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Der Hamburger Ernst Groß ist wieder in seinem Wohnmobil auf dem Weg in Richtung Fehmarn. Diesmal, um seiner Schwester Klara das Erbe des Vaters zu überbringen. Außerdem hat er tierische Verstärkung im Gepäck: Gemeinsam mit Hund Schnurres kämpft er entlang der Ostseeküste zwischen Travemünde und Großenbrode gegen äußere Widrigkeiten und innere Dämonen und steckt seine Nase dabei in jede Menge Verbrechen. Ob die beschauliche Insel Fehmarn ihn mit der ersehnten familiären Atmosphäre empfangen wird, ist zu bezweifeln. Nur so viel soll verraten werden: Der zweite Band der Ostsee-Road-Krimi-Reihe schildert eine weitere spannende Geschichte über Mut, Loyalität und die starke Verbindung zwischen Mensch und Tier.
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Seitenzahl: 394
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Wo auch immer sich jemand unglücklich fühlt, schickt Gott einen Hund.Alphonse de Lamartine (1790–1869)
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Städten und Gemeinden, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe Stock, 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8725-3
Klaus E. SpieldennerDas ist mein Ernst!
Vorwort
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Gerade halten Sie den zweiten Teil meines Wohnmobil-Road-Krimis in Ihren Händen. Nach so viel positivem Zuspruch auf Band 1, Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!, habe ich mich – in Absprache mit dem Verlag CW Niemeyer – kurzfristig entschlossen, den Hamburger Ernst Groß und seinen vierbeinigen Begleiter, Hund Schnurres, erneut im alten Hymermobil auf abenteuerliche Reise zu schicken. Anfang Juni 2024 habe ich mit dem Schreiben begonnen, und die Abgabe des Manuskripts war für September, also etwa vier Monate später festgelegt. Schon nach den ersten Seiten kamen mir Zweifel, ob ich überhaupt zeitlich in der Lage sein würde, das Projekt Ostsee-Road-Trip zu stemmen. Der Druck war hoch, in dieser kurzen Zeit ein lesenswertes Buch abzugeben und zu veröffentlichen. Doch Einfall auf Einfall brachte Kapitel für Kapitel, und schon im Juli hatte ich große Teile des Manuskripts fertig. Ich war selbst überrascht, wie gut mir das von der Hand ging. Sicher hat sich die Lebensfreude von Ernst Groß auf mich übertragen. Von Anfang an war klar, dass Ernst nach seiner Reise von Hamburg in Richtung Polen in diesem zweiten Band seine Abenteuer entlang der Ostseeküste Schleswig-Holsteins auf seinem Weg zur Schwester nach Fehmarn erleben wird. Seebäder wie Timmendorfer Strand, Neustadt in Holstein oder Grömitz, aber auch kleinere Orte wie z. B. Großenbrode, Grube und Süssau waren sehr ergiebig für mich, und damit meine ich nicht nur den touristischen Hintergrund.
Doch eines muss ich gestehen: Die Geschichte „Dixi Blues“ lag schon eine Weile auf meiner Festplatte. Ich hatte sie 2015 für das Wacken Open Air geschrieben, doch Thomas Jensen, Festivalmitbegründer, erklärte mir damals, es gäbe ausreichend Merchandising für das W*O*A, und so wurde die Geschichte nie veröffentlicht. Ich denke, sie ist Ernst Groß wie auf den Leib geschneidert. Auch wenn sie etwas ,angestaubt‘ ist.
„Robbie ist verschwunden“ entstand während der Feier zur silbernen Hochzeit von Anke und Timo Giesecke in Mölln, bei denen ich als Special Guest eingeladen war und aus meinem Buch vorlesen durfte.
Beim Kapitel „Verirrt in Ostholstein “ haben mich Katharina Krause und Christine Licher von der Landesvereinigung der Milchwirtschaft Niedersachsen e. V. auf den ,richtigen Weg‘ gebracht. Danke dafür! (Nein, es gab kein kostenloses Milch-Jahres-Abo für diese Werbung!) 😉
Ich wünsche Ihnen allen viel Gesundheit und Durchhaltevermögen in diesen rauen Zeiten.
Bleiben Sie Ernst Groß und mir treu und haben Sie viel Freude an diesem Ostsee-Road-Trip.
Kriminelle Grüße aus Bad Oldesloe
Klaus E. Spieldenner
KAPITEL 1 DIE HEILE WELT IST EINE SCHEIBE
Noch immer zitterten Ernst Groß die Hände. Er klammerte sie um den Kranz des Lenkrads, als gäbe der ihm Halt in der Not, in der er sich gerade befand. Die schwedischen Entführer von Alice Petterson würden nicht aufgeben, nach ihm zu suchen. Sicher saß die entführte junge Deutsch-Schwedin, aufgrund seines Einsatzes befreit, inzwischen bewacht von unzähligen muskelbepackten Bodyguards in ihrer schönen Villa und ließ es sich gut gehen. Während sich die Mörderbande auf ihn, einen mittellosen Hamburger auf der Flucht vor den Behörden, eingeschossen hatte.
„Ja, eingeschossen ist das richtige Wort!“, rief er laut mit einem Blick nach hinten zu Hund Schnurres, der noch immer verängstigt unter dem Bett kauerte. Aufgrund der fehlenden Frontscheibe des Hymermobils machte ihm der Gegenwind bei höherer Geschwindigkeit schwer zu schaffen. Es fühlte sich an, als müsse er sich gegen einen starken Ventilator nach vorne bewegen. Zum Glück hatte das Projektil wenige Kilometer hinter der polnischen Grenze nur die Scheibe und nicht ihn getroffen. Doch was den Schaden am Fahrzeug anging, musste Ernst dringend etwas unternehmen. Weite Strecken kam er nicht ohne Frontscheibe. Wenn ihm dann noch die Polizei entgegenkam – nicht auszudenken!
Er musste sich erst einmal sammeln. Ernst lenkte das Fahrzeug weiter auf der Bundesstraße 110 und bog an der nächsten Abzweigung links ab. Dargen 1 Kilometer, informierte das Hinweisschild. Darüber am Pfosten zeigte ein verblasster Pfeil mit der Aufschrift DDR Museum in die gleiche Richtung. Egal, er musste von der Bundesstraße runter und sich dann Gedanken machen, wie er die zersplitterte Scheibe ersetzen könnte. Vielleicht sollte er Kumpel Schrader vom Autohaus in Dassow anrufen. Markus wusste stets Rat.
Papas Hymermobil aus den Siebzigern war gerade so etwas wie ein lila Pferd in der weiten Prärie. Er konnte sich verstecken, wo er wollte, überall würden sie ihn finden. Ernst lachte über seinen Vergleich mit dem Pferd und machte ein Wiehern nach. Schnurres traute seinen Ohren nicht und streckte den Kopf etwas nach vorne, in der Hoffnung, dem seltsamen Geräusch auf die Spur zu kommen. Nachdem Ernst die B110 verlassen hatte, spürte der Hamburger, dass auch das Zittern seiner Hände nachgelassen hatte. Sogar der Gegenwind schien die Richtung gewechselt zu haben. Hoffnung keimte in ihm auf.
*
Hier auf der ländlichen Strecke war wenig los. Kurz vor dem Ortsschild überholte ihn noch ein alter Trabant. Der Sachsenporsche tat sich schwer; letztendlich schaffte er es doch. Der Blick des Fahrers war stur nach vorne gerichtet. Ernst erinnerte sich an das Schild: DDR Museum. Ob es daran lag, hier auf einen Trabant zu treffen? Wer außer Sammlern sollte Ausflüge mit alten Ost-Fahrzeugen unternehmen? Dargen selbst sah nicht nach Ostseebad aus, obwohl die Gemeinde unweit vom Meer liegen dürfte, mutmaßte Ernst und folgte intuitiv dem Hinweis zum Museum. Sicher fiel der beschädigte Hymer dort zwischen den alten Ost-Relikten nicht auf. Seit Wochen war Saison, und Hunderte hochpreisiger Wohnmobile von sechs bis weit über zehn Meter Länge waren ihm während seiner Odyssee von Hamburg in Richtung Polen entgegengekommen. Andere hatten ihn trotz enger Alleen überholt. Hier abseits der Route würde er mit seinem alten Hymermobil eher alleine auf weiter Flur sein.
Das Museum selbst lag in der Bahnhofstraße. Während Ernst im Schritttempo auf das Grundstück zurollte, suchte er vergeblich nach einem Bahnhof. Sicher war es Jahrzehnte her, dass hier ein Zug fuhr. Gleise konnte er auch keine erblicken. Sicher hatte das auch etwas Gutes: Über das, was man nicht besaß, konnte man sich auch nicht aufregen.
Von Weitem schien es, als habe das Museum geschlossen. Ernst wunderte sich, wer überhaupt an solch altem Krempel Freude haben konnte. Seine Ex-Frau hatte ihn vor langer Zeit in ein Museumsdorf im Kreis Stormarn geschleppt. Horsdorf oder Heusdorf. Er erinnerte sich nicht mehr genau an den Namen. Aber es war das Langweiligste, was er je erlebt hatte. Während Hilde wie unter Drogen von einem Stand mit hässlichem, selbst gebranntem Geschirr zum nächsten, diesmal mit Unterwäsche aus fusseliger Schafswolle, rannte, genehmigte er sich dort das teuerste Bier seines Lebens. Der Bierbrauer selbst hatte es laut einem Schild neben der Zapfsäule auf dem Gelände hergestellt. Es würden insgesamt nur hundert Liter der Brühe ausgeschenkt, machte ihn ein Hinweis schlauer. Aber diesen Hektoliter ließ sich der Braumeister teuer bezahlen. Wenn die Plörre denn noch geschmeckt hätte! Ernst erinnerte sich, auf die Frage der Dame hinter dem Tresen, ob es lecker sei, nur ausweichend geantwortet zu haben.
Der Hamburger stellte sein Wohnmobil auf einem unbefestigten Platz ab. Siedend heiß fiel ihm ein, dass die Verbrecher ihn vielleicht über das Handy orten konnten. Er musste seine SIM-Karte vernichten. Wie oft hatte er in Filmen gesehen, dass Menschen so ihre Spuren beseitigten. Doch nie hätte er gedacht, dass es auch ihn einmal treffen könnte. Er griff nach dem Handy, fummelte das kleine Plastikteil aus dem Rücken des Mobiltelefons. Außerhalb des Hymers zerstörte er die SIM-Karte durch Tritte mit dem Absatz des Schuhs. Da gab es diesen blöden Witz, wo der Mann auf der Packung mit Kondomen herumtrat und argumentierte, so habe er sich das Rauchen auch abgewöhnt. Aber hier ging es nicht um Spaß und Lebensfreude, hier ging es ihm an den Kragen.
Die wenigen wichtigen Rufnummern, die er gesammelt hatte, waren, so hoffte er, im Handy gespeichert. Er musste alle infrage kommenden Kontakte baldigst über seine neue Rufnummer informieren. Beruhigt spazierte Ernst auf ein Gebäude zu. Hinter ihm erschien Schnurres’ Kopf in der Tür des Hymermobils. Das Tier schaute nach rechts, dann nach links. Wie ein Schulkind, das von der Mama auf die Gefahren der Straße hingewiesen worden war und es jetzt am Fußgängerweg übte. Endlich sprang Schnurres mutig auf den Boden und trottete hinter seinem Herrchen her.
*
Am Eingang des Museums wurde auf eine Bar mit Kaffee & Kuchen hingewiesen. In blauem Schriftzug war Zum Cognac Bär zu lesen. Ernst konnte wenig mit dieser Aussage anfangen. Sein Magen knurrte plötzlich, und er glaubte, das gleiche Geräusch auch von seinem Hund gehört zu haben. Mist, sie hatten nichts mehr zu futtern dabei! Es musste schon nach 17 Uhr sein. Irgendwo sollten sie vor dem Dunkelwerden noch an etwas Essbares kommen.
Das Museum hatte tatsächlich mittwochs ganztägig geschlossen. Ernst war noch etwas durcheinander, glaubte aber sicher zu sein, dass heute Mittwoch war. Na super! Sieben Tage hatte die Woche. Also standen die Chancen 6:1, dass ihm das Glück hold war, das Museum offen zu erleben. Aber nein! Obwohl sich die Depressionen der Wochen zuvor in etwas Freude und Lebensqualität gewandelt hatten, kam es ihm gerade wieder vor, als verschwöre sich die ganze Welt gegen ihn. Schnurres neben ihm winselte. So, als wollte er ihm sagen, ich bin bei dir, du bist nicht alleine. Ernst war sich sicher, das Geräusch kam eher davon, dass der Hund langsam etwas zwischen die Beißerchen bekommen musste. Er drehte sich um und lief nach links in Richtung des großen Gebäudes. Das Ganze hatte etwas von einem Bauernhof. Nur statt Viechern standen auf unbefestigten Flächen und unter Carports alte Vehikel aus der ehemaligen DDR. Der oder die Besitzer schienen sich große Mühe gegeben zu haben, alles zusammenzutragen. Sicher hofften sie Tag für Tag, dass Touristen vorbeikämen und die angegebenen acht Euro Eintritt zahlten. Ernst schwankte zwischen Sinn und Unsinn. Sicher musste man das Gestern erhalten. Aber nicht alles. Und nicht um jedem Preis.
*
„Hallo, Sie da! Heute hat das Museum geschlossen. Haben Sie das nicht gelesen, Sie waren doch beim Eingang?“
Die Stimme klang männlich und genervt. Schnurres hatte mit zwei schnellen Sätzen das Hymermobil erreicht und war darin verschwunden. Bestimmt lag er wieder unter dem Bett der Eltern, der alte Hosenschisser.
„Ja, ja, hab ich gelesen. Wir machen nur kurz Rast, dann sind wir weg.“
Ernst hatte sich nicht umgedreht und folgte seinem Hund. Die Welt war arm geworden. Überall nur Wut und Misstrauen.
„Warten Sie!“ Die Stimme wurde freundlicher, und jetzt trat hinter einem DDR-Feuerwehrwagen ein Herr in den Siebzigern heraus. Er trug eine Schiebermütze und einen Arbeitsoverall. Ernst hatte angehalten und sich in Richtung des Unbekannten gedreht.
„Hatten Sie einen Unfall? Mein Gott, bin ich dämlich! Sicher hatten Sie einen Unfall. Die Frontscheibe fehlt ja. Und ich meckere Sie noch an. Sorry, alte Angewohnheit aus meiner Zeit bei der … ach vergessen Sie es. Hamburger Nummer? Sie kommen von weit her! Also, ich wollte gerade in die Küche. Mia hat Abendessen gemacht. Wir sind mittwochs nur zu zweit, aber sie kann es sich nicht merken und kocht für die ganze Belegschaft. Drinnen können wir uns unterhalten!“ Er machte eine Handbewegung vor dem Gesicht, und Ernst wusste, was genau er damit meinte. Ablehnen ging nicht. Ernst war klar, alles war besser und sicherer, als in das Wohnmobil zu steigen und wegzufahren.
„Stellen Sie das Fahrzeug auf den Hof. Dort unter den Carport!“, wies ihn der Mann an, als ob er von Ernsts Problemen wusste. Der Unbekannte wurde ihm immer sympathischer.
*
Mia war auch weit über sechzig und besaß ein rundes, gutmütiges Gesicht. Sie zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als der Mann mit einem unbekannten Gast plus Vierbeiner die gute Stube betrat. Sie flüsterte nur ein „Willkommen“, stellte einen Teller mehr auf den Tisch und je eine Schale mit Wasser und Essensresten auf den Boden. Schnurres war nicht zu halten. Er stürzte sich darauf, und die Frau musste schnell die Finger wegnehmen. Trotzdem grinste sie.
Es gab Eier mit Spinat und Kartoffeln. Satt! Erst hatte Ernst Bedenken, zuzugreifen, doch Mia packte immer mehr Speisen auf seinen Teller. Der Mann, der sich als Karl Wiener und seine Frau Mia vorgestellt hatte, brachte zwei Flaschen kühles Bier und drückte dem Hamburger eine davon in die Hand. Mia trank Wasser.
„Es ist schön, mal wieder Besuch zu bekommen!“ Der Blick seiner Frau war spärlich, und Karl meinte: „Also, außer den Besuchern, die kommen und gehen!“
„Was ist mit der Frontscheibe geschehen?“, wollte er plötzlich wissen. Ernst verschluckte sich fast an einer Kartoffel. Der Hamburger zögerte, die wahre Geschichte zu erzählen. Doch dann brachte er es nicht über sich, eine frei erfundene Story loszuwerden. Und während Schnurres hinten beim Herd lag und schon die Augen geschlossen hatte, berichtete Ernst über die Entführung von Alice und die schwedischen Gangster, die ihn bedroht hatten.
„Wow!“, meinte Karl nach einer Schweigeminute unter wildem Kopfnicken. „Da hast du ja etwas erlebt. Du bist ein Held. Einer, der in Gefahr schwebt. Du solltest zur Polizei gehen und Schutz beantragen.“
Seine Frau hatte den Stuhl näher zu Ernst gerückt und interessiert zugehört.
„Was soll die Polizei ausrichten, Karl? Du kennst die Typen doch. Alles wie früher, nur andere Uniformen. Wie können wir dir helfen, Ernst?“
„Ich glaube, das größte Problem ist die zerbrochene Frontscheibe“, erklärte er dankbar. „Damit falle ich überall auf. Ich muss zurück nach Hamburg. Dort gibt es genügend Hymer-Werkstätten. Die haben sicher die passende Scheibe und können sie einbauen.“
„Wir kümmern uns!“, erklärte Mia kurz und bündig, und wie es aussah, hatte Karl in diesem Fall kein Mitspracherecht.
„Ihr schlaft erst einmal heute Nacht hier in der Ferienwohnung. Und morgen baut dir Adam eine Scheibe ein. Wenn einer so etwas schafft, dann unser Adam.“
*
Ernst hatte in der Nacht fast kein Auge zugemacht. Ständig raschelte es in einer Ecke der riesigen Ferienwohnung. Bestimmt acht Personen konnte man hier beherbergen. Als er endlich einschlief, träumte er von riesigen dunklen SUVs, die hinter dem Hymer her waren, und schweißgebadet wachte er auf. Schnurres dagegen schien den Schlaf der Gerechten zu schlafen. In der Nacht machte er Geräusche, als sei er im entspannten Hundetraum unterwegs. Unausgeglichen ausgeruht, spazierten beide kurz nach acht Uhr in die Küche. Mia wartete schon mit dem Frühstück. Draußen waren Motorengeräusche zu hören. Karl schien die alten Fahrzeuge angeworfen zu haben und für den Tag vorzubereiten.
„Adam ist gerade auf den Hof gefahren!“, erklärte Mia und wies aus dem Küchenfenster. Ernst nahm einen letzten Schluck aus der Kaffeetasse, warf der Frau einen dankbaren Blick zu und lief nach draußen.
„Adam ist tatsächlich kleiner als ich!“, freute sich Ernst, als der glatzköpfige Typ im Overall aus einem alten Golf mit polnischem Kennzeichen stieg. Doch als er vor ihm stand, musste der Hamburger zugeben, er war um einige Zentimeter größer.
Karl war zu den beiden Männer getreten. „Das ist Ernst!“, stellte er den Hamburger vor. Adam nickte nur. Es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren.
Erst als Karl von der zerstörten Scheibe des Wohnmobils erzählte, war Adam wie umgewandelt. Als habe die Aussicht auf Arbeit seinen Kreislauf angekurbelt. Mit einem Rundumblick hatte er Kontakt zum Hymermobil aufgenommen und lief dorthin. Ernst folgte ihm.
„Sie ist völlig hin!“, versuchte Ernst ein Gespräch zu beginnen. Adam schaute ihn skeptisch an und meinte: „Ich baue dir eine Frontscheibe ein. Aber nur provisorisch. Damit solltest du zu einer Werkstatt fahren, die eine passende Scheibe vorrätig hat.“
„Das ist super, besten Dank! Ich …!“
Adam hielt eine Hand hoch und unterbrach ihn. „Aber lass mich bloß in Ruhe arbeiten!“
Ernst und Schnurres spazierten durch das Museum und genossen kostenfrei und ohne Begleitung die umfangreiche Sammlung an Ost-Relikten, die Mia und Karl über Jahrzehnte hier angehäuft hatten. Mia hatte es ihm angeboten, während Adam arbeitete. Ernst traute sich trotz Desinteresses an dem alten Plunder nicht, das freundliche Angebot abzulehnen. Aus Richtung des Hymers hörte er Geräusche, die nach einem Staubsauger klangen. Sicher war der Pole dabei, die zahlreichen Splitter aus dem Wageninneren zu entfernen. So hätte er es auch gemacht. Doch wo wollte Adam die passende Scheibe herbekommen? Egal, er würde sich überraschen lassen.
*
Der Pole hatte es tatsächlich geschafft, die Frontscheibe zu erneuern. Das Wort erneuern traf es nicht ganz. Die Scheibe, die nun vor dem Fahrer thronte, war etwas breiter als die alte. Doch Adam hatte sie mit Gewebeband und Silikon sauber und, wie es schien, sicher befestigt. Von mehreren Metern Entfernung war der behobene Schaden kaum zu erkennen. Nur wer unmittelbar vor dem Hymer stand, konnte das schwarze Band, das die Scheibe hielt, sehen. „Alles ist besser als eine Öffnung vor mir auf der Weiterfahrt!“, dachte der Hamburger und bedankte sich bei Adam. Doch der grinste nur und meinte: „Die Scheibenwischer würde ich nur im absoluten Notfall einschalten!“ Dann verschwand er in eine seitlich gelegene Halle.
„Wie kann ich das wiedergutmachen?“, überlegte Ernst. Er besaß noch knapp zweihundert Euro bar. Die Entführer hatten es nicht auf das Geld abgesehen, und so waren sie ihm geblieben. Er benötigte noch ein paar Scheine zum Tanken, um bis nach Hamburg zu kommen. Dort musste er den güldenen Räuber zu Geld machen, um damit die Reparatur zu bezahlen. Die alte Münzsammlung des Vaters wollte er erst einmal nicht aus der Hand geben.
Als Ernst nach der Rechnung fragte, winkte Karl nur ab. „Wir sind aus ähnlichem Holz geschnitzt, Ernst. Du aus Westholz und ich aus Ostholz!“, lachte er. „Wir werden nie zu Reichtum kommen. Also lass dein Geld stecken. Adam macht es Freude, etwas zu reparieren, und Mia und ich haben deinen Besuch genossen. Und den von Schnurres natürlich auch!“ Er streichelte dem Hund über sein Fell.
„Nein, etwas möchte ich euch für die Gastfreundschaft geben!“ Ernst zog zwei 50-Euro-Scheine aus der Hosentasche und schob sie dem verblüfften Karl in den Overall. Dann drehte er sich um, winkte Mia zu, die am Fenster stand und dabei war, eine Decke auszuschleudern. Der Hamburger stieg in das Fahrzeug, pfiff nach seinem Hund, und als der hineingesprungen war und auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, startete er den Motor des Hymermobils und fuhr los. Er winkte aus dem offenen Fenster, und Dankbarkeit überkam ihn. Genauso wie vor Wochen in Dassow, als er das Autohaus Schrader verlassen hatte.
Schon nach wenigen Kilometern auf dem Weg in Richtung Hamburg überkam Ernst eine große Müdigkeit. Kein Wunder, in der letzten Nacht hatte er wenig Schlaf bekommen. Die Straße verschwamm leicht vor seinen Augen. Kurz hinter der Zecheriner Brücke im Peenetal fuhr er auf einen gut belegten Waldparkplatz, um etwas zu schlafen. Sicher war es besser, in der Nacht auf der A20 zu fahren. Da fiel er mit der geflickten Scheibe nicht so auf. Er ließ Schnurres noch schnell sein Geschäft verrichten. Anschließend verriegelte er den Hymer und fiel müde auf sein Bett. Sofort war er eingeschlafen.
KAPITEL 2 ZURÜCK IN HAMBURG
Wochen war es her, seit Ernst Groß die Flucht aus Hamburg ergriffen hatte. Seither lief nichts nach Plan. Doch letztendlich war er gestärkt und ohne körperlichen Schaden aus all den unterwegs erlebten Abenteuern herausgekommen. Auch Hund Schnurres schien zu spüren, dass wieder eine Richtungsänderung angesagt war. Je näher das Hymermobil der Hansestadt kam, umso unruhiger wurde das Tier. Es war eine Art Seelenverwandtschaft mit dem Vierbeiner entstanden, und erneut dankte der eher ungläubige Ernst Groß irgendjemandem da oben, der das Treffen zwischen ihm und dem Hund veranlasst hatte. Damals beim NETTO-Markt im Amt Niepars.
Spät in der Nacht erreichten sie Rissen. Eine herbstliche Kühle erwartete ihn in Hamburg. Es war nahezu das Einzige, was Ernst an dieser Stadt vermisst hatte: der ständige Wind, der auch an heißen Sommertagen stets für Abkühlung sorgte. Ernst parkte beim Herwigredder am Ende der Rissener Dorfstraße. Nicht ohne Stolz verließ er das Wohnmobil. Er besaß ein TÜV-geprüftes Fahrzeug; all seine Schulden hatte der Vater der entführten und durch seinen Einsatz befreiten Alice Petterson bezahlt. Eigentlich konnte er sich wieder ohne Angst vor der Polizei durch seine Geburtsstadt bewegen. Trotzdem war da noch immer dieses schlechte Gewissen. Daran musste er arbeiten. Alles kam ihm hier so fremd vor. Obwohl es seine Heimat war. Schnurres hatte er beim Verlassen des Fahrzeugs an die Leine gelegt. Das passte dem Tier nicht, und es versuchte durch das Halsband zu schlüpfen.
„Nein, Schnurres, lass das! Wenn du mir entwischst, kommst du in ein Tierheim. Und dort erwartet dich das Elend, das ich schon hinter mir habe!“
Ihm war klar, er übertrieb. Aber Schnurres schien es verstanden zu haben. Das Tier schaute ihn mit großen Augen an und ergab sich mit hängenden Schultern in sein Schicksal.
Erneut kamen Hungergefühle auf. Er verabreichte dem Hund ein verspätetes Abendessen, führte ihn danach auf eine Wiese, um sich anschließend schlafen zu legen. Am Morgen würde einiges zu regeln sein. Schnurres legte sich wie immer in der Nacht an der Tür ab, und nach einigen angsterregenden, ihm unbekannten Geräuschen um sie herum schlief Ernst tatsächlich ein.
*
Das Kratzen des Hundes an der Tür weckte Ernst am Morgen. Es regnete leicht. Trotzdem musste er raus, damit das Tier sein Geschäft verrichten konnte. Auf einer Wiese neben der Bäckerei Broterich setzte Schnurres seinen Kot ab. Dort hatte Papa immer seine Backwaren gekauft, erinnerte er sich. Ernst fiel ein, dass er keine Kacktüte dabeihatte. Unterwegs war es bisher nie zu einem Problem geworden. Doch hier in Hamburg konnte es schnell Ärger geben. Und Ärger benötigte er so dringend wie Durchfall. Ihm fiel Mamas ehemaliger Hund Räuber ein. In dieser Zeit gab es noch keine kostenfreien Kotbeutel an jedem Laternenmast. Er erinnerte sich nicht daran, dass die Menschheit sich über Hundehaufen aufgeregt hatte. Doch damals war die Anzahl der Hunde geringer. Sicher gab es auch noch keine Hundesteuer. Ernst schlug den Rückweg zum Hymer ein. Im Fahrzeug sollten noch einige Beutel liegen.
„Sind Sie noch ganz bei Trost, Mann! Sie können die Kacke doch nicht hier liegen lassen und sich verdünnisieren!“, schrie eine ihm unbekannte Stimme.
Ernst fuhr erschrocken zusammen. Auch sein Hund hatte den Schwanz eingezogen. Das fehlte noch, gerade in der Heimat angekommen, schon Scherereien.
„Sorry“, rief Ernst, während er sich zu der Stimme umdrehte. „Ich wollte im Wagen nach einem Beutel…!“
„Ernst Groß, bist du das?“, rief die Stimme, und der Tonfall wurde angenehmer. Wenige Meter neben der Bäckerei stand ein alter Mann in weißer Bäckerbekleidung mit einer Zigarette in der einen Hand. Mit der anderen kratzte er sich an der kahlen Kopfhaut.
Ernsts Gehirnzellen begaben sich auf eine Reise durch eine Gesichter-Datei. Ähnlich, wie er sie aus zahlreichen Kriminalfilmen kannte. Bei dem Porträt des Mannes vor ihm blieb das analoge System nach Sekunden stecken, und Ernst war klar, er hatte Kurt Broterich, den Senior-Chef der Bäckerei Broterich vor sich.
„Hallo Herr Broterich, ja, ich bin es, Ernst!“ Während er das rief, gingen ihm Bilder durch den Kopf, und er sah seinen Vater an einem Skattisch sitzen. Vor sich: Bier und Korn. Ihm gegenüber saß Kurt Broterich, der Bäcker. Dieser hatte ein siegessicheres Gesicht aufgesetzt und hielt Spielkarten in seiner Hand.
„Mensch Ernst, dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Seit Julius’ Beerdigung nicht mehr …!“
Schnurres hatte sich beruhigt und zog an der Leine in Richtung Backstube. Sicher hatte er den Geruch von frischem Brot und anderen Leckereien in der Nase.
„Entschuldigen Sie, Herr Broterich. Ich war gerade auf dem Weg zum Fahrzeug, um eine Tüte für den Haufen …“, Ernst wies auf die Exkremente des Tieres, „… zu holen!“
„Scheiß drauf!“ Broterich lachte über sein Wortspiel, und erst nach einigen Sekunden meinte er: „Lass liegen! So viele Hundebesitzer interessiert es nicht, wo ihre Köter hinkacken. Die entschuldigen sich noch nicht einmal. Das geht aufs Haus!“
*
Minuten später saßen Ernst und der alte Bäcker gemeinsam in einem kleinen Raum neben der Backstube. Broterich hatte ihn wegen des Regens hereingebeten, und Geräusche ließen Ernst vermuten, dass im Nebenraum gerade gebacken wurde.
„Schön, dich zu sehen, mein Junge! Du weißt, wie sehr ich deinen Vater gemocht habe. Ja, wie schnell verändert sich alles, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Ich weiß, wovon ich rede. Meine langjährige Ehefrau starb auch wenige Wochen nach Julius.“
Ernst wusste nichts davon und bemerkte, wie sich Broterich die Tränen mit dem Ärmel der Jacke abwischte.
„47 Jahre waren wir verheiratet. Dann fuhr so ein Depp sie mit einem dieser unnützen, überall rumstehenden E-Scooter an. Sie stürzte schwer. Oberschenkelhalsbruch! Dann noch eine Embolie. Hat sich nicht mehr erholt. Nach drei Wochen im Koma starb sie. Es ging verdammt schnell!“
Die letzten Worte, so glaubte Ernst, klangen nach Erleichterung. Sicher konnte Broterich seine Frau nicht leiden sehen. Er versuchte sich an das Gesicht der Bäckersfrau zu erinnern. Doch es fiel ihm nicht ein. Er war selten hier zum Einkaufen gegangen. Eher hatte er den angetrunkenen Vater nach einem Anruf vom Skat-Stammtisch im Vereinsheim abgeholt und heimgebracht.
„Wie ist es dir ergangen, Ernst? In der Wohnung von Julius wohnen inzwischen Migranten. Aus Afrika. Nette Familie. Kauft regelmäßig hier ein!“
Für Ernst klang es, als ob der Einkauf in der Bäckerei es war, der den Aufenthalt der Ausländerfamilie in der Bundesrepublik rechtfertigte.
Ernst berichtete von seiner abrupten Flucht aus Hamburg nach Papas Tod und erzählte Herrn Broterich in Kurzform einige der erlebten Abenteuer.
„Wow, da hast du einiges erlebt. Und einen Hund besitzt du auch. Warte, ich packe dir eine Tüte mit belegten Brötchen und Kuchen ein. Sicher findet sich auch etwas Leckeres für das Tier.“
Bei dem Wort Leckeres spitzte Schnurres die Ohren und war aufgesprungen. Broterich lachte und strich ihm über sein Fell.
„Da fällt mir ein, Ernst, erst gestern standen zwei seltsame Typen in der Bäckerei. Sie machten eher nicht den Eindruck, dass es ihnen ums Einkaufen ging. Ich konnte sie zwar nur aus einiger Entfernung sehen, glaube aber, eine Beule im Jackett erkannt zu haben. Maria, eine der Bäckereifachverkäuferinnen, hat zum Glück nichts bemerkt. Sie ist mal an Halloween, als zwei Jugendliche mit Maske und Plastikmesser die Bäckerei betreten haben, in Ohnmacht gefallen. Ja, Maria ist schräg drauf … sagen das die jungen Leute nicht?“ Er lachte lautstark.
„Was war nun mit den Typen, Herr Broterich?“
„Ach ja, die Kerle erkundigten sich über die Familie Groß. Weißt du, es gibt weiter oben noch Erna und Linda Groß. Sie wohnen schon einige Jahre hier und sind treue Kunden. Erst letztens hat Maria …!“
Ernst unterbrach ihn, leicht genervt und mit zittriger Stimme. „Haben sie nach … mir gefragt?“
„Nun ja, sie fragten nach dem alten Hymermobil von Julius, und ich habe ihnen erzählt, dass es nun deiner ist und du dein Erbe wohl mit Schwester Klara teilen musst.“
„Sie haben Schwester Klara erwähnt?“ Ernst war außer sich. Ließ es sich aber nicht anmerken.
„Tatsächlich habe ich das. Vom Blumenladen habe ich nichts gesagt. Glaube ich zumindest.“ Broterichs Gesicht zeigte einen Ausdruck von Reue. Er schien bemerkt zu haben, dass es Ernst nicht recht war, dass er alles ausgeplaudert hatte.
„Aber die Insel …!“
„Du meinst Fehmarn? Nun ja, kann sein, dass ich das erwähnt habe. Nicht ohne Stolz. Julius hat immer so geschwärmt von seiner schlauen und fleißigen Tochter. Während du ja ...!“ Der Bäcker stoppte seinen Satz, als der Geselle den Raum betrat.
„Bäcker, der Ofen macht wieder Ärger … kannst du bitte mal …!“
*
Ernst verließ mit Schnurres die Bäckerei. Er war etwas durcheinander. Was hatte er sich erhofft? Dass die Männer aufgaben? Wenn es denn die Schweden waren.
„Eines noch, Ernst.“ Der Bäcker kam draußen hinter ihm hergelaufen. „Sie hatten vor der Tür einen dunklen SUV geparkt. Das Kennzeichen war aus Schweden. Aber was ist mit deiner Frontscheibe passiert!“
Ernst erklärte es in einem kurzen Satz.
„Die solltest du schleunigst instand setzen lassen. Wenn das die Polizei sieht …!“
„Ja, ich weiß. Mache mich gleich auf die Suche nach einer Werkstatt.“
Ernst sah, dass Broterich grübelte. „Versuche es doch mal bei Heckmann und Koch, dem Schrotthändler. Dein Vater war des Öfteren dort mit dem Wohnmobil. Immer wenn es etwas zu reparieren gab. Die verwerten normalerweise alte Fahrzeuge. Aber wenn man vernünftig fragt …!“
Ernst bedankte sich für den Tipp.
*
Wenig später saß Ernst im Hymer und vertilgte Körnerbrötchen mit Schinken und Ei. Auch einen großen Becher Kaffee hatte ihm der Bäcker mitgegeben. Seine Hände zitterten vor Aufregung. Schnurres kaute wie von Sinnen auf einer Speckschwarte herum. Das alles lenkte ihn nicht von den Gedanken ab, dass die Schweden noch immer hinter ihm her waren. Wenn sie wussten, dass sein Ziel Fehmarn war, würden sie ihn sicher dort erwarten. Die Insel war klein und überschaubar. Jeder, der sie besuchen wollte, musste über die Fehmarnsundbrücke fahren. Und dort könnten sie auf ihn lauern. Vielleicht waren es aber nur Hirngespinste, und irgendwelche ehemaligen Bekannten fragten nach ihm. Aber das schwedische Kennzeichen? Der Bäcker könnte sich natürlich auch getäuscht haben. Wenn nicht, handelte es sich eindeutig um die Entführer von Alice. Sie gaben nicht auf, bis sie ihn gefunden hatten.
„Schnurres“, rief Ernst seinem Hund mit zittriger Stimme zu, „ich laufe zu Papas Wohnung. Möchte mich mal umschauen. Du bleibst hier. Dauert nicht lange!“
Schnurres schaute nur kurz auf. Ließ sich jedoch nicht vom Kauen abbringen.
*
Ernst lief in Richtung des Mehrfamilienhauses. Er hielt nach schwarzen SUVs Ausschau, doch alles war ruhig. Wie früher war die Eingangstür zum Wohnblock nicht verriegelt. Schon als Papa noch dort wohnte, hatte er ihn aufgefordert, den Missstand dem Hausverwalter zu melden. Doch nie war etwas geschehen. Ernst spazierte die Treppen nach oben und drückte nach einigem Zögern den Klingelknopf. Aus der ehemaligen Wohnung des Vaters vernahm er leise Folklore-Musik. Dazu roch es fremd im Hausflur. Nach Gewürzen, die er nicht kannte und auch nicht kosten wollte. Dann vernahm er Schlurfgeräusche, Stimmen. Eine dunkelhäutige Frau mit buntem Turban auf dem Kopf, ähnlich einem Sultan, öffnete die Tür einen Spalt. Als sie den kleinwüchsigen Mann sah, schob sie die Tür weitere Zentimeter auf. Doch noch immer so, dass niemand in die Wohnung eindringen konnte. Ernst bemerkte das bodenlange Kleid in prachtvoller Farbe, das sie trug. Am Rockzipfel hingen, ähnlich wie früher die Tischdeckenbeschwerer von Mamas Terrassentisch, zwei Kleinkinder.
„Ich … also … mein Vater hat bis vor Kurzem hier …“
Die Frau schaute wie ein Auto, nur nicht so schnell.
„Do you speak English?“, unterbrach sie ihn.
Ernst verstand die Frage. Doch die englische Sprache hatte er nie gelernt. Spontan fiel ihm der Text von Jingle Bells ein. Papa und Mama hatten das Lied gerne am Weihnachtsfest gesungen, und die Kinder hatten irgendwann den Text Zeile für Zeile auswendig gewusst. Doch das brachte ihn sicher auch nicht weiter, grinste Ernst verlegen. Die beiden Kinder würde es vielleicht amüsieren. Er schüttelte den Kopf, winkte und spazierte mit einem letzten Blick in den möbeltechnisch veränderten Wohnungsflur nach unten. Wie gerne hätte er sich noch ein letztes Mal in Papas ehemaliger Wohnung umgesehen. Aber vielleicht war es auch besser, sich nicht als Mieter erkennen gegeben zu haben. Als er vor wenigen Wochen von hier verschwand, sah es eher aus wie in einer Messie-Wohnung.
In einem kleinen Handy-Laden an der Ecke besorgte er sich eine Prepaid-Karte und ließ sie durch einen jungen Angestellten gleich aktivieren. Nun war er wieder mobil erreichbar. Bald musste er die neue Rufnummer an seine Verwandten und Freunde weitergeben.
Als Ernst zurückkam, hatte Schnurres die Schwarte vollständig verschlungen. Zufrieden und satt lag er dösend unter dem Bett. Nur sein Schädel schaute raus. Das Tier öffnete ein Auge, als Ernst den Hymer betrat.
KAPITEL 3 ENDLICH WIEDER DURCHBLICK
Ernst hatte nachgeschaut: Der vom Bäcker genannte Autoverwerter und Schrotthändler Heckmann und Koch lag an der Steilshooper Allee in Steilshoop. Papa hatte nie davon gesprochen, dorthin den Hymer zur Reparatur gebracht zu haben. Aber in den letzten Jahren hatten sie sich wenig unterhalten. Und schon gar nicht über das alte Wohnmobil.
Der Eingang von Heckmann und Koch war durch ein riesiges Stahltor verschlossen. Davor waren Parkplätze, und Ernst stellt den Hymer darauf ab. Er drückte den Knopf einer Sprechanlage, und nachdem er sich vorgestellt hatte, öffnete man ihm. Drinnen stapelten sich die Altfahrzeuge in Reihen übereinander, und Ernst spazierte zu einer großen Halle. Ein Mann mit einer Zigarette im Mundwinkel erwartete ihn.
„Moin! Heckmann! Wie kann ich helfen?“ Der Mann im ölverschmierten blauen Kombi war weder freundlich, noch war das Gegenteil der Fall. Er schien sich auf das Wesentliche zu beschränken.
„Ich besitze ein altes Hymermobil!“, begann Ernst. Er glaubte, dass der Mann bei dem Wort Hymermobil etwas gestutzt hatte. Er schien neugierig geworden zu sein.
„Es gehörte eigentlich meinem Vater Julius. Doch er starb vor wenigen Monaten, und nun ist es in meinem Besitz.“
Der Mann spuckte die Zigarette in einen Behälter neben sich und grinste. „Du bist der Junior von Julius. Ich weiß nicht, ob du es wusstest, er war Kunde von mir?“
„Ja, Herr Heckmann, ich habe vom Bäcker um die Ecke gehört, dass Papa hin und wieder mit dem Hymer bei Ihnen war.“
„Sag Achim zu mir, das ist mein Name. Wir sind hier nicht so förmlich. Ich war auf der Beerdigung deines Vaters. Langweilige Trauerfeier. Kein Bier, kein Kuchen!“
Ernst bekam ein schlechtes Gewissen. Der Mann hatte tatsächlich recht. Sie hatten um Papas Bestattung nicht viel Aufhebens gemacht.
„Aber sei es drum, wie kann ich helfen?“
Ernst erzählte von der defekten und geflickten Frontscheibe. Heckmann interessierte sich nicht dafür, was geschehen war. Er bat Ernst zu warten und verschwand in der Halle. Der schaute sich um. Das Gelände war recht groß. Links standen zwei riesige Schaufelbagger, und neben der Halle befand sich ebenerdig eine Waage. Überall um ihn herum türmten sich Berge von Fahrzeugen. Die sahen teilweise noch wie neu aus. Früher wurden die Autos verschrottet, wenn sie auf dem letzten Loch pfiffen. Er erinnerte sich an Papas VW-Käfer. Der Wagen vor dem Hymer. Der hatte Löcher vom Rost, groß wie ein Schweizer Käse. Trotzdem fuhr Papa ihn, bis er aufgab. Regelrecht zusammenbrach. Heute waren Autos ein teures Wegwerfprodukt geworden. Oft waren sie noch fahrbereit, mussten aber einem moderneren Modell Platz machen. Er erinnerte sich, eine Sendung gesehen zu haben, in der man berichtete, dass Bewohner des schwarzen Kontinents am liebsten Mercedes fuhren. Der langjährige deutsche Besitzer einer solchen alten Karre gab ihn zum Schrottpreis ab, und der Ankäufer verschiffte den Benz und weitere Fahrzeuge nach Afrika. Eine Fernsehcrew begleitete den Transport und machte sich ein Jahr später erneut auf in die Stadt, in der das Fahrzeug seinen Käufer gefunden hatte. Der hatte schon Tausende von Kilometern mit der Karre abgerissen. Auf die Frage nach Service und Ölwechsel hatte der schwarze Besitzer nur mit den Schultern gezuckt. So etwas kannte der gar nicht. Seltsam!
Ernst spazierte zur Waage. Sicher wurde sie benötigt, um Schrott zu wiegen, der angeliefert wurde, überlegte er. Erst jetzt bemerkte er den schwarzen Schäferhund. Er war riesig, lag keine zehn Meter von ihm entfernt im Schatten und schaute ihn an. Ernst bekam sofort Gänsehaut. Wenn er in diese Richtung spaziert wäre, ob das Tier …! Er lief zur Halle.
Achim war zurück und hatte den Blick des Kunden richtig gedeutet.
„Keine Angst! Rambo ist aus dem Alter raus, wo er anderen etwas tut. Eigentlich schade! Hin und wieder könnte er Diebe verjagen. Aber ich liebe ihn, und solange er lebt, genießt er hier sein Gnadenbrot. Du hast Glück, Ernst. Wir heben nur wenige Ersatzteile auf. Das meiste kommt in die Presse. Also nachdem Wertstoffe wie Kupferkabel, Zinn, Zinkteile entfernt wurden. Doch an alten Hymer-Teilen gibt es stets eine große Nachfrage. Und so heben wir sie auf. Und machen den Menschen eine Freude. Wie deinem verstorbenen Daddy!“ Er lachte. „Was ich damit sagen möchte: Wir haben die passende Scheibe.“
Ernst fiel ein Brocken vom Herzen.
„Wo hast du den Hymer?“
Ernst zeigte auf das Eingangstor.
„Dann rein mit ihm, wir bauen sie dir heute noch ein.“
Ernst war verwundert.
„Ja, ist bei den alten Fahrzeugen noch einfach. Sind nicht geklebt. Eine Stunde Arbeit. Aus die Maus!“
„Ich habe einen Hund im Wohnmobil!“, erklärte er.
Heckmann zuckte gleichgültig mit den Schultern.
*
Achim hatte Ernst angewiesen, das Fahrzeug gleich in die Halle zu fahren, und er tat es. Als Schnurres anschließend seinen Platz verließ, schien er den Hund zu riechen und zögerte. Erst als ihm Ernst gut zusprach, folgte er ihm. Rambo knurrte nur kurz, als sie vor die Halle traten, dann hatte er seine Augen wieder geschlossen.
Heckmann hatte seinem Kunden Kaffee angeboten und für Schnurres eine Schale Wasser hingestellt. Ernst setzte sich auf eine alte Rücksitzbank, die neben der Halle abgestellt war. Von seinem Platz aus konnte er sehen, wie zwei Männer sich an der Front seines Wohnmobils zu schaffen machten. Sie hatten eine riesige Scheibe angeschleppt und daneben abgestellt. Ein Glück, dass der Bäcker ihm diesen Tipp gegeben hatte. Wer weiß, ob er im weiteren Verlauf der Fahrt noch auf eine entsprechende Werkstatt gestoßen wäre.
„Ernst, wir haben ein Problem!“ Ernst war weggedöst und hatte einen Traum. Die Stimme Heckmanns kam für ihn aus dem Jenseits und klang nach „Houston, wir haben ein Problem!“.
Er war aufgesprungen, und auch Schnurres tat es ihm gleich.
„Um die Scheibe herum hat sich enorm viel Rost entwickelt. Das ist nicht verwunderlich nach all den Jahren. Wundere mich überhaupt, dass der alte Hymer … aber lassen wir das. Mein Vorschlag: Wir schleifen den Rost ab und packen Umwandler drauf. Dann lassen wir es über Nacht trocknen. Morgen früh die Scheibe drauf und ab die Marie!“
Ernst war klar, da lag eine Nacht dazwischen, die er überbrücken musste. Aber es gab wohl keine andere Möglichkeit. Ihm fiel ein, dass er auch wenig Bargeld besaß.
„Du nimmst doch Scheckkarten?“
„Ich nehme Karten aller Art“, frotzelte Heckmann, „außer Beileidskarten!“
*
Der Schrottplatzbesitzer hatte ihm erlaubt, die Nacht im Hymer in der Halle zu verbringen. Die Scheibe war draußen, und es roch stark nach Verdünnung. Gegen 22 Uhr waren Heckmann und seine Männer verschwunden, und er und Schnurres befanden sich alleine auf dem Grundstück. Das Tier hatte kurz im Innenraum geschnüffelt und sich dann zum Schlafen unter den Wagen gelegt. Auch Ernst störte der intensive Geruch, und nach einigen unruhigen Stunden Schlaf stand er mitten in der Nacht auf und spazierte nach draußen. Der Vollmond schwebte wie ein Faschings-Lampion über Steilshoop, und bis auf den Verkehr vorne auf der Straße war auf dem Gelände alles ruhig. Es war trocken und die Temperatur angenehm. So lief Ernst zurück, packte sein Kopfkissen und machte es sich auf der Bank vor der Halle bequem. Wenig später folgte ihm sein Hund.
*
Hammerschläge weckten ihn. Schnurres lag auf dem Rücken und grunzte leise. Da waren sie wieder, die Hammerschläge. Nicht weit entfernt. Kurz und schwer. Dann war plötzlich Ruhe. Ernst vermutete, dass das Geräusch in der Nachbarschaft produziert worden war, und schloss die Augen. Ein Motor wurde gestartet. Nicht weit von ihm. Da war er sich sicher. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Der Platz lag mitten in Steilshoop. Sicher jemand, der zur Frühschicht aufbrach. Schnurres hatte sich auf die Seite gedreht. Im Schein des Mondes konnte Ernst den Schäferhund erkennen. Wie tot lag er da. Rührte sich nicht. Aber Heckmann hatte erklärt, er sei schon sehr alt, und so wunderte es ihn nicht.
Wenige Meter von ihm entfernt tauchten plötzlich rote Rückleuchten auf. Ernst richtete sich auf. Die Leuchten mussten von einem Transporter sein. Einer, der neben die Halle fuhr. Ernst war unsicher, was hier geschah. Vielleicht hatte Heckmann etwas vergessen? Kam zurück? Aber dann würde er seinem Gast doch Bescheid geben. Ernst hielt sich erst einmal bedeckt. Auch Schnurres war aufgewacht. Er hockte nur da und schaute in Richtung des Treibens.
„Leise, Schnurres!“, wies Ernst den Hund an. Dann stand er auf und spazierte in die Nähe des Fahrzeugs. Beim Schäferhund blieb er stehen. Schnurres hielt vorsichtig Abstand. Rambo lag auf der Seite. Hatte Schaum vor dem Mund. Erbrochenes lag daneben. Er schien nicht mehr zu leben. Ernst standen plötzlich alle restlichen Haare zu Berge. Ob jemand hier eingedrungen war und vorher den Hund vergiftet hatte? Und er besaß keine Telefonnummer des Besitzers. Da fiel ihm das riesige beleuchtete Schild über dem Hallentor auf. Er hatte bisher nicht darauf geachtet. Unter dem Namen stand eine Telefonnummer. Ob er den Besitzer so erreichen konnte? Ernst schlich sich seitlich neben einen Haufen ausgebauter Autotüren und wählte die Nummer. Natürlich ein Anrufbeantworter! Ernst sah Schatten von drei Männern. Sie schienen etwas in den Transporter zu laden. Sicher Diebe. Er war unentschlossen und wollte gerade den Notruf wählen, als sein Handy vibrierte. Zum Glück hatte er den Klingelton irgendwann abgeschaltet.
„Hallo?“
„Wer ist da?“, fragte eine schläfrige Stimme.
„Achim Heckmann?“
„Ja, was willst du?“
„Ernst Groß, der mit dem Hymermobil in deiner Halle. Hier laden Diebe etwas in einen Transporter.“
Ernst konnte hören, wie Heckmann aus dem Bett sprang und noch im Laufen rief: „Gib mir zwei Minuten. Denen reiße ich den Arsch auf!“
Es dauerte dann doch mindestens fünf Minuten, bis Heckmann auftauchte. Er war durch das Haupttor gekommen. Ohne großen Lärm zu fabrizieren. An der Leine führte er zwei riesige Dobermänner mit sich. Schnurres hatte sie wohl schon vor Ernst kommen gehört und war in der Halle verschwunden. Der Terpentingeruch schien gerade sein geringstes Problem zu sein.
Heckmann trat leise neben Ernst. Etwas ängstlich schaute dieser auf die Vierbeiner.
„Keine Angst!“, flüsterte der Mann. Dann löste er die Leinen der Hunde und rief laut: „Packt sie!“
Ernst konnte es nicht fassen. Die Tiere verwandelten sich, ähnlich wie Zombies, von brav und unaufgeregt in Furien. Mit aufgerissenen Mäulern schnellten sie wie der Blitz in Richtung des Transporters. Lautes Bellen war zu hören. Dann folgten Schmerzensschreie. Brüllen. Gleichzeitig wurde Blaulicht vor dem Tor sichtbar. Achim Heckmann öffnete und ließ die Polizei auf den Hof.
*
Keine halbe Stunde später fuhr ein Polizeitransporter mit den Dieben davon.
„Der Transporter wird morgen spurentechnisch untersucht und abgeschleppt“, erklärte ein freundlicher Uniformierter Herrn Heckmann. Später saß Ernst mit Achim auf der Bank vor der Halle. Beide hielten eine kalte Dose Bier in der Hand und prosteten sich zu. Die Dobermänner lagen seelenruhig vor ihnen auf dem Boden. Der Besitzer hatte im Beisein von Ernst jedem von ihnen ein riesiges Stück Fleisch hingeschmissen, und sie vertilgten es in Sekundenbruchteilen. Satt dösten sie nun vor sich hin.
„Diese Idioten waren schon mehrfach hier. Haben die Alarmanlage ausgeschaltet. Hatten es auf Kupfer abgesehen. Doch jetzt ist Schluss. Sie werden in den Knast gehen.“
„Aber Rambo …?“
„Ja, er ist tot. Das ist schlimm. Andererseits quält er sich nicht mehr. Er war eh alt. Muss mir endlich einen neuen Schutzhund anschaffen.“
Ernst wies auf die beiden Tiere vor ihm.
„Oh nein, die Dobermänner Kit und Kat kann ich hierhin nicht mitnehmen. Die zerreißen jeden Besucher.“
Ernst bekam etwas Angst.
„Aber nur, wenn ich nicht dabei bin. Ansonsten gehorchen sie aufs Wort!“ Heckmann grinste und trank den Restinhalt der Dose mit einem Schluck leer.
Ernst nickte verständnisvoll.
„Falls wir uns nicht mehr sehen, Ernst. Muss in der Früh gleich aufs Polizeikommissariat. Morgen ist die Scheibe drin. Die Jungs wissen Bescheid. Und die Reparatur geht aufs Haus. Also alles für lau! Danke für deine Hilfe. Und wenn mal wieder was mit dem Hymer ist, komme jederzeit hier vorbei. Du wirst bevorzugt behandelt.“
*
Ernst hupte noch einmal und lenkte sein Hymermobil durch das offene Tor des Schrottplatzes auf die Steilshooper Allee. Die Frontscheibe war sauber geputzt. Es roch noch immer leicht nach Verdünner. Doch er hatte die Seitenscheiben geöffnet, um für Durchzug zu sorgen.
„Also los, Schnurres. In Hamburg gibt es nichts, was uns hält. Wir haben einen Auftrag, müssen nach Fehmarn zu Schwester Klara und das Gold loswerden. Ich habe kein gutes Gefühl, solange es hier im Wagen liegt.“
Zügig bewegte er den Hymer in Richtung Rahlstedt. In Stapelfeld wechselte er auf die Autobahn A1. Sein Ziel war es, heute Nacht, spätestens am morgigen Vormittag die Insel Fehmarn zu erreichen.
KAPITEL 4 DOGS AM TIMMENDORFER STRAND
Die ersten fünfzig Kilometer in Richtung Norden verliefen bestens. Der Opel-Motor des Hymermobils schnurrte wie ein Kätzchen, und Ernst dankte innerlich dem Rostocker Kfz-Meister Özdemir für seine hervorragende Arbeit. Die ständigen Pannen vor Wochen auf seinem Weg nach Polen zu Freund Tymon hatten ihn genervt und aufgehalten. Was wäre bloß gewesen, wenn das alte Wohnmobil die Strecke in einem geschafft und er damals mit einem einzigen Stopp in Lütten-Klein am nächsten oder spätestens übernächsten Tag Rewal erreicht hätte? Sicher waren die zahlreichen Bekanntschaften, wie der Autohausbesitzer Schrader, der Taucher Happi, dazu seine kurze Beziehung zu Vera Halloen und der verrückte Professor aus dem AKW Lubmin, eine Bereicherung. Sie alle hätte er dann nicht kennenlernen dürfen. Und vor allem Hund Schnurres war zu seinem Lebensinhalt geworden. Als ob das Tier neben ihm auf dem Beifahrersitz seine Gedanken gehört hätte, drehte es den Kopf, schaute das Herrchen an und wedelte mit dem Schwanz. Sie verstanden sich blind – ohne viele Worte!
*
Einer der unzähligen Lkws überholte den Hymer und schwenkte mit eingeschalteter Warnblinkanlage vor ihm ein. Ja, die Truckerzeiten waren seine besten Jahre. Seitlich rollte ein schwarzer SUV mit ausländischem Kennzeichen an ihm entlang. Ernsts Herz sackte in die Hose. Er spürte, wie sein Pulsschlag anstieg und sein Kreislauf aus der Bahn geriet. Fuhr der Wagen nicht extrem langsam neben ihm her? Er erwartete eine Waffe, die auf ihn gerichtet war, und suchte schon Fluchtmöglichkeiten. Der nächste Parkplatz lag bestimmt Kilometer weit entfernt, und dort war er noch isolierter als hier zwischen den Lastern. Ernst bremste das Wohnmobil vorsichtig ab, um den SUV vor sich zu haben. Im Wagen unterhielten sich zwei Frauen, konnte er sehen. Das Alter der beiden war durch die getönten Scheiben nicht zu erkennen. Aber sie schienen keine Gefahr für ihn darzustellen. Vielleicht war es besser, die Autobahn zu meiden und über kleinere Straßen Fehmarn zu erreichen, überlegte er. Möglicherweise waren auch seine Nerven zu sehr angespannt. Er plante, die nächste Ausfahrt zu nutzen und mit Schnurres Gassi zu gehen, als kurz vor Großhansdorf der Verkehr ins Stocken geriet. Eingeschaltete Warnblinkanlagen vor ihm deuten auf einen Stau hin. Das fehlte noch. Gerade erst hatte er Hamburg hinter sich gelassen, und jetzt das. Die Autobahn A1 schien gesperrt zu sein. Sicher wieder so ein schneller Wagen mit einem Idioten, der einen Unfall verursacht hatte. Und statt stehen zu bleiben, abgehauen war. Ernst sah im Geiste weinende Personen, die in leuchtenden Warnwesten auf den Leitplanken saßen und auf den Abschleppdienst warteten. Daneben ihr zerstörter Wagen. Aber nein, es handelte sich um irgendwelche Brückenarbeiten. Das machte die Situation nicht besser, aber es beruhigte den Hamburger. Hinweisschilder lenkten den Verkehr über Hoisdorf und Todendorf. Erst in Hammoor ging es wieder auf die Autobahn. Ernst war so mit dem Fahren in der Schlange beschäftigt, dass er den geplanten Pinkelstopp vergessen hatte. Doch Schnurres genoss noch die Wärme der Sonne, die durch die Scheibe auf sein Fell schien. Seine Blase hatte es wohl nicht eilig.
*