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Feuer in Berlin. Am Ostermontag steht plötzlich ein Wohnhaus in Flammen. Für die hier lebenden Mieter bedeutet der Brand dabei weit mehr als nur eine vorübergehende Obdachlosigkeit und den Verlust ihrer Besitztümer. Denn jeder Mensch in diesem Haus scheint ein persönliches Geheimnis zu haben: Was steckt hinter der aufgesetzten Arroganz des Halbstarken mit seinem Kampfhund? Welche Rolle spielt das zwielichtige Pärchen aus dem Dachgeschoss? Und wie lange kann Pfarrer Martin Schenck den Verlust seines Glaubens noch verbergen? Nach und nach kommt ein gefährliches Geflecht aus Stasi-Vergangenheit, falschen Versprechungen und unkritischem Journalismus ans Licht. Während die Berliner Polizei nach der Brandursache fahndet, stellen sich die Menschen aus der Schillerstraße vor allem eine Frage: Was bleibt, wenn alles vergeht? "Das Haus der Heimlichkeiten" präsentiert sich als anregender Roman für Frauen und spannender Krimi für Männer gleichermaßen. Durch eine geschickte Verknüpfung verschiedener Begegnungspunkte und dem Blick aus unterschiedlichen Perspektiven begleitet der Leser die einzelnen Mieter wie auf einer kleinen Zeitreise durch ihr Leben und durch den Tag des Brandes. Erzählt werden Geschichten, die echten Tiefgang haben und Menschen im Spannungsfeld zwischen großen Gefühlen, persönlichen Ängsten und der Suche nach Wahrheit zeigen.
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Seitenzahl: 291
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Der verwirrte Mann, über den du vorhin in der Markthalle den Kopf geschüttelt hast, beging vor ein paar Minuten Selbstmord. Das Mädchen, das du auf dem Schulhof eine Schlampe nanntest, hatte noch nie einen Freund. Der Teenager, der in deinen Augen als lahm gilt, arbeitet jeden Nachmittag, um seine Familie zu unterstützen. Die Frau, die von dir letztens im Supermarkt grob angerempelt wurde, ist als Kind regelmäßig geschlagen worden. Das Mädchen, das du als fett bezeichnest, leidet an Bulimie. Der alte Mann mit den hässlichen Narben musste im Krieg kämpfen. Die Mutter des Jungen, über den du dich lustig gemacht hast, weil er weinte, liegt im Sterben.
Du meinst, du kennst die Leute? Du kennst sie nicht ...
Gefunden im Internet
Dachgeschoss links:
Jannis Paul Conrad („J. P. C.“) Brachler (35) und Cindy Wörner (34).
Die Neureichen im Haus. Keine Kinder.
Fahren einen erst wenige Wochen alten Tesla.
Dachgeschoss rechts:
Familie Kernchen – das sind Timo (40), Pia (36), Leon (11), Patrick (9) und Emil (5). Während Timo als Lkw-Fahrer arbeitet, kümmert sich Pia ausschließlich um das Wohl der Familie.
2. Obergeschoss links
Horst („Hotta“) Wulfert (75), ehemaliger Elektriker und Lehrausbilder.
Seit 10 Jahren verwitwet. Sohn Andreas lebt in Annaberg-Buchholz, Tochter Paula in München.
2. Obergeschoss rechts:
Jan Möller (49), Journalist bei einer Tageszeitung.
Geboren und aufgewachsen in Hamburg. Keine Kinder.
Strebt den Posten des Chefredakteurs an und meidet in seinen Artikeln daher allzu brisante Themen. Denkt „aus Zeitmangel grundsätzlich nicht kritisch.“
1. Obergeschoss links:
Marianne Klassen (64), Sachbearbeiterin im Bürgeramt, Abteilung Pass- und Meldeangelegenheiten. Früher mal bei der Volkspolizei der DDR in gleicher Position tätig gewesen.
Verheiratet mit Karl (69), Rentner, ehemals Abteilungsleiter im VEB Textilmaschinenwerk „Hans Wudicke“ und einstiger IM der Staatssicherheit.
1. Obergeschoss rechts:
Danny Schröder (28), Maurer, mit Hund „Blaschko“.
Fährt einen aufgemotzten Golf II GTI, geht gern ins Fitnessstudio und hat schon ein Jahr im Gefängnis verbracht.
Erdgeschoss links:
Jurek Kostecki (23), Student und Jenny Köhler (20), Gärtnerin.
Wollen „in zwei bis drei Jahren heiraten und mindestens fünf Kinder.“
Erdgeschoss rechts:
Martin Cornelius Schenck (37), seit kurzem Pfarrer einer evangelischen Kirchengemeinde in unmittelbarer Nähe und Susanne Schenck-Lutze (34), Kindergärtnerin in derselben Gemeinde mit Tochter Luzie (5).
FEUER UND RAUCH
WAS ZUVOR GESCHAH
AUS NÄCHSTER NÄHE
WAS ZUVOR GESCHAH
DAS GEFÜHL DER VERLASSENHEIT
WAS ZUVOR GESCHAH
DIE WETTE MIT GOTT
WAS ZUVOR GESCHAH
FROMME SPINNER
WAS ZUVOR GESCHAH
DAS WICHTIGSTE
WAS ZUVOR GESCHAH
NOCH EINE CHANCE
WAS ZUVOR GESCHAH
EIN MUTIGER SCHRITT
DER EIGENTLICHE AUFTRAG
FEUER UND FLAMME
Ostermontag, 23:15 Uhr
Das Erste, was er wahrnahm, war ein Tritt gegen seine Wohnungstür. Ein heftiger Tritt, der von lautem Gebrüll und mehreren Schlägen begleitet wurde. Vom Treppenhaus her hörte er Stimmen. Laute Stimmen. Bedrohlich, ja fast hysterisch. Dann wieder ein Tritt gegen die Tür, erneutes Schlagen. Was, um alles in der Welt, war da los?
Martin schob den Arm seiner Tochter beiseite, der ihm um den Hals lag und richtete sich auf. Luzie war eben erst eingeschlafen. Endlich, nach einer heißen Milch, drei Geschichten aus ihrem Lieblings-Vorschulbuch und der gefühlt hundertmaligen Beteuerung, dass Mama sie morgen früh wieder in den Kindergarten bringen würde. Und dass sicher auch Paul und Nele und Sofie wieder zurück sein würden nach dem Osterwochenende.
Es hatte Martin einige Kraft gekostet, das Kind zum Schlafen zu bringen. Ein spannender und aufregender Tag lag hinter ihnen und so war es kein Wunder, dass Luzie erst so spät zur Ruhe kam. Sie waren im Tierpark gewesen, Susanne, Luzie und er. Das Wetter an diesem Ostermontag hatte geradezu danach geschrien, einen Ausflug zu unternehmen. Und so ging es dieses Mal nicht mit den Rädern ins Umland, sondern mit der U-Bahn nach Friedrichsfelde. Zu den Giraffen, den Zebras und den Schimpansen. Für Luzie war es das erste Mal, dass sie so viele Tiere in so kurzer Zeit zu sehen bekam. Dementsprechend aufgeregt war sie gewesen. Und dementsprechend schwer gestaltete sich der Einschlafprozess.
Weitere rhythmische Schläge trafen die Tür. Martin sprang auf und blickte noch einmal kurz zu seiner Tochter, die den Lärm nicht mitzubekommen schien. Mit ihren blonden Locken lag sie auf dem Kopfkissen und sah aus wie ein Engel. Sie atmete gleichmäßig und ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. Ob sie von dem träumte, was sie heute gesehen hatte?
Martin schnappte sich seine Jogginghose vom Stuhl, zog sie schnell über die Shorts und hatte im nächsten Moment schon die Türklinke in der Hand. Einen Augenblick zögerte er noch. Was, wenn es Einbrecher waren? Irgendwelche Gangster? Aber würden die einen solchen Radau machen? Bevor der nächste Schlag gegen die Tür kam, hatte er sie aufgerissen. Vor ihm stand Jurek Kostecki, der polnische Student von gegenüber. Das Licht im Hausflur war angeschaltet, aber es lag ein dichter Nebel über den Leuchten. Und es stank. Es stank nach Rauch und irgendwie nach dichtem, schwerem Staub.
„Kommen Sie schnell raus!“, rief ihm Kostecki zu, der erleichtert schien, dass endlich geöffnet worden war. „Es brennt!“
Martin verharrte zunächst in völliger Bewegungslosigkeit. Unendliche Sekunden, wie ihm schien. Unendliche Sekunden, bis er begriff, was der junge Nachbar gerade gesagt hatte.
„Los jetzt!“, drängte Kostecki, „wir müssen raus hier! Sofort!“
Martin nickte kurz. Dann drehte er sich um und rannte ins Schlafzimmer. Luzie schlief noch immer. Er zerrte das Kind aus dem Bett und nahm es auf den Arm. Dann lief er in die Küche. Zu Susanne. Seine Frau hockte vor ihrem Laptop, hatte Kopfhörer auf und schien in einen Vortrag versunken zu sein, der mit ziemlicher Sicherheit Bestandteil ihres Weiterbildungsprogramms als Kita-Erzieherin war. Susanne saß mit dem Rücken zur Tür und bemerkte Martin erst, als er ihr nachdrücklich auf die Schulter klopfte. „Wir müssen hier raus“, wiederholte er mechanisch die Worte, die der Student vor der Tür eben zu ihm gesagt hatte. „Sofort!“
Susanne nahm die Kopfhörer herunter und starrte erst ihren Mann an, dann Luzie auf seinem Arm. Das Kind wurde langsam wach und begann zu weinen.
„Sie müssen endlich kommen!“, brüllte Kostecki von der Tür her.
Ohne weitere Worte erhob sich Susanne, nahm ihrem Mann das Kind aus dem Arm und umklammerte es fest. Im Flur griff sie nach den Jacken und rannte an Martin und Kostecki vorbei aus der Wohnung.
Wenige Augenblicke später standen sie vor dem Haus. Neben ihnen die anderen Mieter und eine Zahl Schaulustiger, von denen die meisten hoch zum Dach starrten, wo gewaltige Flammen in den Himmel schossen. Von Ferne waren Sirenen zu hören. Offenbar schien die Feuerwehr im Anmarsch zu sein.
„Ich hoffe, dass jetzt alle raus sind“, sagte Kostecki irgendwann. Der junge Pole war bei der Flucht aus dem Haus an Martins Seite geblieben und stand nun direkt neben ihm. Kosteckis Freundin, die Martin erst jetzt bemerkte, nickte und griff nach der Hand des Studenten. Etwas abseits gruppierten sich die anderen Mieter des Hauses: Martin sah den jungen Typen mit seinem Hund, einem argwöhnisch knurrenden Boxer. Er sah das elegante Pärchen aus dem Dachgeschoss, das seit ein paar Wochen ein Elektroauto besaß. Und er sah die Familie mit den drei Kindern, der Jüngste etwa so alt wie Luzie. Auch der blonde Motorradfahrer, von dem es hieß, er sei Journalist, stand vor dem Haus. Ob wirklich alle Mieter vollzählig waren, hätte Martin nicht sagen können. Dazu war er noch zu neu in diesem Haus. Erst vor einem knappen Jahr waren Susanne und er hier eingezogen, aus einem kleinen Dorf bei Angermünde in Nordbrandenburg direkt in die Großstadt. Er hatte eine neue Pfarrstelle bekommen, ganz in der Nähe und Susanne einen Job im Gemeindekindergarten. Eigentlich passte alles perfekt. Zwar vermissten sie die gute Landluft und die weiten Felder, über die sie gern spazieren gegangen waren, Luzie mit dem Laufrad voran. Aber hier lebte es sich auch nicht schlecht und die neue Gemeinde war deutlich größer als die paar treuen Seelen, die bisher seine Sonntagsgottesdienste besucht und seinen Predigten gelauscht hatten. Obendrein bedeutete seine Versetzung auch so etwas wie einen Karrieresprung, denn nun war er, Martin Cornelius Schenck, mit 37 Jahren Pfarrer einer waschechten Berliner Kirchengemeinde. Die Leute im Haus wussten das. Gleich nachdem Susanne, Luzie und er hier eingezogen waren, hatten sie einen Zettel im Eingangsbereich neben die Briefkästen geklebt und sich den Nachbarn vorgestellt. Susanne wollte zunächst zwar jeden Mieter einzeln besuchen, aber Martin wäre das zu weit gegangen. Hier in der Stadt kam man nicht mehr mit Brot und Salz vorbei, man wohnte weitgehend anonym nebeneinander her. Er selbst wollte am liebsten gar nichts zum Einzug machen. Man würde sich irgendwann im Hausflur über den Weg laufen und dann war immer noch Zeit, sich einander vorzustellen. Nach einer kurzen, aber nicht minder heftigen Diskussion über die Art und Weise ihrer Ankunfts-Verkündung hatten sich Susanne und er schließlich auf den Kompromiss geeinigt, ein Blatt Papier mit einem kurzen Gruß und den wichtigsten Eckdaten herauszuhängen:
Hallo, liebe Nachbarn! Wir sind Martin Schenck (Pfarrer) und Susanne Schenck-Lutze (Kindergärtnerin) und wohnen mit unserer Tochter Luzie (Kindergartenkind) ab sofort im Erdgeschoss, rechts. Wir freuen uns auf eine gute Nachbarschaft!
Reaktionen auf den Aushang hatte es praktisch keine gegeben. Nur der Student von gegenüber, der junge Pole, war ein paar Tage nach ihrem Einzug vorbeigekommen, um ihnen den zur Wohnung gehörenden Kellerverschlag zu zeigen. Weder der Vermieter noch der Hausmeister hatten sich bisher darum gekümmert und so waren Susanne und Martin froh gewesen, endlich einen Platz für ihre leeren Umzugskartons gefunden zu haben. Ob das Engagement des jungen Mannes, der sich als Jurek vorgestellt hatte, auf ihren Zettel im Hausflur zurückzuführen war, blieb offen. Von den anderen Nachbarn jedenfalls war Schweigsamkeit die einzige Antwort auf ihren Aushang neben den Briefkästen gewesen.
„Siehst du“, hatte Martin schließlich zu Susanne gesagt, „in Berlin ist so etwas vollkommen unüblich.“
Seine Frau konnte daraufhin bloß mit den Schultern zucken. Möglicherweise war ihr aufgegangen, dass das Leben in einer Metropole tatsächlich so ganz anders war und nur wenig vom Miteinander einer Dorfgemeinschaft zu haben schien. Susanne selbst stammte aus einer Kleinstadt und musste sich hier komplett umstellen. Vieles war in Berlin anders. Und nur weniges besser.
„Wann nur endlich die Feuerwehr da ist?“, riss Susanne ihn aus seinen Gedanken. „Man hat sie doch schon gehört. Die müssten doch längst hier sein und löschen!“
Martin zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, wie schnell so ein Brand sich ausbreitete und wie lange es brauchte, bis die Flammen auf andere Bereiche des Hauses übergriffen. So wie es jetzt aussah, hatte das Feuer eine große Kraft und war bereits dabei, sich in die unteren Stockwerke zu fressen. Sorgenvoll blickte Martin nach oben, dann schob er sich an seine Frau heran und legte seine Hand auf ihre Schulter. Die Situation war in der Tat surreal. Luzie, die sich noch immer auf Susannes Arm befand, begann erneut zu weinen und gemeinsam versuchten sie, das Kind zu beruhigen.
„Wir sollten ein Stück weggehen“, schlug Martin schließlich vor. „Es ist sicher besser für die Kleine. Oder was meinst du?“
Susanne nickte.
Mit eingeschaltetem Blaulicht und ohrenbetäubend lauter Sirene bog nach einer gefühlten Ewigkeit endlich ein Löschzug der Berliner Feuerwehr in ihre Straße. Auch zwei Notarztwagen rollten an und stoppten vor dem Haus. Die Flammen fraßen sich weiterhin unerbittlich durch die Außenverkleidung der offenbar irgendwann nachträglich aufgesetzten Dachgeschoss-Etage und die Feuerwehrleute blickten kundig nach oben, um zügig sowohl die gleichzeitig eingetroffene Drehleiter in Position zu bringen, als auch die Schläuche mit den nächstliegenden Hydranten zu verbinden. Ein erster Trupp lief ins Haus, in dem inzwischen der Strom ausgefallen zu sein schien, denn die Fenster, welche vor wenigen Minuten noch erleuchtet gewesen waren, lagen nun im Dunklen. Auch im Treppenhaus brannte kein Licht mehr.
Martin und Susanne standen inzwischen auf der anderen Straßenseite, vielleicht zwanzig oder dreißig Meter entfernt vom Ort des Geschehens. Luzie hatte sich etwas beruhigt und schluchzte nur noch ab und an leise auf. Ansonsten kuschelte sie sich an ihre Mutter und verbarg das Gesicht in Susannes Haar.
„Es sieht nicht gut aus“, murmelte Martin und sah, wie zwei gerade eingetroffene Polizisten auf die offenbar zu dicht am Haus stehenden Mieter zuliefen und diese dazu drängten, die unmittelbare Gefahrenzone zu verlassen. Die Nachbarn wollten sich aber nur widerwillig darauf einlassen, die Straßenseite zu wechseln und sich dorthin zu begeben, wo Susanne, Martin und Luzie standen.
Die beiden jüngeren Kinder der Familie aus dem Dachgeschoss fingen angesichts des Polizei- und Feuerwehraufgebotes und der erschreckenden Lärmkulisse an zu weinen.
Kein Wunder, dachte Martin und warf einen Blick auf Luzie, deren Gesicht noch immer in Susannes Haaren versteckt war.
„Bitte verlassen Sie diesen Bereich! Sofort!“, rief einer der Polizisten, offenbar der Einsatzleiter, mit deutlich erhobener Stimme und deutete genervt auf die Stelle, zu der sich die Menschen begeben sollten. Sein Kollege verteilte derweil Decken an diejenigen, die sich bereits am Sammelplatz eingefunden hatten. Die Reaktion der Nachbarn auf die polizeiliche Anweisung war unterschiedlich. Während die einen sich widerspruchslos wegschicken ließen, murrten andere herum und mussten mehrfach ermahnt werden. Vor allem der junge Mann mit dem Boxer lieferte sich einen heftigen Wortwechsel mit dem Einsatzleiter und zeigte wütend zum Haus. Möglicherweise war dem Hundebesitzer eingefallen, dass er noch etwas Wichtiges in seiner Wohnung hatte, was er zu holen gedachte. Angesichts der momentanen Lage war das eine absurde Idee, aber Martin konnte nachvollziehen, dass der junge Mann mit der gegenwärtigen Situation genauso überfordert war wie sie alle.
Martin wandte seinen Blick von den Geschehnissen vor dem Haus kurz ab und wollte sich gerade an den polnischen Studenten wenden und diesen fragen, ob er eine Vermutung zur Brandursache hatte, als Horst Wulfert vor ihm stand. Den älteren Herrn aus der zweiten Etage hatte Martin völlig vergessen und daher auch noch gar nicht vermisst im Pulk der evakuierten Nachbarn. Er und Wulfert waren sich ein, zwei Mal im Hausflur begegnet und der Rentner hatte ihm und Susanne sogar mal geholfen, ein paar Einkaufstüten vom Auto ins Haus zu tragen, als es goss wie aus Kannen.
„Was, um alles in der Welt, ist hier passiert?“, murmelte Wulfert mehr zu sich selbst als an Martin gerichtet. „Ich war doch nur kurz spazieren ...“
Martin zuckte mit den Schultern, weil er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen. „Ein Feuer ist ausgebrochen“, sagte er und bemühte sich um einen festen Klang seiner Stimme. „Ich weiß auch nichts Genaues. Aber vermutlich muss die Brandursache im Dachgeschoss liegen.“
Wulfert deutete nach oben, wo die Flammen jetzt aus den Fenstern schossen und sich ein wahrer Funkenregen in den Himmel erhob. „Sind alle rausgekommen? Ich meine ...“
Martin nickte. „Ich glaube schon. Es sollte eigentlich keiner mehr im Haus sein. Die Feuerwehr hat wohl auch schon sämtliche Wohnungen abgesucht.“
„Gott sei Dank“, entgegnete Wulfert erleichtert.
„Gott sei Dank?“, mischte sich in diesem Moment die leicht ergraute Frau aus der ersten Etage ebenso spontan wie laut in das Gespräch ein. Sie stand nur wenige Meter entfernt und war offenbar Ohrenzeugin dessen geworden, worüber Martin und Wulfert gesprochen hatten. Jetzt zeigte sie mit zitternder Hand auf das Haus. Martin kannte die Frau vom Sehen. Persönlich mit ihr gesprochen hatte er noch nie.
„Wir verlieren gerade alles!“, schluchzte sie, „die ganzen Möbel, all die Erinnerungen, alles!“
Martin machte ein betroffenes Gesicht. Auch ihm und seiner Familie schien nichts zu bleiben. So wie dieser Brand sich trotz der verzweifelten Löschversuche des Feuerwehrteams ausbreitete, würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alles von den Flammen verschlungen werden.
„Wie kann das nur sein? Das ist so ungerecht!“, jammerte die Frau weiter. Dann hielt sie kurz inne und wandte sich direkt an Martin. Sie warf ihm einen zornigen Blick zu: „Wie kann so etwas sein?“, wiederholte sie, jetzt mit deutlich festerer Stimme. „Wir haben keinem was getan. Wir sind ehrliche, ruhige Leute. Wie kann so etwas sein?“
Martin wusste nicht, was er der Frau entgegnen sollte. Er konnte verstehen, was sie meinte, aber er hatte ja selbst keine Antwort.
„Sie müssen es doch wissen!“, schrie die Frau ihm ins Gesicht. „Sie müssen doch sagen können, wie ihr Gott so etwas zulassen kann! Sie sind doch Pfarrer!“
Martin zuckte zusammen. Wie Gott so etwas zulassen kann?, dachte er. Ja, wie nur? Die Worte der älteren Frau hämmerten ihm in den Ohren wie das brummende Geräusch nach einem zu lauten Rockkonzert oder wie das Schlagen von Kostecki vorhin gegen seine Wohnungstür. Oder wie der Krach, der von den Löschpumpen der Feuerwehr kam. Martin merkte, dass er vollkommen überfordert war mit dieser Situation. Der Lärm, die Blaulichtblitze, die heulenden Kinder der Nachbarn, auch seine Tochter weinte wieder. Wie konnte Gott so etwas zulassen? Wie nur? Er war Pfarrer. Er musste es doch wissen. Aber er wusste es nicht. Was wusste er überhaupt von Gott?
Ich glaube gar nicht mehr an ihn, dachte Martin plötzlich und war von diesem Gedanken zutiefst erschüttert. Ich glaube gar nicht an Gott!, durchfuhr es ihn wieder und wieder. Ich glaube nicht an ihn! Nicht. Mehr. An. Ihn. So musste es sein. Deshalb konnte Martin auch nichts dazu sagen, was hinter dem stecken könnte, was hier passierte. Dass es Hoffnung gab, trotz dem, was da gerade geschah. Aber wie konnte er dann noch Pfarrer sein?
Die grauhaarige Dame drückte das Gesicht in ihre Hände und schluchzte erneut auf. Es war schrecklich. Alles.
Martin wandte sich nach Susanne um. Sie stand direkt neben ihm, aber sie kam ihm vor wie eine Fremde. Stumm schüttelte sie den Kopf. Wie würde es weitergehen? Ohne Wohnung. Ohne Zuhause. Ohne Gott? Pfarrer Martin Cornelius Schenck hatte keine Ahnung.
Jurek Kostecki und Jenny Köhler
Tag des Brandes, 9 Uhr
Als Jurek Kostecki erwachte, hörte er durch das offene Fenster die Glocken der nahegelegenen Kirche. Seiner Kirche, wenn man es genau nahm, denn Jurek war katholisch getauft. So wie fast jeder in seiner Geburtsstadt Stargard Szczeciński in Westpommern, Polen. Und eigentlich gehörte er durch seinen Wohnsitz, hier in diesem Haus, in dieser Straße, in Berlin, nun zu genau jener Kirchengemeinde, dessen hellen Glockenklang er gerade wahrnahm. Offiziell war er sogar ein Glied dieser Gemeinde. Von innen hatte er das Gotteshaus allerdings noch nie gesehen. Und den Pfarrer kannte er auch nicht.
Ostermontag, dachte Jurek, heute ist Ostermontag!
Er richtete sich im Bett leicht auf und überlegte, wie lange es wohl her sein mochte, dass er zuletzt eine Messe besucht hatte. Es fiel ihm auch mit viel gutem Willen nicht ein.
Jenny, die neben ihm lag, atmete ruhig und gleichmäßig. Seine Freundin war evangelisch, aber soweit er wusste, spielte der Kirchenbesuch auch für sie im Alltag keine Rolle. Beide waren sie – irgendwie – Christen, doch sie lebten ihren Glauben nicht aus.
Jurek griff nach seinem iPhone und warf einen Blick auf das Display. Von seinem Vater hatte er seit Wochen nichts gehört. Keinen Ostergruß, nicht mal ein kurzes Cześć, jak się masz? - Hallo, wie geht’s dir? Aber das war ja nichts Neues. Seit Jurek beschlossen hatte, in Deutschland Informatik zu studieren, herrschte zwischen ihm und seinem alten Herrn ein angespanntes Verhältnis. Der Grund dafür lag auf der Hand: Andrzej Kostecki, Jureks Vater, hatte seinen einzigen Sohn bereits fest als Nachfolger in der Firma eingeplant. In seinem, seit den späten 1990er Jahren sehr erfolgreichen Unternehmen des Im- und Exportgeschäfts, welches Andrzej höchstpersönlich aufgebaut und zu einem der führenden Dienstleister für grenzüberschreitende Warengeschäfte gemacht hatte. Ohne Frage, Jurek profitierte seit jeher in ganz erheblichem Maße von der ausgezeichneten finanziellen Situation seiner Familie. Er konnte sich nicht nur die neuesten Markenklamotten leisten, es war ihm sogar vergönnt gewesen, am Kolegium Europejskie, einem Privatlyzeum in Krakau, lernen zu dürfen. Für den Besuch dieser Schule hatte sein Vater jedes Jahr fast 20.000 Złoty ausgegeben – immerhin rund 5.000 Euro. Dort auf dem Lyzeum begann Jurek nicht nur die deutsche Sprache zu erlernen, vielmehr hatte er auch sein Interesse für Informatik entdeckt und beschlossen, diese Fachrichtung studieren zu wollen. Sein Vater war darüber alles andere als begeistert gewesen, schließlich hatte er Jurek immer als künftigen Juniorchef des Familienunternehmens gesehen. Doch so sehr Andrzej Kostecki sich auch anstrengte, seinen Sohn umzustimmen – die Entscheidung für ein Studium in Berlin war längst gefallen.
Seufzend legte Jurek das iPhone zurück auf den Nachtschrank, drehte sich zu Jenny und griff behutsam nach einer ihrer dunklen Haarsträhnen. Mit der Strähne kitzelte er ihre Nasenspitze und freute sich diebisch darüber, dass seine Freundin, noch im Halbschlaf, zu glucksen begann. Als sie schließlich ihre Augen öffnete und ihn anblinzelte, gab er ihr einen Guten-Morgen-Kuss.
Jenny lächelte. „Weißt du, wovon ich gerade geträumt habe?“, fragte sie ihn und griff nach seiner Hand, in der er immer noch ihre Haarsträhne hielt.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Dass du mir einen Heiratsantrag gemacht hast“, kicherte sie.
„Dass ich was?“
„Na, dass du mich gefragt hast, ob ich dich heiraten will!“
Jurek nickte unsicher. „Ich dachte, das sei klar.“
„Ach, du bist unromantisch!“ Jenny setzte sich mit einem Ruck aufrecht ins Bett und zog einen Schmollmund.
„Aber wir haben doch schon vor Monaten darüber gesprochen, dass wir heiraten wollen“, beeilte sich Jurek zu betonen.
„Ja, ja“, gab Jenny gespielt mürrisch zurück. „Dass wir in zwei bis drei Jahren heiraten und mindestens fünf Kinder haben wollen. Ich weiß.“
Jurek nickte enthusiastisch. „Genau! Das habe ich ja gemeint!“
Jenny schürzte ihre Lippen und versuchte, beleidigt zu klingen. „Aber einen Heiratsantrag hast du mir nicht gemacht! Und außerdem mag ich nicht mehr so lange warten.“
„Na dann“, entgegnete Jurek, „wenn es dir so wichtig ist ...“
Er rutschte aus dem Bett und kniete sich auf den Fußboden. „Liebste Jenny“, hob er mit feierlicher Stimme an, „willst du meine Frau werden?“
Als Antwort hielt sich Jenny die Hand vor den Mund, hüpfte im Bett auf und ab und ließ ein herzerfrischendes Quieken erklingen.
Jurek schmunzelte. Er hätte nicht gedacht, dass seine Freundin derart großen Wert auf einen echten Heiratsantrag legen würde. Aber irgendwie gefiel es ihm und er fand Jennys emotionalen Ausbruch durchaus charmant.
Eine knappe Stunde später standen sie endlich auf. Nach Jureks Heiratsantrag war Jenny überglücklich gewesen und hatte ihren Freund immer wieder gefragt, ob er es auch wirklich ernst meinen würde, was der junge Student natürlich jedes Mal lachend bestätigte.
Nachdem er kurz im Bad gewesen war, setzte Jurek sich einen Moment lang in den Flur. Jenny und er hatten hier einen kleinen Wandhocker angebracht, den sie aber nur selten nutzten. Höchstes, um schnell noch im Sitzen einen Einkaufszettel auf der schmalen Dielenkommode zu schreiben oder wenn einer auf den anderen wartete, bevor sie gemeinsam das Haus verlassen wollten. Nicht nur einmal hatten Jenny und er mit dem Gedanken gespielt, den Schemel wieder abzubauen und dafür einen großen Garderobenschrank aufzustellen. Zugleich wussten beide, dass sich Jennys Vater Klaus über den Hocker freute, da er ihm die Möglichkeit bot, sich seine Schuhe im Sitzen zuzubinden, bevor er nach einem Besuch mit seiner Frau Rosalie den Heimweg antrat.
Und jetzt saß Jurek hier. Er hatte sein iPhone dabei und tippte eine Nachricht an Małgorzata, seine Mutter. Kurz und knapp schrieb er ihr, dass er Jenny einen Heiratsantrag gemacht hatte und dass sie bald heiraten würden. Dahinter setzte er einen Smiley mit aufgerissenen Augen und ein Daumen-rauf-Symbol.
Nachdem Jurek die iMessage abgesandt hatte, zögerte er einen Moment. Er rief die Nachricht erneut auf und tippte auf Weiterleiten. Ins Adressfeld gab er nun die Kontaktdaten seines Vaters ein, entfernte Smiley und Daumen und schickte die Nachricht ab. Einfach so.
Nachdem das Sendegeräusch verklungen war, ließ er das iPhone sinken und lauschte in den Hausflur. Von oben hörte er den Hund bellen, den bedrohlichen Boxer des jugendhaften Mannes mit den kurzen Haaren, der meist eine Bomberjacke trug und einen aufgemotzten Golf GTI fuhr. Kein Typ, mit dem man befreundet sein wollte. Es ging sogar das Gerücht, dass der durchtrainierte und an den Oberarmen weitreichend tätowierte Nachbar vor dem Einzug in seine hiesige Wohnung im Gefängnis gesessen hätte. Zwar wusste man nichts Genaues, aber jeder aus dem Haus schien einen Bogen um ihn und seinen Hund zu machen. Bislang hatte Kostecki noch nie gesehen, dass jemand von den Mietern mit dem Mann, auf dessen Klingelschild der Name Schröder stand, jemals ein Wort gewechselt hätte. Nicht einmal der junge Pfarrer, der mit seiner Familie als letzter hier eingezogen war und jetzt direkt neben Jenny und Jurek wohnte. Dort, wo zuvor die alte Frau Zeisig gelebt hatte.
„Soll ich uns wieder ein Ei zum Frühstück machen?“, flötete Jenny aus der Küche. „Oder hast du keine Lust mehr drauf?“
„Mach nur“, rief Jurek zurück. „Heute ist schließlich noch Ostern.“
Jenny lachte und er hörte, wie sie zum Spülbecken lief und den Topf mit Wasser füllte. Sie schien nach seinem Heiratsantrag völlig im Glück zu schweben.
Aus den oberen Stockwerken war jetzt das Geräusch einer sich öffnenden Wohnungstür zu hören, während zugleich unten die Haustür knarrte und eine Person das Gebäude betrat.
Dann Schritte. Jemand ging die Treppe hinauf.
Wieder Schritte und jemand ging hinab.
Außerdem war ein tapsendes Geräusch zu hören, offenbar der Hund, der seinem Herrchen folgte.
Die Haustür fiel ins Schloss und dann trat wieder Stille ein. Lediglich das Wasser auf dem Herd in der Küche begann langsam zu sprudeln. Und Jenny, die quer über den Flur gelaufen und im Bad verschwunden war, summte ein Lied. Er gehört zu mir von Marianne Rosenberg musste es sein, sie besaßen eine CD mit diesem Titel. „Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür“, sang Jenny jetzt tatsächlich deutlich hörbar.
Als die Stimme seiner Freundin aus dem Badezimmer verstummt war, lauschte Jurek noch einmal in den Hausflur. Es war mucksmäuschenstill jetzt. Selbst aus der Pfarrerswohnung war nichts zu vernehmen. Das Kind, ein recht lebhaftes Mädchen mit blonden Locken, hörte man üblicherweise immer durch die verhältnismäßig dünnen Wände, wenn es lachte, laut spielte oder mal schrie. Jetzt hingegen drang kein Laut herüber und Jurek vermutete, dass die Familie einen Ausflug machte. Die drei waren eigentlich unauffällige Leute. Kurz nach ihrem Einzug hatten sie unten im Eingangsbereich einen Zettel aufgehängt und sich namentlich vorgestellt. Jenny fand das damals ganz witzig, aber Jurek hatte schon geahnt, dass die Nachbarn darüber eher den Kopf schütteln würden. Die Deutschen waren im Allgemeinen Einzelgänger, vor allem, wenn sie in Städten lebten. In seiner polnischen Heimat war das ganz anders. Dort waren das Miteinander und das AufeinanderAchtgeben stärker ausgeprägt. Als der Zettel von der Pfarrersfamilie nach wenigen Tagen wieder verschwunden war, hatte sich Jurek die Kellerschlüssel geschnappt und kurzerhand bei seinen neuen Nachbarn geklingelt. Die freuten sich, dass er ihnen den zur Wohnung gehörenden Verschlag zeigte, was bislang wohl weder der Wohnungsverwaltung noch dem Hausmeister eingefallen war. Kein Wunder, hatte Jurek gedacht, auf den Keller kommen alle immer zuletzt. Jedenfalls war ihm nach dieser kleinen nachbarschaftlichen Hilfe ein wenig wohler zumute. Er hatte das Gefühl, sein Gewissen beruhigt und damit etwas Gutes getan zu haben.
„Dreieinhalb Minuten“, rief seine Freundin, die zwischenzeitig wieder in die Küche zurückgekehrt war und ihn aus den Gedanken riss. „Die Zeit läuft!“
Offenbar hatte sie gerade die Eier ins Wasser gegeben.
Jurek schmunzelte. Er hatte es wirklich gut getroffen. Mit seinem Studium, mit seiner Wohnung hier. Und vor allem mit Jenny.
„Wenn wir heiraten, dann auf jeden Fall in einer Kirche!“, verkündete Jenny fröhlich, als sie Jurek wenig später am Frühstückstisch gegenübersaß.
„Selbstverständlich“, bestätigte er und griff nach einem Ei, „etwas anderes würden meine Eltern und Verwandten auch gar nicht zulassen.“ Im selben Moment wusste er, dass sein Vater niemals zur Hochzeit kommen würde. Es sei denn, Jurek konnte sich doch noch dazu durchringen, in das Familienunternehmen einzusteigen. Aber für einen solchen Sinneswandel gab es zurzeit nicht den geringsten Anlass.
„Und Emilio müssen wir einladen“, fuhr Jenny unbekümmert fort und biss herzhaft in ihr Marmeladentoast. „Er sagt, es sei so lustig, dass unsere Vor- und Nachnamen mit den gleichen Anfangsbuchstaben beginnen: J und K, Jenny Köhler und Jurek Kostecki.“
Jurek verdrehte die Augen, sagte aber nichts. Er war nicht unbedingt ein Fan von Jennys ehemaligem Berufsschullehrer, der zudem im selben Chor sang wie sie und allen jungen Frauen schöne Augen zu machen schien. Aber wenn Jenny diesen Emilio partout dabeihaben wollte, würde er sich natürlich nicht widersetzen. Der Kerl war für Jureks Geschmack ein bisschen zu aufdringlich und riss in einem fort mehr oder weniger intelligente Witze. Aber zumindest sorgte er für Stimmung und auf einer Hochzeitsfeier konnte das vielleicht nicht schaden. Zumal dann, wenn Andrzej nicht dabei sein würde. Sonst nämlich avancierte Andrzej Kostecki auf Partys und Veranstaltungen schnell zum Liebling der Gäste. Kein Wunder, dachte Jurek, sein Vater war charmant, konnte sich gewählt ausdrücken und sah trotz seines nicht mehr ganz jugendlichen Alters noch auffallend gut aus.
Mit einem unüberhörbaren Ton meldete Jureks iPhone den Eingang einer Nachricht und riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte das Telefon vor dem Frühstück aufs Fensterbrett gelegt und überlegte nun, ob er es rasch holen und einen Blick darauf werfen sollte oder ob es unhöflich wäre, einfach vom Tisch aufzuspringen.
„Geh’ nur“, lächelte Jenny, die seine Gedanken erraten zu haben schien. „Vielleicht ist es ja was Wichtiges.“
Jurek nickte und stand auf. Mit wenigen Schritten war er am Fenster und griff nach dem iPhone. Er entsperrte das Display und rief die Nachrichten-App auf. Es war tatsächlich eine Antwort von seinem Vater gekommen. Doch was Jurek las, verschlug ihm die Sprache. Er hatte keine Ahnung, wie er die Worte einzuordnen hatte. Aber er wusste, dass das Verhältnis zu seinem Vater von jetzt an noch schwieriger sein würde.
Leise wiederholte Jurek den kurzen Text, der ohne Anrede gekommen war und aus nur einem Satz bestand: Wydziedziczę cię! – Ich werde dich enterben!
Jenny
10:30 Uhr
Es war tatsächlich geschehen. Jurek hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht! Einen echten, wunderschönen und total süßen Heiratsantrag. Jenny saß am Frühstückstisch und sah ihrem Freund dabei zu, wie er aufstand und zum Fenster lief, um sein Handy zu holen.
Wie schön, dass es jetzt amtlich wurde. Zwar war es im Prinzip schon länger ausgemacht, dass sie irgendwann heiraten würden, aber weder stand ein Termin fest, noch hatte es einen klassischen Heiratsantrag gegeben, den Jenny sich doch so sehr wünschte. Gleichzeitig hatte sie Jurek bisher aber auch nie darauf angesprochen und ihm klargemacht, wie wichtig ihr diese Sitte aus vergangenen Zeiten war. Im Grunde wusste sie selbst nicht genau, warum sie sich so sehr danach sehnte. Möglicherweise hatte sie einfach zu viele Arztromane gelesen.
Schmunzelnd griff sie nach einem Toast. Sie war hoffnungslos altmodisch. Selbst als sie vorhin beim Eierkochen aus dem Fenster geschaut und gesehen hatte, wie der junge Mann aus der ersten Etage mit seinem Hund das Haus verließ und dabei in der Hand einen Blumenstrauß hielt, war ihr ein Seufzer entglitten. Fosteriana-Tulpen, hatte sie gedacht. Es mussten Fosteriana-Tulpen sein. Man erkannte es an den großen Blütenkelchen, die auf langstieligen Stängeln saßen. Jenny kannte diese botanische Schönheit aus ihrer Gärtnerei gut, schließlich galten Fosteriana-Tulpen als beliebter Klassiker unter den Schnittblumen im Frühling.
Ja, hatte Jenny beim Blick auf den Blumenstrauß des Nachbarn gedacht, über ein solches Geschenk würde sie sich auch freuen. Aber sie hatte heute ja ein viel größeres Geschenk erhalten! Den Hochzeitsantrag von Jurek, ihrem Freund, der jetzt am Fenster stand und auf das Display seines Telefons starrte.
Jenny fiel auf, dass er einen erschrockenen, fast panischen Eindruck machte. „Ist was passiert?“, fragte sie ihn mit überraschend belegter Stimme und merkte zugleich, dass ihr Herz heftig zu pochen begann.
Jurek schüttelte den Kopf. Langsam und ohne vom Bildschirm seines Mobilgerätes aufzuschauen.
Sie hatte diesen merkwürdigen Gesichtsausdruck bei ihrem Freund noch nie gesehen und spürte, dass er ihr Angst machte. All die Freude, die sie angesichts des Heiratsantrags eben noch verspürt hatte, verschwand. Stürzte zusammen. Zersplitterte. Jenny wusste nicht, warum. Aber sie wusste, dass es so war. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, sonst würde Jurek nicht so aussehen, wie er aussah. Sie kannte ihn gut, ja fast so gut, als wären sie schon ihr ganzes Leben lang zusammen gewesen. Dabei waren es erst knapp zwei Jahre, seit sie ihn auf einer Geburtstagsfeier ihrer Kollegin Annika kennengelernt hatte. Damals war ihr der scheue und zurückhaltende junge Mann, der von Annikas Verlobtem Alexander eingeladen worden war, erst auf den zweiten Blick aufgefallen. Er hatte etwas abseits in einem gemütlichen Ohrensessel gesessen und in einem Computermagazin geblättert.
„Alex kennt ihn aus der Uni“, wurde ihr von Annika kichernd erklärt, als Jenny auffallend lange in Jureks Richtung geblickt hatte. „Sie sind als Werkstudenten beide in derselben Abteilung tätig.“
So hielt Jenny es für keine schlechte Idee, sich mit einem halbvollen Cola-Glas in der einen und einem Käsebrötchen in der anderen Hand dem Sessel gegenüber an die Schrankwand zu lehnen. Während sie hin und wieder einen Schluck trank und einen Bissen nahm, beobachtete sie den blonden Studenten und wunderte sich darüber, wie man so sehr in einer Zeitschrift versunken sein konnte, dass man seine Umgebung nicht mehr wahrnahm. Zumal es auf Annikas Geburtstagsfeier alles andere als leise zuging.
Irgendwann, als Jennys Glas schon fast leer getrunken und das Käsebrötchen längst aufgegessen war, schaute der junge Mann endlich hoch und ihre Blicke trafen sich. Jenny lächelte ihm zu und stellte den Teller, den sie solange in der Hand gehalten hatte, in eines der offenen Fächer der Schrankwand.
„Dein Heft muss ja echt spannend sein“, sagte sie schließlich und wies auf das Computerjournal.
„In der Tat“, gab er zurück und ein Schmunzeln huschte über seinen Mund. „Aber bei Weitem nicht so spannend wie du!“
Danach war alles recht einfach gewesen und schnell gegangen. Sie hatten sich einander eine Kurzversion ihrer Biografie erzählt, ein paarmal miteinander getanzt und nach dem Ende der Geburtstagsfeier wurde sie von Jurek brav nach Hause gebracht und zum Abschied schüchtern auf die Wange geküsst.
Mit Schmetterlingen im Bauch und einem hellblauen Sommerkleid am Leib hatte sie ihn dann schon zwei Tage später wiedergetroffen. Sie waren gemeinsam ins Eiscafé gegangen und glücklich gewesen. Und sie hatten schnell gemerkt, dass zwischen ihnen einfach alles stimmte. Dass alles passte, wie es passen sollte.
So kam es dann auch, dass sie irgendwann ganz selbstverständlich davon ausgingen, eines Tages zu heiraten und Kinder zu haben. Und doch hatte Jenny sich insgeheim gewünscht, dass Jurek ihr einen echten Heiratsantrag machen würde. Dass der liebenswürdige, nach außen oft scheue, gutaussehende und aus Polen stammende blonde Student Jurek Kostecki ihr, der begeisterten Gärtnerin Jenny Köhler die Frage aller Fragen stellen würde. Die Frage, die er heute dann auch tatsächlich gestellt hatte: die Frage, ob sie ihn heiraten wolle.
Und nun? Was war nun?
Jenny wusste es nicht. Aber was sie sah, machte ihr Angst.
Jurek
Zur selben Zeit
Wydziedziczę cię! – Ich werde dich enterben! Was dachte sich sein Vater eigentlich dabei, so auf die Ankündigung der Hochzeit mit Jenny zu reagieren? Jurek war außer sich vor Wut, aber er wusste nicht, wie er seine Wut kanalisieren sollte. Wie er ausdrücken sollte, was er empfand. Also schwieg er.
Versuchend, sich seinen tatsächlichen Gemütszustand nicht anmerken zu lassen, setzte er sich zurück an den Frühstückstisch und griff nach seiner Kaffeetasse. Erst als seine Lippen die Tasse berührten, merkte er, dass sie leer war.