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In der festlich funkelnden Kulisse Hamburgs offenbaren sich in den „Weihnachtsanektötchen“ zehn kriminelle Geschichten, die das Dunkle im Lichterglanz verbergen. Frauen schwingen hölzerne Weihnachtsmänner, Bankautomaten explodieren in der vorweihnachtlichen Stille und die Sucht treibt Verzweifelte zu gefährlichen Taten. Doch auch Wunder geschehen in der Hansestadt: Liebe kehrt zurück, Egoisten zeigen Barmherzigkeit und Einsame finden Unerwartetes im Schneegestöber. Und wenn Weihnachtsmärkte verzaubern, Arme sich reich stehlen und das Chris-Kind sogar im Elbtunnel auftaucht, dann wissen wir, dass Autor Klaus E. Spieldenner seinen kriminellen Geschenkesack gepackt hat. Spannend, geheimnisvoll, überraschend: Weihnachten eben!
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Seitenzahl: 151
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Draußen im Wald ist es dunkel und kalt,Schneeflocken wirbeln umher.Draußen im Wald weht der Wind und es schallt:Es weihnachtet, weihnachtet sehr.Der Weihnachtsmann hat viel zu tun,hat keine Zeit, sich auszuruhn.Doch statt den Kindern auf Erden Geschenke zu bringen,muss er in Hamburg mit Kriminellen um Gerechtigkeit ringen. Fährt im Rentierschlitten zu jedem Tatort,treibt die bösen Verbrecher von dort fort.Draußen im Wald pfeift der Wind und es schallt:Es weihnachtet, weihnachtet sehr.
Die Kurzgeschichten spielen hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieser Kurzgeschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comePub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlagee GmbHeISBN 978-3-8271-8732-1
WeihnachtsanektötchenSpannende Geschichtenaus Hamburgvon Klaus E. Spieldenner
Schlagfertig – Der hölzerne Weihnachtsmann
Der Typ war tot. Er musste tot sein. Wenn jemand einen Schlag mit einem hölzernen Weihnachtsmann an den Schädel bekommt, musste er tot sein. Ich war mir absolut sicher, schaute aber erst einmal nach der Figur. Meine Deko-Leidenschaft hatte mich veranlasst, sie heute, wenige Tage nach dem Weihnachtsfest, in einem Laden in Volksdorf zu kaufen. Preislich herabgesetzt! Ein Schnäppchen. 29,95 Euro für fünfunddreißig Zentimeter bunt bemaltes Naturholz. Sie würde in meiner Sammlung von Nikoläusen einen hohen Stellenwert erhalten. Vielleicht hatte dieser Nikolaus mein Leben gerettet?
Der Schnee um den am Boden liegenden Unbekannten färbte sich leicht rot. Die beiden Farben rot und weiß zählten zu meinen Lieblingsfarben. Obwohl … in der Konstellation Schnee und Blut …! Was musste der Idiot auch hier im Volksdorfer Park hinter mir herrennen? Wie ein Geisteskranker. Es war zwar erst Nachmittag, aber schon dunkel. Man sah kaum die Hand vor Augen. Zumindest im Wald nahe der Saselbek. In dem Moment, als er mich erreichte, hatte ich zugeschlagen. Ein guter, fester Schlag. Der Ausbilder meines Selbstverteidigungskurses wäre zufrieden gewesen. „Johanna, das hast du gut gemacht!“, hätte er erklärt. „Vielleicht nicht gerade totschlagen. Aber besser dein Leben gerettet, als …!“
Eine Gruppe johlender Jugendlicher kam szenenhaft aus dem Dunkel auf mich zu. Sie waren noch einige Meter entfernt. Sie sollten mich nicht sehen können. Sicher Schüler von der Grundschule Ahrensburger Weg. Ich musste hier weg. Ich rannte los in Richtung Allhornweg, wo sich meine kleine Wohnung im oberen Stockwerk eines Zweifamilienhauses befand. Unten die Oma, oben ich. Mehr-Generationenhaus, sozusagen. Doch schon nach wenigen Metern überkam mich das schlechte Gewissen. Wenn er nicht tot war und die Jungs ihn nicht gefunden hatten, würde er vielleicht erfrieren. Selbst schuld? Nein, gerade war das Fest der Liebe vorbei, und ich hatte wieder keine Möglichkeit, meine Liebe irgendwo zu verteilen. Hatte fünfzig Euro an die Ukrainehilfe überwiesen und dreißig Euro an die Erdbebenopfer. Der Oma einen Schokoladennikolaus gekauft. Aus dunkler Schokolade. Den großen. Reichte das, um mein Gewissen zu beruhigen? Ich wusste es nicht. Und jetzt war nach zwei langen Jahren ohne Beziehung endlich mal ein Mann wieder nahe und ich briet ihm eins über. Das war schon fast eine Story für den Tatort. Oder zumindest Mord-Mord-Nord oder wie immer die Serie hieß. Ich spürte an meiner Atmung, dass ich mich verausgabt hatte. Blieb stehen. Bekam Zweifel. Ich sollte zurück. Nach ihm schauen. Sollte mich stellen. Egal, irgendetwas, nur nicht so tun, als wäre nichts geschehen, und nach Hause laufen. Ich horchte auf. Die Jungs hatten auf ihrem Heimweg wohl umgedreht. Oder waren abgebogen.
Ich drehte um. Besser, ich kehrte zurück zum Tatort. Täter kehrten doch immer zum Ort des Geschehens zurück. Warum also nicht ich? Bauchschmerzen begleiteten mich. Lange hatte ich keine Magenbeschwerden mehr. Früher als Kind häufiger. Und ich war noch nie straffällig geworden. Obwohl: diese Sache mit dem Eyeliner vielleicht. Den hatte ich in einer Parfümerie in der Mönckebergstraße geklaut. Und man hatte mich erwischt. Wie dämlich kann man sein? Ein Kaufhausdetektiv hatte mich ausgequetscht. Wie im Fernsehen, hatte ich gedacht. Nur dass man dort für die Szene noch Geld bekam. Als Schauspielerin. Das stachelte mich an. Ob ich eine Seriendiebin sei und so, hatte er gefragt. Ich war sechzehn oder vielleicht siebzehn. Hatte gejammert und von der Armut meiner Familie berichtet. Hartz IV und so. Weinte seine gesamte Packung an Papiertaschentüchern voll. Sprach davon, dass ich mir nichts leisten konnte. Kein Taschengeld bekam wie die anderen. Und dass es heute das allererste Mal sei, dass ich gestohlen hatte. Zumindest das entsprach der Wahrheit. Ich würde es niiiemals wieder tun! Er war so niedergeschlagen, dass er mich laufen ließ. Ich sollte Schauspielerin werden, hatte ich damals überlegt. Dann begann ich nach der Realschule eine Lehre bei Rossmann und blieb dort bis heute. Habe es zur Filialleiterin geschafft. Immerhin! Und jetzt wurde ich zum Mörder. Eigentlich zur Mörderin, wenn man das mit dem Gendern ernst nahm.
Der Typ war weg. Einfach weg. Ich leuchtete mit dem Handylicht auf der kleinen Schneise umher. Und ich war sicher am richtigen Ort. Da war das Blut im Schnee. Dazu Spuren. Abdrücke von Stiefeln. Waren mehrere Schuhe im Spiel? Das wäre ein Zeichen gewesen, dass ihm jemand geholfen und ihn weggebracht hätte. Aber wichtig war doch zu wissen, er war weg. Dann war er doch nicht tot und ich hatte niemanden ermordet. Ihn eher verletzt. Würde wohl straffrei davonkommen. Wenn ich ihm nicht wieder mal über den Weg laufen würde. Aber dafür musste er mich erst einmal identifizieren können. Und ich war dick vermummt. Erleichtert schlug ich den Weg zu meiner Wohnung ein.
Ich hing den warmen Parka an den Haken und stellte die Stiefel auf die Matte. Handy und Geldbeutel gehörten auf die Ablage. Das Handy war in der Seitentasche. Aber zum Teufel, wo war mein Geldbeutel? Ich suchte in den unendlichen Taschen dieses wollig warmen Kleidungsstücks. Einmal. Zweimal. Nein, der Geldbeutel war nicht aufzufinden. In der Thermojeans war er auch nicht. Das hätte ich über den gesamten Heimweg gespürt. Ich hasste es, etwas Großes in den Hosentaschen mitzuschleppen. Aber wo befand sich nun der Geldbeutel? Ich setzte mich an den Küchentisch, schenkte mir aus der Thermoskanne einen lauwarmen Tee ein und versuchte mich zu beruhigen. Sicher hatte ich ihn nicht bei dem Verletzten oder Toten liegen lassen. Ich war ja zweimal vor Ort und das pinke Lederteil mit dem Einhorn darauf wäre mir im Schnee sicher ins Auge gefallen. Ob ich ihn im Deko-Laden …? Keine Ahnung. Weg war weg! Aber was war drin? Ich atmete auf. Meine EC-Karte, Führerschein und Perso steckten noch nicht darin. Vor dem gestrigen Weihnachtsmarktbesuch hatte ich alles ausgeräumt und nur etwas Geld in die Börse gesteckt. War nicht noch der Ausweis der Bücherhalle drin? Die hatte gestern geöffnet und ich gab auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt den ausgeliehenen Schmöker dort zurück. Irgendetwas mit Elb, genau fiel mir der Titel bei der aktuellen nervlichen Situation nicht mehr ein. Zumindest ein Regionalkrimi. Hamburg! Auf den Ausweis konnte ich definitiv verzichten. Obwohl! Ich sollte vielleicht doch in den nächsten Tagen den Verlust melden. Bevor noch jemand eine komplette Enzyklopädie auf meinen Namen auslieh. Und nicht zurückgab. Ein Albtraum!
Nachdem das geklärt war, richtete ich meine Gedanken wieder zu dem Mann im Park, den ich …! Vielleicht sollte ich im Amalie-Sieveking-Krankenhaus anrufen und mich nach einem Verletzten erkundigen. Ich suchte und wählte die Nummer auf meinem Handy.
„Evangelisches Amalie-Sieveking-Krankenhaus, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“
Das ging mir fast schon zu flott. Sonst musste man minutenlang in einer Warteschleife dämliche Musik hören, musste Tasten drücken, bis die Finger bluteten, und dazu ewig warten. Doch heute …!
„Hallo, mein Name ist … also … ich wollte fragen, ob … mein … mein Mann eingeliefert wurde. Unfall! Eine große Wunde am … Kopf. Vielleicht auch … tot.“
Ja, war ich denn von Sinnen? Was quatschte ich da für einen Mist?
„W i e b i t t e?“, fragte die Dame und hatte die beiden Worte lang gestreckt.
„Nein, nein. Das Letzte können Sie streichen. Also, haben Sie …?“
„Wie ist denn der Name Ihres Mannes?“, wollte die Stimme wissen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Wenn ich meinen richtigen Namen preisgab, würde ich vielleicht Ärger bekommen. Beim letzten Mal vor Jahren in der Parfümerie hatte ich Glück gehabt. Doch sollte man sein Glück nicht überstrapazieren. Ich drückte auf die rote Taste am Handy und legte das Gerät nach Abbruch des Telefonats erleichtert zurück auf den Tisch. Was hatte ich erreicht? Nichts! Aber eines war klar: Der Typ lag nicht mehr auf dem Waldboden im kalten Schnee. Jemand hatte sich um ihn gekümmert. So weit war doch alles in trockenen Tüchern. Nach wenigen Minuten, einem Glas trockenen Weißwein und einigen Knabbereien überkam mich erneut das schlechte Gewissen. Und wenn ich zur Polizei ging und dort alles erzählte? Was ich gerade machte, war so eine Art Fahrerflucht. Nur ohne Auto und ohne Fahrer. Wie nannte man das bloß? Egal. Ich war mir sicher, das sollte ich nicht tun. Warum die Pferde scheu machen? Wie kam ich bloß auf diesen dämlichen Spruch? Vater hatte ihn oft benutzt. Damals als Kind wusste ich nicht, was er damit meinte. Heute aber schon. Ich schaltete auf der Glotze eine Serie ein, um mich abzulenken.
Ich hatte schlecht geschlafen. Der Wecker klingelte wie immer um sieben Uhr am Morgen. In einigen konfusen Träumen saß ich mal im Gefängnis, mal musste ich die sieben Kinder eines alleinerziehenden Mannes – genau den, den ich totgeschlagen hatte – adoptieren. Zur Strafe sozusagen. Und gerichtlich angeordnet.
Nass geschwitzt nahm ich eine Dusche. Kochte mir Kaffee und aß von dem Schwarzbrot, das noch vom Wochenende übrig geblieben war. Die dicke Erdbeermarmelade, die ich sonst so liebte, schmeckte ich nicht. Gedankenversunken plante ich meinen Arbeitstag. Heute kam Neuware. Den ganzen Tag würde ich Kisten auspacken und Regale einräumen. Packtag nannten wir es im Laden. Ja, auch die Chefin musste ran! Ich schaute nach draußen. Der Schnee war geschmolzen. Es hatte in der Nacht getaut. Der Tag würde mies werden. Mies, wie meine Laune. Nur dass das Wetter nichts dafür konnte. Ich schon. Es klingelte an der Haustür. Sicher die Oma von unten. Die stand immer früh auf. Wollte hin und wieder etwas von mir ausleihen. Sicher hatte sie Lust zum Quatschen. Mir machte es normalerweise nichts aus. Die Miete war günstig. Sie heizte ordentlich. Doch heute! Ich öffnete die Tür. Hatte schon einen flotten Spruch auf den Lippen, um der 80-Jährigen klarzumachen, dass ich auf dem Weg zur Arbeit war. Doch vor der Tür stand ein Mann. Ich erschrak. Nicht weil dort ein Mann stand. Nein, es war der dicke weiße Verband um seinen Kopf, der mich erschrecken ließ. Ich hielt den Atem an. Er hielt mir etwas hin. Was, konnte ich nicht genau sehen. Schwindel überfiel mich. Kreislauf? Mir war aber sofort klar, wer er war. Der Typ aus dem Park. Von gestern. Er würde mir einen Haftbefehl aushändigen oder irgendetwas, was mein Leben noch beschissener werden ließ, als es schon war. Mein Körper beruhigte sich. Das, was er mir vor die Nase hielt, war … mein pinker Geldbeutel. Das Einhorn grinste mich schelmisch an wie ein Pfefferkuchenpferd. Ich griff nach der Börse. Mechanisch. Wie fremdgesteuert. Der Mann besaß schöne braune Augen, registrierte ich. Einen Dreitagebart. Sein Haarschopf war nicht zu sehen. Der Verband. Vielleicht hätte ich weniger fest zuschlagen sollen, überlegte ich. Spürte, dass mein Körper plötzlich nach Atemluft schrie. Lautlos. Doch ich ließ die 1,68 Meter zappeln, quälte ihn noch etwas. Es gab Gründe genug dafür.
„Ich wollte Ihnen die Geldbörse bringen!“, begann der Mann. Er trat von einem Bein auf das andere. „Sie hatten sie auf dem Waldweg verloren. Ich bin ihnen nachgerannt. Dann traf mich das …!“
„… der!“
„Wie bitte?“
Ich holte die ausgelassenen Atemzüge wieder nach. Antwortete ihm: „Es war ein Weihnachtsmann, … einer aus Holz! Deko!“
Er nickte, als ob er verstanden hatte. Griff sich dann an den Verband. Sicher tat das höllisch weh. Ich litt mit ihm. Phantomschmerzen, nannte man das doch.
„Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Sie hatten recht, sich zu verteidigen. Und wegzurennen. Ich bin ganz schön bescheuert! Übrigens, Malte ist mein Name. Malte Herzog.“
War Malte nicht ganz bei Trost? Ich erschlug ihn fast und er entschuldigte sich noch?
Ich war völlig durcheinander. Spürte, wie meine Beine langsam wegbrachen. Die Aufregung.
„Kommen Sie rein, ich mache uns einen frischen Tee!“, stotterte ich wie ein verliebter Teenager. Oder Teenagerin, wenn man es gendert … oh, mir doch egal. Ich hielt mich an der Wand fest. Er griff mir unter die Arme. Ich ließ es geschehen. Es war ein angenehmes Gefühl. Seine festen Hände an meiner Hüfte. Ich ließ mich extra etwas mehr fallen.
Links auf dem Tischchen stand der hölzerne, rote Weihnachtsmann und grinste in unsere Richtung.
Verlegen mit einem Hauch von Entschuldigung!
Wenn du denkst, du denkst ...!
„Besten Dank für Ihren Einkauf und beehren Sie uns bald wieder!“
Wilhelm Borchers, Goldschmiedemeister in dritter Generation und Besitzer von ,Borchers Schmuck‘ in der Hamburger Flaniermeile Große Bleichen, überlegte, wie viele Male er diesen Satz schon von sich gegeben hatte. Ein Würgen im Hals zeigte ihm, es war zu oft gewesen. War da nicht ein spöttisches Grinsen im Gesicht von Ahmed, dem Security-Angestellten an der Eingangstür des Ladens? Auch ihm war es nicht entgangen, dass der Ladeninhaber fast eine Stunde gebraucht hatte, um dem jungen Paar ein Set silberne Verlobungsringe für knapp hundert Euro aufzuschwatzen. Die Geschäfte liefen äußerst schlecht. Nicht erst seit der Vorweihnachtszeit 2023. Schon seit Jahren bemerkte der Juwelier den Schwund an zahlungskräftigen Käufern. Solche, die sich mal einen Ring für fünftausend Euro leisteten oder ihre Gattin mit einem Collier für zehntausend Euro am Geburts- oder Festtag verwöhnten. Heutzutage wurde überwiegend in reines Gold investiert. Das war nicht besonders schmuckvoll, dafür eine gute Anlage. Und man konnte es, bei Bedarf, schnell wieder abstoßen.
„Wie geht es deiner Mutter, Ahmed? Was hat sie noch gleich, dieses Spinale Dings …!“, versuchte sich Borchers abzulenken vom Elend der Welt und seines extrem niedrigen Kontostandes. Er griff nach der Tasse und nippte am inzwischen abgekühlten Glühwein.
„Spinalkanalstenose! Ja, läuft so weit!“, klärte ihn der gebürtige Albaner auf. „Aber etwas anderes, Herr Bochas.“ Der Juwelier grinste und stellte die mit bunten Weihnachtsmotiven bemalte Tasse ab. Ahmed schaffte es nicht, seinen Namen vernünftig auszusprechen. Bei ihm hieß er stets nur Herr Bochas! Aber das war nicht weiter schlimm. Hauptsache, er und sein Kollege vom Sicherheitsdienst bewachten den Laden und hielten ihm Diebe und ungebetene Gäste vom Leib. Waren die Strom- und Gaspreise doch in die Höhe geschnellt. Dazu hatte sich die Ladenmiete hier in der Einkaufsstraße Große Bleichen in den letzten Jahren nahezu verdoppelt. Eigentlich sah seine Zukunft gerade äußerst mies aus. Es war an der Zeit, sich zu verändern. Und genau das hatte Borchers schon vor Monaten eingetütet. Er hatte den Laden zum Verkauf angeboten und tatsächlich ein Ehepaar gefunden, das zum 1. Januar den Juwelierladen weiter betreiben würde. Herr und Frau Bach. Zwar lief die Übergabe etwas aus dem Ruder, was vor allem die von ihm erhofften Konditionen betraf. Doch so war die Welt inzwischen: hart und herzlos!
Vor zwei Wochen war er 65 Jahre alt geworden und hatte kaum etwas auf der hohen Kante. Aber kein Wunder: Seit seine Ehefrau vor Jahren diesen Sturz im Haus nur knapp überlebt hatte, war sie ein Pflegefall. Anfänglich war er noch in der Mittagspause in das Reihenhaus an der Neanderstraße geradelt. Hatte sich gekümmert. Doch irgendwann hatten seine Kräfte ein Ende. Als die Gewinne zudem rückläufig wurden und er den beiden Verkäuferinnen kündigen und das Geschäft allein betreiben musste, blieb nur eine Pflegekraft aus Polen. Seit 2016 gaben sich solche Kräfte die Klinke in die Hand. Das kleine Haus war mittlerweile verkauft und einer Wohnung in Eidelstedt gewichen. Ja, so konnte es kommen! Seine Bekannten und Kunden dachten sicher, er sei ein gemachter Mann. Aber finanziell war er nahezu am Ende. Zum Glück hatte er stets in die Rentenkasse einbezahlt und bekam ab Januar 2.490 Euro Rente. Seine Frau und er hatten sich überlegt, das Land zu verlassen. Ihre Wahl war auf Thailand gefallen. Dort könnte seine mobil und leicht geistig eingeschränkte Frau Julia bei bestem Wetter von Fachkräften versorgt werden. Sie beabsichtigten, die letzten Jahre gemeinsam zu verbringen. Das Geld sollte dafür ausreichen. Große Sprünge würden sie zwar nicht machen können, aber ihm war wichtig, Julia noch eine Weile um sich zu haben. Ahmed sagte etwas, aber Borchers war gedanklich abgedriftet zu seinem Sohn, der ein Jahr vor dem Sturz der Mutter durch einen Motorradunfall ums Leben gekommen war. Ja, das Leben hatte es nicht besonders gut mit ihnen gemeint. Doch andere hatte es noch härter getroffen. Davon berichtete man anschaulich in einer Selbsthilfegruppe, die Julia und er einige Zeit gemeinsam besucht hatten.
Kundschaft war gerade nicht in Sicht und so ließ er den Schwarzgekleideten reden.
„Entschuldigung, was hatten Sie gemeint, Ahmed?“
„Im Fachmagazin Sicherheit warnt man vor einer neuen Diebesmasche!“
Borchers interessierte das recht wenig. Außer vielleicht dass er sich wunderte, dass Ahmed Magazine las. Der Schmuckhändler hatte in den über 40 Jahren im Beruf schon viel Übles erlebt, das musste er sich nicht noch aus dämlichen Magazinen erklären lassen.
„Es sind immer Paare. Die Strategie ist, dass sie etwas kaufen, aber beabsichtigen, es später abzuholen. Dann drängen sie den Ladenbesitzer dazu, kurz nach Feierabend den Laden aufzumachen, um den Schmuck abzuholen. Ja, und ruckzuck haben sie ihn ausgeraubt.“