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Die Zwerge schärfen wieder ihre Äxte: »Das Herz der Zwerge« erscheint in zwei Teilen und ist der 7. Band der Fantasy-Saga »Die Zwerge« von Bestseller-Autor Markus Heitz. Der Zwerg und Gemmarius Goïmron wollte nach den aufregenden Abenteuern in Malleniaswacht Ruhe finden und seiner Liebe Rodana nahe sein. Aber das Auftauchen einer gefährlichen Sumpfhexe, die auf der Suche nach einem Artefakt ist, wirbelt alles durcheinander. Zudem erhebt der mysteriöse Zwerg Vraccimbur wie aus dem Nichts seinen Anspruch auf den Thron des Großkönigs. Seltsamerweise unterstützt ausgerechnet Tungdil Goldhand, der größte Held seines Volkes, als Einziger dessen Anliegen. Irrt sich der Greis? In die Wirren um den höchsten Titel kommt die Kunde von einem grausamen Wesen, das den Fortbestand des Geborgenen Landes bedroht. Orks rotten sich unter ihrem Anführer Borkon kampfbereit zusammen, und auch die Albae sind längst nicht besiegt. Goïmron und seine Gefährten müssen sich neuen, gefährlichen Herausforderungen stellen, denn das Geborgene Land braucht ihre Hilfe dringender denn je zuvor. Selbst 20 Jahre nach dem furiosen Start warten neue Abenteuer: Die Kleinen werden die Größten sein, gerade in der erfolgreichsten deutschen Fantasy-Saga! Die Fantasy-Saga »Die Zwerge« von Markus Heitz ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Zwerge - Der Krieg der Zwerge - Die Rache der Zwerge - Das Schicksal der Zwerge - Der Triumph der Zwerge - Die Rückkehr der Zwerge (Band 1 + 2) - Das Herz der Zwerge (Band 1 + 2)
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Seitenzahl: 681
Markus Heitz
Roman
Knaur eBooks
Der Zwerg Goïmron hofft vergeblich auf ruhigere Zeiten: Wie aus dem Nichts erhebt der mysteriöse Vraccimbur Anspruch auf den Thron des Großkönigs. Seltsamerweise unterstützt ausgerechnet Tungdil Goldhand, der größte Held der Zwerge, als Einziger Vraccimburs Anliegen. Irrt sich der Greis? Mitten in die Wirren um den Thron platzt die Kunde von einem grausamen Wesen, das den Fortbestand des Geborgenen Landes bedroht. Orks rotten sich kampfbereit zusammen, und auch die Albae sind längst nicht besiegt. Goïmron und seine Gefährten müssen sich neuen, gefährlichen Herausforderungen stellen, denn das Geborgene Land braucht ihre Hilfe dringender denn je zuvor.
Dramatis Personae
PROLOG
KAPITEL I
KAPITEL II
KAPITEL III
KAPITEL IV
KAPITEL V
KAPITEL VI
KAPITEL VII
KAPITEL VIII
KAPITEL IX
KAPITEL X
KAPITEL XI
KAPITEL XII
KAPITEL XIII
KAPITEL XIV
KAPITEL XV
Leseprobe »Das Herz der Zwerge 2«
Xanomir Wogenherz aus dem Clan der Stahlmacher, Ingenius & Constructor
Hamalys Kettenhart aus dem Clan der Funkenschläger, Ingenia & Constructa
Gandalgir Eisengriff aus dem Clan der Stahldrücker, König der Ersten
Rathas Dicklippe aus dem Clan der Viellacher aus dem Stamm der Ersten, Schaukämpfer
Baëndala Zweiklingenhand aus dem Clan der Axtschwinger, Gildenmeisterin der Steinmetze & Prophetin
Boïndal »Grimmz« Zweiklingenhand aus dem Clan der Axtschwinger, Krieger
Gondrabur Metzhammer aus dem Clan der Steinstichler, Krieger & Steinmetz
Bondobil Mehlfaust aus dem Clan der Steinspalter, Krieger
Grandobil Meißelfinger aus dem Clan der Steinhauer, Häscher
Berogard Granitmalmer aus dem Clan der Meißelgreifer, Häscher
Gwendalyn Glimmerstein aus dem Clan der Zahneisen, Königin
Stelyndis Schnellschlag aus dem Clan der Dreindrescher vom Stamm der Zweiten, Schaukämpferin
Tungdil Goldhand, Großkönig (Ehrentitel)
Regnorgata Sterbenshieb aus dem Clan der Orkschlächter, Königin der Dritten
Hargorina Todbringerin aus dem Clan der Steinmalmer, Kriegerin
Belîngor Klingenfresser aus dem Clan der Stahlfäuste, Krieger
Brûgar Funkenatmer aus dem Clan der Feuerschlinger, Krieger
Larembar Gutschuss aus dem Clan der Weitseher, Kommandant der Ostfestung
Gorina Schwarzbeil aus dem Clan der Knochenbrecher, Kriegerin
Ebringar Eisenhaar aus dem Clan der Gutschleifer, Krieger
Barinbor Kraftfinger aus dem Clan der Hämmerer, Krieger
Goïmron Schnitzeisen aus dem Clan der Silberbärte, Gemmarius
Bendoïn Feinunz aus dem Clan der Pfeilsucher, König der Vierten
Silbalyn Silberschein aus dem Clan der Kleinkerber, Kriegerin
Barbandor Stahlgold aus dem Clan der Königswassertrinker, Siedlungsrat von Platinglanze
Tirmelin Kräuselbart aus dem Clan der Blechdrücker, Krieger
Bergandor Wuchtfaust aus dem Clan der Draufhauer, Krieger
Balandis Amboskraft aus dem Clan der Münzbeißer, Königin
Galondin Amboskraft aus dem Clan der Münzbeißer, König
Doria Rodana von Psalí, Puppenspielerin
Zimànja, Scherenschleiferin
Matnic, Einwohner von Malleniaswacht
Auriga, Bigarius, Narkabtu, Rakib, Sintash; Schaukämpfer/-in
Klaey Berengart, Brigantiner & Herrscher von Rhuta
Kiil, Jowna; Brigantiner/-in
Adelia, Famula
Mostro, Famulus
Eogan, Mostros Famulus & Stellvertreter
Kelja, Mostros Famula
Hantu, Rhamak
Stémna, Doulia
Gubnara, Ausbilderin der Doulia
Baron Lichte, königlicher Gesandter von König Gajek
Alsa, Krämerin in Platinglanze
Igenatz Hollenz, Einwohner von Platinglanze
Ilsina, Manimos; Studiosus/-a in Enaiko
Ascatoîa, Zhussa
Mòndarcai, Krieger
Nacailôr, Simanôr, Uphanîa; Mitglieder der Geheimen Kammer
Borkon Gràc Hâl, Orkfürst
Eshkara, Druidin
Drushnak, Blutgrollork
Aktrag, Ork aus Kràg Tahuum
Vraccimbur Schlaufaust aus dem Clan der Immersieger von den Allfünfen, Schaukämpfer
Telìnâs, Elb
Nebtad Sònuk, Srgāláh
Icuriàs, Meldrith & Vorsteher der Siedlung Therlisôn
Yoldas, Jonate, Nurhan; Parsoi Khi
Todesschwinge, Flugmahr
Arima: Hauptinsel von Undarimar
Dsôn Khamateion: das Reich der Albae im Braunen Gebirge
Enaiko: die Stadt des Wissens im Süden des Geborgenen Landes
Gautaya: Kaiserreich in Gauragon
Kràg Tahuum: Orkfestung in der Mitte des Geborgenen Landes
Landsriegel: elftausend Schritt hoher Berg
Platinglanze: zwergische Wehrsiedlung am Fuße des Grauen Gebirges
Therlisôn: Wohnsiedlung der Meldrith
Towan: Fluss im Norden des Geborgenen Landes
Undarimar: Meeresreich im Westen des Geborgenen Landes
Bastardpony: übergroßes, robustes Pony
Blutgrollorks: Bestien im Jenseitigen Land
Cadengis: der gefährlichste Gott der Cadengi, deren Glaube in Brigantia verbreitet ist
Cadengis Mutter: a. die gefährlichste Göttin der Cadengi, b. beliebter Fluch
Doulia: Menschen aus dem Jenseitigen Land, die sich freiwillig als Sklaven andienen
Feuerfresser: Bezeichnung der Bestien in den Lavafeldern im Norden von Gauragon
Lurco: Pflanze, die vom magischen Feld in fleischfressende Kreatur verwandelt wurde
Meldrith: Personen mit einem albischen und einem elbischen Elternteil
Panzerfische: große Fische im Binnenmeer
Parsoi Khi: magiesensitives Volk
Ragana: Moorhexen
Rhamak: Seelenrufer
Salzseeorks: Bestien in den Salzwüsten im Kaiserreich Gautaya
Srgāláh: humanoides Wesen mit Hundekopf
Wandelnder Turm/Acront: riesige Kriegerkreatur, die Bestien jagt
Adlata: Gehilfin
Aprendisa: Lehrling
Famula/-us: magisch begabter Mensch in Ausbildung
Fîndaii: Leibwache und Eliteeinheit der Kaiserin
Ganyeios: Titel des Herrschers von Khamateion
Kisâri: Titel, Kaiserin der Elben
Magus/Maga: Zauberer/Zauberin
Nuntios: gauragonisch-königlicher Postbediensteter
Omuthan: Fürst (von Brigantia)
Tharka: Sondereinheit der Dritten für die erste Schlachtreihe
Zhussa: Zauberkundige der Albae
Zolonarius: Zöllner
Elriahaube: Taucherglocke
Gunibur und Ganibur: schwere Federkatapulte der Zwerge
Hausberge: Gemeinschaftswohngebäude der Meldrith
Priem: Kautabak
Rauchwölfe: Wölfe, die sich mehrere Herzschläge lang als Nebel und Rauch tarnen können
Schnelltunnel: unterirdische Verbindungsstrecken im Zwergenreich, die früher durchs gesamte Geborgene Land führten
Bläulicher Gesteinstaub waberte im Gewölbe umher, aus dessen Ecken steinerne Zwergengesichter mit grimmigen Granitaugen herabblickten. Das Schlagen des Hammers und das grelle Klirren des Spitzeisens, das über halbweichen Stein schrammte, schallten unaufhörlich und in rascher Folge.
Baëndala Zweiklingenhand aus dem Clan der Axtschwinger vom Stamm der Zweiten bearbeitete die zwei Schritt hohe Steinskulptur mit schnellen, sicheren Bewegungen. Gelegentlich stieg sie auf eine Trittleiter, um bald hier, bald dort Änderungen an ihrem Werk vorzunehmen.
Beleuchtet wurde der von ihr behauene Stein von dunkelgoldenen Sonnenstrahlen, die durch exakt gebohrte Lichtlöcher hereinfielen, sodass kein störender Schatten auf der Oberfläche entstand. Reichte die Kraft des Gestirns nicht mehr aus, wurden starke Blendlaternen entfacht und über ein Deckenschienennetz in die richtige Position bugsiert.
Auf dem glatten Boden um Baëndala herum lagen abgeschlagene Gesteinsbröckchen. Verschiedene große Meißel sowie Hämmer lagerten griffbereit und in genauer Anordnung auf dem Beistelltisch. Bisweilen wechselte sie abrupt das Werkzeug, je nachdem, wonach die Bearbeitung des Kunstwerks verlangte. Kleinere Meißel und Hämmerchen für rasch geschabte Feinheiten trug sie in Gürtelhalterungen bei sich.
Baëndalas dunkelbraune Augen mit dem rötlichen Schimmer blieben dabei stets auf die Skulptur gerichtet, ihr Blick war voller Aufmerksamkeit und Entrückung. Auf Händen und Gesicht hatte sich ebenso blaues Steinmehl niedergelassen wie auf ihrem groben Leinenkleid und der Lederschürze.
Seit zwei Umläufen tat Baëndala nichts anderes.
Sie ging vollends in ihrem Tun auf, hatte alles und jeden um sich herum vergessen. Sie interessierte sich nicht für das Dutzend festlich gewandeter Zwerginnen und Zwerge, die an den Rändern des Raumes standen, kostbares Räucherwerk verbrannten und leise Hymnen zu Ehren von Vraccas sangen. Der Chor war bereits mehrmals ausgetauscht worden, da selbst die geübtesten Stimmen über diese lange Zeit ermüdeten.
Aber Baëndala konnte nichts in ihrem manischen Treiben bremsen.
Schweißflecken hatten sich unter ihren Armen und auf dem Rücken gebildet, das Tuch vor ihrer Nase schützte Hals und Lunge vor Feinstaub. Ein, zwei Kratzer in ihrem freundlichen Gesicht stammten von abgesprengten Steinstückchen. Vom Kuss des Blauen Gebirges.
Mit einem Handblasebalg pustete Baëndala Steinstaub von den Feinheiten, damit ihr nichts entging. Erneut wechselte sie daraufhin die Werkzeuge, bevor sie weitermachte. Dieses Mal nutzte sie einen skalpelldünnen Meißel und korrigierte einige Stellen, erklomm die Trittleiter und nahm letzte Veränderungen an ihrem Werk vor.
Dann steckte sie Hammer und Meißel behutsam in die Gürtelhalterung, sackte erschöpft auf der oberen Stufe der Leiter zusammen und lächelte erlöst.
»Vollbracht«, raunte sie. Ihr Blick klarte auf, das Rötliche in den Pupillen schwand ebenso wie die Besessenheit ihrer Handgriffe. »Vraccas’ Botschaft an uns ist fertig.«
Zufrieden legte sie ihre schwielenübersäte, bandagierte Rechte auf die Stele, die sie in diesem Moment zum ersten Mal richtig wahrnahm. Bis jetzt hatte Vraccas selbst ihr die Eingebung dazu geschenkt und ihre Finger geführt, sie zu seinem Werkzeug gemacht.
Der begleitende Chor beendete das hymnische Singen mit einem letzten Akkord, der langsam im Raum verebbte.
»Hier.« Gondrabur Metzhammer aus dem Clan der Steinstichler brachte ihr einen vollen Trinkbeutel mit gezuckertem Schwarztee. Der ältere, grauhaarige Zwerg gehörte zu den besten Steingraveuren ihrer Zunft und hatte Baëndala ausgebildet, bevor sie selbst zu einer Meisterin geworden war. Auch er hatte gesungen. »Stärke dich damit ein wenig, bevor du dein verdientes Mahl bekommst. Nicht dass du vor Entkräftung vorher zusammenbrichst.«
Der Chor trat ehrfürchtig näher an das fertige Werk und stellte die Weihrauchschalen auf die vorgesehenen Steinhalterungen im Raum.
»Der göttliche Rausch hielt dieses Mal sehr lange an. Erkläre, was der ewige Schmied uns durch dich wissen lassen möchte«, bat Gondrabur und betrachtete das Kunstwerk respektvoll. »Was kommt auf uns zu? Müssen wir uns sorgen?«
Baëndala wischte sich Schweiß vom Gesicht, zog das Tuch von Mund und Nase. »Gebt mir einige Augenblicke. Ich verdurste sonst vor euren Augen.« Die Trance, der Rausch des Göttlichen, verlangte Tribut. In einem langen Zug trank sie den Schlauch leer. Der gezuckerte Schwarztee war nahezu ihre einzige Nahrung während der Arbeit, darüber hinaus hatte sie zwei Umläufe kaum etwas zu sich genommen. Sie hustete trocken und sah auf den bearbeiteten Blaugranitblock, der sich unter ihren Händen in etwas Neues verwandelt hatte. »Es sind viel Ozeankreide und Lapislazuli im Blaugranit enthalten, der Staub entzog mir viel Wasser. Ich fühle mich wie ein Dörrfisch.«
Die Zwerginnen und Zwerge um sie herum lachten leise.
Seit vielen Zyklen erhielt Baëndala göttliche Eingebungen von Vraccas. In heiligem Furor griff sie dann zu Meißeln und Hämmern und suchte einen Stein aus, um ihn neu zu formen und die Botschaft ihres Schöpfers herauszuarbeiten. Bevor diese nicht vollständig abgebildet war, vermochte sie nicht aufzuhören, was sie entkräftete, ihren Körper beanspruchte und ihr Blessuren bescherte. Schnitte vom Stein, blutige Blasen, aufgeschürfte Haut, geschwollene Gelenke. Handschuhe, Bandagen und Tücher schützten sie nur leidlich.
Da die Zweiten als die besten Steinmetze unter den fünf Stämmen galten, waren die Ansprüche an ihr Schaffen hoch. Mal waren es Symbole, mal Runen, die Baëndala in ihrem Rausch erschuf; mal grub sie einzelne Figuren und mal ganze Szenen aus dem Gestein. Manchmal blieb es bei behauenen Steinbrocken, mal erzeugte sie säulenhohe Kunstwerke.
Im Anschluss oblag es ihr, die Botschaften zu deuten und zu verstehen. Oftmals hatte ihnen Vraccas auf diese Weise in der Vergangenheit Zeichen gegeben, um Gefahren für das Blaue Gebirge zu erkennen, Entscheidungen zu treffen oder sie seines unerschütterlichen Beistands zu versichern, trotz der schwierigen Lage, in der sich das Geborgene Land befand.
Manche nannten Baëndala eine Hohepriesterin, aber sie selbst lehnte dies ab. Sie arbeitete als Gildenmeisterin der Steinmetzzunft in den Siedlungen und überwachte seit etlichen Zyklen den Neubau der äußeren Festungsanlage Beilstein. Mit dem Einzug ins Blaue Gebirge hatte sich die Aufmerksamkeit des Stammes zunehmend auf Arbeiten im Innern der vorhandenen Stollen, Gänge und Hallen verlagert.
»Also, schön. Nehmen wir in Augenschein, was Vraccas uns wissen ließ.« Baëndala erhob sich mit einem leisen Ächzen von der obersten Trittstufe und gesellte sich zu den übrigen Zwerginnen und Zwergen.
Gemeinsam umrundeten sie die Stele, betrachteten die akkurat gearbeiteten Szenen, die detaillierten Figuren und sorgsam geschlagenen Runen. Sie suchten nach einem Hinweis auf eine Reihenfolge, in der die Botschaft zu lesen sei. Zwei Schreiber griffen derweil zu Feder und Papier, die neben dem Tintenfass auf einer umgehängten Schreibunterlage ruhten, um jedes Wort aufzuzeichnen.
Für Baëndala war es, als sähe sie das Werk zum ersten Mal, sie staunte und wunderte sich ebenso wie die anderen. Durch den heiligen Furor, die göttliche Trance, erinnerte sie sich an keinen einzigen Hammerschlag.
»Ich glaube, ich erkenne die Anordnung«, sagte sie nach einer Weile. »Das ist Borkon Gràc Hâl.« Sie zeigte auf die fingergroße Orkfigur, über deren Haut sich feine Tätowierungen zogen. »Er spricht zu den Seinen und hält sie in der Salzsee versammelt.« Sie fuhr mit ihren aufgescheuerten Kuppen über die angedeuteten Orkköpfe. »Er macht sich bereit, etwas Neues anzustoßen.«
»Dann sollten wir aufmerksam bleiben«, murmelte Gondrabur. »Was siehst du noch?«
Baëndala umkreiste die Stele. »Da ist ein junger Mensch von zweifacher Gestalt«, sprach sie rätselnd. »Einmal mit Locken und von geradem Wuchs, dann als missgestalteter älterer Mann.« Sie blickte sich verwundert um. »Hat jemand dazu eine Idee? Irgendein Gerücht, eine Neuigkeit, die hilft?«
Alle schüttelten die Köpfe.
»Gut. Dann weiter.« Baëndala kreiste erneut. »Hier ist ein Loch. Ein tiefes Loch in der Erde, und am anderen Ende lebt ein« – sie fuhr mit den Fingern über die vage herausgearbeiteten Formen –, »lebt … irgendwas. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber es ist groß. Riesig sogar!« Ihre dunkelbraunen Augen richteten sich auf die Doppelgestalt. »Seht ihr, dass der junge Mensch es bedroht?«
»Er alleine?«, vergewisserte sich Gondrabur.
»Ja. Er allein. Er allein vermag es mit dem Wesen aufzunehmen. Und ich glaube, Vraccas will uns vor dem Geschöpf unter der Erde warnen.«
»Jetzt müssten wir nur noch wissen, wo dieses Loch ist.« Gondrabur sah grübelnd in die Runde. »Und dieser junge Mensch muss beschützt werden. Ist das Vraccas’ Rat?«
Baëndala wiegte nachdenklich den Kopf und zog das Tuch von ihren kurzen, braunen Haaren, blauer Staub flirrte im Licht. »Ich bin nicht sicher. Aber er ist wichtig für das Geborgene Land. Das steht fest.« Sie folgte der Linie weiter. »Seht ihr? Denn wenn dieses Wesen ausbricht, wird es ganze Landstriche verwüsten.« Sie richtete den Blick erneut auf die Figur des jungen Mannes. »Er ist ein Fremder. Nicht von hier, nicht aus dem Geborgenen Land.«
»Es gibt Tausende, auf die das zutrifft«, sprach Gondrabur stöhnend. »Keine echte Hilfe. Es wäre einfacher, wenn wir das Loch ausfindig machen könnten.«
Dafür bekam er die Zustimmung der Umstehenden.
Baëndala war sich nicht sicher, ob eine schwache Linie im Lapislazuli eine Verbindung zwischen Borkon und dem Wesen darstellen sollte. Oder ist es nur ein unsauberer Grat? Sie verschwieg ihre Überlegung.
»Ein Loch in der Erde demnach«, sagte sie.
»Oder unter dem Meer«, gab Gondrabur zu bedenken.
»Bei Vraccas! Das wäre ein Fall für die Ersten. Ich habe gehört, sie haben große Erfolge mit ihrem Tauchboot«, ergänzte eine Zwergin aus dem Chor. »Mich bekommen keine zehn Nachtmahre unter Wasser. Elrias Fluch wird mich nicht ersäufen.«
Unter dem Lachen der Versammelten setzte Baëndala ihre Sichtung fort.
Es gab noch mehrmals Hinweise auf den jungen Mann – und auch auf einen Zwerg, der eine Rolle spielen sollte.
Oh, nein! Ausgerechnet bei seiner detaillierten Darstellung war ein Stück Stein abgeplatzt, der Kopf und Teile des Oberkörpers fehlten. Sosehr sie sich auf dem Boden umschaute, sie fand keine Spur. Oder bedeutet dies, dass noch nicht feststeht, wer von unserem Volk das sein soll?
»Bei Vraccas! Seht doch!«, rief Gondrabur aufgeregt von der Trittleiter herab. »Das sind … noch mehr Orks!«
Baëndala stieg mit schweren Gliedern die Stufen hinauf und besah sich die Szene, welche ihr Vraccas gesandt hatte.
Es waren ohne Zweifel Bestien. Und zwar sehr viele Bestien, die sich durch einen Gebirgsstollen schlichen. Welches Gebirge? Wo fallen sie ein?
»Sie müssen von außen einen Zugang gefunden haben«, murmelte sie und betrachtete die Darstellung. Und entdeckte einen entscheidenden Hinweis. »Mögen die Stollen über ihnen zusammenbrechen: Das ist bei uns!«, stieß Baëndala alarmiert aus. »Ich erkenne die Verzierungen wieder. Die Orks nähern sich durch die alte Halle der Trauer!«
»Das kann nicht sein. Es ist alles eingestürzt und durch Tungdils Plan gesichert«, widersprach Gondrabur hoffnungsvoll. »Die Schweineschnauzen kommen nicht durch.«
»Vraccas sandte uns die Warnung nicht umsonst. Mag sein, dass es morgen so weit ist oder in hundert Umläufen. Doch sie werden erscheinen. Das ist gewiss.« Baëndala legte die Fingerkuppen der Linken gegen das Relief. »Schickt die Nachricht an Königin Gwendalyn. Sie soll sofort Kundschafter in die Halle der Trauer aussenden. Die Höhle muss überwacht werden. Und von dort aus suchen wir nach Durchbrüchen, die …« Sie winkte ab. »Nein, lasst es. Ich gehe selbst und sehe nach. Drei Dutzend Bewaffnete sollten als Begleittruppe genügen. Stoßen wir auf Bestien, senden wir unverzüglich einen Boten.«
»Du selbst?« Gondrabur tauschte einen Blick mit den Versammelten. »Aber … da ist keine Zwergin in der Szene eingemeißelt. Vraccas hat dich nicht vorgesehen.«
Baëndala lächelte und deutete auf einen Schatten am Ende des dargestellten Ganges, durch den die Orks kommen würden. »Sieh doch. Das bin bestimmt ich, alter Meister. Notfalls nehme ich meinen Bruder mit. Der wird mich verteidigen, wie du weißt.«
»Nein, er wird bleiben, wo er ist. Das ist für uns alle sicherer. Auch für ihn«, entgegnete Gondrabur. »Alsdann. Ich unterrichte die Königin von Vraccas’ Zeichen, die er uns durch dich sandte.« Er warf einen langen Blick auf die zwei Schritt hohe Stele. »Haben wir etwas übersehen?«
Baëndala dachte an die Linie von dem Loch, das sich irgendwo im Geborgenen Land befand, hinüber zu Borkon. Sie schwieg weiterhin. Erst muss ich in der Halle der Trauer nach dem Rechten sehen.
»Du Berg, der blieb, da die Gebirge kamen,
Hang ohne Städte, Gipfel ohne Namen,
ewiger Schnee, in dem die Sterne strahlen,
und Träger jener Täler, die mit Blumen prahlen.
Ist im Basalte ein noch ungefundenes Metall?
Bringst gar den Hochmütigsten zu Fall.«
Aus: Der Berg
von Raingar Rilkbur aus dem Clan der Reimreiher vom Stamm der Vierten
Doria Rodana von Psalí betrachtete ihre Aufzeichnungen, die ihr dabei helfen sollten, ein neues Theaterstück für das eigene Puppenspiel zu entwerfen. Die unzähligen vollgekritzelten Blätter lagen verstreut auf dem Arbeitstisch ihrer kleinen Werkstatt, in der sie das Schnitzen der Stöcke, das Ausschneiden der Schablonen, das Anmalen der Figuren und Marionetten sowie sämtliche Arbeiten an Bühne und Staffage vornahm.
Aber richtig voran kam sie nicht.
Das lag nicht nur an der vorsommerlichen Hitze, die drückend auf der Stadt lag und vom Wind noch in den letzten schattigen Winkel getragen wurde. Wegen der Temperatur trug die zierliche junge Frau nur ein leichtes Untergewand, darüber eine Schürze gegen Tintenflecke und Farbspritzer.
Was ist nur los? Wieso gelingt es mir nicht?
Leise klimperte das metallene Musikwalzenspiel auf der Anrichte ein Lied, in das sich sanfte dunkle Töne des Holzwindspiels vor dem Fenster mischten.
Was Rodana normalerweise in eine passende Stimmung versetzte, nervte sie heute. Sie erhob sich vom Stuhl und ging zum mechanischen Abspielgerät, blockierte den Federantrieb mit dem vorgesehenen Haltbolzen. Ein letztes Pling wie zum Trotz, und nur das leise, unrhythmische Klingen des Windspiels blieb.
Straßengeräusche drangen durch die halb geschlossenen Läden, die zwar die Sonnenstrahlen abhielten, nicht aber die absonderliche Hitze, die durch die Gassen, Straßen und über die Plätze auf den acht Hügeln waberte. Das Curiosum, Rodanas Schattenspiel- und Figurentheater, befand sich auf dem Hauptmarktplatz der zweiten Erhebung.
Die Stadt war zu Ehren von Mallenia von Idoslân vor mehr als siebenhundert Zyklen gegründet worden. Schwere Befestigungen mit Wehrtürmen, Schleudern und Katapulten garantierten die Unabhängigkeit der Stadt im Vereinten Großkönigreich Gauragon. Jeder Eroberungsversuch in der Vergangenheit war dank ihnen abgeschmettert worden.
Zweihunderttausend Einwohner zählte Malleniaswacht, verteilt über acht Hügel, aber der Platz reichte nicht aus, sodass der Senat weiteren Zuzug untersagt hatte. Schwere Verbrechen geschahen trotz der Menge an Menschen selten. Neben ihnen gab es eine große Zwergengemeinschaft; auch Meldrith, Elben und Parsoi Khi wohnten in Malleniaswacht.
Und sie alle wollen meine Stücke sehen. Rodana goss gezuckertes Blütenwasser aus der Tonkaraffe in einen Glasbecher und begab sich damit an die angelehnte Werkstatttür, um von der Schwelle den Blick aus ihren hellgrünen Augen schweifen zu lassen.
Die Unterhaltungen und das Gelächter der Vorbeigehenden, das Rattern von Fuhrwerken und Klappern der Hufe waren seltener als sonst. Niemand wollte unter das sengende Gestirn treten, wenn es nicht sein musste. Die Kaufleute und Händler hatten ihre Marktstände längst abgebaut und waren in die schützenden Schatten geflüchtet.
Rodana wurde von Passanten gegrüßt und freundlich angelächelt. Sie prostete mit dem Becher in ihrer Hand zurück und erwiderte die Segenswünsche; dabei strich sie die kinnlangen blonden Haare hinter die Ohren. Ihre Fingerspitzen und die Lippen waren schwarz, wie angemalt – eine Pigmentstörung in ihrer hellbraunen Haut.
Das neue Stück des Curiosum hatte sie für den Abend in sieben Umläufen angekündigt. Dabei stand nicht einmal der grobe Handlungsrahmen. Warum habe ich mich dazu verleiten lassen?
Es sollte einmal mehr um Mostro gehen, den Famulus, der sich selbst großspurig Magus nannte und im weit entfernten Gebiet der Wunder hockte, wo er seine eigene Zauberschule errichtet hatte.
Rodana verachtete, verabscheute ihn.
Der selbstverliebte Famulus hatte einen beachtlichen Anteil an dem Unglück, das ihr und ihrer jugendlichen Aprendisa vor nicht allzu langer Zeit widerfahren war. Chòldunja hatte es letztlich das Leben gekostet.
Dass Rodana noch lebte, verdankte sie tapferen Zwergen.
Ich werde ihm niemals vergeben. Sie nutzte das Curiosum, um Mostro mittels Geschichten auf unterhaltsame Weise bloßzustellen, lächerlich zu machen und die Menschen pausenlos zu mahnen, diesem Mann niemals zu trauen. Er steckt voller Feigheit und Hinterlist.
Was sie in ihren Stücken verschwieg, war, dass Mostro einen Mann namens Hantu auf magische Weise versteckt hielt. Der verstand sich auf eine schreckliche, besondere Form der Magie. Das jedoch blieb ein Geheimnis von einigen Wenigen.
Wir müssen beide aufhalten. Dafür sorge ich. Rodana nahm einen Schluck Blütenwasser, das warm in ihren Mund schwappte, als wäre es vor einer Weile erst aufgekocht worden.
»Wie nachdenklich du dastehst«, rief Goïmron von der Seite und kam durch den spärlichen Schatten des Marktplatzes auf sie zu. Von Weitem wirkte er wie ein klein geratener, junger Mensch. Er war aus dem Stamm der Vierten und damit von schmächtigerer Natur als andere Zwerge. »Solltest du nicht am Stück arbeiten?« Trotz der Hitze hatte er sich für Hose, Hemd und Wams entschieden, alles in hellem Grau und Weiß gehalten und aus teurer Seide geschneidert; sie kühlte immerhin etwas. Die schwarzen lockigen Haare und Koteletten trug er kurz, ein breitkrempiger Strohhut schützte das Gesicht vor der Sonne. In seiner Rechten hielt er einen geschlossenen Korb. »Ich habe dir etwas zur Stärkung mitgebracht.«
Rodana umarmte ihn zur Begrüßung. »Das ist sehr lieb von dir.« Sie trat einladend zur Seite. »Leiste mir Gesellschaft.«
Goïmron stellte das geflochtene Behältnis seufzend vor ihr ab. Durch den Deckel duftete es verlockend nach frischem Buttergebäck, erste Wespen summten heran. »Das geht nicht. Leider. Ich muss noch Gemmen und Figürchen schnitzen. Oh, und Halbedelsteine in Drachenfassungen setzen! Die gehen einfach zu gut weg. Meister Funkelstein ist mehr als glücklich mit mir.« Man sah an Goïmrons teurer Kleidung, die eine Nummer größer ausfiel als im letzten Frühjahr, dass sein Geschäft mit den Sammelstücken brummte. Sie alle kündeten von den wichtigen Ereignissen des letzten halben Zyklus im Geborgenen Land, an denen Goïmron selbst Anteil gehabt hatte. Verschiedenste Artefakte, diverse Heldinnen und Helden, sogar Bösewichte gab es in Miniaturausgaben, als Gemmen und Kameen zu erwerben, von günstig bis verschwenderisch teuer. »Heute Abend auf einen Wein? Dann besprechen wir, welche Figürchen ich zu deinem neuen Stück anfertigen kann.«
Rodana überspielte ihre Enttäuschung. Ablenkung wäre ihr gerade sehr gelegen gekommen. »Gut. Einverstanden.« Sie wusste, dass Goïmron gerne mehr für sie wäre als ein enger Vertrauter, doch etwas in ihr konnte jene Barriere, die Freundschaft und Liebe trennte, nicht überwinden, so leid es ihr tat. Einen anderen Mann gab es nicht in ihrem Leben, obgleich die Auswahl an Verehrern, die regelmäßig Briefe schrieben und Geschenke sandten, um ihre Gunst zu gewinnen, nicht gering war. Es kümmerte sie nicht, dass sich darunter auch Reiche und Mächtige befanden. »Wenn das so weitergeht, muss ich das angekündigte Stück verschieben.«
Goïmron hob die Augenbrauen. »Was ist los? Fehlt dir Schnitzmaterial?« Durch die durchbrochenen Stellen in seinem Strohhut fielen vereinzelte Sonnenstrahlen auf die hellen vernarbten Stellen im Gesicht und am Hals. Szmajros heißes Drachenblut hatte Goïmron im Kampf getroffen und auf ewig verbrannt. Er trug die Wundmale mit Stolz. »Oder etwas für die Bühne?«
»Auch. Ich brauche unbedingt Arvenholz, und das wächst nicht in der Gegend rund um Malleniaswacht. Es wird eine längere Reise in den Norden«, antwortete Rodana niedergeschlagen. »Aber die Wahrheit ist: Ich bekomme meine vielen Einfälle nicht geordnet. Nicht sinnvoll zumindest.«
»Oje.« Goïmron sah abschätzend über den Tisch mit den verteilten Zetteln. »Geht es schon wieder um Mostro?«
»Ja.«
»Verstehe.« Er schnalzte mit der Zunge. »Wieso versuchst du nicht, etwas von Tungdil Goldhands Erinnerungen umzusetzen? Das spricht auch die Zuschauer …«
»Spectatores.«
»… die Spectatores mehr an. Anstatt sich anzusehen, wie du gegen den Famulus stichelst«, sagte Goïmron. »Bedenke: Meister Goldhand ist eine Legende! Und seine Abenteuer in der Schwarzen Schlucht werden begierig vernommen. Doch das Geborgene Land weiß so gut wie nichts davon.« Er nahm ein seidenes Taschentuch aus dem Wams und tupfte sich den Schweiß von der Stirn, der unter dem Strohhutrand hervorsickerte. »Das ist auch leichter, was die Texte angeht. Die Zuscha… Spectatores wollen mehr davon.«
Rodana hörte den mitschwingenden Vorwurf. Sie konnte ihn sogar nachvollziehen. Aber sie verfolgte eine selbst auferlegte Aufgabe, und die lautete: Mostro zu Fall bringen. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind und jedes Lebewesen mit Verstand sollten den Famulus hassen. So sehr wie ich.
»Ach, Meister Goldhand erzählt seine Abenteuer doch unentwegt in den Schänken von Malleniaswacht. Bald kennen alle acht Hügel seine Geschichten«, wehrte sie ab. »Und jeder ein bisschen anders. Weil sein Gedächtnis nachlässt.«
Rodana wusste, dass sich der größte und älteste Held des Zwergenvolks wie eine Last fühlte. Seine geistigen Aussetzer häuften sich. Ihr gegenüber hatte Goldhand mehrmals betont, dass er sich nach Malleniaswacht abgeschoben fühlte, während das Ansehen seines Volkes im Land stieg und die Besiedlung der Gebirge von Neuem begann. Er wartete auf eine Einladung, daran teilzuhaben, doch die kam nicht. Mehr als einmal hatte er nach vier, fünf Bier betrübt davon gesprochen, in der falschen Zeit zu leben, seine Aufgabe erfüllt zu haben und in die Ewige Schmiede ziehen zu wollen.
Er hat es wahrlich nicht leicht. Rodana fühlte Mitleid mit dem uralten Zwerg, der seit mehr als eintausendzweihundert Zyklen lebte.
»Es ist vornehmlich das albische Gift, das ihm zu schaffen macht. Danach erst das Alter«, sagte Goïmron freundlich, doch bestimmt. »Ich habe viel von seinen Erzählungen aufgeschrieben, nachdem ich seinen ersten Buchentwurf in Hammerheim zurückließ. Die Aufzeichnungen kann ich dir gerne zur Inspiration überlassen.«
»Ich überlege es mir.« Rodana hob den Korb an und klappte ihn mit dem Becher in der Hand auf, blickte hinein. »Butterküchlein, Hefeknirpse und Süßbrot!«, rief sie erfreut. »Du meine Güte! So viel? Davon werde ich mich zwei Umläufe ernähren können.«
»Oder einmal tüchtig wie ein Zwerg essen«, erwiderte Goïmron und klopfte sich auf sein leicht wölbendes Bäuchlein. »Du brauchst Kraft. Zum Denken und Entwerfen. Zucker und Butter in deinem Magen helfen ganz sicher dabei.«
Rodana lachte. »Und dann rollen wir durch die Straßen der acht Hügel wie die Fässchen, was?«
»Gutes Stichwort! Ich bringe dir noch ein Fässchen Starkbier! Das regt die Gedanken an.« Goïmron umarmte sie zum Abschied. »Bis heute Abend. Ich hole dich ab, sobald ich mit den Figürchen fertig bin.« Unvermittelt kramte er einen roten Karfunkel und einen rotbraunen Nephrit aus der Tasche, präsentierte sie auf den Handflächen. »Ehe ich es vergesse: Welcher von denen passt besser zum Drachenfigürchen? Mir gehen die Bergkristalle aus.«
Rodana tippte auf den Nephrit, und der Zwerg nickte dankend für die Entscheidungshilfe.
»Was läuft am besten von allem?«, fragte sie.
»Der geflügelte Onyx-Nachtmahr mit Augen aus loderndem Granat. Aus welchem Grund auch immer man solche Bestien mag.« Goïmron schob den Strohhut zurecht und ging los. »Vraccas sende dir reichlich Eingebung!«
»Wieso denn Vraccas? Als würde ich schmieden!« Rodana sah ihm lachend nach und stellte den Becher zur Seite. Sie wählte einen Hefeknirps aus, um herzhaft hineinzubeißen, und drehte sich zu ihrer Werkstatt um. Wobei, ich versuche ja, Sätze zu schmieden. Dann passt es doch.
Der Geschmack von Butterkaramell, Hefe und bestem Mehl breitete sich an ihrem Gaumen aus. Sie seufzte wohlig, während sie überlegte, ob sie noch etwas von der Hagebuttenkirschmarmelade dahatte. Die würde perfekt passen.
»Verzeih, aber sag: Bin ich zu spät für den Markt?«
Die brüchige Stimme hinter ihr ließ Rodana innehalten und sich umdrehen.
An ihrer Werkstatttür stand eine betagte Frau mit abgetragener Leinenkleidung, die etliche bunte Flicken aufwies. Unter dem weißen Kopftuch spitzten silbergraue Haare hervor. Die Falten im Gesicht und die Bräune ihrer Haut sprachen für lange Aufenthalte im Freien.
»Der Markt?« Rodana trat zu ihr und roch den Schweiß der Unbekannten. An diesen drückend heißen Umläufen konnte sie es niemandem verdenken. »Ja, der ist vorüber. Ich hoffe, du hast nichts Verderbliches, das du feilbieten wolltest.«
»Oy, bei den bösartigen Göttern aus alten Zeiten!« Die ältere Frau, die seit sechzig Zyklen leben mochte, verzog die faltigen Mundwinkel. »Und ich sputete und verausgabte mich noch in der dämonischen Hitze. Für nichts und wieder nichts!« Wirkte ihr Gesichtsausdruck auch müde und erschöpft, so funkelten die braungrüngelben Augen doch wach und aufmerksam.
Rodana füllte einen zweiten Glasbecher mit gezuckertem Blütenwasser und reichte ihn ihr. »Morgen früh ist wieder Markt. Gleich bei Sonnenaufgang kommen die Ersten zum Einkaufen. Ist deine Ware bis dahin noch frisch?«
In einem Zug wurde der Becher geleert. »Palandiell segne dich, mein Kind«, stieß die Alte glücklich aus und ließ sich nachschenken, wischte sich die Lippen mit dem schmutzigen Ärmel ab. »So viel besser als warm-trübes Wasser aus einer Tränke, aus der schon die Pferde soffen. Geld für anderes konnt’ ich mir noch nicht verdienen.« Kichernd trank sie erneut. »Nein, es ist nichts Verderbliches, was ich führe.« Sie sah sich um. »Zimànja ist mein Name. Und deiner?«
»Rodana.«
»Du verkaufst Puppen und Marionetten, was?« Zimànja deutete mit dem Finger durch die Werkstatt. »Spielkram. Gute Wahl. Kinder hat’s im überquellenden Malleniaswacht wie Kiesel im Flussbett, was ich gesehen habe. Ich mag die Kleinen.«
Rodana ließ die Alte in ihrem Glauben. Sie wollte nicht erklären müssen, was sie wirklich tat, und Fragen zum Curiosum beantworten. »So in etwa«, antwortete sie vage. »Woher kommst du?«
»Von nirgends. Ich ziehe, solang ich denken kann, durch das Großkönigreich und mache die Menschen überall glücklich.« Zimànja lachte leise. »Für dich tue ich das ohne Entgelt.« Sie wackelte mit dem Glasbecher und nahm einen weiteren großen Schluck. »Weil du mich nicht hast darben lassen.«
»Und wie könntest du das wohl anstellen?« Rodana war amüsiert von der wunderlichen Alten, die mit den Augen rollte, wenn sie sprach. »Bist du eine Geschichtenerzählerin?«
»Macht man damit Menschen glücklich?«
»Einige schon.«
»Oy, einige! Aha.« Zimànja stellte das leere Behältnis hart auf der Werkbank ab. »Das ist mir zu unsicher, was mein Einkommen angeht. Sind’s nur einige wenige, verdien ich keine Münzen. Warte. Ich zeig’s dir. Dann verstehst du.« Sie verschwand hinaus ins Freie und schob nach wenigen Herzschlägen einen schmalen Handkarren durch die Tür. Leise schepperte und klirrte es aus dem Aufbau, der voller Schubladen und kleiner Schranktüren war. Beherrscht wurde er von einem großen, weißen Schleifstein, der über einen Pedalantrieb in Rotation versetzt werden konnte. »Scheren jeglicher Art und Gebrauchsmesser, dazu Wetzstahl, Putzpaste und was man braucht, um Klingen scharf zu halten.«
»Ah, nun begreife ich es!«, rief Rodana erfreut. »Das trifft sich ausgezeichnet. Ich habe etliche Scheren und Messer, die du schleifen kannst. Ich will dich auch entlohnen.«
Zimànja winkte ab und machte den Schleifstein bereit, gab einen Tropfen Öl darauf. »Die freundliche Unterhaltung und dein leckeres Blütenwasser sind mir Lohn genug.« Summend drehte sich der helle Stein um die eigene Achse. Das Geräusch verströmte etwas eigentümlich Hypnotisches. »Gib, was ich schärfer als eine Rasierklinge machen soll. Ich vermag das im Handumdrehen. Morgen kannst du jedem sagen, wie gut mir dies gelingt. Selbst einen Hammer mache ich zu einem Schwert, wenn es sein muss.«
»Gib bitte acht.« Rodana reichte ihr unterschiedliche Scheren an, die sie zum Ausschneiden der papiernen Stabfigürchen und filigranen Kulissen benötigte. Deren Abmessungen gingen bis ins Winzige. »Die sind wertvoll.«
»Oy! Sie sind jedenfalls kleiner als alles, was ich bisher schärfen durfte.« Geschickt drehte, wendete und drückte Zimànja die Schneideflächen auf den kreisenden weißen Stein. Manchmal flogen kleine Funken, es roch nach warmem Metall und Öl und zerriebenem Fels. Jedes Mal, wenn Zimànja ein Werkzeug entgegennahm oder übergab, wirbelte sie damit herum, als wären es Nahkampfwaffen und die flinke Handhabung ein Kinderspiel.
Nach kurzer Zeit hatte die betagte Schleiferin ihre Arbeit erledigt.
Als Rodana die Scheren nacheinander prüfte, fand sie keine einzige Scharte. Dafür waren die Klingen so scharf wie nie. Das Metall glänzte poliert, sodass sie sich darin spiegeln konnte. »Besten Dank! Das ist wundervolle Arbeit.«
»Ich sagte doch: Ich mache Menschen glücklich. Viele. Nicht einige.« Zimànja lächelte und hielt den Schleifstein an, rieb sich die Hände mit einem Lappen aus einer Schublade sauber. »Lass mich dir ein paar Scheren zeigen, die du vielleicht brauchen könntest, bevor ich aufbreche und mir eine Unterkunft suche. Ich habe sie selbst geschmiedet.«
Rodana war beeindruckt. »Gerne.«
Nacheinander zog die Alte die Fächer am Handkarren auf und präsentierte ihre Auswahl. »Blechscheren benötigst du vermutlich eher nicht?«, redete sie dabei halblaut vor sich hin. »Aber eine chirurgische vielleicht? Eine Profilschere? Papierschere? Zackenschere?« Erneut ließ sie die Scheren bei jedem Anheben kreisen und wirbeln, schnippte damit schneller auf und zu, als es das Auge erfasste. »Eine teilbare, die sich leichter von Kleberresten reinigen lässt? Rebschere, Frisurenschere, eine silberne Storchenschere oder lieber« – Zimànja nahm ein größeres Modell heraus, wie es Schafscherer nutzten – »eine Bügelschere womöglich?« Die männerhandlangen, spitz zulaufenden Schneidwangen schnappten zweimal metallisch reibend auf und zu. »Man bekommt damit Äste, Zweige und Knochen durch, so scharf ist sie. Vorausgesetzt, du besitzt genügend Kraft in den Fingern.« Sie deutete auf den unteren Bereich der Schere. »Doppelte Halme. Für mehr Spannung.«
Rodana bestaunte die Auswahl, die sich in dem hohen Aufbau des Handkarrens verborgen hatte. Sie wischte sich eine rollende Schweißperle von der Schläfe. Die Hitze in der Werkstatt schien durch das Schleifen gestiegen zu sein. »Diese Zackenschere könnte ich gebrauchen. Wie viel kostet sie?«
Sofort hob Zimànja das Werkzeug mit der freien Hand an, ließ es mehrmals surrend um Zeige- und Mittelfinger rotieren und hielt es anbietend hin. »Eine Auskunft.«
Rodana stutzte. »Weiter nichts?«
»Weiter nichts.« Der Tonfall der ältlichen Schleiferin war von einem Herzschlag auf den nächsten feindselig geworden. »Wo sind die Habseligkeiten meiner Schwester?«
Rodana wurde die Besucherin unheimlich. »Wen meinst du?«
Das Funkeln in den braungrüngelben Augen wurde zu einem Lodern. Über die wettergegerbten Züge huschte ein stetes Zucken. Mal schwanden die Falten, dann wurden sie tiefer, als könnte sich das Gesicht nicht für eine bleibende Form entscheiden.
»Hat sie einen Namen?«, fragte Rodana vorsichtig.
»Sie war deine Aprendisa und starb in Brigantia, wie ich gehört habe«, erklärte Zimànja drohend. »Während sie dort war. Mit dir. Entspricht dies der Wahrheit?«
Rodana stockte der Atem. Ihr Herz schlug schneller als eine Trommel beim wilden Tanz. Vor ihr saß eine Ragana. Eine ausgebildete Ragana, denen man die grausamsten Dinge und Zauber zuschrieb. »Ja. Aber ich …«
»Was geschah mit ihrem Anhänger? Du weißt genau, welchen ich meine. Er ist Familienbesitz. Es gab Berichte darüber.« Zimànjas Hand mit der Zackenschere schnellte vorwärts. Die Klingen öffneten sich und hielten einen Fingerbreit vor Rodanas Augen an. »Rede! Oder ich zeige dir, wie gut ich den Umgang mit meinen Scheren beherrsche. Nicht nur am Schleifstein.«
Sie sucht den Moordiamanten! In Rodanas Verstand überschlugen sich die Erinnerungen. Natürlich wusste sie, was damit geschehen war: Das magische Artefakt, in dem die unheilvolle Energie von Kinderseelen gespeichert worden war, existierte nicht mehr. Es war im Städtchen Woogentau vernichtet worden. Durch ihre Hand. Mostro hatte den seltenen Edelstein mit der rosafarbenen Verfärbung Chòldunja abgenommen und später verloren, woraufhin Goïmron ihn gefunden und Rodana überlassen hatte. Sie wiederum hatte ihn ins Kohlefeuer eines Ofens geworfen, wo er durch die immense Hitze zersprungen und verbrannt war.
Doch das würde sie der Ragana unmöglich sagen können. Sie bringt mich auf der Stelle um.
Die Zackenschere kam langsam näher, die Metallspitzen rückten dichter an Rodanas empfindliche Augäpfel. »Diese Schere ist verflucht scharf, und ich verliere meine Geduld, Puppenspielerin. Lass mich deine Wimpern stutzen! Aber es könnte sein, dass ich dabei …«
Und plötzlich erschien eine Eingebung in Rodanas Verstand. Aus der Bedrohung ergab sich womöglich eine unerwartete Gelegenheit.
»Der Famulus hat Chòldunjas Amulett! Mostro ist sein Name! Er raubte es deiner Schwester in der Nacht vor unserer Flucht.« Schnell fasste sie zusammen, was damals im Heerlager vor der Schlacht geschehen war. »Seitdem ist es in seinem Besitz. Zusammen mit dem Moordiamanten. Das werden dir genügend andere bestätigen können«, haspelte sie. »Mostro trug es bei der Versammlung in Woogentau vor aller Augen. Es findet sich bestimmt auf den Siegesbildern, die gemalt wurden, um –«
»Wo finde ich den Famulus?«
»Auf dem Gebiet der Wunder. Er errichtete dort eine Zauberschule. Hüte dich vor seiner Macht. Und wenn du ihn tötest, grüße ihn von mir«, sprach Rodana hastig. »Er hat den Tod hundertfach verdient. Doch halte Ausschau nach einem Mann, der sich Hantu nennt. Er ist ein Rhamak. Dein Volk nennt Menschen wie ihn Taikhom. Auch er muss sterben, sonst wird er dich jagen.« Der Schweiß rann unter ihrer Kleidung herab, die Anspannung wollte nicht weichen. Erst wenn die Ragana die Werkstatt verließ, wäre die Gefahr gebannt.
»Oy! Ich sehe, du hast etwas von meiner kleinen Schwester gelernt. Hab Dank für deine Warnung. Aber ich fürchte mich nicht vor Zauberern, ganz gleich, welche billigen Tricks sie nutzen.« Zimànja lächelte grausam. »Ich werde beide töten und sie von dir grüßen. Aber sollte sich herausstellen, dass du mich angelogen hast, kehre ich zu dir zurück.« Langsam zog sie die Schere weg, wirbelte sie und warf sie in Rodanas Schoß. »Da. Als Andenken an mich. Und an das Versprechen einer Ragana Serdituu.« Sie wandte sich zu ihrem Handkarren um.
Dadurch wurde Rodanas Blick auf den Eingang der Werkstatt frei.
Auf der Schwelle standen drei kreidebleiche Stadtwachen, die offenbar lauschend ausgeharrt hatten und nun langsam ihre Schwerter zogen. Behutsam traten sie ein.
»Keine von euch bewegt sich«, befahl der anführende Obgardist mit zittriger Stimme. »Ihr seid verhaftet. Beide!« Sein Blick richtete sich auf die Puppenspielerin. »Dann stimmt es also doch: Du bist eine Freundin der Kinderfresserinnen! Bist ihre Spionin bei uns!«
»Nein! Nein, das missverstehst du!«, beteuerte Rodana. »Sie kam zu mir, um …«
Zimànja machte nur einen Schritt und stand plötzlich mitten zwischen den drei gerüsteten Männern, als wäre sie in der Lage, mit den Stiefeln mehr Raum als gewöhnliche Menschen zu greifen; im Vorbeigehen nahm sie eine zweite, spitz zulaufende Bügelschere aus dem Handkarren. Sie wich den ungezielten Stichen und Hieben der Gardisten aus und schloss die Tür mit einem Tritt hinter sich, damit niemand von außen etwas sah.
»Man lauscht nicht«, sprach sie strafend zu den Männern. »Hat euch das niemand beigebracht?« Sie ließ die Bügelscheren mit einem wilden Lachen um die Finger kreisen und zuschnappen. »Ich erteile euch eine Lektion, bei der euch Hören und Sehen vergeht – für immer!«
Was dann geschah, ging schneller vonstatten, als es von Rodanas Augen erfasst werden konnte. Die Scheren schnappten schleifend und rasend schnell zu, und schon sprühte das Blut aus den Hälsen der Gardisten.
Die Männer taumelten und torkelten ächzend durch die Werkstatt. Offenbar hatten sie noch nicht begriffen, dass sie tödlich verletzt waren und einer überlegenen Gegnerin entgegentraten.
Sie bräuchten zwei, drei Dutzend Gerüstete, um ihrer Herr zu werden, dachte Rodana und verharrte wie gelähmt. Ein Schrei von ihr würde die Garde alarmieren. Aber … damit wären auch meine Rache an Mostro und mein Leben verwirkt.
Erstarrt vor Furcht und den Kopf voller Schreckensgedanken, sah Rodana mit an, wie die Ragana wütete, die rotfeuchten Scheren zustachen und zuschnappten. Abtrennten und durchtrennten. Der Boden der kleinen Werkstatt wurde mit Blut überzogen, verziert mit Stückchen um Stückchen fallenden Fleisches, Hautfetzen und losen Gliedmaßen der Gardisten.
Vraccimbur drehte das Gesicht nach hinten. »Schwenkt auf den Feldweg zur Rechten, zwischen den aufkeimenden Goldroggen. Ich habe unterhalb von uns tönerne Bewässerungsgräben und fest montierte Holzleitungen gesehen«, befahl er über die straff gezogene Abdeckplane des eigentümlichen Gespanns an der Spitze des Trosses hinweg; drei weitere nicht weniger absonderliche Gefährte folgten ihm. Jedes davon bestand baugleich aus zwei Elementen: Das vordere ähnelte einem Streitwagen, das angekuppelte einem gewöhnlichen Lastkarren mit sehr flachem Aufbau zog. »Es muss in der Nähe einen Brunnen geben, wo wir die Pferde saufen lassen können.«
Vraccimbur, ein Zwerg im besten Alter mit langen, hellblonden Schopf- und Barthaaren, deren Spitzen schwarz gefärbt waren, stand im vorderen Wagen auf einer Erhöhung. So sah er über die breiten Tierrücken, hielt die Zügel mit beiden Händen. Für einen Sohn des Schmieds war er recht groß und muskelbepackt, als habe er zyklenlang schwerste Arbeit verrichtet.
»Ist das nicht schon Meldrith-Land?«, erkundigte sich Bigarius wenig begeistert vom Wagen hinter ihm. Aufgrund seiner Leibesfülle saß er bequem auf der Ladefläche.
»Ja, und? Die Weißaugen haben genug Wasser.« Vraccimbur wandte den Kopf nach vorne. »Sollten welche von ihnen herumstehen, bezahl ich ihnen eine Abgabe.« Er dirigierte die beiden kräftigen Pferde von der breiten Straße hinunter.
Rumpelnd ging es für den Tross mit seinem guten Dutzend Mitfahrenden auf dem schmalen, befestigten Feldweg weiter. Männer, Frauen, Zwerge und Zwerginnen saßen auf den ungewöhnlichen Gefährten.
Die Sonne hatte tüchtig an Kraft gewonnen, ihre Strahlen wärmten Vraccimburs Gesicht, was er sehr genoss. Das gute Wetter machte das Reisen leichter, die erwachende Natur bot dem Auge nach jedem Hügel neue Farben. Lerchen stiegen in den blauen Himmel. Ein Bussard glitt majestätisch über sie hinweg und äugte nach Mäusen und Hamstern zwischen den sprießenden Halmen.
Vraccimbur sah über der flachen Kuppe das große Windmühlenrad aufziehen, dessen Flügel nicht mit Stoff bespannt waren. Wie das abgenagte Schwingengerippe eines abgestürzten, gewaltigen Vogels ragte es in die Höhe. Noch war die Bewässerung der weitreichenden Felder der Meldrith nicht vonnöten.
Unmittelbar daneben erhob sich das Dach einer Brunnenhütte, aus der Röhren in alle Himmelsrichtungen verliefen. Sobald die Mühlenflügel sich in der leisesten Brise drehten, förderte die Mechanik aus der Tiefe der Erde reinstes Wasser aufwärts, das die Felder über Regler und Rohre mit wichtigem Nass versorgte. Ausbleibender Regen bedeutete für die Meldrith keine Erntegefahr.
»Seht ihr?«, rief Vraccimbur nach hinten und zog das Fernglas aus dem Futteral im kleinen Wagen. Das leichte Kettenhemd über dem Gewand klirrte sachte. Pferdeschritt für Pferdeschritt ging es den flachen Hügel hinauf. »Wir haben Glück.«
Durch die geschliffenen Linsen machte er unerwartet zwei menschengroße Umrisse am Brunnengebäude aus. Daneben stand ein Eselskarren mit Fässern darauf.
»Da lungern doch Gestalten rum! Sind das Meldrith?«, fragte Bigarius ruhig. Furcht war in ihrer Truppe selten zu finden. Dafür hatten sie zu viel erlebt.
Und überlebt. Vraccimbur justierte die Schärfe am Fernglas nach und entdeckte Tücher vor den Mienen, die lediglich die Augen freiließen. Obwohl die Sonne schien, waren sie nicht weiß eingetrübt. »Nein. Ich schätze, es sind Lange, die sich maskiert haben. Irgendwelche Strolche.«
»Warum sollten sie das Wasser der Meldrith stehlen wollen?«
»Vielleicht vermag die Quelle etwas Einzigartiges?«, warf Rakib ein, der mit auf dem Wagen saß und dessen hagere Länge das Gegenteil von Bigarius’ Statur bildete.
Aus der Brunnenhütte kam ein weiterer vermummter Mann, der ein leeres Fass aus der Tür rollte. An den oberen Rändern haftete grünlich braune Pampe, die teilweise außen über die Bretterwände herabgelaufen war.
Auf dem Wagen des Trios erkannte Vraccimbur gefaltete Leinwandbahnen, groß genug, um damit Mühlenflügel zu bespannen und das Getriebe in Gang zu setzen. Oh, ich kann mir denken, was das soll.
»Brunnenvergifter. Auf frischer Tat«, sagte Vraccimbur, ohne das Sehglas abzusetzen. Die verunreinigte Quelle sollte über das ausgeklügelte Röhrennetz die umliegenden Goldroggenfelder verseuchen. »Wie hoch ist wohl der Lohn, den die Meldrith uns für diese Schweineschubser zahlen?«
Leises, böses Lachen erklang von seinen Leuten.
Mit dem Eselskarren würde dem Trio die Flucht nicht gelingen. Also würden sie entweder zu Fuß Reißaus nehmen, sobald sie die Gefahr durch die Neuankömmlinge erkannten. Oder sie kämpfen. Der Gedanke brachte Vraccimbur zum Grinsen. Sollen sie.
»Machst du das alleine oder brauchst du Hilfe?«, erkundigte sich Rakib gespielt hilfsbereit, was erneutes dunkles Gelächter auslöste. »Nicht, dass es am Ende doch Weißaugen sind? Oder überragende Kämpfer?«
Vraccimbur löste den Verbindungsbolzen. Der angehängte Lastenwagen bremste durch den Sicherungsmechanismus von selbst und rollte so den Hang nicht rückwärts hinab. »Das werden wir bald wissen.« Er ließ sich einen Strick zum Fesseln der Verbrecher zuwerfen und das Zweigespann antraben. »Ich frage sie mal, was sie getrieben haben.«
Mit einem Handgriff war aus dem Gespann ein Streitwagen entstanden, kaum schwerer als ein halber Zentner und für einen Kampf zusätzlich mit Eisenblechen verstärkbar, die auf dem großen Karren lagen. Vraccimbur ging nicht davon aus, dass er den gesonderten Schutz gegen Brunnenvergifter benötigte. Außerdem hielt sein Gefährt noch einige Überraschungen bereit.
Vom Weg ging es runter und durch das Feld mit dem aufkeimenden Getreide, um in gerader Linie und auf kürzestem Weg zum Brunnenhaus zu gelangen. »Heya, Sturmhengste! Es gibt etwas zu tun.«
Die kräftigen Pferde spürten das Gewicht von Zwerg und Wagen kaum, sie schnaubten vorfreudig.
Die drei Vermummten waren auf den Tross aufmerksam geworden und berieten sich, um letztlich zum Karren zu eilen und den Esel auszuspannen. Einer stieg tatsächlich auf und suchte auf dem Graupelz das Weite, während die anderen schnurstracks auf einen weithin erkennbaren Grenzpfahl zurannten. Sie wollten auf das Gebiet von Khalteran.
Der Wind trug Vraccimbur den widerlichen Gestank von Gülle und Alchemie zu, der von den Fässern auf dem Eselskarren stammte.
Als wärt ihr da vor mir sicher, ihr Hasensöhne! Vraccimbur ließ die Rösser angaloppieren, Erdbrocken flogen aus den Hufen und über ihn hinweg. Das ebene Feld machte es leicht, den Streitwagen zu lenken, die Blattfederung glich Unebenheiten aus. »Heya, meine Sturmhengste«, rief er den Pferden zu und nahm die Zügel mit einer Hand. »Holen wir uns die feigen Verbrecher!«
Mit der Rechten zog er den Morgenstern aus dem Futteral, an dessen Ende vier schwere Ketten saßen; aus dem oberen Kopf ragte ein unterarmlanger glatter Runddorn zum Durchstoßen von Panzerung.
Als Ersten nahm sich der Zwerg den Flüchtenden auf dem Esel vor. Binnen weniger Lidschläge hatte er zu ihm aufgeschlossen. »Du! Bleib stehen!«, rief Vraccimbur. »Oder ich schlage dich riesigen Esel vom Rücken deines kleineren Esels. Ich will dich was fragen.«
Der Maskierte langte an die Seite, wo er ein Kurzschwert in einer abgewetzten, kaum mehr intakten Hülle trug. »Verschwinde und lass uns in Ruhe«, erklang es undeutlich durch das Tuch vor seinem Gesicht. »Das geht dich nichts an.« Gleichzeitig rammte er dem Esel die Fersen in die Flanken, um ihn anzutreiben, was lediglich Protestgeschrei des Tieres zur Folge hatte.
»Doch, das tut es. Ich wollte meine Sturmhengste tränken. Ihr habt die Quelle vergiftet, oder? Dafür bringe ich euch zu den Meldrith.« Ankündigend hob Vraccimbur den Morgenstern.
»Man wird uns dafür hinrichten! Niemals gehe ich freiwillig …«
Wie ich es mir dachte. Vraccimbur ließ die Ketten einmal um den Kopf surren und schlug zu, noch ehe der Unbekannte seine Waffe gänzlich gezogen hatte.
Die stumpfen, schweren Glieder schlugen dem Mann gegen Brust, Hals und Gesicht, wischten ihn vom Rücken des Esels, der mit lautem I-A weiterrannte, um seinen Peiniger zurückzulassen. Ächzend landete der Maskierte im Feld und überschlug sich einmal.
»Sammelt den ein«, rief Vraccimbur seinen Leuten zu. »Ich schnappe mir die anderen Strolche.« Er lenkte das Gespann zum nächsten Davonrennenden.
Alsbald gab der Mann das Laufen auf, wandte sich um und bückte sich. Rasch lud er seine gezückte Tuchschleuder mit einem aufgehobenen kinderfaustgroßen Feldstein. »Verpiss dich!«
Der Stein sirrte knapp über den Zwerg hinweg, der fluchend den Kopf einzog. Ohne Helm wäre ein Treffer tödlich.
»Wer mich umbringen will, darf nicht mit Milde rechnen!« Vraccimbur zog an einem Knopf an der inneren Streitwagenwand. Damit betätigte er eine Leine, die am verlängerten Deichselende vor der Brust der Hengste ein schweres Eisenband aufklappen ließ. Es diente als provisorischer Rammschutz, wenn die Pferde keinen Harnisch trugen.
Der Maskierte lud nach und kreiste die Schleuder einmal, als das Gespann ihn erreichte. Im letzten Moment gelang ihm eine Hechtrolle zur Seite, um dem Eisenband, den heranstürmenden Hengsten und ihren Hufen zu entgehen. »Du kriegst mich nicht!«
Vraccimbur lenkte abrupt nach rechts, um den Streitwagen seitlich driften zu lassen, während er einen weiteren Knopf betätigte. Daraufhin sprangen handlange Klingen in den Radnaben heraus und rotierten. Eine erwischte den Vermummten auf Höhe des Knies und trennte den Unterschenkel in Gänze ab.
Kreischend stürzte der Mann und hielt sich die offene Wunde, das Blut schoss aus der schweren Verletzung.
»Lasst den liegen. Der schafft’s nicht mehr«, rief Vraccimbur und jagte dem letzten Brunnenvergifter nach.
Der Mann hetzte über das grünende Feld und spurtete auf eine hölzerne Bewässerungsröhre zu, die auf einem Stangenkonstrukt auf Kopfhöhe entlanglief.
Dieser kleine Bastard! Für den Streitwagen bildete die Röhre ein Hindernis, und unmittelbar dahinter folgte eine leichte Senke. »Los, meine Sturmhengste!« Vraccimbur ließ die Pferde preschen, um den Flüchtigen noch vor Holzelement und Senke zu erwischen.
Schnaubend flogen die Hengste vorwärts und jagten über die weiche Erde, die Räder wirbelten zarte Halme und Bodenkrumen durch die Luft.
Kurz vor der Bewässerungsanlage erreichten sie den Mann.
Wieder zwang der Zwerg die Pferde in eine enge Kurve. Der Streitwagen schlitterte auf einem Rad über den Acker, zog eine tiefe Furche und überschüttete den Maskierten mit einer Ladung Erde, die ihn aus dem Gleichgewicht brachte.
»Wirst du wohl stehen bleiben?« Vraccimbur sprang ab und stach dem Strauchelnden mit dem glatten Eisendorn des Morgensterns tief in die rechte Pobacke.
Aufjaulend ging das ungelenke Rennen des Vermummten in ein Hinken über, bevor er stolperte und stürzte.
Schon war der Zwerg über ihm und stellte ihm einen Fuß in den Nacken. Den Dorn legte er drohend über dem Steiß auf das Rückgrat. »Hab ich dich, Brunnenvergifter! Du warst zu langsam.« Dann stieß er einen schrillen Pfiff aus.
Die Hengste kehrten in lockerem Trab mit dem Streitwagen zurück und blieben schnaubend vor Vraccimbur stehen. Die eingeübten Manöver, die sie sonst bei Schaukämpfen zeigten, hatten sie mit der leichten Last kaum Anstrengung gekostet.
»Wir haben nichts vergiftet. Das war … Dünger«, behauptete der Mann undeutlich. Er starrte vor Dreck; einige Halme schienen aus dem Hemd zu wachsen. »Wir sollten das tun.«
»Natürlich. Die Meldrith haben euch beauftragt, Pisse, Scheiße und Alchemie unmittelbar in ihre Quelle zu gießen«, fasste Vraccimbur zusammen und lachte den Mann aus. »Dumm ist nur, dass die Worte deines Freundes ganz anders klangen. Er hatte Angst, für eure Tat hingerichtet zu werden.« Er nahm den Stiefel aus dem Nacken und ließ den Ertappten langsam aufstehen. Nasse Erde und Halme rieselten herab. Der Dorn blieb auf die Körpermitte gerichtet. »Es verhält sich so: Wegen euch feigen Trotteln müssen wir in die nächste Meldrithsiedlung, um unsere Pferde zu tränken. Da dacht’ ich mir, es wäre eine schöne Sache, ihnen ein Geschenk mitzubringen. Du bist ein Teil davon.«
Den Angriff sah der Zwerg schon im Ansatz voraus. Unzählige Zweikämpfe gegen fähige und unfähige Gegner hatten seine Sinne geschult. Der Mann fasste an seinen rechten Unterarm, wo eine versteckte Messerhülle zum Vorschein kam – und bekam den Dorn in seinen linken Oberschenkel, woraufhin er stöhnend auf dem Feld zusammensackte. Seine Klinge landete in der aufgebrochenen Krume.
»Noch eine kostenlose Lektion für dich. Erst dein rechter Hintern, jetzt dein linkes Bein. Beim dritten Mal geht’s durch dein Gehänge.« Vraccimbur steckte den Morgenstern zurück in die Wagenhalterung, um den Strick zu nehmen und ein Ende am Fuß des Mannes, das andere am Wagen zu befestigen. »Dann los. Und versuch, nicht zu viel Acker zu fressen. Sonst wächst der Goldroggen noch aus dir heraus. Das erschwert das Ernten.«
Gekonnt sprang er auf die Fahrererhöhung des Streitwagens, und die Hengste gingen langsam los. Sein fluchender Fang zog eine breite Furche in die weiche Erde. Das können die Weißaugen den Giftmischern ebenfalls in Rechnung stellen.
Vraccimburs Truppe hatte mittlerweile das Brunnenhaus zu Fuß erreicht und den herabgeschlagenen Eselreiter eingesammelt. Sie untersuchte die Fässer und machte angewiderte Gesichter: Es roch nach Gülle und etwas Metallisch-Alchemistischem.
»Ich hab den zweiten. Die Leiche des dritten Strolchs mag die Erde auflösen und verschlingen«, rief Vraccimbur ihnen zu. »Los, zurück auf den Hauptweg und dann nach Westen. Da steigt Rauch hinter dem Wald auf. Ich nehme an, dort finden wir die Meldrithsiedlung, zu der die Äcker gehören. Bringen wir den Weißaugen den Karren mit den Fässern mit.«
Auf seine Anweisung hin wurden Vorbereitungen getroffen. Vraccimbur rollte derweil zu seinem Anhänger zurück, der am Ende des Trosses stand, und koppelte den Streitwagen einfach auf der anderen Seite an.
Danach brachte er mit zwei Handgriffen den Rammschutz zurück in seine versteckte Deichselhalterung und ließ die Klingen in die Radnaben gleiten. Anschließend stieg er ab und ging zu den Hengsten.
»Das habt ihr gut gemacht, ihr Sturmhengste.« Sanft fuhr er über die Nüstern. »Bald gibt es was zu trinken. Und eine große Portion Goldroggen. Versprochen.«
Gleich darauf stießen seine Leute zu ihm, und die Reise wurde fortgesetzt. Genau auf die schwachen grauen Rauchsäulen zu, die ihnen den Weg zu den Meldrith wiesen.
Mit Einbruch der Dämmerung erreichten Vraccimbur und seine Truppe das Meldrithdorf. Inzwischen rollte er wieder an der Spitze des Zuges und nahm an, dass ihr Kommen längst bemerkt und gemeldet worden war.
»Also, aufgemerkt! Keiner greift zur Waffe«, wies er an. »Auch wenn manches schauderlich für unsere Augen und unseren Verstand erscheinen mag.«
Auf einer gerodeten Fläche zwischen Riesenweißtannen, die hundertzwanzig Schritte in die Höhe ragten, erhoben sich drei zuckerhutförmige weiße Gebilde, deren Spitzen bis an die Krone der Bäume reichten. Im unteren Durchmesser mochten sie fünfzig Schritte breit sein, nach oben verjüngten sie sich. Errichtet waren sie inmitten einer Mischung aus längstragenden hellen Steinsäulen und -streben, vereinzelten, flächig hochgezogenen Wandelementen aus behauenen weißen Marmorquadern und allgegenwärtigem hell getünchtem Holzfachwerk, in dem sich etliche Fenster und Balkone befanden. In den Materialien zeigten sich unzählige Verzierungen, die erst aus der Nähe ihre Feinheiten offenbaren würden. Zwischen den Kegeln spannten sich Hängebrücken.
»Das soll ein Dorf sein?«, vernahm Vraccimbur Rakibs ungläubige Stimme. »Erinnert mich an riesige Getreidespeicher. Die Meldrith wohnen alle da drin?«
»Sie leben eine starke Gemeinschaft«, erklärte Vraccimbur. »Und wechseln in regelmäßigen Abständen ihre Wohnstatt innerhalb der Hausberge, wie sie diese Gebilde nennen.«
Während sie auf die drei Kegel zufuhren, rief sich der Zwerg in Erinnerung, was er über das Volk wusste, das es noch gar nicht so lange im Geborgenen Land gab. Entstanden sei es durch eine Laune der Gottheiten, der Natur oder Alchemie, hieß es. Die Gelehrten stritten sich über den exakten Ursprung.
Vor Hunderten Zyklen und vor den Beben waren Albae getarnt und unerkannt ins Geborgene Land gereist. Dank alchemistischer Mittel färbten sich ihre Augen nicht schwarz, sobald das Sonnenlicht sie traf, noch zeigten sich die Wutlinien auf der Haut, wenn der Zorn sie überkam. Auch ihre angeborenen Fertigkeiten, wie Angst in die Herzen von Lebewesen zu bringen oder Feuer erlöschen zu lassen, wurden von den Mitteln unterdrückt. So wurden sie für Elben gehalten.
Um sowohl das Geborgene Land als auch die Elben selbst auszuspionieren, spielten sie ihre Rolle und lebten mitten unter ihnen. Und gingen leibliche Vereinigungen mit ihnen ein. Niemand hätte angenommen, dass aus diesen Verbindungen von Licht und Schatten Nachwuchs entstünde. Die gängigste Spekulation, der auch Vraccimbur folgte, besagte, dass ausgerechnet jene alchemistischen Tränke und Tinkturen die Fortpflanzung erst ermöglicht hatten.
Die Täuschung der Albae flog mit der Geburt der neuen Art alsbald auf. Die Augen dieser Kinder färbten sich im Sonnenlicht weiß, nicht schwarz. Zudem besaßen sie angeborene Fertigkeiten, über die es Dutzende Geschichten, Mutmaßungen und Gerüchte gab, die eine Veränderung und Weiterentwicklung der albischen Kräfte waren.
Zurückgelassen von den Albae und verstoßen von den Elben, bildeten sie eine verschworene Gemeinschaft und gaben sich den Namen Meldrith, was angeblich so viel wie Schicksalskinder bedeutete. Es dauerte nicht lange, und sie hatten mit List und Verhandlungen ihr eigenes Reich erschaffen: auf den Gebieten von Gauragon und Khalteran.
»Und nun: Ruhig bleiben. Lasst mich sprechen.« Vraccimbur hatte keinerlei Angst oder Besorgnis, die Siedlung zu betreten.
Die Meldrith sahen sich auf der Seite des Lichts und unterhielten Beziehungen zum Elbenreich Tî Silândur, um die es mal gut, mal weniger gut stand. Von den Albae wurden sie nach wie vor verachtet und als ungewolltes, schändliches Ergebnis eines alchemistischen Experiments betrachtet. Die meisten Menschen begegneten ihnen mit Vorsicht.
Nur die Dummen fürchten sich vor dem Albischen in ihnen. Vraccimbur winkte den am Boden spielenden Kindern zwischen den drei Kegeln zu. Sie schauten zu den rumpelnden, klappernden Gespannen auf und erwiderten den Gruß zögerlich. Manche kicherten, andere ahmten die Bewegungen des Zwergs nach. Überall sah er knielange, weite Gewänder in überwiegend bunten Stoffen, mit fantasievollen, heiteren Stickereien. Die Symbole standen sämtlich in Verbindung zum Tod, auch bei den Kleinsten: lachende Totenköpfe, tanzende Gerippe, Knochenmuster, Todesblumen und vieles mehr.
Mehrere Erwachsene standen auf der Straße, den Balkonen und Brücken, auch ihre Kleidung war mit farbenfrohen Motiven von Schnitter und Vergänglichkeit versehen. Die Neuankömmlinge wurden interessiert und ohne Scheu betrachtet. Von Feindseligkeit keinerlei Spur.
In Wuchs und Gestalt waren die Meldrith nicht von Elben oder Albae zu unterscheiden. Hochgewachsen, schlank, scharfe Gesichtszüge und hohe Wangenknochen – und doch schienen sie blind zu sein. Das Sonnenlicht machte ihre Augen weiß.
Aus der Nähe zeigten sich an den Wänden der Hausberge die Feinheiten der Verzierungen, welche die Besucherschar in Staunen versetzte.
Wie die Albae bevorzugten die Meldrith Symbole und Szenen rund um Vergänglichkeit, den Tod, das Sterben, den Untergang und Grausamkeit. Im Gegensatz zu ihren Ahnen nutzten sie keine echten Gebeine, sondern Holz und andere Materialien, um daraus Knochen, Innereien und Schädel zu formen, die in fröhlichen Farben bemalt wurden. Stets gab es heitere Elemente, der Horror und der Schrecken wurden durch Witz und kleine Scherze gebrochen. Dort wuchs Schattengras als Haare aus einem Totenschädel, da lachte ein Skelett, das von anderen gekitzelt wurde, und in einer anderen Szene erstickte eine Totengöttin an einem Opfer, das sie verschlang. Eine besondere Art von Humor.
Zwischen den Wänden des rechten und mittleren Hauskegels hindurch sah Vraccimbur im Vorbeirollen einen Srgāláh mit schwarzbraunem Fell, dessen rechter Arm aus einer umgeschnallten Ersatzgliedmaße mit Lederelementen, Scharnieren und Eisenplättchen bestand. Er übte den Umgang mit einem breitklingigen Speer. Beim ungeschickten Zugreifen mit den künstlichen Fingern ließ er die Waffe fallen.
Der Anblick eines Srgāláh war für Vraccimbur nicht ungewöhnlich. Die faszinierenden Wesen mit humanoidem Leib und schlankem, hundeähnlichem Kopf traf man gelegentlich im Geborgenen Land an, wo sie sich als unermüdliche Jäger verdingten. Doch in einer Meldrithsiedlung hatte er keinen erwartet.
»Die Weißaugen sehen seltsam aus«, kam es leise von Bigarius auf dem angehängten Wagen hinter Vraccimbur. »Das sind bestimmt doch echte Gebeine. Sie tun nur freundlich.«
»Ich sagte, ihr sollt die Klappe halten«, entgegnete er. »Sie können deine Beleidigung gut hören.«
Ein Meldrith in einer hellblauen Robe, auf der geometrische Formen in strengem Muster angeordnet waren, trat aus dem rechten Hausberg auf die Straße und reckte eine Hand gegen den Tross. Sein Alter war schwer zu schätzen, rein äußerlich ähnelte er einem Vierzigjährigen. Die langen, dunklen Haare wurden von einem schwarzen Diadem zurückgehalten, in dem bunte Steine funkelten. In der anderen Hand hielt er einen drahtumwickelten Eisenholzstab, an dessen oberem Ende zwei fingerlange Dornen herausragten.
Vraccimbur ließ anhalten.
»Willkommen in Therlisôn. Ich bin Icuriàs. Ihr würdet meine Aufgabe als Vorsteher unserer Gemeinschaft bezeichnen«, begrüßte der Meldrith sie freundlich in der Gemeinsprache. »Bevor du und deine Freunde weiterfahrt, Freund Zwerg, bitte ich dich um eine Erklärung, wer ihr seid und wohin ihr möchtet.« Er sah interessiert zum angehängten Eselskarren am Ende des Trosses und zu den gefesselten Menschen, die zwischen den Güllefässern hockten und lange Gesichter machten. Der Gestank, der aus den Behältnissen waberte, stach in der Nase und verursachte Kopfschmerzen. »Solltet ihr euch nicht verfahren haben: Ihr steht im Reich der Meldrith. Gerne erkläre ich dir und deinen Freunden, worauf ihr in unserem Land zu achten habt.«
»Oh, wir sind genau dort, wo wir hinwollten, Icuriàs.« Vraccimbur verließ seinen Streitwagen, blieb in respektvollem Abstand zu dem Meldrith und deutete eine Verbeugung an. »Mein Name ist Vraccimbur Schlaufaust aus dem Clan der Immersieger von den Allfünfen«, stellte er sich vor. »Schaukämpfer sind wir und ziehen durch die Lande und Reiche, um unseren Lohn zu verdienen.«
»Welch ungewöhnlicher Name für einen Zwerg.« Icuriàs richtete die weißen Augen auf ihn. »Wer sind die Allfünfer? Ich höre zum ersten Mal von ihnen.«
Vraccimbur grinste. »Oh, ich bin der Einzige. Ein Unikat. Denn ich gehöre allen