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"Zwei Welten voller Vorurteile – kann das gut gehen? Nach vier Jahren kehrt der junge Weltenbummler Tim nach Hause zurück. Mit Aushilfsjobs hält er sich über Wasser. Seine alten Freunde und er genießen aufgrund ihrer Jugendsünden keinen guten Ruf in der kleinen Stadt. Aber dann fährt er als Betreuer einer Jugendgruppe in den beliebten Ferienpark Albenhain zu einem Geocaching-Wettbewerb. Dort trifft er auf Anna, ein Mädchen aus reichem Hause. Und plötzlich ist sein Leben nicht mehr dasselbe." – Eine Jugendgeschichte über Liebe, Freundschaft, Abenteuer, Ferien, Mobbing, reich und arm, cool und unbeliebt, und über die große Chance, jemand besonderes zu entdecken, wenn man alte, vertraute und liebgewordene Vorurteile einmal beiseite lässt.
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Seitenzahl: 305
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– Kapitel 1 –
– Kapitel 2 –
– Kapitel 3 –
– Kapitel 4 –
– Kapitel 5 –
– Kapitel 6 –
– Kapitel 7 –
– Kapitel 8 –
– Kapitel 9 –
– Kapitel 10 –
– Kapitel 11 –
– Kapitel 12 –
– Kapitel 13 –
– Kapitel 14 –
»Kackmist.«
Leise entfuhr Tim dieser Kraftausdruck, als er bei dem Versuch, einen Joghurtbecher zu öffnen, den dünnen Foliendeckel zerriss. Nun hatte er nur ein dreieckiges Stück Alufolie in der Hand, von dessen Unterseite ein dicker Tropfen Kirschjoghurt auf seine Finger floss.
»War ja klar.«
Schnell leckte Tim den Joghurt von dem Folienfetzen und seinem Finger, stellte den vollen Becher wieder auf den Couchtisch und stand auf, um sich ein Küchenkrepp zu holen.
Natürlich musste der Deckel zerreißen, wusste Tim. Wenn man den Becher vorher schüttelt, damit man den Joghurt nicht umständlich umrühren muss und dabei erst mal den ganzen Löffelstiel einsaut, dann reißt garantiert der Deckel beim Aufmachen. Das ist wie mit dem Marmeladentoast, das vom Tisch fällt und dann garantiert mit der Marmeladenseite auf den Boden klatscht. Oder bei einem frischen Nutellaglas, wenn man die Goldfolie einsticht und in das Loch greift, um die Folie abzuziehen, dann patscht man garantiert in den Klecks Nutella, der an der Unterseite der Folie klebt.
Plötzlich klingelte Tims Handy.
»Natürlich!«, brummte er, »wann auch sonst?«
Tim wischte sich die Hände ab und warf Krepp und Deckelstück in den Müll. Dann nahm er sein altes, abgenutztes Xperia tipo aus der Tasche und sah aufs Display. Der Anruf kam von seinem fünf Jahre älteren Bruder Florian.
»Ja«, meldete Tim sich.
»Aha!«, kam es vom anderen Ende zurück.
»Aha was?«, fragte Tim kurz angebunden nach.
»Du weißt also doch, wie man ein Telefon benutzt«, stellte Florian vorwurfsvoll fest.
»Willst du mir auf den Piss gehen? Falls ja, kannst du dir die Mühe sparen. Das hast du beim ersten Klingeln schon geschafft!«
»Tim, hör auf! Du warst vier Jahre weg! Seit fünf Monaten bist du wieder in Deutschland und hast es nicht nötig, dich nach deiner Familie zu erkundigen?«
»Meine ‚Familie‘ war der Grund, warum ich aus Leyental abgehauen bin, schon vergessen?«
»Ach, willst du uns jetzt für deine Straftaten verantwortlich machen?«
An dieser Stelle drückte Tim auf die Taste mit dem Telefonhörer. Florian hatte wieder damit begonnen, ihm die Worte im Mund herumzudrehen. Das war immer so gewesen. Es war eine der typischen Gepflogenheiten in Tims verkorkstem Elternhaus.
Florians Anruf hatte Tim ein wenig aufgekratzt. Er hatte Erinnerungen an seine Kindheit aufgebracht, und die war nicht glücklich verlaufen. Tim sah an sich hinab. Zu Zeiten, als er sich noch von seinem Bruder etwas sagen lassen hatte, hatte er nicht so athletisch ausgesehen. Die körperliche Arbeit der letzten vier Jahre hatte ihn zu einem starken und attraktiven jungen Mann gemacht. Seine naturblonden Haare und seine taubenblauen Augen hoben sich ansprechend von seiner gebräunten Haut ab. Tim war nun nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich nicht mehr der Mensch, den Florian einmal gekannt hatte.
Im Augenblick stand er aber da und sah eher etwas unbeholfen aus in seinem Bemühen, den Deckel von dem Joghurtbecher abzupiddeln. Folie abziehen, Finger ablecken, und wieder Folie abziehen. Er hielt den Becher ein Stückchen von sich weg, um sein T-Shirt nicht zu besudeln. Tim trug sehr gerne seine weißen T-Shirts, die relativ eng anlagen und so seine Oberkörpermuskulatur betonten. Dazu zog er meistens Blue Jeans an. Mit einem Echtledergürtel, der eine derbe, eiserne Schnalle mit Verzierungen im Western-Look hatte. Das war Tims Ding. Er mochte diesen Style. Er war einfach und zeitlos. Tim hatte nie Lust gehabt, sich einen Kopf um Mode zu machen.
Wieder klingelte sein Handy. Ruhig stellte er den Becher ab und wischte sich die Finger sauber.
»Was willst du, Florian?«
»Einer muss doch nach dir sehen, bevor du wieder Mist baust.«
»Erstens, Florian«, begann Tim genervt, »bin ich zwanzig Jahre alt, nach mir braucht keiner zu sehen. Zweitens bin ich vier Jahre lang in der ganzen Welt unterwegs gewesen. Alter! Ich hab so viel gesehen und erfahren, ich hab an tausend Orten gearbeitet – wie kommst du auf die Idee, dass du hier mein Aufpasser sein könntest?«
»Ach, komm! Dein ‚Arbeiten‘ kenn ich. Dealen und Einbrechen ist keine Arbeit.«
»Siehst du? Und genau deswegen könnt ihr mich alle mal. Ich hab mich geändert! Das hatte ich schon, bevor ich abgehauen bin. Aber ihr habt das nie eingesehen.«
Tim hörte Florians verächtlichen Seufzer.
»Und warum hängst du dann jetzt wieder mit den Typen vom Haus der Jugend rum?«
»Weil sie meine Freunde sind. Und weil wir uns alle geändert haben.«
»Darüber solltest du mal nachdenken, wenn du hier neu anfangen willst. Du weißt, wie es in der Eifel ist. Die Leute reden über euch. Für die seid ihr immer noch die Schläger und Kriminellen von damals. Die warten nur darauf, dass ihr wieder irgendein Ding dreht.«
»Was die Leute hier reden, interessiert mich ’nen Scheiß!«
»Natürlich. Tim Richthof interessiert es mal wieder nicht. Und für seine Familie interessiert er sich auch nicht.«
»Familie? Das nennst du Familie? Weißt du noch, wie der Alte mich immer im besoffenen Kopf verprügelt hat? Oder der hysterische Terror von der Alten? Und wie wir jedes Jahr an Weihnachten in deinem Zimmer gesessen und gehofft haben, dass die beiden endlich aufhören sich anzuschreien, während andere Kinder Bescherung gefeiert haben? Familie – Hör doch auf!«
»Tja, dann haben sie ja Recht. Papa hat gleich gesagt, dass es sinnlos wäre dich anzurufen, weil du wahrscheinlich immer noch derselbe aufsässige Hund wärst wie damals.«
»Ich kann echt auf euch verzichten, Mann.«
»Na ja, ich hab wenigstens versucht, mit dir zu reden. Viel erwartet hab ich auch nicht.«
»Florian, fick dich!«
Damit beendete Tim das Gespräch endgültig. In seiner alten Heimat war es schwierig für ihn, wieder Fuß zu fassen. Seine Familie war nie für ihn da gewesen, das hatte Tim abgehakt. Dass die Leute schlecht über ihn redeten, lag an seiner Vergangenheit. Mit vierzehn hatte er es des Öfteren mit der Polizei zu tun bekommen, weil er geklaut und gekifft hatte. Ihm drohten damals der Rausschmiss aus der Schule und die Einlieferung in ein Erziehungsheim. Auch wenn es dazu nie gekommen war, sein Ruf war seitdem so ziemlich ruiniert.
Tim saß nun auf der alten Ledercouch, die er von einem seiner Kumpel übernommen hatte, und löffelte seinen Kirschjoghurt. Er kannte seine Kumpel schon sehr lange, viele schon seit seiner Kindheit. Und sie kannten ihn. Seine Freunde wussten, wie er wirklich war. Sie kannten seine Geschichte, waren teilweise sogar tief darin verwickelt und standen ohne Vorbehalte hinter ihm. Als Tim von seiner langen Reise zurückgekehrt war, waren Alex und Michael die Ersten gewesen, die sich nach ihm erkundigt und ihre Hilfe angeboten hatten.
Früher hatten sie sich jeden Tag im Haus der Jugend getroffen. Sie spielten Flipper, Kicker und Darts und alberten viel herum. Für sie war das Haus der Jugend etwas ganz Besonderes, weil sie es alle zusammen aufgebaut hatten. Die Stadtverwaltung hatte damals nämlich beschlossen, das alte Gebäude unten an der Hauptstraße in einen Treffpunkt speziell für Jugendliche umzugestalten. Es war ein altes, ziemlich heruntergekommenes Haus mit zwei Etagen. Da musste viel Arbeit reingesteckt werden. Es war Hermann, der Jugendbetreuer und Leiter des Hauses der Jugend, der alle Jungs und Mädchen zusammentrommelte und sagte:
»Wenn ihr alle mit anpackt, dann habt ihr schon bald einen Treffpunkt für euch alleine, wo ihr jeden Tag hingehen könnt.«
Der Plan war aufgegangen. Tim und seine Freunde hatten fast jeden Tag geschuftet und dabei mitgeholfen, aus dem vergammelten Gebäude einen festen und abwechslungsreichen Treffpunkt für Teenager zu machen. Hermann blieb als Leiter, richtete sich im Haus ein Büro ein und war als Ansprechpartner immer für die Jugendlichen da.
Jetzt gab es das Haus der Jugend schon seit sieben Jahren. Tim und seine Freunde waren inzwischen volljährig. Trotzdem war das „Haus“, wie sie es nannten, immer noch ihr bevorzugter Treffpunkt. Hermann konnte außerdem Hilfe bei der Betreuung der Jüngeren gebrauchen, und so gingen die Jungs ihm nebenbei zur Hand.
Einer der Kumpels, Alex, klopfte nun lautstark an Tims Haustür.
»Ist offen!«, rief Tim, erhob sich und ging in Richtung Tür, um seinen Gast zu empfangen.
Alex trat ein und grüßte: »Hey, Trip!«
»Hey, Ditze!«, grüßte Tim zurück, »komm rein, pflanz dich!«
»Lange bleiben kann ich nicht«, erwiderte Alex, als er sich auf der Couch niederließ, »ich bin auf dem Weg zu Tante Helgas Geburtstagskaffeekränzchen. Bin aber ’n bisschen früh dran und dachte, ich komm kurz rein.«
»Cool«, freute Tim sich. Er brachte Alex eine Cola und setzte sich ebenfalls.
»Ich sehe, du hast den Propeller endlich aufgehängt«, bemerkte Alex und deutete zur Wohnzimmerdecke.
»Ja«, bestätigte Tim, »war ’ne Sauarbeit.«
Tim hatte in Bolivien den Dreiblattpropeller eines alten Flugzeuges gefunden und ihn dann eine zeitlang bei einem einheimischen Schrotthändler, mit dem er sich angefreundet hatte, gelagert. Vor zwei Monaten war der Propeller in Einzelteile zerlegt bei Tim eingetroffen. Er hatte ihn inzwischen zusammengebaut und an die Decke seines Wohnzimmers geschraubt. Auf die Weise hatte er ihn als Basis für seine Zimmerbeleuchtung zweckentfremdet.
»Sieht geil aus«, lobte Alex, »passt gut zu den ganzen Flugzeugmodellen. Den paar wenigen, die du noch hast.«
»Ja«, bestätigte Tim, »gut, dass Hawkens sie für mich aufbewahrt hat. Die meisten hat mein Alter ja damals weggeschmissen.«
Alex nickte langsam. Niemand kannte die Geschichte besser als er.
»Ich find’s immer noch unglaublich, dass du jetzt in diesem Haus wohnst«, sagte Alex bewundernd, »weißt du noch, wie wir uns immer vorgestellt haben, hier zu leben?«
»Na klar!«, rief Tim lachend aus, »anderthalb Jahre hat es leergestanden. Ein Riesenglück für mich.«
Den beiden Freunden hatte das Häuschen, in dem er jetzt wohnte, schon immer gefallen. Es war ein ziemlich kleines Holzhaus, das am Ortsausgang links an der Einmündung eines Wirtschaftsweges lag, direkt am Waldrand. Vor dem Haus standen einige alte Kiefern, die links hinter dem Grundstück in einen großen Wald übergingen. Die langen Nadeln der knorrigen, alten Bäume bedeckten den ganzen Boden. Dazwischen lagen auch immer ein paar Kiefernzapfen. Die Nadeln musste Tim natürlich jeden Tag von den Steinplatten kehren, die den gewundenen Weg von der Straße zur Eingangstür bildeten.
»Das Holzzäunchen und das kleine Tor an der Straße will ich noch ändern«, bemerkte Tim, »das sieht mir alles ’n bisschen zu oll aus. Aber ich muss jetzt aufpassen, dass ich mein ganzes Geld nicht komplett auf den Kopf haue.«
»Woher hattest du die Kohle für das Haus?«, wollte Alex wissen.
»Ich hab das meiste von dem, was ich unterwegs verdient habe, gespart und angelegt. War eine gute Grundlage, um das Häuschen zu finanzieren.«
»Und mit deinem Job bei der Straßenmeisterei kommst du ja ganz gut über die Runden.«
»Genau. Klasse von Hawkens, dass er mich da reingebracht hat! Ohne euch beide wär der ganze Anfang hier bestimmt viel schwerer gewesen. Danke nochmal!«
»Passt schon, Kumpel!«
Alex sah sich um.
»Du hast ja ’ne Menge Souvenirs von deiner Tour mitgebracht«, stellte er fest, »das Samuraischwert kenn ich ja schon, aber die ganzen anderen Sachen sind neu.«
»Die kommen jetzt so Stück für Stück bei mir an«, erklärte Tim, »ich hab die ja in den vier Jahren immer irgendwo hinterlegen müssen. Konnte das ganze Zeug ja nicht ständig mitschleppen.«
»Wie hast du das überhaupt so gemacht?«, fragte Alex neugierig, »war das so ’ne Work-and-Travel-Aktion?«
»Nicht ganz«, antwortete Tim und grinste, »so spontan, wie ich damals abgehauen bin, wäre das nicht zu planen gewesen. Ich hatte auch gar nicht vor, so weit rumzukommen. Ich bin mit ’nem Lkw-Fahrer nach Hamburg getrampt. Am Hafen hab ich dann mitbekommen, dass sie noch Hilfe auf ’nem Frachter brauchen konnten. Ich brauchte Kohle, also hab ich angeheuert.«
»Also warst du die ganze Zeit total auf dich alleine gestellt?«
»Ja, absolut.«
»Übel«, meinte Alex beeindruckt, und dann sagte er: »Trip, ich muss los! Tante Helga blutet der Arsch, wenn ich ’ne Minute zu spät komm.«
»In Ordnung«, sagte Tim und nickte, »ich geh mit nach draußen. Ich fahr runter ins Haus. Kommst du später noch nach?«
»Klare Sache!«, sicherte Alex ihm zu, »ich hab nicht vor, lange bei Tante Helga und ihren Kaffeetanten zu bleiben.«
»Komm mit, ich setz dich bei ihr ab!«, lud Tim seinen Kumpel ein.
Die beiden Freunde standen auf. Tim schnappte sich seinen Schlüsselbund und ging mit Alex zur Tür. Dort prüfte er noch rasch, ob die Futternäpfchen ausreichend gefüllt waren und strich einer grau getigerten Katze über Kopf und Rücken. Dann verließen sie das Haus und stiegen in Tims Auto ein. Es war ein schwarzer 1997er Jeep Wrangler mit einem 2,4-Liter Motor und 142 PS. Den hatte Tim von einem ziemlich gewitzten Händler aus El Hajeb in Marokko übernommen – aus europäischer Sicht zu einem Schnäppchenpreis. Er war damit bis nach Al Hoceima gefahren und hatte von dort mit einer Autofähre nach Motril in Spanien übergesetzt. Damit hatte gleichzeitig die letzte Etappe seines Trips um die Welt begonnen. Von Motril aus war er durch Spanien und über Frankreich zurück nach Deutschland gefahren.
Das Stück, das Tim nun fuhr, war viel kürzer. Gerade mal drei Kilometer waren es von seiner Haustür bis in die Innenstadt. Dort wohnte Alex’ Tante. Keine fünfhundert Meter Luftlinie von ihrem Zuhause entfernt, unten an der Bundesstraße, befand sich das Haus der Jugend.
Als Tim den Flur des Hauses betrat, fiel die schwere Eingangstür hinter ihm mit einem dumpfen Rumms ins Schloss. Von dort aus waren es drei Schritte bis zum großen Gemeinschaftsraum, in dem mit Ausnahme von Alex bereits alle Jungs und Mädels, mit denen Tim befreundet war, herumsaßen oder verschiedenen Aktivitäten nachgingen.
»Hey, Leute!«
»Hey, Trip! Cool! Weißt du, wo Ditze steckt?«
»Der hat noch kurz was zu erledigen.«
Tims Freunde, und er selbst eingeschlossen, hatten sich im Lauf der Jahre die sonderbarsten Spitznamen gegeben. Kaum jemand sprach den anderen mit seinem Vornamen an. Höchstens dreizehnjährige Neulinge, die zum ersten Mal ins Haus kamen. Es gab zwei Möglichkeiten: Man konnte den anderen beim Nachnamen rufen, oder bei seinem Spitznamen. Dies war für Außenstehende recht kompliziert. Deshalb war jeder neue Besucher am Anfang gut beraten, diesen verrückten Haufen gleich einmal genauer kennen zu lernen:
Tim Richthof, 20 Jahre, Spitzname „Trip“. Seine kurzen blonden Haare trug er ohne besonderen Schnitt. Zwar hatte er ein kerniges Gesicht mit dem charmanten Grinsen eines jungen Robert Redford, doch in Sachen Styling gab er sich nicht sehr viel Mühe. Er war Abenteurer, Weltenbummler, Modemuffel und Fan von Filmen und Flugzeugen. Sein Spitzname bezog sich einerseits auf seine lange Tour um die Welt, aber auch auf seine Vergangenheit, als er sich noch ab und zu einen Joint gebaut hatte.
Alex Schröder, 18 Jahre, von seinen Freunden stets „Ditze“ gerufen. Er trug seine dunkelblonden Naturlocken sehr stark gekürzt, da er ansonsten einen wilden Wuschelkopf mit sich herumgetragen hätte. Gute Laune und Schlagfertigkeit waren sein Markenzeichen. Er war einen Kopf kleiner als Tim und sein bester Freund, zusammen mit Michael. Alex hatte wie Tim eine Vorliebe für Filme und Fernsehserien und stand besonders auf Martial Arts und Kung Fu.
Michael Valentin, 21 Jahre, „Hawkens“ genannt. Sein brauner Kurzhaarschnitt zeigte bereits einen Ansatz für Geheimratsecken. Er war ein Kerl wie ein Baum. Zwei Meter groß, ein Bauchumfang wie der Stamm einer Eiche, Hände so groß wie Baseballhandschuhe und eine Kraft wie ein Bär. Er war ein bisschen verfressen und außerdem ein prima Kerl, dem man alles anvertrauen konnte.
Julian Stein, 20 Jahre, als „Boggy“ bekannt, hatte schwarze Haare, die im Stil von Channing Tatum nach oben gestylt waren. Er war der, den Tim am längsten von allen kannte. Julian hatte auch einen ähnlichen Humor wie Tim. Sie verstanden sich ausgezeichnet. Julian war der „Hübsche“ unter den Jungs, ein gebräuntes Gesicht, markante Augenbrauen, immer top gestylt und ständig irgendein Mädchen am Start. Weil er früher gerne Witze auf Türkendeutsch erzählte, sagten immer alle: »Hey, Julian, mach uns den Bogdan!« So kam er zu seinem Spitznamen.
Damian Müller, 20 Jahre und „Motte“ genannt, hatte ganz kurze schwarze Stoppelhaare. Er passte von der Statur her zwischen Tim und Michael, aber deutlich näher an Tim. Seine Nase war sein besonderes Merkmal. Sein Profil ging nämlich von der Stirn in einer Linie in den Nasenrücken über. Damian nahm niemals ein Blatt vor den Mund. Während einer Klassenfahrt versuchte er einmal, spät abends, völlig schlaftrunken einen verirrten Nachtfalter aus dem Zimmer zu jagen. Dabei hatte er eines der Hochbetten umgeschmissen und sich seinen Spitznamen eingehandelt.
Mike Suderich, 17 Jahre, Spitzname „Suddel“, an seinen hellbraunen Haaren mit Seitenscheitel und Sidecut leicht zu erkennen. Wenn er seine Riesenkopfhörer nicht auf den Ohren hatte, war er schlecht gelaunt. Er lief grundsätzlich im Hipster-Look herum. Im Großen und Ganzen konnte man ihm nicht gut zuhören, wenn er redete, weil er oft ziemlich dummes Zeug schwätzte. Man konnte zwar einigermaßen mit ihm auskommen, aber meistens waren alle froh, wenn er seine Riesenkopfhörer auf den Ohren hatte.
Kevin Kothberg, 19 Jahre, vom Rest der Truppe nur „Haufen“ genannt. Als kleiner, stämmiger Kerl mit Babyface, rotbraunem Kurzhaarschnitt und Sommersprossen war er so etwas wie das Anhängsel der Truppe. Er gehörte dazu, weil er schon immer mit dabei war, ohne dass irgendjemand viel mit ihm anzufangen wusste. Er begriff keinen Witz und merkte alles immer etwas später als die anderen. Er war bisweilen so unkonzentriert, dass alle anderen das Haus hätten verlassen können, ohne dass er es bemerkt hätte. Aber mit diesen Wesenszügen trug er, wenn auch unfreiwillig, sehr oft zur lustigen Stimmung bei.
Das waren die Jungs, mit denen Tim eng befreundet war und mit denen er viel zusammen unternahm. Doch auch einige Mädchen gehörten zum Kreis der Freunde um Tim, wenngleich sie keine coolen Spitznamen hatten wie die Jungs. Ihre Rufnamen waren größtenteils aus ihren richtigen Vornamen abgeleitete Kurzformen, die auf „i“ endeten.
Melina Kupser und Isabel Krüger, beide 16 Jahre alt. Melli und Isi musste man stets zusammen nennen. Sie waren beste Freundinnen und hingen fast immer zusammen ab. Sie hörten Deathcore und Post-Hardcore und kleideten sich auch entsprechend, am liebsten mit schwarzen Jeans, Band-T-Shirts und Nietenlederjacken. Beide hatten glatte lange Haare, Melli bis zu den Schulterblättern und schwarzbraun, Isi bis zu den Schultern und blondiert. Die beiden lästerten mit Vorliebe über andere Leute, aber meistens nicht boshaft, sondern auf eine humorvolle, fast schon charmante Art.
Die anderen beiden Mädchen waren Jennifer Heintz und Pia Stieren, beide 14 Jahre alt. Jenni war halb Asiatin. Ihre Mutter stammte aus Thailand, ihr Vater war Deutscher. Die meisten Jungs fanden sie hübsch, aber sie konnte es nicht leiden, wenn sie ihr das sagten. Zu ihren rückenlangen, schwarzen Haaren trug sie eine Brille mit schwarzer Fassung. Sie freute sich darauf, dass sie in einigen Wochen Kontaktlinsen bekommen würde. Ihre beste Freundin Pia war einfach süß. Sie hatte naturblonde, schulterlange und wellige Haare, außerdem blaue Augen und eine Zahnspange, die sie hasste. Mit Jeans, Chucks und Cardigans waren die beiden Mädchen wie typische Teenager ihres Alters gekleidet. Pia war seit ein paar Wochen in Tim verknallt und gab sich alle Mühe, bei ihm zu landen, aber er machte sich nichts aus ihr, weil sie noch so jung war.
Und dann war da natürlich noch der 43-jährige Hermann Dechant, der Leiter des Hauses der Jugend. Er war ein sympathischer Typ, ein bisschen in den Achtzigern hängen geblieben, mit einem äußerst aus der Mode gekommenen Oberlippenbart. Er war studierter Sozialpädagoge und bei den Jugendlichen sehr beliebt. Ihn für die Leitung des Hauses der Jugend zu gewinnen, war ein Glücksgriff für die Stadtverwaltung.
»Wie sieht’s aus, Hawkens?«, rief Tim, »Bock auf ’ne Abreibung am Kicker?«
»Die kannst du kriegen«, lachte Michael und stand von seinem Barhocker an der Theke auf.
»Leute, beherrscht euch!«, ermahnte Hermann, der hinter der Theke stand, die beiden Jungs, »das ist der dritte Kickertisch in anderthalb Jahren. Wenn der kaputt ist, gibt’s keinen Neuen mehr.«
Kicker war der Sport im Haus. Regelmäßig wurden Tourniere ausgetragen. Einige der Jungs hatten es auch echt drauf. Julian zum Beispiel war ein Künstler am Kicker. Er spielte schnell und elegant und hatte ein paar verblüffende Tricks auf Lager. Mike schoss ausgesprochen präzise von hinten heraus. Seine Schüsse mit dem Tormann gingen fast immer ins Ziel. Tim und Michael aber waren die Meister. Sie spielten genau, schnell und mit purer Kraft. Ihre Schüsse hallten im ganzen Haus. Und sie liebten die Show. Sie machten sich einen Spaß daraus, ihre Gegner mit großen Sprüchen zu verunsichern und mit ihrem Kriegsgeschrei einzuschüchtern. Doch wenn sie einen Treffer kassierten, brüllten sie ebenso laut, hoben den Tisch mit den Spielstangen an und ließen ihn mutwillig auf den gefliesten Boden krachen. Das war Leidenschaft, das war Lärm, das war ihre Show. Leider hatten sie dabei schon mehrere Kickertische geschrottet, und das konnte Hermann verständlicherweise nicht leiden. Mehrfach hatte er schon damit gedroht, keinen Neuen mehr zu besorgen.
Damit die Schüsse besonders laut krachten, spielten sie am liebsten mit den harten Bällen. Es gab auch einen Satz weiche Bälle, doch mit denen konnte man nicht so schön bolzen. Deswegen sortierten die Jungs sie immer aus.
»Ich werd dich zerfetzen, Trip! Ich werd dir so den Arsch aufreißen, dass man einen Lichtschein in deinem Hals sieht, wenn du gähnst!«
»Geschissen, Alter! Davon träumst du, du erbärmlicher Loser!«
Mike, Julian und Kevin, die an der Theke saßen, drehten sich auf ihren Hockern um, sodass sie in Richtung Kicker sehen und das Spektakel verfolgen konnten. Wenn Tim und Michael gegeneinander spielten, war immer Showtime angesagt. Das wollten sie sich nicht entgehen lassen.
»Jaa, Kicker!«, rief Pia begeistert, »ich zähl die Tore für Trip.«
Damit griff sie Jenni am Ärmel und lief mit ihr zum Kickertisch, wo sich Tim und Michael gerade bereit machten. Tim wählte die blauen Figuren und Michael die roten. Links von Tim, an der kurzen Seite des Spieltischs, stand Pia am blauen Torzähler und strahlte ihren Schwarm an. Er grinste ihr zu und stellte fest:
»Dann bist du also heute meine Glücksfee, ja?«, worauf Pia rote Wangen bekam und mit dem Kopf nickte.
»Uuuuh«, neckte Jenni sie lachend, »Glücksfee.«
»Ja«, gab Pia stolz zurück, »und du kannst gerne die Glücksfee von Hawkens sein. Wir gewinnen eh gegen euch.«
Jenni lächelte und ging rüber zum roten Torzähler am anderen Ende des Spieltischs.
»So!«, sagte Michael entschlossen, »erst mal raus mit den Flummis. Wo sind die Krafteier?«
»Die müssen irgendwo dazwischen liegen«, antwortete Tim, »vier Krafteier und vier Flummis.«
»Alles klar, hab sie.«
Michael nahm die weichen Bälle aus dem Kickertisch heraus und legte sie auf die Fensterbank, die sich hinter ihm befand. Die harten Bälle ließ er drin. Dann nahm er einen von ihnen in die Hand.
»Also, Hawkens, das Spiel heißt Kicker«, frotzelte Tim, »und ich zeig dir jetzt, wie man das spielt, alles klar?«
»Halt die Schnauze!«, konterte Michael, »ich fang an?«
»Ja, fang an. Nützt dir eh nix.«
»Sehen wir dann. Friss den!«
Damit warf Michael den Ball mit der linken Hand in das Einspielloch in der Mitte der vor ihm liegenden Tischkante. Sofort holte er aus und ballerte die Kugel in Richtung Tims Tor. Es knallte heftig, als der Ball gegen die Torwand krachte und zurückprallte. Sofort schoss Michael nach, doch es wurde wieder kein Treffer, weil der Ball abermals mit einem Mordsknall von Tims Torwand abprallte.
Kevin fing an zu lachen.
»Passt auf«, rief er, »gleich ist der Kickertisch kaputt!«
»Dann haben sie ein Problem«, sagte Julian, »das heißt, wir alle haben dann ein Problem, weil wir keinen Neuen mehr kriegen.«
»Jap«, bestätigte Mike, »hat Hermann eben klar und deutlich gesagt.«
»Na und?«, rief Kevin aus, »dann besorgt Hermann eben ’nen Neuen und gut ist!«
»Oh, Haufen!«, riefen Damian und Julian gleichzeitig, und Damian fuhr aufgebracht fort: »Hast du nicht gehört, was Hermann, Boggy und Suddel gerade eben nacheinander gesagt haben?«
»Nee, was denn?«
»Dass wir keinen neuen Kicker mehr kriegen, wenn der alte am Arsch ist.«
»Ach, echt?«
»Nee, Haufen, aus Plastik!«
Alle mussten lachen. Außer Kevin, der den Witz nicht verstand. Damian konnte sich immer so schön aufregen, wenn Kevin seine berühmte lange Leitung hatte.
Plötzlich ein Knall! Dann ein ohrenbetäubender Aufschrei, gefolgt von einem lauten Krachen, das im ganzen Haus hallte.
Tim hatte von hinten heraus mit einem Gewaltschuss ein Tor erzielt, woraufhin Michael einen Urschrei ausstieß, den Kickertisch mit den Spielstangen anhob und auf den Boden krachen ließ.
Tim hob lachend die Arme hoch. Pia klatschte begeistert in die Hände, und Jenni hielt sich erstaunt lächelnd mit großen Augen eine Hand vor den Mund und war sichtlich verblüfft über Michaels übertriebenen Wutausbruch.
»Ich hab dir gesagt, ich mach dich platt!«, rief Tim lachend, während Pia entzückt seinen Torzähler auf Eins stellte.
»Ball!«, brüllte Michael und ging wieder in Spielposition.
Draußen im Flur hörte man den vertrauten Rumms, mit dem die Eingangstür ins Schloss fiel. Jemand war hereingekommen. Einen Augenblick später betrat Alex den Gemeinschaftsraum.
»Na, ihr Nutten!«, plärrte er in den Raum.
»Ey, Ditze! Was läuft?« – »Kommst du auch endlich mal?« – »Wir geben dir Nutten, du Sack!«
»Oh, echt jetzt?«, sagte Alex ironisch, »Habt ihr schon welche hier?«
Dann blickte er sich um, sah Isi und Melli an und verzog das Gesicht: »Nö, die will ich nicht.«
Gröhlendes Gelächter klang durchs Haus.
»Arschgeige!«, rief Isi.
»Ja«, stimmte Melli zu, »pass auf, was du sagst!«
Plötzlich wieder ein Knall.
»Verdammt!«, fluchte Tim, »Himmel Herrgott Sack!«
»Jaaa«, feixte Michael, »Gott, bist du so schlecht!«
»Maul halten und weiterspielen!«
»Darauf kannst du wetten.«
Jenni stellte Michaels Torzähler auf Eins und verkündete: »Eins zu eins.«
Mit unverminderter Energie setzen Michael und Tim ihr Spiel fort.
»Sag mal, Hermann«, begann Julian und drehte sich auf seinem Hocker zurück zur Theke, »was steht denn so an in der nächsten Zeit? Brauchst du uns bei irgendwas?«
»Na ja«, antwortete Hermann, »übernächste Woche ist wieder Albenhain. Ich hab bis jetzt siebzehn feste Anmeldungen, Zahl steigend.«
»Ach«, sagte Damian, »ist das auch wieder soweit?«
»Ja«, bestätigte Julian, »Ditze, Hawkens und ich haben uns schon bereiterklärt mitzukommen. Aber ganz ehrlich, ein paar Leute mehr wären nicht schlecht. Wenn wir wenigstens zu sechst wären.«
»Stimmt«, bekräftigte Hermann und nickte mit dem Kopf, »ich geh davon aus, dass etwa dreißig Leute mitfahren. Also, wenn noch einer Lust und Zeit hat – ich wär dankbar. Schön, dass Michael auch mitmacht, wusste ich noch gar nicht.«
»Hat er uns gestern jedenfalls gesagt«, meinte Alex.
»Cool. Dann würd ich gern mal mit ihm sprechen ... Michael!«
Hermanns Ruf ging im Lärm von Tims und Michaels lautstarkem Kickerspiel unter.
»Hawkens!«, brüllten Damian und Alex gleichzeitig.
»Ja!«, rief Michael und ballerte ein Kraftei nach vorne, das von Tims Torwart abprallte und im hohen Bogen aus dem Spieltisch flog, direkt über Pia hinweg, die sich mit einem spitzen Schrei duckte.
»Komm mal her, Hermann will mit der reden!«
»Was ist eigentlich mit Tim«, fragte Hermann, »hätte der vielleicht auch Lust?«
»Trip!«, plärrten Damian und Alex, »Komm auch her!«
»Tja dann ...«, meinte Michael zu Tim, »Spielunterbrechung.«
»Glaub nicht, dass du so davonkommst«, scherzte Tim, und beide gingen, gefolgt von Jenni und Pia, in Richtung Theke zu den anderen.
»Du bist also in Albenhain dabei?«, richtete Hermann das Wort an Michael, als die vier an der Theke angekommen waren.
»Ja«, bestätigte Michael, »ich find das cool. Und ich hab Zeit. Also bin ich dabei.«
»Klasse!«, sagte Hermann froh, und zu Tim: »Und du? Hättest du Lust, auch mit nach Albenhain zu kommen?«
»Was ist das denn?«, fragte Tim und lächelte verlegen, weil er offenbar der einzige war, der keine Ahnung hatte, um was es ging.
»Boah!«, schrie Kevin, »Echt jetzt, ne? Aber wenn ich mal was nicht weiß!«
»Oh, halt die Klappe, Haufen!«, herrschte Damian ihn an, »seit wann gibt es die Albenhain-Fahrt? Richtig, seit drei Jahren! Und wie lange war Trip weg? Genau, fast vier Jahre! Merkste was?«
»Ja und?«, blökte Kevin, »es war aber seitdem jedes Jahr! Auch letztes Jahr!«
Während die meisten anderen spätestens jetzt mit einem Facepalm dastanden, keifte Damian: »Ja, und seit wann ist er wieder hier, he? Seit ’nem halben Jahr! Albenhain war das letzte Mal voriges Jahr im Sommer! – Trip, wo warst du letztes Jahr im Sommer? Sag’s ihm! Wo warst du vor ’nem Jahr?«
Damian hatte sich zu Tim hingedreht und forderte mit einer Geste seiner Hand eine Antwort.
»Auf Borneo, schätz ich«, antwortete Tim und musste lachen, weil Damian so abging, »jedenfalls irgendwo in Indonesien.«
»Da hörst du’s!«, wandte Damian sich wieder an Kevin, »Indonesien! Weißt du, wo Indonesien ist? Haufen, wo ist Indonesien? Das ist nicht gerade um die Ecke, weißte? Und solange wir Trip nichts erzählen, kann er auch nichts von Albenhain wissen, oder? Trottel!«
»Hey, ist gut jetzt, Damian«, beschwichtigte Hermann ihn.
Tim zog die Augenbrauen hoch. »Dann kann ich nur annehmen, dass dieses Albenhain auch nicht gerade um die Ecke ist?«
»Richtig«, sagte Hermann, »es liegt etwa achtzig Kilometer von hier, bei Pfaffenburg. Also, pass auf, ich erklär dir mal alles. Setz dich!«
Dann verschwand Hermann kurz in seinem Büro. Durch die gläserne Tür konnte man sehen, wie er einen großen Aktenschrank öffnete. Er kam mit einem Ordner voller Zettel und Prospekte zurück.
»Also, Pfaffenburg ist ja schon mal ’ne bekannte Stadt«, sagte Tim, »und ein Typ, den ich kenne, hat da einen Laden. Aber Albenhain? Nie gehört.«
»Das gibt’s auch erst seit ein paar Jahren«, erklärte Alex, »das ist ein Ferienpark. Direkt bei Pfaffenburg und zieht sich ein Stück am Fluss entlang, so in die Richtung zu den Koltberghügeln.«
»Das ist total geil da!«, erzählte Melli begeistert, »da wohnst du in so einzelnen Holzhütten im Wald. Du kannst im Fluss baden, und die bieten jede Menge Aktivitäten an.«
»Einen Kletterpark haben die auch«, fügte Mike hinzu, »falls du auf so was stehst. Ist aber eher arm.«
»Wie bitte?«, warf Damian ein, »laber doch nicht! Der ist voll geil. Da kannst du dich in zwölf Metern Höhe zwischen den Bäumen durchhangeln. Das wird dir gefallen, Trip!«
»Klingt ziemlich gut«, sagte Tim, »und was ist da jetzt in zwei Wochen besonderes?«
»Also«, begann Hermann, »alle möglichen Schulklassen und Jugendgruppen fahren mittlerweile regelmäßig dort hin. Weil die Anlage so beliebt ist, haben sich die meisten auf eine bestimmte Woche im Jahr festgelegt und buchen das dann schon auf Jahre im Voraus. Wir vom Haus der Jugend haben auch jedes Jahr unsere feste Woche, wo wir mit einer Gruppe hinfahren. Da sind meistens so die Jüngeren dabei, wie Jenni und Pia dieses Jahr. Und je nachdem, wie viele Anmeldungen wir haben, brauche ich halt mehr oder weniger Freiwillige, die mir quasi als Betreuer so ein bisschen zur Hand gehen.«
»Wir haben da aber trotzdem auch viel Freizeit«, fügte Julian hinzu, »weil das Meiste eben von den Organisatoren vor Ort angeboten wird.«
»Richtig«, fuhr Hermann fort, »wir sechs haben da eine Hütte für uns, und die Jugendlichen verteilen sich auf die Hütten drumherum.«
»Wir fahren auch mit der Elf!«, rief Isi, »genau in der selben Woche.«
»Ach, das Gymmi auch?«, freute sich Hermann, »schön. Dann sind ja noch mehr Leute dabei, die ihr kennt.«
»Toll«, brummte Mike ironisch und rollte mit den Augen.
»Keine Angst, Suddel«, spottete Melli, »wenn du uns nicht streng anguckst, beißen wir nicht.«
Daraufhin lachten alle. Doch sie alle erinnerten sich an das vergangene Jahr, als Mike in seiner Empfindlichkeit glaubte, eine Gruppe Gymnasiasten hätte sich über ihn lustig gemacht, und daraufhin einen Riesenaufstand gemacht hatte, der für alle ziemlich peinlich war. Die Jungs, Tim eingeschlossen, hatten alle nur Hauptschul- oder Realschulabschluss, und einige – wenn auch nur wenige – der Schüler des Gymnasiums ließen sie schon deutlich spüren, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Das waren insbesondere diejenigen, die aus wohlhabenden Familien kamen und sich aufgrund dessen teurere Klamotten und Handys leisten konnten. Hinzu kam noch, dass einige – und da gehörte Tim nun einmal auch dazu – eine teils kriminelle Vergangenheit hatten. Da dies allgemein bekannt war, genossen sie keinen guten Ruf. Sie unterstrichen diesen Ruf auch noch, indem sie abends gerne am Brunnenplatz abhingen und Blödsinn machten. Sie taten nichts Wildes, aber der Eindruck genügte den Leuten, um ihre Vorurteile bestätigt zu sehen.
»Dann zeig doch mal bitte den Plan da, Hermann!« Tim deutete auf den farbigen Übersichtsplan, der zu einer Prospektsammlung von Albenhain gehörte. Hermann nahm den Plan aus dem Ordner heraus und breitete ihn aus.
Julian begann begeistert zu erklären.
»Hier sind die Hütten für die Gäste. Und das hier ist das große Gemeinschaftsgebäude mit Pool-Billard, Flippertischen und Dart-Automaten. Da können wir übrigens auch Kicker holzen.«
»Coole Sache!« meinte Tim, dem bereits gefiel, was er hörte.
»Jap. Und hier am Fluss, da sind zwei Stellen, wo man baden kann. Die Stelle flussaufwärts ist besser, weil da auch eine große Liegewiese ist. Weiter unten sind viele Büsche, also nicht so viel Platz zum Hinlegen und Sonnen. Das Wasser ist immer ziemlich kalt, jedenfalls kälter als in ’nem See, aber da gewöhnt man sich dran. An heißen Tagen gibt’s nichts Besseres. Pack also auf jeden Fall deine Badesachen ein!«
»Okay«, nickte Tim, »und was ist dort, wo die Gebäude größer sind und weiter auseinander stehen?«
»Da wohnen Suddels Freunde immer!«, rief Alex und lachte.
»Die Wohlbetuchten«, feixte Michael.
»Das heißt, das sind die Erste-Klasse-Unterkünfte für die Abiturienten?«, stellte Tim grinsend fest, und zu Isi und Melli meinte er augenzwinkernd: »Dann kommen wir euch da besuchen und machen einen drauf, was?«
»Eher nicht«, lachte Melli, »wir wohnen mit euch in der Bronx. Wir gehören zu den normalen Leuten auf dem Gymmi, und von denen gibt’s mehr als du denkst.«
»Obwohl«, warf Isi ein, »ein paar Snobs haben wir da schon. Du weißt, wen ich meine, Melli.«
»Anna, Celine und Jana?«
»Gott!«, stöhnte Isi und rollte mit den Augen, »erwähne diese Namen nicht!«
»So schlimm?«, fragte Tim nach.
»Schlimmer«, gab Isi zurück, »Melli hat gerade das ganze Haus der Jugend verunreinigt. Nur indem sie die Namen ausgesprochen hat.«
Tim lachte auf: »Klingt nach Leuten, die man unbedingt kennen lernen sollte.«
»Tja«, sagte Melli, »das wirst du ja dann. Freu dich drauf. Aber die werden garantiert in einer dieser Nobelhütten wohnen!«
»Kannst ja mal klopfen gehen«, witzelte Isi.
»Ganz sicher nicht!«, sagte Tim bestimmt, »und was sind das jetzt für Aktivitäten, von denen ihr geredet habt?«
»Also das Beste ist die Schatzsuche!«, rief Julian.
»Ja!«, meldete sich Kevin, »die macht echt Bock!«
»Das machen die jeden Donnerstag«, fuhr Alex fort, »die verstecken irgendwas im Wald, einen Schatz eben. Den muss man finden. Du gehst in Zweiergruppen oder alleine los und musst Hinweise suchen. Die stehen auf kleinen Zetteln in Ü-Ei-Dosen, die irgendwo versteckt sind. Am Anfang kriegst du Koordinaten genannt, und mit ’ner App auf deinem Handy peilst du die an. So geht das weiter, und das Team, das den Schatz zuerst findet, gewinnt. Ist total geil!«
»Und es ist üblich«, fügte Julian begeistert hinzu, »dass sich alle Teilnehmer dafür irgendwie schatzsuchermäßig verkleiden.«
»Das ist doch genau dein Ding, Trip!«, rief Michael Tim zu.
»Allerdings!«, freute sich Tim, »da mach ich garantiert mit.«
»Dann wäre das geklärt«, sagte Hermann, »ich freu mich, dass du dabei bist.«
In den folgenden Tagen stieg nicht nur die Zahl der Anmeldungen für Albenhain weiter an, sondern auch die Vorfreude bei den Jugendlichen in Jennis und Pias Altersklasse. Schon bald gab es kaum noch ein anderes Gesprächsthema als die Aktivitäten in diesem mit Sicherheit beliebtesten Ferienpark der Region.
Melli und Isi als einzige Schülerinnen der Oberstufe des Gymnasiums, die regelmäßig das Haus der Jugend besuchten, machten auf ihrer Schule ordentlich Werbung für ihren Treffpunkt. Sie bezogen dazu auch die Lehrer ein. So kam es, dass eine Woche vor Reiseantritt einer der betreuenden Lehrkräfte des Gymnasiums auf die Idee kam, dass beide Institutionen, das Gymnasium und das Haus der Jugend, die Organisation der Anreise gemeinsam angehen sollten. Dieser Vorschlag gefiel Hermann natürlich sehr gut, zumal dies ja nebenbei bedeutete, dass nun alle Busse bei demselben Reiseunternehmen gebucht wurden, was die Fahrtkosten vergünstigte.
Die Abfahrt war für den kommenden Samstagnachmittag geplant. Treffpunkt war der Bushalteplatz direkt am Gymnasium. Das war sinnvoll, da die meisten Mitreisenden sowieso die Schüler der MSS 11 waren. Zwei große Busse waren alleine für sie gebucht. Für das Haus der Jugend fuhr ein dritter Bus. Der harte Kern der Truppe vom Haus beschloss, sich zwei Stunden vor Abfahrt in der nahe gelegenen Eisdiele zu treffen.