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Michael Zamis kochte vor Wut. Skarabäus Toth, der Schiedsrichter der Schwarzen Familie, ließ ihn vor der Tür warten, als sei er ein nutzloser Freak. Das Oberhaupt der Zamis-Sippe starrte die Tür zu Toths Büro an, als könnten seine Blicke sie durchdringen. Was mochte dahinter vorgehen? Hatte der Schiedsrichter tatsächlich »unaufschiebbare Angelegenheiten« zu erledigen, wie er es behauptete, oder wollte er Michael Zamis lediglich provozieren?
»Bleib ruhig«, versuchte Georg seinen Vater zu besänftigen. »Gönn Toth nicht den Triumph, dich ...«
»Schweig! Diesmal ist er zu weit gegangen ...«
Coco Zamis hat ihr Leben eingesetzt, um an das Dokument mit der Dämonenbeschwörung zu gelangen, das der Zamis-Sippe im Kampf gegen den anonymen Herausforderer helfen soll. Doch das Papier entpuppt sich als Fälschung. Damit ist ein blutiger Kampf unausweichlich geworden - und Coco ist das erste Opfer!
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Seitenzahl: 148
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Was bisher geschah
BLUTIGE ZUSAMMENKUNFT
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
mystery-press
Vorschau
Impressum
Coco Zamis ist das jüngste von insgesamt sieben Kindern der Eltern Michael und Thekla Zamis, die in einer Villa im mondänen Wiener Stadtteil Hietzing leben. Schon früh spürt Coco, dass dem Einfluss und der hohen gesellschaftlichen Stellung ihrer Familie ein dunkles Geheimnis zugrunde liegt. Die Zamis sind Teil der sogenannten Schwarzen Familie, eines Zusammenschlusses von Vampiren, Werwölfen, Ghoulen und anderen unheimlichen Geschöpfen, die zumeist in Tarngestalt unter den Menschen leben und nur im Schutz der Dunkelheit und ausschließlich, wenn sie unter sich sind, ihren finsteren Gelüsten frönen.
Der Hexer Michael Zamis wanderte einst aus Russland nach Wien ein. Die Ehe mit Thekla Zamis, einer Tochter des Teufels, ist standesgemäß, auch wenn es um Theklas magische Fähigkeiten eher schlecht bestellt ist. Umso talentierter gerieten die Kinder, allen voran der älteste Bruder Georg und – Coco, die außerhalb der Sippe allerdings eher als unscheinbares Nesthäkchen wahrgenommen wird. Zudem kann sie dem Treiben und den »Werten«, für die ihre Sippe steht, wenig abgewinnen und fühlt sich stattdessen zu den Menschen hingezogen.
Während ihrer Hexenausbildung auf dem Schloss ihres Patenonkels lernt Coco ihre erste große Liebe Rupert Schwinger kennen. Als ihr schließlich zu einem vollwertigen Mitglied der Schwarzen Familie nur noch die Hexenweihe fehlt, meldet sich zum Sabbat auch Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, an und erhebt Anspruch auf die erste Nacht mit Coco. Als sie sich weigert, wird Rupert Schwinger in den »Hüter des Hauses« verwandelt, ein untotes Geschöpf, das fortan ohne Erinnerung an sein früheres Leben über Coco wachen soll.
Auf weitere Konsequenzen verzichtet Asmodi vorerst, als es Coco gelingt, einen seiner Herausforderer zu vernichten – durch die Beschwörung des uralten Magiers Merlin, der sich auf Cocos Seite stellt. Merlin aber ist seinerseits gefangen – im centro terrae, dem Mittelpunkt der Erde. Coco gelingt es, ihn zu befreien, doch im Anschluss verliert sie ihre Erinnerungen an die Reise ins centro terrae, so wie Merlin es ihr prophezeit hat.
Zurück auf der Erdoberfläche, erfährt Coco, dass Asmodis Groll auf die Zamis nicht geschwunden ist. Dennoch schließen Asmodi und Michael Zamis einen Burgfrieden. Die Leidtragende ist Coco, die in der Kanzlei des Schiedsrichters der Schwarzen Familie Skarabäus Toth von einer Armee von Untoten getötet wird. Im letzten Moment rettet sie ihre Seele in den Körper der Greisin Monika Beck. Als Toth den Zamis Cocos Leichnam präsentiert, schöpft nur Cocos Bruder Georg Verdacht. In Amerika spürt Coco inzwischen in Monika Becks Körper den Seelenfänger Sheridan Alcasta auf, der ihr die Rückkehr in den eigenen Leib ermöglicht. Währenddessen gerät die Zamis-Sippe in Wien immer mehr unter Druck. Ein unbekannter Dämon erklärt ihnen den Krieg – und Skarabäus Toth scheint es großes Vergnügen zu bereiten, die Identität des Herausforderers geheimzuhalten ...
BLUTIGE ZUSAMMENKUNFT
Von Christian Montillon
Michael Zamis kochte vor Wut.
Skarabäus Toth, der Schiedsrichter der Schwarzen Familie, ließ ihn vor der Tür warten, als sei er ein nutzloser Freak. Das Oberhaupt der Zamis-Sippe starrte die Tür zu Toths Büro an, als könnten seine Blicke sie durchdringen. Was mochte dahinter vor sich gehen? Hatte der Schiedsrichter tatsächlich unaufschiebbare Angelegenheiten zu erledigen, wie er es behauptete, oder wollte er Michael Zamis lediglich weiterhin provozieren?
»Bleib ruhig«, versuchte Georg seinen Vater zu besänftigen. »Gönn Toth nicht den Triumph, dich ...«
»Schweig!«, zischte Michael Zamis. »Diesmal ist er zu weit gegangen! Ich bin nicht bereit, das auf mir sitzen zu lassen.«
»Bedenke, wo wir uns befinden, Vater.« Georg ließ seinen Blick umherwandern. Skarabäus Toth führte eine Tarnexistenz als Anwalt; auch menschliche Kunden suchten ihn hier in seinen Wiener Büroräumen auf. Meistens schadete er ihnen mehr, als dass er half – und doch nahm sein Ruf offenbar keinen Schaden.
Die meiste Zeit verbrachte der uralte Dämon allerdings mit seiner eigentlichen Aufgabe: als Schiedsrichter der Schwarzen Familie Zwistigkeiten zwischen verschiedenen Dämonensippen zu schlichten oder als Vermittler aufzutreten. Dass er nebenbei seit geraumer Zeit eigene Interessen verfolgte, die er vor jedermann und offensichtlich auch vor Asmodi selbst geheim halten wollte, war immer deutlicher geworden.
»Es ist mir egal«, fuhr Michael Zamis in normaler Lautstärke fort. »Er soll hören, was ich zu sagen habe. Haben Sie verstanden, Toth?«, rief er in den Raum hinein. »Wenn Sie hier magische Spione platziert haben, die Ihnen jedes meiner Worte übertragen – ich zweifele Ihre Neutralität an! Als Schiedsrichter sind Sie verpflichtet, für keine der Sippen und Dämonen, zwischen denen Sie vermitteln, Partei zu ergreifen. Doch Sie behandeln die Zamis – Sie behandeln mich nicht ...«
Die Tür zu Toths Büro öffnete sich quietschend, und Zamis brach seine Anklage ab. Die ausgemergelte Gestalt Skarabäus Toths erschien. »Bitte treten Sie ein«, sagte er mit einer Stimme, die raschelte wie uraltes Laub, das der Wind über eine trostlose Gasse fegt. »Oh, wie ich sehe, haben Sie Ihren Sohn mitgebracht.«
»Haben Sie gehört, was ich sagte, Toth?«
Der Schiedsrichter blickte Michael Zamis ausdruckslos an. »Ich befand mich in meinem Büro und ging wichtigen Geschäften nach, wie ich Ihnen bereits mitteilte, als ich Sie zu warten bat. Ich habe Besseres zu tun, als zu hören, was vor der Tür meines Büros geredet wird.«
»Spielen Sie nicht den Unschuldigen, Toth! Oder wollen Sie mir weismachen, dass Sie nicht über jede Bewegung, die ich durchgeführt habe, seitdem ich Ihr Haus betreten habe, informiert sind? Dass Sie nicht jedes Wort hörten, das mein Sohn und ich wechselten?«
Der uralte Schiedsrichter drehte sich langsam um und betrat seinen Büroraum. Zuerst schien es, als wolle er auf die Fragen Michael Zamis' nicht einmal eingehen, doch dann sagte er gefährlich leise und in unüberhörbar drohendem Tonfall: »Sie sollten mir niemals ins Wort fallen, Herr Zamis. Niemals.« Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. »Was kann ich für Sie tun?« Es war, als hätte der Wortwechsel der letzten Minute niemals stattgefunden.
Michael Zamis unterdrückte seinen Zorn und beschloss, die Fakten auf den Tisch zu legen. »Sie haben über eine Glaskugel Kontakt mit meinem Sohn Georg aufgenommen und ließen mir ausrichten, dass Sie ...«
»Verzeihen Sie dieses Vorgehen«, sagte Toth rasch. »Ich höre Ihrem Tonfall an, dass es Ihnen lieber gewesen wäre, ich hätte mich direkt an Sie gewandt. Nun, das plante ich ursprünglich, doch Sie befanden sich im Gespräch mit einem anderen Dämon, und deshalb wandte ich mich an Ihren Sohn. Ich ahnte ja nicht, dass Sie das derart brüskieren würde.«
Jetzt war Michael Zamis an der Reihe, einen Augenblick zu schweigen. Dann wiederholte er die Worte, die der Schiedsrichter vorhin zu ihm gesprochen hatte. »Sie sollten mir niemals ins Wort fallen, Herr Toth. Niemals.«
Die Aggressivität und Kälte, die zwischen den beiden Dämonen herrschte, war beinahe körperlich zu spüren. Ohne die festen Regeln innerhalb der Schwarzen Familie und ohne das Wissen um die große Macht des jeweils anderen, wären sie übereinander hergefallen, um sich gegenseitig zu zerfleischen. Doch man pflegte seine Differenzen auf anderem, kultivierterem Weg beizulegen. Heutzutage zählten nicht nur körperliche Kraft und magische Begabung, sondern auch die Fähigkeit, Intrigen zu spinnen, in denen sich der Feind verfing.
»Wie dem auch sei«, winkte Zamis ab, als stehe er über derlei Dingen. »Sie ließen mir ausrichten, dass die Frist, die unserem unbekannten Herausforderer bleibt, bis er uns eine offizielle Kampfansage stellen muss, verlängert wurde!«
»In der Tat«, bestätigte Skarabäus Toth, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit.
»Unser Herausforderer muss sich zu erkennen geben, damit wir Gegenmaßnahen ergreifen können!«, ereiferte sich Michael Zamis. »So sehen es die Regeln der Schwarzen Familie vor.«
»Regeln, die ich beherzige, Herr Zamis. Sie vergessen wohl, dass ich der Schiedsrichter bin und dieses Amt schon sehr lange ausübe. Ich kenne die Regeln und würde sie niemals brechen. Asmodi, unser Herr, würde mir sein Vertrauen entziehen. Ihr Herausforderer wird sich zu erkennen geben und eine offizielle Kampfansage stellen – sobald die Frist abgelaufen ist.«
»Die Frist läuft heute ab!«
»Sie irren sich, Herr Zamis«, sagte Toth, »sie wäre heute abgelaufen, wenn sie nicht verlängert worden wäre ... das ist ein gewaltiger Unterschied. Sie sehen, die Regel wurde nicht gebrochen.«
»Aber sie wurde gebeugt ... weiter gebeugt, als es zulässig ist!«
»Das zu entscheiden überlassen Sie bitte mir. Ich bin der Schiedsrichter.«
»Der Schiedsrichter der Schwarzen Familie hat in allen Konflikten einen neutralen Standpunkt einzunehmen!«, ereiferte sich das Sippenoberhaupt. »Sie haben diese Neutralität gebrochen, Toth! Sie verschafften unserem Gegner einen unbotmäßigen Vorteil, indem Sie die Frist verlängerten. Wir, die Zamis, sind gezwungen, untätig darauf zu warten, bis unser Feind sich endlich zu erkennen gibt.«
»Die Frist ist verlängert«, wiederholte Skarabäus Toth und wies auf die Tür. »Und nun entschuldigen Sie mich bitte – es gibt Wichtigeres, um das ich mich kümmern muss.«
»Sie machen gemeinsame Sache mit unserem Gegner! Die Fristverlängerung hat einen Grund, und ...«
»Sie bringen mich dazu, Ihrem Wunsch nicht entsprechen zu können, Herr Zamis: Ich muss Ihnen doch noch einmal ins Wort fallen. Ich bat Sie zu gehen. In dieser Sache ist das letzte Wort gesprochen. Sollten Sie damit nicht einverstanden sein, wenden Sie sich an Asmodi, der allerdings darauf verweisen wird, dass ich das zu entscheiden habe. Ihr Gegner wird sich nach Ablauf der verlängerten Frist zu erkennen geben, und dann möge der Kampf beginnen.«
»Lass uns gehen, Vater«, drängte Georg.
»Hören Sie auf Ihren Sohn – er ist vernünftig. Die Zeit zu kämpfen wird kommen, doch sie ist nicht heute.«
Ich erwachte, und ich kann nicht gerade sagen, dass ich mich wohlfühlte. Mein Schlaf war bleiern gewesen und alles andere als entspannend. Kein Wunder – seit den schrecklichen Ereignissen um meine Schwangerschaft fühlte ich mich wie gerädert. Der Dämonenbalg, der in mir herangewachsen war, hatte mir alle Kräfte ausgesaugt. Letztendlich hatte Achthon sein verdientes Ende gefunden, doch das hatte mir meinen inneren Frieden nicht zurückgebracht. Immer wieder dachte ich an jene unwirklich-traumhaften Sequenzen, die ich hatte miterleben müssen, wenn der Dämonenembryo meinen Leib verlassen hatte, um auf Menschenjagd zu gehen.
Das war inzwischen Vergangenheit, doch es fiel mir schwer, es zu vergessen. Nachdenklich fragte ich mich, ob ich jemals wieder schwanger werden würde. Es entsprach nicht den Gepflogenheiten, die in der Schwarzen Familie herrschten. Wurde ein neuer Dämon gezeugt, trug ihn eine ahnungslose menschliche Frau bis zur Geburt aus. Doch man wusste nie – die letzten Wochen hatten gezeigt, dass unter Umständen auch eine Hexe tatsächlich schwanger werden konnte. Aber davon unabhängig blieb die dahinter stehende Frage, ob ich jemals einen Sohn oder eine Tochter haben würde. Ich konnte es mir nicht vorstellen, die Zamis-Sippe auf diese Weise zu vergrößern. Wer wusste, was aus einem solchen Nachfolger werden würde. Ich galt als sehr talentierte Hexe, und die Vorstellung, dass meine Kinder möglicherweise über noch größere Kräfte verfügen und innerhalb der Familie Karriere machen könnten, beunruhigte mich.
Das waren müßige Gedanken, aber seit der Schwangerschaft kamen sie immer wieder, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, und so dachte ich auch jetzt konsequent weiter.
Wen könnte ich als Vater erwählen? Ich konnte mir keinen Dämon vorstellen, mit dem ich intim werden mochte – im Grunde genommen fühlte ich mich viel mehr zu den Menschen hingezogen. Eine Neigung, die schon früh für Probleme gesorgt hatte. Bilder aus meinen Lehrjahren auf dem Schloss meines Patenonkels Cyrano von Behemoth erschienen vor meinem geistigen Auge. Dort hatte mich mein Vater zu einer richtigen Hexe ausbilden lassen; ich verknüpfte nur wenige angenehme Erinnerungen mit dieser Zeit.
Ich schüttelte die Gedanken an die Vergangenheit ab und schwang die Beine aus dem Bett. Was nützte mir die sentimentale Nostalgie schon? Die Gegenwart wies mehr als genügend Probleme auf, mit denen wir zurechtkommen mussten. Die Kampfansage eines unbekannten Gegners hing als düstere Drohung über unserer Sippe, jederzeit konnte eine gefährliche Auseinandersetzung beginnen.
Ich sah auf die Uhr. Um diese Zeit mussten noch einige in der Villa wach sein. Mir stand der Sinn nach einem Gespräch, das mich von meinen trüben Gedanken ablenken würde. Ich verließ mein Zimmer. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, fiel mir etwas Ungewöhnliches auf.
Es herrschte völlige Stille.
Nachdenklich blickte ich in einige Zimmer. Alle waren leer und verlassen. »Vater?«, rief ich. »Mutter?« Ich erhielt keine Antwort. Verwirrt suchte ich das Zimmer meines Bruders Georg auf; mit ihm hätte ich am liebsten geredet. Er war der Einzige, bei dem ich hin und wieder das Gefühl hatte, dass er mich verstand. Doch auch sein Zimmer war leer.
Ich durchsuchte die restlichen Räume der Villa. Nichts.
Vielleicht sind sie im Keller, um gemeinsam eine Beschwörung durchzuführen, überlegte ich. Obwohl ich nicht recht daran glaubte, machte ich mich auf den Weg nach unten. Dabei fragte ich mich, was wohl geschehen sein mochte. Hatte unser unbekannter Herausforderer bereits zugeschlagen? Hatte er meine Familie in eine Falle gelockt? Das konnte nicht sein – nicht gerade heute, da Skarabäus Toth eine Fristverlängerung ausgesprochen hatte, die dem Herausforderer noch einige Tage Anonymität zusicherte. Oder offenbarte sich jetzt der verborgene Sinn dieser Fristverlängerung? War meine Familie in einen Hinterhalt gelockt worden, hatte unser unbekannter Feind einen Trumpf ausgespielt und regelwidrig noch während der anonymen Phase zugeschlagen? Doch warum war ich von seiner Attacke verschont geblieben?
All die Fragen führten zu nichts. Verlier dich nicht in deinen Grübeleien, Coco!
Ich öffnete die Tür zum Beschwörungsraum im Keller. Der metallische Geruch alten Blutes schlug mir entgegen. Im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern meiner Familie mochte ich ihn nicht, doch ich hatte gelernt, damit zu leben.
Niemand aus meiner Familie befand sich im Beschwörungsraum – natürlich nicht. Und doch erlebte ich eine Überraschung. Der Hüter des Hauses trat mir entgegen. Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Natürlich war er noch hier, und womöglich konnte er mir weiterhelfen. »Wo sind Vater und die anderen?«, fragte ich ihn.
Doch auch er wusste es nicht.
»Wann sind sie gegangen? Haben sie das Haus freiwillig verlassen?«
Schweigen antwortete mir.
Ich eilte die Treppe nach oben. Irgendetwas stimmte hier ganz gewaltig nicht. Der Hüter des Hauses wurde normalerweise informiert, wenn ...
Ein Gedanke von schmerzlicher Intensität riss mich aus meinen Überlegungen. Der Hüter des Hauses ... Rupert Schwinger ... damals, auf Schloss Behemoth ...
Was sollte das? Warum ließen mich heute die Gedanken an die Vergangenheit einfach nicht los? Ja, der Hüter des Hauses war einst ein Menschenjunge gewesen, Rupert Schwinger. Ich hatte ihn getroffen, als ich bei meinem Patenonkel in Ausbildung gewesen war, eine einsame, verwirrte Dreizehnjährige. Ich hatte Rupert geliebt, zumindest hatte ich das geglaubt, mit der unerschütterlichen Überzeugungskraft aufkeimender Gefühle eines Kindes, das dabei ist, erwachsen zu werden. Meine Schwester Vera und der italienische Vampirjunge Pietro Salvatori hatten uns übel mitgespielt, und schließlich hatte eins zum anderen geführt – bis der Mensch Rupert Schwinger starb und zu der stumpfsinnigen Kreatur des Hüters des Hauses der Zamis wurde, um mich stets an meine Verfehlung zu erinnern: daran, dass eine Hexe keine Gefühle für einen Menschen entwickeln darf.
Warum, in aller Welt, dachte ich gerade jetzt daran? Ich sah den Hüter nahezu täglich, und nur selten verband ich den Anblick mit Rupert und meinen Lehrjahren auf Schloss Behemoth. Überhaupt dachte ich selten daran, sah dieses Kapitel als abgeschlossen an. Doch heute kehrten meine Gedanken bereits zum zweiten Mal dorthin zurück.
Ich durfte mich nicht mit diesen Fragen beschäftigen, nicht jetzt! Ich musste meine Familie finden.
Ich verließ das Haus. Der Garten war totenstill, niemand hielt sich darin auf. Und das war nicht alles.
Mir stockte der Atem. Kein Geräusch drang an meine Ohren. Kein einziges. Auch die Straße vor unserem Grundstück war menschenleer. Kein Spaziergänger, kein Auto war zu sehen. Ich rannte auf die Straße, blickte mich verwirrt um. Nichts. Niemand, so weit das Auge reichte. Ich hastete in Richtung Stadtzentrum. Da, wo sich sonst um diese Zeit die Menschen drängten, befand sich niemand. Kein Mensch und auch kein Tier. Nicht mal ein Vogel flog am Himmel.
Plötzlich hörte ich Stimmen. Rufe. Schreie. Die Geräusche sich nähernder Menschen. Hastige Schritte. Doch auch etwas anderes: Schleifen. Zerren. Hohes, unmenschliches Kreischen.
Ich eilte auf die Quelle des Lärms zu.
Etwa fünf Meter vor mir befand sich eine kleine Seitengasse, die ich nicht einsehen konnte, weil sich die Häuser rechts und links bis an die Kreuzung drängten. Aus der Gasse sprang eine Gestalt, die ich kannte.
Nero, der Zwerg mit dem schwarzen Gesicht. Der Freak, auf den ich in den letzten Wochen immer wieder getroffen war. Hinter ihm quollen weitere Freaks auf die Hauptstraße, rannten und sprangen weiter, so rasch es ihre unterschiedlichen Verwachsungen zuließen. »Coco!«, rief Nero. »Weg, weg, flieh von hier!«
»Bleib stehen«, rief ich ihm zu. »Was ist hier los? Wie kann Wien völlig entvölkert sein? Das ist doch unmöglich.«
»Flieh!«, schrie einer der Freaks, mit hoher, vor Panik überschnappender Stimme. »Die Dämonen – sie sind entfesselt, sie haben jede Kontrolle über sich verloren. Sie metzeln jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellt!« Es war ein schrecklich verwachsener Freak, der mich auf diese Weise warnte. Eines seiner Beine wuchs aus seiner Brust, während ein Arm die Stelle seines zweiten Beines einnahm. Er sprang auf groteske Weise vorwärts. Notgedrungen blieb er hinter den anderen zurück, da er mit ihrem Tempo nicht mithalten konnte. Nero war längst außer Sicht. Er hatte in seiner Flucht keinen Augenblick innegehalten.
»Was ist geschehen?«, fragte ich entsetzt.
Der Freak hopste und sprang weiter, gab keine Antwort mehr. Zuletzt hatte ich einen Blick in sein Gesicht werfen können, das von namenlosem Grauen verzerrt war. Mir schauderte.
Aus der kleinen Gasse drangen verzerrte Schreie und brutales Gelächter. Ich hastete weiter, um in sie hineinsehen zu können. Der Anblick, der sich mir bot, war grauenhaft. Die Worte des Freaks schossen mir durch den Kopf: Die Dämonen – sie sind entfesselt, sie haben jede Kontrolle über sich verloren. Genauso sah es aus. Werwölfe, Vampire, formlose Bestien und geschuppte Ungeheuer rasten heran. Sie waren über und über mit Blut besudelt, und einer von ihnen hatte einen abgerissenen Menschenarm im Maul.