, aber es gab wohl damals keine Ermittlung. Seine Frau starb kurz danach. Paula von Kahl. Nudeldicke Deern, hatte wohl Zucker.«
»Na, da hast du wohl deinen Spürsinn von der Frau Mama geerbt. Und es heißt Diabetes«, meinte Tom trocken.
»Diabetes, auch gut! Haben ja viele, Andrea leider auch. Für mich heißt das Zucker, dieser ganze neumodische Quatsch und diese Neuformulierung der Sprache in Deutschland. Als ob wir nicht andere Probleme hätten. Ständig werden meine Anschreiben korrigiert. Na ja, es hat ja auch was Gutes, aber dadurch ändert sich mein Leben nicht. Ich war immer gleichberechtigt! Ob ein ›-in‹ dahintersteht oder nicht.«
Gisela redete viel, aber sie war auch eine geniale Ermittlerin, die endlich, an Heikos Seite als Chefsekretärin, ihren berechtigten Platz im Stader Polizeikommissariat bekommen hatte.
Und auf den nächsten Fall lauerte. Untätigkeit war nichts für Gisela Sievers, genauso wenig wie Kreuzfahrten mit hochnäsigen Möchtegernen! Also wirklich. Hätte sie nur bessere Karten in der Hand. Sie runzelte die Stirn.
»Mit Konrad habe ich eigentlich nichts zu tun. Oder hatte! Er flüchtete immer, wenn ich Andrea besuchte, das muss er dann jetzt nicht mehr.«
Sie hob die Schultern und verdrehte die Augen.
»Nein wirklich, was für ein Brunnenvergifter. Er hatte immer nur seinen Hof im Kopf und das Geld, wollte immer nur mehr. Der Fischer und seine Frau, und in diesem Fall war Konrad beides, musste sich ständig vor sich selbst neu beweisen und versorgen. Da wird es Millionen geben, das kann ich euch sagen. Mal schauen, wer erbt. Andrea hat ausgesorgt. Ich glaube aber nicht, dass sie ihn vergiftet hat. Fragt mich nicht warum, aber sie hing an dem Alten.«
»Wieso alt?« Clara zog energisch die Augenbrauen hoch und schnaufte.
»Du verlierst nochmal deinen jugendlichen Verstand, Frau Jolcke. Komm lieber raus. Nun mach schon.«
Erneut klopfte Gisela energisch auf den alten Eichentisch.
»Also, wo war ich. Ja, richtig. Konrad! Mann, wenn ihr wüsstet, das war echt einer. Viele Freunde hatte er nicht, damals nicht, heute nicht. Der hatte so viel Dreck am Stecken mit Hormonen, die er den Rindern spritzte, und den Röcken, denen er nachstieg. Und vor einigen Jahren war da der Aufruhr, weil er die Felder vor dem Gut, die er dem alten Eckhoff abspenstig gemacht hatte, irgendwelchen dubiosen russischen Spargelzüchtern vermietete. Die reinste Mafia. Und das hier. In Stade! So viel zu deiner Frage nach dem Spargel, Clara! Die wollten nur ihr Drogengeld waschen. Erinnerst du dich nicht, Heiko? Ach nein, das fiel ja nicht in dein Ressort, es war auch zu deiner Anfangszeit. Ich bin gespannt, wer da morgen auf der Beerdigung erscheint.«
Von Hölzchen auf Stöckchen. Man musste schon aufpassen, wenn man ihren Gedankengängen folgen wollte. Sie schaute sich um.
»Na, wer von euch begleitet mich? Ich geh natürlich hin, allein schon wegen Andrea.«
Tom hatte einen Termin in Hamburg, aber Clara nickte und legte die ersten vierzig Punkte auf den Tisch.
»Aber nicht nur der Spargelskandal oder die Rinderaffäre hätten ihm schon früher das Genick brechen können. Konrad war geschickt, er hat sie alle beschissen. Die Frauen im Umkreis und auch die Männer im Landrat! Was erzählt Gesche denn so? Wie geht es ihr? Seid ihr noch zusammen? Sie ist ja nicht die Einfachste. Übernimmt sie jetzt den Hof? Sie ist schließlich seine Tochter.«
Toms Blick blieb auf seine Karten geheftet.
»Sie hält sich bedeckt. So lange kennen wir uns ja auch noch nicht. Drei Monate sind nicht viel. Und der Tod eines Vaters ist immer schwierig, egal ob man ihn mochte oder nicht. Wir haben uns gestern gesehen. Sie trägt es mit Fassung und hat keine Ahnung, ob sie den Hof übernehmen wird. Da gibt es ja auch noch Andrea, und sie wird die Hälfte bekommen, falls Konrad das nicht anders bestimmt hat. Gesche und Andrea haben nicht das beste Verhältnis zueinander, aber das wirst du selbst wissen. Die Brüder kenne ich nicht.«
Gisela nickte. »Ja, die beiden Brüder. Tobias und Johannes. Der hat sich selbst ins Unglück geritten, schade, was für ein Talent, spielen kann er, das muss man ihm lassen. Oder konnte, besser gesagt.«
Clara sah Gisela fragend an.
»Er ist Schauspieler, war mal sehr erfolgreich. Du kennst ihn wahrscheinlich unter seinem Künstlernamen Jo Brenner.«
Clara ließ fast die Karten fallen. »Jo Brenner? Jo Brenner ist der Sohn vom alten Corbis und kommt aus dieser Gegend und das hat mir noch nie einer von euch erzählt?« Sie fuchtelte nervös mit den Händen herum. Gisela lachte.
»Was wirst du denn so wuschig? Woher kennst du denn Jo Brenner?«
»Er hatte vor drei Jahren eine Gastrolle in Rote Rosen!« Clara atmete tief ein.
»Und du hast dich in ihn verliebt. Unsterblich.« Sie lächelte Clara an. »Aber das ist doch hervorragend. Dann stelle ich ihn dir morgen nach der Beerdigung vor. Er mochte den alten Corbis nicht und wird nicht besonders trauern, das steht fest. Er ist wahrscheinlich froh, dass sein Vater tot ist. Tobias kommt übrigens auch.« Sie schaute Heiko an. »Den kennst du doch noch, Konrads Jüngsten. Wart ihr nicht zusammen auf dem Gymnasium?«
Heiko nickte. »Ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Er ist ja gleich nach dem Abitur verschwunden und hat Stade hinter sich gelassen, genau wie sein Bruder. Aber ich komme morgen auch mit. So! Und ihr zählt bitte eure Punkte.«
Er legte die Karten auf den Tisch und lächelte. Hand. So schnell kann es gehen! Heiko stand auf. »Ich hol dann mal die Pizza aus dem Ofen. Die müsste jetzt wohl fertig sein. Was meinst du, Clara?«
Pfeifend ging er ins Haus.
Tom und Clara schauten Gisela an, die entgeistert mit offenem Mund Heikos Karten anstarrte. Dieser Schlawiner. Hatte Gisela mit ihren eigenen Karten geschlagen.
Ein klarer Augustmorgen, das Thermometer zeigte 24 Grad und es war nicht einmal Mittagsstunde. Auf dem Friedhof war es ruhig. Pastor Treubel hatte um eine Gedenkminute für Konrad gebeten.
Er war ein Mann, der nicht viel unnötige Worte machte, nicht an Gräbern rumschwafelte und den Verstorbenen Dinge andichtete, die sie nicht getan hatten.
Die Trauer der Anwesenden hielt sich auf dem Begräbnis des Konrad Corbis offensichtlich in Grenzen. Das war dem Pastor nach vierzig Jahren Seelsorge in dieser schrumpfenden Gemeinde sofort klar. Die Alten starben, die Jungen glaubten an das Internet und die Deutsche Bank. Und die zugewanderten Städter, die dem Stress der Großstadt entkommen wollten und dann nicht wussten, was das wahre Landleben bedeutete? Zum Gottesdienst erschienen sie nicht. Es schien dem alten Treubel manchmal, als ob Gott ausgedient hätte.
Viele waren erschienen, Corbis war bekannt.
Und es gab eine Berühmtheit unter ihnen, wenn auch inzwischen berüchtigt, aber das machte nichts, denn er war im Fernsehen und im Kino gewesen, auch wenn es lange her war. Johannes genoss die Aufmerksamkeit, verzog aber keine Miene. Betroffen von Konrads Tod schien nur seine Witwe. Andrea Corbis war sehr blass, schnappte ab und zu nach Luft und stand seit einer halben Stunde schutzlos in der heißen Mittagssonne, kleine Schweißperlen auf der Stirn. Ihre Hand zitterte leicht, als sie jetzt ihre zu große Handtasche öffnete und eine kleine Dose herausnahm. Sie nahm gleich zwei Stücke Traubenzucker heraus und steckte sie sich in den Mund. Mitte sechzig, gebotoxt, gertenschlank und in diesem Moment stark unterzuckert. Andrea hatte an diesem Morgen in der Aufregung vor der Beerdigung vergessen, sich Insulin zu spritzen. Nur jetzt nicht ohnmächtig werden, was für ein dummes Klischee, dachte sie. So würde sie sich nicht öffentlich zeigen. Die Hitze machte ihr auch noch zu schaffen, wie immer. Sie war nicht für die Tropen geeignet, das stand fest. Aber bisher hatte sie die Tropen auch nie gesehen. Urlaub machte sie auf den ostfriesischen Inseln, man war in vier Stunden da und es gab genug frische Luft. Zu viel Sonne war nicht gut für den Teint. Sie machte die Handtasche wieder zu, holte tief Luft und stützte sich mit dem rechten Arm auf Gisela. Die beiden kannten sich seit der Schulzeit und hatten es irgendwie geschafft, die Freundschaft der Vergangenheit in die Gegenwart zu retten. Auch war Andrea sehr beeindruckt von Giselas Spürsinn und ihrer Hilfe bei der Festnahme des Kreidemörders. Sie hatte immer gewusst, dass in Gisela ein Spürhund schlummerte, und sie hatte recht behalten. Ihr Magen rumorte. Seit gestern Nachmittag in der Stadt, wo sie die letzten Besorgungen für die Beisetzung gemacht hatte und noch schnell beim Friseur gewesen war, hatte sie nichts gegessen. Andrea sah die Trauergemeinde vor sich und das Bild verschwamm. Einsamkeit breitete sich nebelgleich aus und sie fröstelte für einen Augenblick.
Es war seltsam allein in dem großen Gutshaus. Sie hatte sich in der letzten Woche nicht daran gewöhnen können. Leben ohne Konrad. Er war gut zu ihr gewesen. Sie hatte alles, was sie brauchte, er war großzügig gewesen. Sie hatten sich arrangiert. Was wusste sie von seinen Geschäften, es interessierte sie auch nicht weiter. Sollte sie alles erben? Musste sie den Hof jetzt übernehmen, davon hatte sie doch keine Ahnung! Das ging doch gar nicht, das sollte besser Gesche machen, die hatte das gelernt und fand ihr Glück im Stall, bei den Rindern, auf dem Feld. Sie blickte zu ihrer Stieftochter, die ihr auf der anderen Seite des offenen Grabes gegenüberstand. Stoisch, aufrecht, vereist! Kein Gefühl zeigte sich auf dem verschlossenen Gesicht. Genauso wenig bei Tobias, der noch dazu eine Sonnenbrille trug. Von Porsche, genau wie sein Auto, mit dem er an diesem Morgen aus Hamburg angekommen war. Dunkelblauer Anzug, maßgeschneidert, schwarze Schuhe, italienisches Leder. Handgemacht. Sein dunkles Haar halblang, trotz der Hitze wie aus dem Ei gepellt. Sein dunkler Bart glitzerte in der Sonne. So mochte Konrad als junger Mann auch ausgesehen haben, dachte Andrea.
Tobias war ein erfolgreicher Makler in Hamburg. Seine Firma hatte über fünfzig Angestellte. Mehr wusste sie nicht, denn er kam nie zu Besuch und rief auch nicht an. Andrea wusste nicht viel über die erste Ehe ihres verstorbenen Mannes und erst in diesem Moment, jetzt, da es wahrscheinlich längst zu spät war, fragte sie sich, was Konrad alles falsch gemacht hatte. Warum waren die Söhne vom Gut geflohen, beide in die Stadt? Warum wohnte Gesche im Nebenhaus, hatte neben den beruflichen Dingen wenig Kontakt zu Konrad? Was war mit der Mutter? Meta! Die Einzige, die Unantastbare, die Göttin. Die erste Frau auf dem Gut Kahl, mit der sie sich nie messen konnte. Sie wollte es auch gar nicht. Sie wollte ihre Ruhe und hatte sich nicht in die schwierigen Beziehungen eingemischt, die Konrad zu seinen Kindern hatte, das war nicht ihre Baustelle. Dass Johannes sie nicht mochte, war offensichtlich und beruhte auf Gegenseitigkeit. Als er vor zwei Wochen besoffen vor der Tür stand und Konrad um Geld anpumpen wollte, hatte er sie, Andrea, gleich mitbeleidigt. Was hatte sie denn mit diesem abgehalfterten Schmierenkomödianten zu tun? Nichts. Der hatte sich selbst ins Unglück geritten mit seiner Hurerei und dem Alkohol. Und Gesche? Die wartete auf die Testamentseröffnung, damit sie Bescheid wusste, ob sie den Hof übernehmen konnte. Ein glückliches Familienleben hatte es auf Kahl nicht gegeben. Schon wieder wurde Andrea schwarz vor Augen. Der Pastor beendete endlich die Beisetzung.
Johannes zündete sich sofort eine Zigarette an. Der Rauch seiner ungefilterten Lucky Strikes wehte zu Andrea herüber. Sie hasste Zigarettenqualm. Hatte er denn gar keinen Anstand? Am offenen Grab zu rauchen. Johannes war nur froh, dass der Alte unter der Erde war und er endlich an Geld kam. Wer weiß, vielleicht hatte Konrad ihn ja auch enterbt? Aber warum dachte sie darüber nach? Jetzt? Schändlich. Wo war ihre Trauer? Andrea hatte das Gefühl, als ob sich für einen Moment alle Ordner, auch die, an die sie gar nicht denken wollte, gleichzeitig öffneten, ihre Synapsen alle Informationen simultan übertrugen. War das der Schock über Konrads Tod, der jetzt, verspätet, eintrat? Sie musste schnell raus aus der Sonne und in die Gastwirtschaft nebenan, die sie für den Umtrunk nach der Beisetzung angemietet hatte. Geld genug war da. Gestern hatte man ihr den Betrag der auszuzahlenden Lebensversicherung genannt, die sie im nächsten Monat erhalten würde.
Endlich war es vorbei und die ersten Freunde und Dorfbewohner kamen auf Andrea zu, sie winkte ab. Ihre Zunge klebte plötzlich am Gaumen. Sie wandte sich an Gisela. »Ich kann nicht, ich muss mich setzen, aber nicht hier in der Sonne, lass uns rübergehen in das Restaurant.«
Resolut nahm Gisela sie in den Arm, schaute die Trauergemeinde an und machte eine kurze Handbewegung zur gegenüberliegenden Straßenseite.
»Wir gehen jetzt rüber ins Restaurant. Die Hitze macht Andrea zu schaffen, wie Sie sehen. Sie braucht einen Moment. Kommen Sie doch bitte alle nach. Getränke stehen bereit.«
Sie bedeutete Heiko, der nicht weit entfernt stand, ihr zu helfen. Er hakte Andrea auf der anderen Seite unter, erstaunt, wie zerbrechlich sie auf einmal wirkte. Sie war blass und ihre Hand zitterte leicht. Klar, sie hatte ihren Mann verloren, das steckte man nicht so einfach weg, dachte er. Gott sei Dank waren seine Eltern noch fit und beide aktiv auf ihrem Apfelhof in Agathenburg. Aber auch sie waren nicht mehr die jüngsten. Er wischte den Gedanken fort. Falscher Zeitpunkt.
Behutsam führten sie Andrea über den Friedhof zum Restaurant.
Gesche stand mit ihren Brüdern am offenen Grab. Johannes nahm einen letzten Zug der Zigarette, warf sie auf den Boden und drückte die Glut mit seinem rechten Schuh aus. Kein italienisches Leder, wie die Schuhe seines Bruders, auch sein Anzug nicht maßgeschneidert oder modern. Johannes wusste, wie er aussah, und beneidete den fünf Jahre jüngeren Tobias in diesem Moment um alles, was dieser darstellte. Dass da auch nicht alles Gold war, was glänzte, war ihm klar. Tobias ließ sich nicht in die Karten schauen, erst recht nicht von seinen Geschwistern.
Glücklich war anders, so viel stand fest.
Johannes schmiss die ausgetretene Kippe ins Grab. Asche zu Asche! Thomas Eckhoff kam auf die Geschwister zu und nickte.
»Moin zusammen.« Er druckste verlegen herum. »Tut mir leid mit eurem Vater. Wir waren nicht gerade Freunde, aber das wisst ihr ja! Trotzdem mein Beileid.« Thomas Eckhoff war ein Baum von einem Mann, fast zwei Meter, strotzte vor Muskeln, die selbst unter seinem schlecht sitzenden Anzug erkennbar waren. Gesche nickte ihm zu.
»Danke dir, Thomas. Wir kommen gleich nach. Geh doch schon mal rüber ins Restaurant mit deiner Mutter.«