Das Kreuz von Aarstein - Tom Rainy - E-Book

Das Kreuz von Aarstein E-Book

Tom Rainy

4,8

Beschreibung

Das Beste aus zwei Welten Für die frische Liebesbeziehung des jungen Paares stehen die Chancen schlecht. Nach Annas überstürzter Flucht zu Tim gehen ihre Eltern auf Konfrontationskurs, und auch frühere Freunde und Mitschüler überziehen sie mit gemeinem, hinterlistigem Mobbing. Doch da sind auch sonderbare Geschehnisse, mit denen keiner von beiden gerechnet hätte. Einer dieser Vorfälle ist äußerst tückisch und gefährlich. So kommt es, dass Tim nicht nur um Anna kämpfen muss. Die Fortsetzung der Geschichte um einen jungen Mann, den die Emotionen seiner schwierigen Kindheit noch nicht loslassen und der nun auf Tuchfühlung mit der Welt seiner reichen Freundin geht. Und die hält bei weitem mehr auf Lager als Luxusklamotten und feine Tischmanieren.

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Inhaltsverzeichnis

– Kapitel 1 –

– Kapitel 2 –

– Kapitel 3 –

– Kapitel 4 –

– Kapitel 5 –

– Kapitel 6 –

– Kapitel 7 –

– Kapitel 8 –

– Kapitel 9 –

– Kapitel 10 –

– Kapitel 11 –

– Kapitel 12 –

– Kapitel 13 –

– Kapitel 14 –

– Kapitel 15 –

– Kapitel 16 –

– Kapitel 1 –

Annas Nacht war unruhig und ohne tiefen Schlaf. Zumindest kam es ihr so vor, als sie den Wecker auf Tims Nachttisch an diesem frühen Septembermorgen anblinzelte. Es war kurz nach sechs, und draußen wurde es bereits hell. Auch Annas Gedanken begannen heraufzudämmern. Sie erinnerte sich verschlafen an einen Kuss, den sie vorhin nahe dem Halsansatz auf die Schulter bekommen hatte. Kurz danach war ihr die Bettdecke liebevoll bis zum Kinn heraufgezogen worden. Die wohlige Wärme hatte sie lächeln und wieder einschlummern lassen. Doch nun war sie wach. An einem Schultag. Ohne frische Kleidung. Ohne ihre Pflegeprodukte, ja, noch nicht einmal mit einer Zahnbürste.

Plötzlich wurde Anna von einem leisen Rumms aufgeschreckt, dem unmittelbar ein schwaches Klirren folgte. Sie zog die Bettdecke beiseite. Außer einem alten, weißen, eingelaufenen Herren-T-Shirt und ihrem hellblauen, seidenen La-Perla-Höschen hatte sie nichts an.

Wieder ein Rumms und ein Klirren. Es schien von draußen zu kommen.

Anna stand auf und tapste barfuß ins Wohnzimmer. Auf einem der alten Ledercouchsessel hing ihr blaues Jerseykleid, sorgfältig und glatt ausgebreitet. Darunter, auf dem Boden, standen ihre Slingbacks. Sie lächelte.

Da, wieder ein Rumms! Diesmal ein doppelter.

Wieder begleitete ein metallisches Klirren das dumpfe Geräusch. Ja, es kam von draußen. Anna zog ihre schönen Augenbrauen leicht zusammen und sah neugierig durch die gläserne Hintertür nach draußen. Dort, auf der hölzernen, grobschlächtig gebauten, überdachten Veranda tänzelte Tim lautlos um einen schwarzen Sandsack herum. Seine Hände steckten in roten Boxhandschuhen. Eine schwarze Adidas-Sporthose mit weißen Streifen umflatterte seine Beine. Sein Oberkörper war frei, und seine Muskeln glänzten im aufkommenden Tageslicht. Während Tim in geduckter Haltung seinen Kopf flink hin und her bewegte, hielt er seine Fäuste vors Gesicht. Von Zeit zu Zeit schlug er auf den Sandsack ein, und dann gab es diesen Rumms, bei dem die Ketten, an denen der Sack von der Decke hing, hell klirrten. Anna zog die Tür auf und trat auf die Schwelle.

»Spielst du den Mittwochnachmittag nach?«, witzelte sie und blieb vor der Türschwelle stehen, »im Eiscafé in Pfaffenburg?«

Tim hielt inne und sah seine Freundin an. Er genoss ihren Anblick nicht nur wegen ihrer weiblichen Reize, sondern auch, weil sie am Arm noch einige Druckstellen der Bettwäsche aufwies und ihr langes schwarzes Haar offen und wild an ihr herunterhing. Er freute sich darüber, dass er derjenige war, der sie so sehen durfte.

»Hey«, grüßte er lächelnd, »na klar. Ich bin du, und der Sandsack, das bin ich.«

»Ich sehe sexy aus.«

»Und ich erstmal!«

»Hey, Tim Richthof! ›Danke‹ heißt das! Ich habe dir eben ein Kompliment gemacht. Du siehst wirklich sexy aus.«

»Sagt die Frau mit den endlos langen Beinen und dem scharfen blauen Höschen. Du gehst besser wieder rein. Ist kalt hier draußen.«

»Das macht mir nichts aus. Ganz im Gegenteil, ich mag es.«

Anna trat aus der Tür auf die Veranda und ging auf den Sandsack zu.

»Du kannst also in der Tat boxen«, stellte sie fest, »dann verstehe ich deinen sonderbaren Vergleich jetzt etwas besser.«

»War nicht die stärkste Idee, schätz ich«, gab Tim etwas verlegen zurück. Anna lächelte.

»Hmm«, machte sie verschmitzt und legte die Hände an den Sandsack, »am Ende hat es sich aber gelohnt, zugehört zu haben.«

Dann umklammerte Anna den Sack, hielt ihn ganz fest und spreizte die Beine, um einen sicheren Stand anzudeuten.

»So macht man das, ja?«, fragte sie, »so müsste ich den Sandsack für dich festhalten, nicht wahr?«

Tim lachte laut auf, nahm seine Fäuste hoch und deutete an, auf den Sack schlagen zu wollen.

»Wir können es ja mal testen. Halt still!… Nein, lass es, du gehst drauf.«

»Sei nicht so fies!«, protestierte Anna spöttisch, »ich bin nicht so zart besaitet wie du denkst.«

»Ganz bestimmt nicht«, flachste Tim. Dann öffnete er die Klettverschlüsse an seinen Handgelenken und streifte die Boxhandschuhe ab. Mit seinen bandagierten Fingern ergriff er Annas Hände, führte sie um den Boxsack herum und nahm sie in den Arm. Sie schmiegte sich an ihn.

»Ich hab überlegt, Anna«, ergriff Tim nach einer Weile das Wort, »wir sollten zu deinen Eltern gehen und versuchen, mit ihnen zu reden.«

Anna schwieg.

»Weil«, fuhr Tim fort, »du bist erst sechzehn. Und deswegen können sie uns ganz schön die Hölle heiß machen. Polizei, Jugendamt, der ganze Scheiß. Und du musst in die Schule. Wenn wir das versauen, dann dürfen wir uns garantiert nie wieder sehen.«

»Und was sollen wir jetzt machen?«

»Du rufst jetzt als erstes zu Hause an und sagst, dass wir gleich vorbeikommen.«

»Aber meine Eltern müssen doch in Kürze zur Arbeit aufbrechen.«

»Quarkes. Dein Vater ist auf der Bank der Big-Boss. Der kann sich frei nehmen wann immer er will. Und seine Frau wird er schon nicht feuern, wenn sie ’ne Stunde später anfängt.«

Anna nickte, gab Tim einen Kuss auf den Mund und ging zurück ins Wohnzimmer, um ihr Handy aus der Handtasche zu nehmen. Tim blieb in der Tür stehen und legte die Hände an den oberen Rahmen. Anna sah zu ihm hinüber, als sie sich ihr iPhone 6 Plus ans Ohr hielt.

»Mama?… Ja, ich bin noch bei Tim… Ja, ich habe hier geschlafen… Mama, so höre doch bitte einmal zu! Tim hat nicht die Absicht, mich hier festzuhalten. Ganz im Gegenteil, er hat von sich aus den Vorschlag gemacht, mich jetzt nach Hause zu bringen, damit wir uns alle unterhalten können… Oh, Mama, nicht doch! Das hättest du nun wirklich nicht tun müssen. Dazu gab es keinen Grund… Ja, wir machen uns in Kürze auf den Weg.«

Anna ließ die Hände nach unten fallen und blickte mit einem Seufzer zu Tim hin.

»Was ist?«, wollte er wissen, »was hätte sie nicht tun sollen?«

»Sie hat die Polizei verständigt. Und Anzeige gegen dich erstattet.«

Tim ließ den Türrahmen los und nahm langsam die Arme herunter.

»Verdammt«, presste er hervor, »dann machen wir uns jetzt ganz schnell fertig und sehen zu, dass wir bei deinen Eltern erscheinen, bevor die Bullen hier aufkreuzen.«

Anna nickte mit glasigen Augen. Tim ging auf sie zu und nahm wieder ihre Hände.

»Hey«, sagte er sanft, »alles wird gut.«

»Wie kannst du dir so sicher sein?«, schluchzte Anna ängstlich.

»Liebst du mich?«, fragte Tim.

»Ja! So sehr!«

»Dann gibt es überhaupt nichts, wovor wir Angst haben müssen.«

»Du kennst meine Mutter aber nicht, Tim. Ich habe Angst.«

»Sie kann nichts machen, was mich dazu bringen könnte, dich nicht mehr zu lieben. Wir beide wussten, dass es schwer werden würde, und wir waren bereit, den Kampf aufzunehmen. Jetzt ist es soweit. Die Schlacht beginnt. Wir müssen cool bleiben.«

Der Kloß in Annas Hals löste sich mit einem Glucksen.

»Wir ziehen aber nicht in den Krieg, oder?«, fragte sie.

»Aber natürlich!«, gab Tim betont ironisch zurück, »und wir machen keine Gefangenen. Aber fürs Erste reicht es, wenn wir duschen gehen. Sparen wir eigentlich Zeit, wenn wir jetzt zusammen duschen?«

»Wir gehen besser separat«, meinte Anna lächelnd und gab Tim mit der flachen Hand einen doppelten Klaps auf die Brust, womit sie sich auch schon in Richtung Badezimmer entfernte.

Eine kurze Zeit später waren sie aufbruchfertig. Als sie vom Wohnzimmer in die winzige Diele traten, bemerkten sie durch das schmale Oberlicht über der Tür ein blaues Flackern, das von draußen ins Haus leuchtete. Zwei Sekunden später bullerte es heftig an der Tür.

»Polizei! Aufmachen!«

Tim erkannte die Stimme des Polizeibeamten und biss sich zerknirscht auf die Unterlippe. Anna schlug die Hände vor den Mund und sah Tim erschrocken an. Die inneren Enden ihrer Augenbrauen hoben sich weit nach oben, während ihre Augen sich zusehends mit Tränen füllten.

»Bleib ganz locker, Süße«, flüsterte Tim ihr zu und legte seine Hände an ihre Wangen, »wichtig ist, dass du ihm jetzt nicht den Eindruck machst, dass es dir schlecht geht, verstehst du? Du musst ihm zeigen, dass du hier sein willst, ja?«

Anna nickte und trocknete ihre Tränen.

»Mach die Tür auf, Richthof!«

Tim trat an die Tür und nahm die Klinke in die Hand. Er drehte sich noch mal zu Anna um.

»Okay?«, hauchte er beinahe unhörbar. Anna nickte wieder und stellte sich vornehm gerade hin. Dann öffnete Tim die Tür.

Rüdiger Brochnes, 26, einsachtzig groß mit aschblonder Stoppelfrisur, die im Augenblick unter seiner dunkelblauen Dienstmütze verborgen war, stand breitbeinig und mit in die Hüften gestemmten Fäusten vor der Tür. Ein herablassendes Grinsen saß auf seinem fettigen Allerweltsgesicht.

»Da haben wir ja unseren üblichen Verdächtigen und seine kleine Ausreißerbraut«, höhnte er, als Tim die Tür komplett aufgezogen und gegen die seitliche Wand gedrückt hatte.

»Brochnes«, grüßte Tim tonlos.

»Na, Richthöfchen, hamwa wieder Scheiße gebaut? So sieht man sich wieder, he?«

»Ja, wie war das noch damals? Du warst in der Ausbildung und durftest zugucken, wie die richtigen Polizisten uns hochgenommen haben, stimmt’s?«

Rüdiger Brochnes machte einen großen Schritt ins Haus hinein und stieß Tim heftig den ausgestreckten Zeigefinger seiner rechten Hand unters Kinn.

»Ich würde an deiner Stelle die Fresse halten, Richthof«, drohte er knurrend, »du hältst eine Minderjährige gegen den Willen ihrer Eltern in deinem Haus fest. Das ist eine Straftat. Wieder mal. Ich kann dich einlochen.«

Tim blieb locker. Er hielt seine rechte Hand immer noch am Türblatt und wich nur deshalb ein Stück vor dem Polizisten zurück, damit dieser nicht im Weg war, als er die Tür mit einem Schwung aus dem Handgelenk so weit zu warf, dass sie den Eingang verdeckte, ohne ins Schloss zu fallen.

»Du kannst ’nen Scheißdreck, Brochnes«, knurrte Tim zurück, »du brauchst mindestens einen Kollegen, der dabei ist. Du bist aber gerade ganz alleine, und das vor zwei Leuten, die mitkriegen, wie du eine Dienstvorschrift nach der anderen missachtest.«

»Was wisst ihr schon von unseren Dienstvorschriften?«, lachte Rüdiger höhnisch und nahm den Finger runter. Anna zitterte am ganzen Körper. Sie bewunderte Tim für seine Ruhe. Sie nahm sich zusammen, so gut sie konnte. Sie hielt den Riemen ihrer Handtasche ganz fest und presste ihre freie Hand seitlich auf ihre Hüfte, damit nicht zu bemerken war, wie sehr sie zitterte.

»Nun«, begann sie, und Tims sanfter Blick, den er ihr in diesem Moment zuwandte, gab ihr die nötige Ruhe, um in ihrer vornehmen, monotonen Stimmlage sprechen zu können, »ich bin sicher, dass auch Ihnen in erster Linie auferlegt wird, den Menschen höflich zu begegnen.«

Rüdiger drehte sich frontal zu Anna hin. Er sah ihr für eine Sekunde süffisant lächelnd ins Gesicht, dann senkte er den Blick und sah sich mit demselben Ausdruck recht lange Annas Beine an, bevor er ihr wieder in die Augen sah. Tim merkte, wie unwohl sie sich fühlte. Doch bevor er Luft holen konnte, um etwas zu sagen, zeigte sich Anna tapfer und sprach weiter.

»Ihr Benehmen lässt sehr zu wünschen übrig«, hörte Anna ihre eigenen Worte, begleitet von ihrem Pulsschlag, »Sie erklären uns nicht den Grund Ihres Hierseins. Sie stellen sich nicht einmal vor. Stattdessen beleidigen Sie uns und werden meinem Freund gegenüber sogar tätlich. Ich denke, dass dies bereits genügt, um auf Ihrer Dienststelle eine Beschwerde über Sie einzureichen.«

»Und du kannst deinen pickeligen Arsch drauf wetten«, fügte Tim langsam und mit einem Nicken hinzu, »dass wir genau das machen, wenn du hier weiter so abgehst.«

»Irgendwann buchte ich dich ein, Richthof«, knirschte Rüdiger, »darauf kannst du Gift nehmen.«

»Heute nicht«, gab Tim zurück.

»Dafür nehm ich sie jetzt mit«, beschloss Rüdiger grinsend und deutete mit dem Kopf zu Anna hin, »sie geht jetzt schön wieder nach Hause.«

»Spar dir die Mühe«, entgegnete Tim ihm, »wir waren sowieso auf dem Weg zu ihren Eltern.«

»Wie ihr meint. Dann fahren wir voraus, und ihr folgt uns. Und keine Extratouren!«

»Geht klar.«

Rüdiger Brochnes machte auf dem Absatz kehrt, warf die Haustür wieder auf und stampfte zum Polizeiwagen, in dem ein dicklicher Kollege um die Dreißig saß.

»Gut gemacht, Bonnie«, zwinkerte Tim Anna zu.

»Hör bloß auf!«, keuchte Anna und nahm tief Luft, »ich hatte ganz fürchterliche Angst.«

Tim legte seinen Arm um Annas Taille, und gemeinsam gingen sie auf Tims schwarzen Jeep Wrangler zu, der am Straßenrand vor dem Polizeiwagen stand. Als sie eingestiegen waren, fuhren die Polizisten sofort los. Tim startete den Motor und fuhr dem Dienstwagen in korrektem Abstand hinterher.

»Wer ist dieser abscheuliche Mensch?«, fragte Anna, »wie ist es nur möglich, dass er eine Polizeiuniform trägt?«

»Das fragt sich jeder, der mal mit ihm zu tun hatte«, antwortete Tim, »Rüdiger Brochnes heißt er. Er war dabei, als wir damals nach dem Bruch in der Tanke hochgenommen wurden. Er hat nur anscheinend nicht mitgekriegt, dass ich keine vierzehn mehr bin.«

»Seine ganze Art und Weise ist ausgesprochen widerlich.«

»Darüber haben sich schon viele beschwert.«

»Nun, ganz offensichtlich taten sie es nicht allzu ungestüm.«

»Wie meinst du das?«

»Ich bin sicher, wenn sich einmal jemand über die Maßen heftig über ihn beschweren würde, dann würde dies ganz gewiss den Unwillen seiner Vorgesetzten erregen. Da es offenbar noch nicht geschehen ist, kann ich nur annehmen, dass er noch nicht an den Richtigen geraten ist.«

Tim schmunzelte. Er führte Annas Gedanken weiter: »Du meinst an jemanden, der dabei so richtig abgehen und bei seiner Beschwerde übelst Terror veranstalten würde?«

»Ganz recht. Aber so jemanden würde er wahrscheinlich nicht zu reizen wagen, wenn ich ihn richtig einschätze.«

»Wollen wir doch mal sehen«, murmelte Tim, bremste den Jeep ab und stoppte am Straßenrand. Anna sah ihn verwundert an.

»Was machst du?«, wollte sie nervös wissen, »du sollst doch dem Polizeifahrzeug folgen. Du beschwörst nur wieder Ärger herauf.«

»Dass hoff ich doch«, gab Tim lässig zurück und nahm sein Handy, das alte, verkratzte Xperia tipo, aus der Hosentasche. Er wählte einen Kontakt an und hielt das Telefon ans Ohr. Er sah dabei zu Anna hinüber, die ihn ängstlich anblickte. Dann schaute er nach vorne auf den Polizeiwagen, der gerade einige Meter zurücksetzte und knapp vor Tims Jeep anhielt.

»Hallo?… Guten Morgen, Frau zur Heyden, Tim Richthof hier. Ich bin mit Anna unterwegs zu Ihnen. Leider sind wir von Ihren Freunden aufgehalten worden… Ja, ich meine die Herren von der Polizei, ja, richtig… na ja, die wollen uns jetzt zu Ihrem Haus begleiten… Ja, das seh ich auch so…«

Inzwischen war Rüdiger aus seinem Dienstwagen ausgestiegen und ging nun auf Tims Auto zu.

»Ich schätz mal, Sie können darauf verzichten, dass wir mit der Polizei bei Ihnen ankommen… das würde einen ganz schönen Bahnhof bei Ihnen geben. Die ganzen Nachbarn…«

Rüdiger näherte sich auf der Fahrerseite dem schwarzen Jeep.

»Das beste wird sein, Sie sagen ihm das persönlich«, sprach Tim weiter ins Telefon, »bitte bleiben Sie kurz dran.«

Er nahm sein Handy vom Ohr und ließ es in den Schoß sinken. Dann drehte er die Scheibe der Fahrertür herunter, vor der sich Rüdiger bereits nach vorne bückte.

»Was soll das, Richthof?«, bellte er augenblicklich, »ich hab dir gesagt, keine Extratouren! Du hast mir gefälligst hinterherzufahren!«

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Polizeimeister«, sagte Tim ruhig und betont freundlich, »ich hatte telefoniert, und das darf ich doch nicht, während ich fahre. Deswegen hatte ich kurz angehalten.«

»Richthof!«, brauste Rüdiger lautstark auf, »willst du mich hier verarschen?«

»Nein, Herr Polizeimeister«, raspelte Tim weiter Süßholz, »warum sollte ich das wagen? Ich möchte Anna doch so schnell wie möglich zu ihren Eltern bringen.«

Anna fand es ausgesprochen witzig, wie Tim versuchte, höflich zu sprechen. Da der Polizist sie beide wütend durch das offene Autofenster ansah, unterdrückte sie ihr Schmunzeln, indem sie ihre Lippen aufeinander presste. Ihre lachenden Augen konnte sie jedoch nicht verbergen.

»Stell das dumme Grinsen ein, Prinzessin!«, knurrte Rüdiger und steckte seinen Kopf halb ins Auto, »und du hör mir jetzt mal ganz genau zu, Richthöfchen. Noch ein verdammtes Wort, und ich hol dich mit zur Wache. Dich und deine versnobte Zockse. Da kann sie zweimal von Großkotz heißen, das ist mir scheißegal! Ich buchte euch beide ein. Dann kann sie im Knast die Beine für dich breit machen!«

Daraufhin sah Tim den Polizisten mit dem coolsten Pokerface an, dass er auf Lager hatte. Dabei hob er, ohne den Blick abzuwenden, ganz gelassen mit der rechten Hand sein Handy nach oben und hielt es Rüdiger vors Gesicht. Der blickte aufs Display, auf dem groß „Anna zu Hause“ zu lesen war.

»Es ist für Sie, Herr Polizeimeister«, bemerkte Tim trocken, »Frau zur Heyden möchte mit Ihnen sprechen.«

Wenn man jetzt sagte, dass Rüdiger Brochnes schlagartig die Farbe wechselte, so traf dies in erster Linie auf seine Ohren zu. Sie leuchteten plötzlich feuerrot. Sein Gesicht zeigte Regungen aus den Bereichen Überraschung, Wut und Furcht, als er langsam nach Tims Telefon griff und sich danach sofort umdrehte und mit großen Schritten zur gegenüberliegenden Straßenseite hinüberging, ein Mal tief einatmete und sich dann das Handy ans Ohr hielt.

»Jetzt ist er an die Richtige geraten, schätz ich«, kommentierte Tim und griente Anna an.

»Ich kann nicht fassen, dass er dir so leichtfertig auf den Leim gegangen ist«, staunte Anna.

»Tja, er ist eben nicht das schärfste Messer im Besteckkasten. Und er hat sich kein bisschen unter Kontrolle. Der hat so ’nen mickrigen Pim… äh, ich meine, so ein gestörtes Ego…«

»Ist schon in Ordnung«, lachte Anna, »ich gewöhne mich langsam an eure, wie soll ich sagen, recht farbenfrohe Ausdrucksweise.«

»Trotzdem«, gab Tim zurück, »also, der hat so ein gestörtes Ego, dass er sofort anspringt, wenn er das Gefühl hat, dass man ihn nicht ernst nimmt.«

»Wie könnte man auch?«, stellte Anna fest, »ich bin bestürzt darüber, dass gerade ein Polizeibeamter ein solch vertrauensunwürdiger Mensch sein kann. Ich dachte immer, dass alle Polizisten äußerst ehrenhafte Persönlichkeiten sind.«

»Willkommen in der realen Welt«, schloss Tim trocken. Dann drehte er sich nach links, weil Rüdiger im selben Moment zurückkehrte und Tim sein Handy ins Auto warf. Es landete auf Annas Schoß. Sie schlug blitzartig die Beine zusammen und bewahrte das Telefon mit ihren Händen davor, herunterzufallen. Tim und Rüdiger sahen sich herausfordernd in die Augen.

»Irgendwann krieg ich dich, Richthof«, raunte Rüdiger und drehte sich um. Er schritt zu seinem Dienstwagen hin, stieg ein und schlug heftig die Fahrertür zu. Dann fuhr er mit durchdrehenden Reifen an. Dreck und Steinchen prasselten gegen den Kühlergrill von Tims Jeep.

»Wichser«, brummte Tim und startete den Motor. Dann drehte er sich zu Anna hin und fragte: »Dir geht’s gut?«

»Ja«, antwortete sie, »jetzt, da Herr Brochnes weg ist, fühle ich mich wieder wohl.«

Tim lachte auf.

»Was hast du?«, wollte Anna wissen.

»Stell dir mal vor«, lachte Tim, »wie sein Namensschild auf seinem Schreibtisch aussieht.«

»Wie sollte es schon aussehen? Wahrscheinlich ist es schwarz mit weißer, eingravierter Schrift.«

»Kann schon sein. Und sein Name?«

»Rüdiger Brochnes.«

»Ja, aber wenn vom Vornamen nur der erste Buchstabe da steht.«

Tim lachte inzwischen herzhaft. Und er brach in schallendes Gelächter aus, als Anna nachdenklich formulierte:

»R. Brochnes?«

Tim nickte heftig mit dem Kopf, brachte aber vor Lachen kein Wort heraus.

»Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst.«

»Dann sag das zehnmal hintereinander«, forderte Tim seine Freundin gackernd auf.

»R. Brochnes«, folgte Anna grübelnd, »R. Brochnes, R. Brochnes…«

Und dann musste sie plötzlich ebenfalls lachen.

»Erbrochenes!« rief sie und hielt sich kichernd die Hände vor den Mund, »du meine Güte, der Mann ist aber auch wirklich gestraft.«

Tim folgte der schmalen Wohnstraße, die einem Bachlauf folgte, bis zu einer Abzweigung, die bergauf nach rechts führte. Nach etwa zweihundert Metern änderte sich der Bebauungsstil. Während weiter unten in Bachnähe einige schlichte Ein- und Mehrfamilienhäuser den Weg säumten, schmiegten sich hier großzügige Bungalows und prächtige, villenartige Einfamilienhäuser an die ausgedehnte Hanglage. Es war das mit Abstand teuerste und vornehmste Wohnviertel in Tims Heimatstadt Leyental.

»Willkommen in Annas Welt«, witzelte Tim, »wo die Autos fetter und die Grashalme kürzer werden, je weiter man den Berg rauf fährt.«

»Und wo die Aussicht immer schöner wird«, fügte Anna fröhlich hinzu.

Tatsächlich bot sich von Annas Wohnviertel aus ein atemberaubender Ausblick über die Stadt, die in einem Tal an einem Flusslauf lag und von fünf schroffen Felsformationen eingerahmt wurde, drei auf der nördlichen Flussseite und zwei auf der südlichen. Auf dreien von ihnen standen mehr oder weniger intakte Burgruinen. Zwei Kirchen ragten aus dem Häusermeer heraus. All das konnten Tim und Anna in diesem Augenblick nicht sehen, da diese beeindruckende Szenerie sich hinter ihrem Fahrzeug auftat, während der schwarze Wrangler weiter den Berg hinauf brummte. Sie kamen an einem feudalen Anwesen vorbei, vor dessen Zufahrt ein weißer Briefkasten in Form eines Zahnes am Eingang angebracht war.

»Hier wohnt offenbar ein Zahnarzt«, schloss Tim.

»Ja«, bestätigte Anna, »Line wohnt hier. Bist du auch bei ihrem Vater in Behandlung?«

»Keine Ahnung«, grinste Tim, »mal sehen, zu wem ich gehe. Bevor ich weg war, bin ich immer zu Dr. Polsten gegangen. Wahrscheinlich geh ich da wieder hin.«

»Ich verstehe«, kommentierte Anna und deutete nach vorne rechts, »die wohnen übrigens dort in dieser Straße.«

»Ist ja verblüffend«, bemerkte Tim schelmisch.

»Oh, und dort«, führte Anna lächelnd aus, »in dem grauen Haus mit den weißen Fensterfaschen, dort wohnt dein Nebenbuhler.«

»Moment«, warf Tim verwirrt ein, »weiße was und mein wer?«

Anna lachte und schüttelte amüsiert den Kopf.

»Die weißen Umrandungen um die Fenster«, erklärte sie, »die nennt man Faschen.«

»Gut zu wissen«, sagte Tim ironisch, »falls der Jauch mal fragen sollte. Und wer wohnt da jetzt noch mal?«

»Dein schärfster Widersacher und Nebenbuhler«, kicherte Anna.

»Ich hab keinen Dunst, wovon du redest«, stellte Tim fest.

»Kennst du die Anwaltskanzlei Hinkheim & Gielchen?« wollte Anna wissen.

»Schon mal gehört. Aber nie was mit denen zu tun gehabt.«

»Hier wohnt die Familie Hinkheim. Und deren Sohn Philipp ist, wie soll ich es ausdrücken, sehr an mir interessiert.«

»Tatsächlich?« gab Tim zurück und sah ein Mal mehr in Annas verschmitztes Lächeln, »sieh mal an. Kennst du ihn persönlich?«

»Aber ja. Schon seit meiner Kindheit. Oma Leni hat einmal gesagt, wenn ich einst Debütantin sei, dürfe er mir offiziell den Hof machen.«

»Hä? Darf er euch dann die Zufahrt pflastern, oder wie? Anna, ich komm nicht mehr mit!«

»Ich merke es«, kicherte Anna, »ich erkläre es dir. Zu Oma Lenis Zeiten wurden die Töchter von adeligen Familien mit sechzehn in die Gesellschaft eingeführt, womit gleichzeitig verkündigt wurde, dass sie von diesem Zeitpunkt an für junge Herren mit ernsten Absichten zur Verfügung standen.«

»Alter Verwalter!«, staunte Tim, »ihr macht das aber heute nicht mehr, oder?«

»Nein, diese Zeiten sind vorüber«, sagte Anna, »du brauchst dich nicht zu sorgen.«

»Aber dieser Hinkebein gräbt jetzt trotzdem bei dir, richtig?«

»Hinkheim. Ja, seitdem ich vierzehn bin, möchte er eine Beziehung mit mir beginnen.«

»Und? Begegnet er dir oft?«

»Ja. Jeden Tag.«

»Ach ja? Wieso das?«

»Weil wir dieselbe Schule besuchen. Er ist in der Dreizehn und macht Anfang nächsten Jahres Abitur.«

»Gräbt er dich immer noch an?«, fragte Tim trocken.

»Er signalisiert mir ständig seine Absichten«, erklärte Anna augenzwinkernd, »bist du eifersüchtig?«

»Hm«, brummte Tim, »bin nicht gerade begeistert darüber, dass einer meiner Freundin schöne Augen macht.«

»Wie süß!«, freute sich Anna und legte ihre Hände kichernd auf Tims rechten Arm.

»Euer Haus liegt am höchsten von allen«, wechselte Tim das Thema, als sie sich dem Anwesen der Familie zur Heyden näherten.

»Ja«, bestätigte Anna, »mein Vater hatte sich damals das höchstgelegene Grundstück ausgesucht. Es bietet die schönste Aussicht.«

»Und keiner kann sie euch verbauen«, fügte Tim hinzu und parkte das Auto wie gewohnt am Straßenrand, »eine Top-Lage. Ist garantiert das teuerste Grundstück in der ganzen Stadt.«

»Das stimmt«, bemerkte Anna während sie sich abschnallte.

Sie stiegen aus dem Wagen und gingen den Zuweg zum Haus hinauf. Anna klinkte sich mit beiden Händen in Tims Arm ein. Er spürte ihre Besorgnis und teilte sie. Sie wussten beide nicht einzuschätzen, wie Annas Eltern nun reagieren würden.

Nachdem Tim und Anna das Haus betreten und die Tür wieder hinter sich geschlossen hatten, hörten sie schon bald die Schritte von Annas Mutter aus dem links gelegenen Flur in die Diele hallen. Anna begrüßte ihre Mutter schüchtern. Tim schloss sich ihr freundlich an, doch Vivienne zeigte sich steif und äußerst kühl.

»Guten Morgen, Mama.«

»Guten Morgen, Frau zur Heyden.«

»Guten Morgen, Annabelle.«

»Wo ist Papa?«

»Er war schon unterwegs zur Arbeit. Du wirst mit mir Vorlieb nehmen müssen.«

»Ja. Tim hat mich nach Hause gebracht.«

»Eine richtige Entscheidung. Du wirst nun erst einmal Gelegenheit haben, dich frisch zu machen, Annabelle. Gehe bitte ohne Umschweife nach oben! Und Sie, Herr Richthof, werden ihrerseits sicherlich gewissen… Geschäften nachzugehen haben.«

»Ähm, nicht wirklich. Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir…«

»Guten Tag, Herr Richthof!«

Anna traten die Tränen in die Augen, als sie und Tim sich anblickten. Sie umarmten sich wortlos zum Abschied und sahen sich dann noch mal an. Tim strich Anna mit den Fingerrücken seiner rechten Hand über die Wange und wischte damit eine Träne auf, die über ihr Gesicht kullerte. Als er sich wegdrehte, ergriff Anna seine Hand, sodass sie sich schließlich mit ausgestreckten Armen an der Hand hielten. Tim lächelte kurz, dann ging er einen Schritt auf Anna zu und gab ihr einen zärtlichen Handkuss. Er schloss die Augen dabei. Falls er Anna nun nicht mehr sehen durfte, so sollte seine letzte Erinnerung an sie nicht ihr weinendes Gesicht sein, sondern dieser Kuss auf ihre schöne Hand. Dann ließ er Anna los, drehte sich zur Tür und verließ das Haus.

Draußen blieb Tim kurz stehen. Ein Kloß steckte ihm im Hals. Ein Gefühl, als ob ihm schlecht wäre, erfüllte ihn. Er spürte Kälte an seiner rechten Hand. Die frische Luft des Morgens ließ Annas Tränenwasser von seinen Fingern verdunsten. Er hob seine Hand und betrachtete die Stelle, an der die Feuchtigkeit langsam verschwand und die Kühle damit mehr und mehr nachließ. Mit einer traurigen Stimmung, die man nur als Scheißgefühl bezeichnen konnte, trottete er zu seinem Jeep und fuhr los.

Zu Hause angekommen hegte Tim die Hoffnung, dass Anna ihm schon bald schreiben würde. Doch sein Handy blieb stumm. Immer wieder nahm er es hervor und sah nach, ob vielleicht doch eine Nachricht von ihr eingegangen war und er nur den Ton überhört hatte. Aber Anna schrieb nicht. Völlig benebelt ging Tim durch sein Haus. In seiner Schlafkammer lag ein Hauch von Annas Parfum. Hier hielt er es nicht aus. Er ging zurück ins Wohnzimmer und von dort aus hinaus auf die Veranda. Das war besser. Hier roch es einfach nur nach Wald.

Da hörte er endlich den vertrauten Ton einer eingehenden WhatsApp-Nachricht. Hastig nahm er sein Handy hervor um nachzusehen. Die Enttäuschung presste ihm die Brust zusammen, als er erkannte, dass die Nachricht von Michael war.

Kommst du heute nicht?

Sorry, was dazwischengekommen. Probleme mitAnnas Eltern.

Scheiße, tut mir leid.

Wir haben genug Leute,

mach dir keinen Kopp.

Danke.

Der Tag verstrich, ohne dass Tim irgendein Lebenszeichen von Anna erhalten hatte. Zur Mittagszeit nahm er nichts zu sich. Er fühlte sich außerstande, auch nur einen einzigen Bissen herunterzubekommen.

Es klopfte an Tims Haustür.

»Ist offen!«, rief Tim wie gewohnt.

Alex trat herein und machte ein besorgtes Gesicht.

»Hey Trip«, grüßte er, »Hawkens sagt, du hättest Stress mit Annas Eltern?«

Tim nickte schwermütig.

»Ihre Mutter hat mich rausgeworfen, als ich Anna nach Hause gebracht hab. Seitdem hör ich nichts mehr von ihr.«

»Scheiße. Wie lang ist das denn jetzt her?«

»Es war heute Morgen, ganz früh. Ich frag mich, warum sie sich nicht meldet.«

»Das geht bestimmt nicht von ihr aus, Alter. Wenn ihre Mutter so bekackt drauf ist, wie es sich anhört, dann hat sie bestimmt ihr Handy eingezogen.«

»Ja, das könnte sein.«

»Sims doch mal Melli an, ob Anna in der Schule ist! Die haben jetzt Mittagspause, die schreibt garantiert direkt zurück.«

»Gute Idee! Bin ich gar nicht drauf gekommen.«

Tim nahm sein Handy heraus und begann zu tippen. Melli antwortete tatsächlich sofort.

Hey. Sag mal, ist Annaheut in der Schule?

Sry, nein. Isi und ich

fragen uns schon, was

mit ihr ist.

Danke Melli! Erklärich euch später.

Ok

»Sie ist nicht in der Schule«, presste Tim deprimiert hervor, »verdammt, Ditze, ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Bleib jetzt einfach cool«, riet Alex, »egal was ihre Eltern jetzt durchziehen, Anna liebt dich. Das wird schon wieder.«

»Ja, ich hoff’s. Danke, Alter!«

»Kein Ding. Ich bin dann auch mal wieder. Komm heut Abend ins Haus, Trip! Dann quatschen wir über alles.«

»Ja, machen wir.«

»Also, bis dann.«

»Ja, Tschüss.«

Damit verließ Alex das Haus wieder. Tim schloss die Tür hinter ihm. Dann ging er in sein Wohnzimmer und ließ sich in einen Sessel fallen.

– Kapitel 2 –

›Schluss jetzt!‹, fuhr es Tim durch den Kopf, ›da wirst du doch bescheuert.‹

Kurz entschlossen stand er auf, streifte sein T-Shirt ab und begann, seine Handbandagen anzulegen. Während er zum Sandsack auf die Veranda ging, zog er seine Zwölf-Unzen-Boxhandschuhe an. Die waren zum Trainieren grundsätzlich eine gute Wahl. Tim startete mit ein paar leichten Japs in der Linksauslage. Hätte er diese Situation vermeiden können? Hatte es zu irgendeinem Zeitpunkt die Chance gegeben, dies alles in eine andere, bessere Richtung zu steuern? Gedanke um Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Tim war nicht bei der Sache. Wäre sein Sandsack ein richtiger Gegner gewesen, wäre er heute in der ersten Runde K. O. gegangen. Tim war sich dessen bewusst und ärgerte sich. Er holte aus, und mit einem ungezügelten Aufschrei rammte er seine rechte Faust krachend in den Sack, sodass die Ketten laut klirrten und sogar die Balken der Verandaüberdachung ächzten. Mit wutentbranntem Gesicht ließ er eine Rechts-Links-Kombination folgen, die einen echten, untrainierten Brustkorb in Trümmer hätte legen können. Für einige Sekunden war seine coole Beherrschtheit, die ihn sonst auszeichnete, völlig dahin. Das Gefühl erinnerte ihn schlagartig an seine aggressiven Ausbrüche, die ihn früher als Pubertierenden oft überkommen hatten. Der Gedanke erschreckte ihn. Sofort hielt er inne. Keuchend schlug er seine Fäuste an den Boxsack und legte seine Stirn gegen die Handschuhe, um sich zu sammeln.

Da klingelte Tims Handy. Er hatte es in der Tasche seiner Jeans vergessen anstatt es herauszunehmen, als er sein spontanes, notdürftiges Boxtraining begonnen hatte. Hastig riss er mit den Zähnen den Klettverschluss seines rechten Boxhandschuhs auf und streifte ihn ab. Er griff hektisch in seine Hosentasche und nahm sein Handy hervor. „Anna zu Hause“ stand auf dem Display. Endlich!

»Ja!«, meldete er sich, »Anna?«

»Zur Heyden«, klang ihm Viviennes energische Stimme ans Ohr, »Herr Richthof, wie ich einmal annehmen darf?«

»Ja«, bestätigte Tim, »Tim Richthof hier.«

»Ich darf gleich vorwegschicken«, sprach Vivienne kalt, »dass Sie sich von diesem Gespräch nichts erhoffen sollten. Ich informiere Sie lediglich im Interesse meiner Tochter über die Bedingungen, die Ihnen ab heute auferlegt sind.«

Und dann hörte Tim sich Viviennes Ausführungen an. Ernüchterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, während Annas Mutter sprach. Mit einem unbarmherzigen »Guten Tag!« verabschiedete sie sich und legte sofort auf. Regungslos geradeaus blickend nahm Tim sein altes Handy vom Ohr und ließ sich auf den Boden sinken. Dort blieb er rücklings liegen und starrte an die Überdachung seiner Veranda. Bis um sechs Uhr Nachmittags lag er da, bemüht, sich zu fassen und seine Gedanken zu sortieren.

»Da kommt Trip!«, rief Pia, die am Fenster stand und beobachtete, wie Tim seinen Jeep auf dem Parkplatz neben dem Haus der Jugend abstellte, »oh, der tut mir voll leid. Der guckt ganz traurig.«

»Geh vom Fenster weg, Pia!«, forderte Julian, der wie gewohnt mit den anderen Jungs an der Theke saß, sie auf, »das sieht doof aus, wenn wir ihn angaffen und bedauern. Das will er ganz bestimmt nicht.«

»Er kommt ja sowieso jetzt rein«, hielt Pia dagegen, »dann kann ich auch am Fenster bleiben.«

Dumpf rummste die Eingangstür ins Schloss, und kurz darauf betrat Tim den Gemeinschaftsraum des Hauses.

»Hey!«, grüßte er in die Runde und schlenderte durch den Raum zur Theke hin, wo er sich lässig auf den freien Hocker zwischen Alex und Damian schwang. Dann nickte er Hermann, dem Leiter des Hauses der Jugend zu, der hinter der Theke stand.

»Hi, Hermann.«

Tims Freunde waren alle anwesend und grüßten ihn leise und verhalten zurück.

»Und?«, brachte Melli, die mit Isi und Jenni auf der Couch saß, neugierig hervor.

»Was und?«, gab Tim trocken zurück.

»Du wolltest uns doch erzählen, was jetzt mit Anna ist«, bemerkte Isi.

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, antwortete Tim ruhig, »ich darf Anna nicht mehr sehen. Fertig, aus.«

»Und warum nicht?«, hakte Melli nach, »jetzt sag doch mal!«

»Anna hatte gestern Abend ’nen üblen Streit mit ihrer Mutter«, begann Tim, »da hat sie mich angerufen, ich soll sie abholen kommen. Hab ich dann gemacht. Sie hat über Nacht bei mir gepennt. Und jetzt machen ihre Alten dicke Füße und verbieten ihr den Umgang mit mir.«

»Tja«, warf Mike ein, »kommt davon, wenn man was mit so ’ner High-Society-Braut anfängt. Hättste mal besser drauf geschissen, Alter.«

»Danke, Suddel«, knirschte Tim, »genau das hilft mir weiter.«

»Echt jetzt, Suddel«, maulte Damian Mike an, »laber doch nicht so ’ne Scheiße!«

»Wieso?«, trotzte Mike, »konnt man sich doch an einer Hand ausrechnen, dass so ’ne Kacke dabei rauskommt.«

»Ja, ist gut, Suddel«, winkte Damian ab, »setz deinen Kopfhörer auf und halt die Backen!«

Mike schüttelte den Kopf und setzte tatsächlich seine übertrieben riesigen Kopfhörer auf.

»Und wie wollen Annas Eltern das jetzt durchziehen?«, griff Julian das eigentliche Thema wieder auf, »die können sie doch nicht die ganze Zeit kontrollieren.«

»So wie es aussieht«, meinte Tim, »geben sie sich zumindest reichlich Mühe. Sie haben als erstes ihr Handy eingezogen. Als nächstes haben sie ihr verboten, mit einem von uns zu reden.«

»Auch mit Melli und mir?«, fragte Isi mit großen Augen.

»Ja«, bestätigte Tim, »es sei denn, es handelt sich um rein schulische Dinge.«

»Boah, wie gemein!«, rief Isi.

»Sie hat natürlich bis auf Weiteres Hausarrest«, fügte Tim hinzu, »und das Beste ist, ich darf mich ihr noch nicht einmal nähern. Annas Mutter sagte, es gelten gewisse Prioritäten, und die wichtigste wäre, dass Anna sich auf ihr Abitur konzentriert. Eine Beziehung würde sie nur ablenken und ihre Noten gefährden.«

»So ein Schwachsinn!«, schimpfte Melli, »ausgerechnet Anna! Selbst wenn sie gar nichts machen würde, hätte sie immer noch in jedem Kurs ihre dreizehn Punkte.«

»Die Aktion geht rein gegen dich, Trip«, stellte Isi fest.

»Ich weiß«, seufzte Tim, »und ich kann absolut nichts dagegen machen. Ich kann jetzt nur die Füße stillhalten und abwarten.«

Seine Freunde schwiegen betreten dazu. Sie wussten nicht, wie sie ihn hätten trösten können. Es war schließlich Tim selbst, der das Schweigen brach.

»Es sei denn…«, murmelte er nachdenklich und stockte.

»Was?«, wollte Alex wissen.

»Anna hat mir erzählt«, fasste Tim zusammen, »dass ihre Mutter ihr extrem übertriebene Versionen von den Dingen hingerieben hat, die zuletzt passiert sind.«

»Zum Beispiel?«, fragte Alex.

»Zum Beispiel die Geschichte, wie Anna Isi im Messing beigestanden hat. Oder wie Anna und ich uns gestern nach der Schule am Auto geküsst haben. Es war nur ein Dreisekundenkuss mit geschlossenen Lippen, aber ihre Mutter hat behauptet, ich hätte sie gegen mein Auto gedrückt und abgeleckt, oder so.«

»Ja und?«, meinte Damian, »die Alte übertreibt eben wie ’ne hysterische Kuh.«

»Nicht so schnell, Motte«, wehrte Tim ab, »denn erstens, woher wusste sie davon, oder besser, wer hat ihr das erzählt? Und zweitens, hat sie wirklich übertrieben, oder ist es ihr schon so übertrieben erzählt worden?«

»Die Weißröckchen!«, rief Julian.

»Ganz klare Sache«, stimmte Tim zu, »man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass Jana und Celine die einzigen sind, die beide von uns, Anna und mich, verachten und in die Pfanne hauen wollen.«

»Aber sie waren doch am Montagabend nicht im Messing«, wandte Isi ein.

»Richtig«, pflichtete Melli ihr bei, »aber die Geschichte ist gestern auf dem Gymmi rauf und runter getragen worden. Deswegen wussten sie davon.«

»Wie waren die beiden heute drauf?«, fragte Tim.

»Wie immer«, meinte Melli und grinste, »scheiße eben.«

»Oh!«, fiel Isi ein, »Celine ist jetzt die neue Leithündin. Sie haben heute eine Neue aufgenommen.«

»Wen?«, wollte Tim sofort wissen.

»Valeria Kusnezow«, antwortete Isi.

»Voll merkwürdig«, fügte Melli hinzu, »die ist erst in der Neunten.«

»Was wisst ihr noch über sie?«, bohrte Tim weiter.

»Eigentlich nichts«, gab Melli zurück.

»Dann forscht doch mal ein bisschen nach!«, schlug Tim bestimmt vor.

»Wieso?«, fragte Isi erstaunt.

»Ja, Alter«, stimmte Alex zu, »mach mal halblang! Wahrscheinlich hat die gar nichts damit zu tun.«

»Seh ich anders«, beharrte Tim, »wenn wir richtig liegen und die Kotzbrocken Annas Eltern wirklich mit Falschinformationen füttern, dann bereiten die beiden ein gezieltes Mobbing gegen Anna vor. Und Melli hat völlig recht. Es ist total merkwürdig, dass sie ein Mädchen aus der Neunten aufnehmen. Die haben diese Valeria nicht ohne Grund ausgewählt, und deswegen will ich alles über sie wissen!«

»Aye, Captain!«, rief Melli und salutierte salopp.

»So will ich euch hören!«, lachte Tim, und dann wurde sein Gesicht wieder ernst, »denn eins weiß ich sicher: Wenn es irgendwo nach Scheiße stinkt, dann liegt auch irgendwo ein fetter Haufen rum!«

»Hä? Was?«, rief Kevin überrascht dazwischen, »was ist mit mir?«

»Nee, Haufen!«, rief Damian in das Gelächter, das den Raum erfüllte, »hat nix mit dir zu tun.«

»Ach so!«, blökte Kevin, »hätt ja sein können. Worum geht’s denn?«

»Mann, Haufen!«, brach Damian aus, »ich glaub’s nicht! Du sitzt die ganze Zeit mit offenen Augen neben mir, und du weißt nicht, worüber wir labern, seit Trip hier ist?«

»Nee, weiß ich nicht.«

Damian lachte spöttisch.

»Dann leg dich wieder hin!«, feixte er, »schlaf gut und träume süß.«

»Also dann«, meinte Isi vergnügt und rieb sich die Hände, »kümmern wir uns wohl ab morgen um die Kobros.«

»Das gefällt dir, hm?«, grinste Melli ihr zu.

»Oh ja!«, antwortete Isi betont, »also, Trip, was sollen wir machen?«

Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck lehnte Tim sich nach vorne.

»Ganz egal was sie tun«, bestimmte er trocken, »was immer ihr mitkriegt, sagt es mir! Ich will wissen, was sie reden. Ich will wissen, was sie machen. Wenn sie aufs Klo gehen, will ich wissen, welche Farbe ihre Pisse hat! Ich werde sie einkesseln! Und wenn es soweit ist…«

Tim hielt inne und blickte von einem zum anderen.

»Ja, Trip«, sagte Julian, »was ist dann?«

Die Augen seiner Freunde blickten Tim wie gebannt an. Er lehnte sich lässig zurück und zischte:

»… dann haben die Leute eine neue Story über mich zum Rumtratschen!«

Das Esszimmer der Familie zur Heyden war außerordentlich großzügig. Es schloss sich links an die große Eingangsdiele an, war jedoch von dieser durch eine massive Wand abgetrennt und nur über den Flur, der links aus der Diele abmündete, zu betreten. Die äußere Längswand enthielt zwei linsenförmige Erker, die raumhoch mit weißen Sprossenscheiben verglast waren. Längs an ihnen vorbei verlief ein großer, massiver, an den Enden abgerundeter Eichenholztisch. Ebenso massive und schwere Eichenholzstühle flankierten die Längsseiten des Tisches, vier an jeder Seite. An den abgerundeten Kopfenden standen jeweils noch mal drei Stühle. Diese beeindruckende Einrichtung bot sich in erster Linie zur Bewirtung von Gästen an, doch nahmen die Hausherren ihrerseits an jedem Tag zur gleichen Stunde dort ihre gemeinsamen Mahlzeiten ein. Die Gewohnheit brachte es mit sich, dass die Familie, bestehend aus Wolfgang und Vivienne zur Heyden und ihrem einzigen Kind Annabelle Patrizia Josephine, stets das Tischende besetzte, das am weitesten von der Tür entfernt war.

An diesem Abend wich die Sitzordnung vom gewohnten Bild ab. Zwar saßen Wolfgang und Vivienne auf ihren üblichen Plätzen, den beiden äußeren Stühlen an dem halbkreisförmigen Tischabschluss. Anna jedoch hatte nicht zwischen ihnen Platz genommen, sondern sich auf den mittleren Stuhl am gegenüber gelegenen Kopf der Tafel niedergelassen.

»Annabelle«, bat Vivienne ihre Tochter eindringlich, »nun setz dich doch hierher! Hier ist doch immer dein Platz gewesen.«

»Heute ist er es nicht«, stellte Anna missmutig klar. Trotzig und anmutig zugleich schlug sie die Beine übereinander. Sie hatte sich ihren tiefschwarzen Fendi-Minirock mit dem passenden, ebenso schwarzen Oberteil zum Abendessen angezogen. Dazu zierte wie üblich Oma Lenis barocke Halskette mit dem goldenen, herzförmigen Anhänger ihren schlanken Hals.

»Dann iss wenigstens etwas, Schätzchen«, forderte Wolfgang, während er ein Stück Hühnerbrustfilet von einer Platte nahm und auf einem Porzellanteller ablegte, »du liebst Hühnchen.«

»Nein, vielen Dank«, lehnte Anna ab und ließ ihre Hände unverändert im Schoß liegen, »ich habe keinen Appetit.«

»Annabelle!«, drängte ihre Mutter sie, »nimm bitte etwas zu dir! Du hast den ganzen Tag nicht das Geringste gegessen.«

Wolfgang sah zu Anna herüber und hielt ihr den Teller hin.

»Nun komm schon, Annabelle«, sagte er aufmunternd, »es ist vorzüglich geraten, genau wie du es magst.«

»Es sind nicht die Speisen, die mir den Appetit verderben«, erklärte Anna ruhig und sah Vivienne an, »sondern die Tischgesellschaft.«

Entrüstet senkte Vivienne ihre Hände und legte das Besteck ab. Wolfgang zog den Teller, den er Anna eben noch hingereicht hatte, wieder zurück und stellte ihn neben seinem Teller ab. Anna beobachtete, wie sie beide nach ihren Servietten griffen und sich ihre Mundwinkel abtupften. Äußerst streng sahen sie zu ihrer Tochter hinüber.

»Annabelle!«, ergriff Wolfgang eindringlich das Wort, »sprich nicht so mit deiner Mutter!«

»Da hörst du es, Wolfgang!«, empörte sich Vivienne, »sie ist nicht wiederzuerkennen. Das kommt eindeutig von ihrem Umgang mit dem Gesindel aus diesem grässlichen Jugendhaus. Oder kannst du dich erinnern, dass sie jemals in diesem Ton mit mir gesprochen hat?«

»Du hast mir auch noch nie einen Grund dazu gegeben!«, hielt Anna wütend dagegen, während sie sich nach vorne lehnte, »du weißt nicht das Geringste über das Haus der Jugend. Der Leiter dort ist ein ausdermaßen respektabler Herr, und Tim und seine Freunde stehen treu zu ihm und helfen ihm bei der Arbeit. Du hast kein Recht, sie so gemein abzuwerten, nur weil sie nicht unsere soziale Stellung haben!«

»Schluss jetzt, Annabelle!«, befahl Wolfgang energisch. Anna lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Langsam verschwanden die zwei Stirngrübchen, die ihren Ausbruch begleitet hatten. Sie sah zu, wie ihr Vater nach Worten suchte, indem er die Augen schloss und nachdenklich an seine Nasenwurzel fasste.

»Hör zu, Schätzchen«, sagte er dabei in einem ruhigen, besänftigenden Ton. Dann sah er Anna an und erklärte: »Es geht hier nicht vornehmlich um den jungen Herrn Richthof und seine Freunde, sondern um dein Verhalten gestern Abend. Deine Mutter ist äußerst besorgt, weil dir so etwas überhaupt nicht ähnlich sieht.«

»Und es ist nur folgerichtig«, fügte Vivienne hinzu, »dass du dafür nun die angemessenen erzieherischen Konsequenzen tragen musst. Du stimmst mir da doch sicherlich zu, richtig?«

»Bitte suggeriere mir keine Antworten, Mama!«, protestierte Anna nachdrücklich, doch in ruhigem Ton, »du stellst es so dar, als hätte ich alleine die Schuld an diesem Vorfall, aber so ist es nicht. Du hast mich in tiefster Seele verletzt, indem du mein Andenken an Oma Leni in Frage gestellt hast. Das weißt du. Meine Reaktion darauf war sicherlich zu heftig, zugegeben. Aber das, was du mir jetzt antust, nennst du angemessen? Du hältst meinen Freund von mir fern. Du nimmst mir mein Mobiltelefon weg. Du verbietest mir, in der Schule mit meinen Freunden zu sprechen. Und jetzt verlangst du auch noch, dass dieser langweilige Popanz mich auf dem Schulweg eskortiert.«

»Sprich nicht so despektierlich über ihn!«, ermahnte Vivienne ihre Tochter, »Philipp ist ein anständiger junger Mann mit guten Aussichten. Ich frage mich, was du plötzlich gegen ihn hast, wo ihr euch doch als Kinder immer so gut verstanden habt.«

»Nun, Mama«, gab Anna ihr zurück, und diesmal klang ihre Stimme schon recht hochnäsig, »genau dort liegt der Fehler in deinem wunderschönen Plan: Ich bin kein Kind mehr. Ich bin jetzt eine Frau, aber du behandelst mich, als wäre ich dreizehn.«

»Du bist noch keine Frau, mein Kind«, wandte Vivienne ebenso überheblich ein, »du bist immer noch minderjährig. Am Tag, an dem du achtzehn wirst, können wir das Thema gerne wieder aufgreifen.«

»Quod erat demonstrandum!«, rief Anna höhnisch lachend und schlug beide Handflächen auf ihre Oberschenkel.

»Was siehst du bitteschön als bewiesen an, Annabelle?«, hakte Vivienne energisch nach.

»Dass du mich wie ein Kind behandelst«, antwortete Anna schnippisch, »schöner konntest du meine Worte nicht unterstreichen.«

»Ich behandele dich wie ein Kind«, rief Vivienne wütend, »bist du erwachsen bist!«

»Und wann wird das sein?«, gab Anna ihr spöttisch zurück.

»Sobald du volljährig bist!«

»Ich verstehe. Dann bestimmt also das Bürgerliche Gesetzbuch darüber, wie du mich behandelst. Das ist ja wunderbar.«

»Komm mir jetzt nicht mit Spitzfindigkeiten!«

»Nein, ich möchte das jetzt wirklich gerne wissen. Also, in eineinhalb Jahren am 22. Mai, da bin ich noch ein Kind. Und am 23. Mai bin ich demnach erwachsen, ja? Ich werde mich also über Nacht völlig verändert haben, werde ein gänzlich anderer Mensch sein. Ist das richtig?«

»Annabelle, das ist Unsinn!«

»Ja, Mama, in diesem Punkt sind wir uns dann endlich einig.«

»Sag mir bitte eins, Annabelle«, forderte Vivienne verärgert, »woher kommt deine Aufsässigkeit uns gegenüber, wenn nicht von deinem Umgang mit diesen Leuten?«

»Das will ich euch gerne erklären«, begann Anna, und auch ihr war die Verärgerung deutlich anzumerken, als sie sich abermals nach vorne lehnte, »ihr verabscheut Tim wegen seiner Herkunft und wegen der Probleme, die er als Jugendlicher hatte. Aber ihr wisst nichts über ihn. Ihr wisst nicht, unter welchen Bedingungen er aufgewachsen ist, und das interessiert euch auch gar nicht. Ihr seht ihn an wie einen Dämon, den man vertreiben muss. Ihr verurteilt seine Freunde, ohne sie auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben. Und dann verurteilt ihr mich gleich mit, ohne euch meine Version der Geschichte anzuhören. Was ihr beide mir und Tim antut, ist in meinen Augen großes Unrecht. Und jetzt, da ich weiß, dass ihr zu solch einer Ungerechtigkeit fähig seid, bleibt mir leider nichts anderes übrig, als alles, was ihr mir jemals beigebracht habt, in Frage zu stellen!«

Damit lehnte Anna sich in ihrem Stuhl zurück. Ihre Augen hatten sich während ihrer Worte mit Wasser gefüllt. Sie wandte ihr Gesicht zum Fenster hin und wischte sich mit den Händen die Tränen ab.

»Darf ich aufstehen?«, fragte sie kurz angebunden und sah ihren Vater an.

»Bitte«, antwortete Wolfgang trocken.

»Danke.«

Anna erhob sich, schob ihren Stuhl an den Tisch und ging zur Esszimmertür. Dort drehte sie sich noch einmal um und sah ihre Mutter an.

»Und auf keinen Fall lasse ich mich von dir mit Philipp Hinkheim verbandeln!«, stellte sie klar und eilte zur Tür hinaus. Schnell verhallten die Klänge ihrer hohen Absätze in der Diele.

»Ist das dein Ernst?«, fragte Wolfgang seine Frau, »du willst Philipp dazu benutzen, sie mit Tim Richthof zu entzweien?«

»Warum auch nicht?«, entgegnete Vivienne, »er ist an Annabelle interessiert, und mit der Zeit, wenn er es ordentlich anstellt, gewinnt er ihr Herz vielleicht.«

»Ich habe da meine Bedenken, Vivienne«, wandte Wolfgang ein, »und auch die übrigen Maßnahmen möchte ich gerne mit dir diskutieren. Ich habe nichts gegen ein Handyverbot. Auch ihren Hausarrest hat sie durchaus verdient. Aber ihr diese Auflagen für den Schulbesuch aufzuerlegen ist meines Erachtens nicht nur unpraktikabel, sondern stellt auch eine Beeinträchtigung ihres Ansehens dar.«

Vivienne schüttelte den Kopf.

»Ihre Beziehung zu diesem Herumtreiber stellt die eigentliche Beeinträchtigung ihres Ansehens dar. Und unseres gefährdet sie damit obendrein. Dass sie aber auch so egoistisch sein kann…«

»Er ist da«, bemerkte Vivienne am nächsten Morgen beim Blick aus dem Küchenfenster, »beeile dich, Annabelle!«

»Er wird keinen Schaden nehmen, wenn er fünf Minuten wartet«, trotzte Anna schnippisch, während sie ihre Zazzle-Brotdose schloss.

»Sei bitte nicht unhöflich, Annabelle!«, ermahnte ihre Mutter sie, »immerhin hat er sich freundlicherweise bereiterklärt, dich mit zur Schule zu nehmen.«

»Aus reiner Herzensgüte«, kommentierte Anna ironisch und hängte sich ihre Tasche über die Schulter.

»Gewiss, er mag dich«, verstand Vivienne Annas Anspielung, »ist das neuerdings ein Grund, ihm die gebührende Höflichkeit zu verweigern?«

»Ich werde ihm mit gebührender Höflichkeit begegnen«, sagte Anna ruhig, »aber wenn er sich einbildet, dass dieses Arrangement seine Chancen bei mir erhöht, ist er auf dem Holzweg.«

»Wie du meinst, Kleines«, antwortete Vivienne kühl, »dein Kleid wird ihm jedenfalls gefallen. Denkst du nicht, dass es um diese Jahreszeit allmählich zu kalt ist, um Minimode zu tragen?«

Anna sah kurz an ihrem anthrazitfarbenen Neil-Barrett-Kleid herunter.

»Das fragst du mich jedes Jahr, Mama«, gab sie zurück, »und jedes Jahr sage ich Nein. Ich breche jetzt auf. Bis heute Abend!«

Damit verließ Anna die Küche und ging aus dem Haus. Unten an der Straße wartete Philipp Hinkheim in einem silbermetallicfarbenen Audi TT Coupé auf sie. Er war neunzehn Jahre alt und einsvierundneunzig groß. Seine Statur lag zwischen normal gebaut und schlaksig. Sein kantiges Gesicht mit spitz vorstehendem Kinn wurde von kurzen schwarzen Haaren umfasst, die nach oben gegelt waren. Er war einer von diesen langen, ungelenken Typen, die einem irgendwie