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Die Tochter eines Bundesliga-Schiedsrichters verschwindet über Nacht aus dem Ferienlager. Was zunächst keiner für möglich hält, wird plötzlich zur harten Realität: Entführung! Sollte der Hamburger Sportverein das Relegationsrückspiel zum Wiederaufstieg in die 1. Bundesliga verlieren, stirbt Katharina. Wird sich der Referee wirklich auf diesen Wettbetrug einlassen? Über einen anonymen Live-Stream bangen Kriminalbeamte und Familie um das Leben der Zwölfjährigen. Dem Team um die Hamburger Kommissarin Sandra Holz rennt die Zeit davon. Gelingt es ihnen, das Mädchen rechtzeitig aus ihrem engen Versteck zu befreien, bevor der Sauerstoffvorrat aufgebraucht ist? Ihnen bleiben genau 33 Stunden!
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Seitenzahl: 377
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Wir können wohl das Glück entbehren,aber nicht die Hoffnung.Theodor Storm
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2020 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8373-6
Klaus E. SpieldennerElbfinsternisHamburg-Krimi
Klaus E. Spieldenner machte 2017 mit „ELBTOD“ – dem ersten Kriminalroman über die Hamburger Elbphilharmonie – auf sich aufmerksam. Der 1954 im saarländischen Völklingen geborene Autor beginnt 2013 aus „kreativer Langeweile“ mit dem Schreiben. Mit „ELBTRAUM“ ist jetzt der fünfte Hamburg-Krimi seiner Reihe um Kommissarin Sandra Holz im Verlag CW Niemeyer erschienen. Darin erfüllt der Autor sich den Wunsch, auch das Hamburger CHILEHAUS in seinen neuen Roman zu integrieren. Leser schätzen Spieldenners umfangreiche Recherchen und das Einbeziehen realer Geschichten. Bei den Lesungen begeistert der Autor und Musiker die Gäste mit Erlebnissen aus intensiven Nachforschungen, aber auch mit eigenen Liedern, passend zur Handlung seiner Kriminalromane. Klaus E. Spieldenner lebt mit Ehefrau Ingrid in Bad Oldesloe. Beide haben zwei erwachsene Kinder sowie einen kleinen Enkel.www.spieldenner.de
Prolog
„I-i-ich ha-ha-habe lang-e genu-ug ge-war-wartet-t!“
Der Mann saß in einem weißen Ford-Transporter, Angelzubehör lag verstreut im Fond des verschmutzten Wagens. Sein Gesicht war gerötet, und wie es schien, stand der Mann mächtig unter Druck. Sein Atem ging stoßweise, als sein nervöser Blick plötzlich in den Rückspiegel des Wagens fiel. Er betrachtete Teile seines verzerrten Konterfeis, tat sich schwer, sich selbst darin zu erkennen. Mit einem Faustschlag gegen den Spiegel trennte er diesen von der Scheibenhalterung. Ein dumpfer Knall, und der Spiegel fiel auf das Armaturenbrett; von dort auf den Boden vor den Beifahrersitz. Vom Aussehen her musste der Mann Ende zwanzig, Anfang dreißig sein. Erstaunt schaute er auf seine blutende Hand, Tränen liefen seine Wangen hinunter. Er stammelte etwas, was wie ,Klea‘ klang.
Draußen war der Tag dabei, sich zu verabschieden. Das Abendrot an diesem Samstag, den 25. Mai 2019, stand voll über dem Süseler See, hier, nahe Haffkrug in Schleswig-Holstein. Nur wenige Bäume und eine Handvoll sogenannter Finn-Hütten des Jugendferienheims Tannenhöhe trennten die untergehende Sonne visuell vom Fahrzeug. Ein Schwarm Raben kreischte verschreckt auf, als der Mann die Fahrertür öffnete. Er zuckte zusammen, verweilte kurz, hielt seinen Atem an. Kinderstimmen drangen an sein Ohr, ein schlechter Radiolautsprecher gab einen alten Song der Backstreet Boys zum Besten. Er schaute sich um – soweit schien alles in Ordnung zu sein.
Der Mann wischte sich die Tränen von der Wange, griff in das Fahrzeug. Als seine Hand wieder auftauchte, ragte eine kleine Einwegspritze zwischen Daumen und Zeigefinger hervor. Er trug sie vorsichtig wie einen zerbrechlichen Gegenstand vor sich her. Der Mann kannte den Weg, hatte Tage hier in Süsel verbracht und das Jugendferienheim Tannenhöhe beobachtet. Tagsüber lag er in seinem Ford-Transporter. Ruhte, schlief oder sinnierte über das, was vergangen war, und das, was noch vor ihm lag. Erst am späten Nachmittag war er nach draußen geschlichen. Immer dann, wenn die Kinder und ihre Betreuer von Ausflügen zurückgekehrt waren und zum Strandbad rannten. Er hatte mit einem Fernglas das Jugendferienheim und seine Umgebung inspiziert. War anschließend – bewaffnet mit einer Angelrute und einem Jutesack – den Seeweg entlanggeschlichen. Den Weg, der an den Hütten vorbei zum kleinen Strandbad führte. Er hatte dort innerlich Kontakt zu den Kindern aufgenommen und war eins geworden mit dieser schaurig schönen Umgebung. Seine Heimat fiel ihm gerade ein. Dort gab es Berge, doch das von ihm als Taucher so geliebte Meer war Hunderte von Kilometern entfernt. Der Gedanke an den Sinn seiner Aufgabe kehrte schmerzlich zurück. Wie so oft unterdrückte er ihn, indem er mehrmals tief einatmete und anschießend ein altes Volkslied summte.
Die kleine Katharina saß neben der Rutsche. Sie hatte schneeweiße Kopfhörer im Ohr und beschäftigte sich mit ihrem Handy. Immer um diese Zeit, wenn das Abendessen der Jugendgruppe vorbei war, saß die 12-Jährige dort. Es hatte den Mann gefreut, dass sie sich wenig mit anderen Gleichaltrigen befasste, sich nicht am Volley- oder Federballspiel beteiligte. Das Mädchen saß lieber beim gesperrten Spielplatz, der bald abgerissen würde, und daddelte auf ihrem Handy. Ihre blassblauen Augen strahlten dabei und etwas – was der Mann als Eifer bezeichnete – spiegelte sich darin. Das Krähengeschrei war lange verstummt und der Mann wünschte es sich als Ersatz für die schlechte Musik zurück.
Der kleine Weg, der seitlich der beiden Garagen Richtung Zeltplatz hochführte, bot Schutz vor Entdeckung. Der Mann wusste genau, zu welcher Stunde die Gruppe gemeinsam im Haupthaus ihr Abendessen zu sich nahm. Er hatte diese Zeit genutzt und den Wagen unbeobachtet abgestellt. Die letzten Nächte hatte er oft im Gebüsch der leeren Zeltwiese gelegen, hatte wenig geschlafen und viel nachgedacht. Und immer wieder hatte er sich die gleiche Frage gestellt: War das, was er vorhatte, wirklich nötig? Und immer wieder war er sich danach sicher: Es war nötig! Nötig, wie die medizinische Behandlung eines Krebsgeschwürs oder eines eitrigen Blinddarms. Er riss sich zusammen, schlich gebückt über das frisch geschnittene Gras in Richtung des Spielplatzes. Grashalme wirbelten auf, ein Krabbeltier hatte sich auf seinen Schuh verirrt. Mit einer Drehbewegung des Fußes entledigte er sich des kleinen Aufdringlings. Die niedrigen, rot-blau gestrichenen Holzhütten mit den Dächern, die bis zum Boden reichten, vermittelten ihm Ruhe und gaukelten ihm Sicherheit vor.
Das Kinderlachen kam näher – er verharrte. Zwischen den Hütten rannte eine Gruppe junger Mädchen in Richtung des Seeufers. Wollten sie jetzt noch schwimmen gehen? Unbeaufsichtigt? Sicher saßen die Betreuer schon wieder im Haus drei bei einem Glas Rotwein. Er hatte das genau beobachtet. Hier oben, von seinem Versteck aus. Wieso machte er sich eigentlich Gedanken um die ihm unbekannten Kinder? Wer hatte sich je Gedanken um ihn gemacht? Die Mädchen verließen kichernd das Jugendheimgelände, verschwanden zwischen Sträuchern auf dem kleinen Weg zum Süseler See. Dort, wo er lange gesessen hatte, eine köderlose Angelrute vor sich im Wasser, und wo er Ausschau nach Katharina hielt. Er, der Veganer, betätigte sich hier als Angler! Und nun wurde er noch zum Menschenfischer. Der Mann atmete tief ein, vermisste den salzigen Geruch des Meeres, das nur wenige Kilometer südöstlich lag. In den Tagen seiner Anwesenheit hier hatte er versucht, den Geruch dieser Gegend wie eine Formel zu entschlüsseln. Doch traurig war er zu einem Entschluss gekommen: Es handelte sich um keinen der Gerüche, die man ein Leben lang mit schönen Erinnerungen verknüpfte. Wieder blieb er stehen, bückte sich tief und sog – in erneut großer Erwartung – seine Lungenflügel voll: frisch gemähtes Gras, feuchte Erde vom Regen der letzten Nacht, mehr war da nicht.
Er konnte den Kopf der Kleinen sehen, einen Teil ihrer langen, dunkelblonden Haare, die sie offen trug. Es dämmerte schon und das beruhigte ihn. Plötzlich bewegte sie sich. Wenn sie jetzt aufstand und nach unten zu ihren Kameradinnen lief, war alles umsonst. Aber bisher harrte sie immer bis weit nach 21 Uhr dort oben aus. So lange, bis die Betreuer ihre Rotweingläser aus der Hand gestellt hatten und endlich nach den ihnen anvertrauten Schäfchen schauten. Katharina bewohnte eines der beiden Einzelbettzimmer in Hütte vier. Er hatte sie einmal am Fenster stehen sehen. Nannte sie sanft: Kleine Eigenbrötlerin. Hatte sie irgendwie lieb gewonnen.
„Kann man jemanden töten, den man lieb hat?“
Er verdrängte die Frage.
Die Grundrisse aller Hütten, auch die des Haupthauses, hatte er sich genauestens eingeprägt. Man war sehr tolerant hier in dieser Kinderfreizeit, fand er. Für sein Empfinden zu tolerant, fast leichtsinnig. So hatte er Liebeleien unter den Betreuern beobachtet, die dazu führten, dass nicht alle in dem ihnen zugewiesenen Bett übernachteten. Er hatte selbst einen kleinen Sohn. Wenn er ihn je in eine solche Maßnahme entließ, musste er dort auch sicher sein. Sicher vor was? Vor solchen Monstern wie ihm? Die Kindheit dieser Generation verlief anders als seine Kindheit damals, entschuldigte er sich. Selbstbewusster waren die Kinder, aber auch eingeengt durch das überzogene Schutzbedürfnis ihrer Eltern. Damals! Kindheit! Wieder bewegten sich Tränen seine Wangen hinunter, stoppten wie abgesprochen abrupt auf der Oberlippe. Er leckte sie ab und wie immer waren sie ohne Geschmack. Er war sich sicher, den Salzvorrat seiner Tränen, den er noch in seiner Jugend wahrgenommen hatte, durch endloses Weinen verbraucht zu haben.
Unten, im Tal der Ahnungslosen, wie er es einmal bezeichnete, war es wieder ruhiger geworden. Nur die Lautstärke der Musik im Radio hatte leicht angezogen – aktuell klang es nach Hip-Hop. Der Mann rollte die Spritze in den Fingern der linken Hand, als sei sie ein dicker Kugelschreiber, und schlich weiter.
Das Mädchen mit Namen Katharina saß seitlich und hörte ihn nicht kommen. Die Musik im Kopfhörer lenkte sie ab; die Ferienanlage, auf der sie sich befand, gab ihr ein falsches Gefühl von Sicherheit und Vertrauen. Kalter Schauer lief über den Rücken des Mannes: Vertrauen? Nie sollte man jemandem gänzlich vertrauen. Sich nie hingeben in die Hände anderer. Nur zu oft wurde man dabei enttäuscht. Auch hier und heute bei der Kleinen, die gerade nichts Böses erwartete. Noch vier, fünf Schritte war er von ihr entfernt. Wenn sie ihn jetzt sah, würde sie vielleicht denken, ein unbedeutender Typ läuft hinunter zum Haupthaus. Und sie würde ihn ignorieren, wie so viele ihn die letzten Jahre als bedeutungslos abgetan hatten. Vielleicht würde sie auch den Angler wiedererkennen, aber das war nicht er und somit ebenfalls bedeutungslos.
Mit einem Ausfallschritt trat der Mann neben das Mädchen, schob die Nadel der Spritze wie ein Dartpfeil in ihren dünnen Hals. Katharina zuckte lautlos zusammen, wollte aufspringen, riss an dem Kabel, das die Kopfhörer mit dem Smartphone verband. Ihr Kopf schnellte dabei in seine Richtung. Ihre Augenfarbe, dieses blasse Blau, erschreckte ihn. Das Bild von Katharinas Vaters erschien plötzlich vor seinen Augen, auch seine eigene Schwester und schöne Augenblicke seiner Kindheit. Der Kreislauf des Mannes wankte. Er konnte seine Augen nicht von den ihren lösen. Ihr trauriger Blick schien ihn für alles Leid der Welt bestrafen zu wollen. Ihre Lippen bewegten sich, doch die notwendige Information drang nicht nach draußen.
„Mein Leben dafür, erfahren zu dürfen, was du mir mitteilen möchtest, Katharina!“
Dann weiteten sich ihre Pupillen, ihre Körperhaltung entspannte sich, das Mädchen sank in sich zusammen. Mit einem weiteren Schritt stand der Mann vor ihr, verhinderte den freien Fall. Griff den kleinen Körper am Rücken und unter den dünnen Beinchen. Er hob sie hoch, hatte mit mehr Gewicht gerechnet, stolperte fast, trug sie über die kurz gemähte Wiese. Ihre Arme baumelten an seiner Hüfte, die langen Haare kitzelten an seinem hochgeschobenen T-Shirt. Sie roch nach Jugend, nach Natur und sogar nach etwas Pfefferminz. Der nervöse Blick des Mannes wanderte über die Finn-Hütten bis zum Süseler See. Die Ruhe täuschte, schon bald würde man das Mädchen vermissen. Er atmete die bedeutungslose Seeluft tief ein, rannte gebückt – das Kind in den Armen – zu seinem Transporter.
„Das a-a-alles tu-ut mir so une-e-e-ndlich lei-d!“, flüsterte der Mann stotternd.
Palma de Mallorca26. Mai 2019
Der Bundesligaschiedsrichter Benjamin Giesecke saß an diesem Morgen im Tagungsraum IV Gaspar de Villalonga des Hotels Hilton Sa TorreMallorca. Die Vorhänge des Saales waren aufgrund der Helligkeit zugezogen, und interessiert hörte Giesecke dem Vorsitzenden des DFB-Schiedsrichterausschusses, Jasper Fierer, zu. Er selbst hatte – ebenso wie dreißig seiner Kameraden des deutschen Schiedsrichter-Elite-Bereichs – die letzten Tage im Trainingscamp des Deutschen Fußballbundes, DFB, auf der balearischen Mittelmeerinsel verbracht. Am Nachmittag endete die Weiterbildung mit einem Test, und schon am Abend würde Giesecke wieder mit einer Maschine zurück in die Heimat fliegen. Obwohl er der Diskussion über den Video-Assistenten dringend zuhören sollte, wurden seine Gedanken ständig abgelenkt. Schon für morgen Abend war der 41-Jährige eingesetzt, das zweite Relegationsspiel der 1. Bundesliga, der Hamburger Sport-Verein gegen den VfB Stuttgart, im Volksparkstadion zu leiten. Als erfahrener Bundesligaschiedsrichter stellte ihn das vor keine unlösbare Aufgabe, emotional setzte es ihm jedoch enorm zu. Er zwang sich, den Gedanken an das Spiel zu verdrängen, und hörte den Ausführungen von Fierer zu.
„Also abschließend: Bei welchen Situationen kann der Video-Assistent eingreifen?“ Fierer hatte die Frage in den Raum geworfen und sofort schnellten etliche Schiedsrichterhände nach oben.
„Mark, was meinst du?“ Die gestreckten Arme wurden wieder eingezogen und Mark Wolf, ebenfalls Referee und Zimmernachbar von Benjamin Giesecke, war – ähnlich einem Schulkind – aufgesprungen.
„Voraussetzung für ein Eingreifen des Video-Assistenten ist, dass nach seiner Einschätzung ein offensichtlicher Fehler des Schiedsrichters auf dem Platz vorliegt. Etwa bei nicht oder falsch geahndeten Vergehen, wie Foul, Handspiel, Abseits, und anderen Regelwidrigkeiten. Wir selbst können auf den Video-Assistenten zugreifen, wenn wir uns zum Beispiel bei einem Elfmeter nicht absolut sicher sind und vorab noch mal die Zweifel beseitigen möchten.“
„Exakt! Danke, Mark, wir ...“
Das Handy in der Tasche von Benjamin Giesecke hatte vibriert, und das erschreckte ihn. Nur wenige kannten die private Handynummer des Niedersachsen und die Anzahl derer konnte er an den Fingern beider Hände abzählen. Es musste also äußerst wichtig sein. Diskussionsleiter Fierer war Gieseckes Ablenkung aufgefallen. Er hatte seinen Satz unterbrochen und schaute auf den Schiri in der zweiten Reihe.
„Alles klar, Ben?“
Giesecke nickte, stand auf und entschuldigte sich mit den Worten: „Ich muss mal, sorry.“ Unter dem Grinsen einiger seiner Schiedsrichterkollegen verließ er den Saal.
Das Vibrieren hatte aufgehört. Giesecke hatte unmittelbar nach Schließen der Tagungsraumtür sein Smartphone aus der Tasche gezogen und entsperrt. Nervös betrachtete er das Display. Es handelte sich um eine SMS, wie an der Zahl eins hinter dem blau-weißen Symbol deutlich erkennbar war. Giesecke öffnete den Messenger. Der Absender war anonym, musste seine Nummer also unterdrückt haben. Der Text, den Giesecke ablas, riss ihn fast den Boden unter den Füßen weg. Er lautete: „Wir haben Ihre Tochter Katharina entführt. Weitere Informationen folgen. Keine Polizei, sonst stirbt die Kleine!“
Hauptkommissar Can-Marco Ünal-Quint saß auf der Rutsche im Jugendferienheim Tannenhöhe in Süsel. Er inhalierte gemächlich eine E-Zigarette, hielt den Atem wenige Sekunden an, um dann mit Wonne eine Dampfwolke – ähnlich der eines Kleindampfers – auszustoßen. Der Kieler hatte sich vor Wochen, nach seinem Umstieg von der filterlosen Zigarette zur E-Zigarette, für das Lungendampfen entschieden. Rauchende Kollegen im Landeskriminalamt hatten zwar das Backendampfen empfohlen – der Geschmack sollte angeblich intensiver sein –, aber nachdem er mehr als zwanzig Jahre Zigarettenraucher mit üblichen Inhalationen war, wollte er das auch beibehalten. Auch wenn es zugunsten eines Geschmacksverlustes geschah.
„Ich dachte, ein Mississippi-Raddampfer fährt auf das Gelände!“
Ein hemdsärmeliger Mann hatte sich aus der Gruppe von Erwachsenen, Uniformierten und Kindern gelöst und war den kleinen Hang zum Spielplatz des Jugendferienheims hinaufspaziert. Jens Sporn, Oberkommissar im Kommissariat 11 der Bezirkskriminalinspektion Lübeck, hob das rot-weiße Absperrband hoch, bückte sich und nahm auf dem unteren Blech der alten Kinderrutsche Platz. Als Ünal-Quint ihm nicht antwortete und nur eine weitere Dampfwolke ausstieß, meinte der Kriminalbeamte: „Wieso hat man den Spielplatz wohl abgesperrt?“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und schaute weiter desinteressiert dem Treiben vor dem Haupthaus der Süseler Ferienanlage zu.
„Was meinst du, Can?“, fragte Sporn erneut und kratzte sich am Kopf.
Der Kieler Hauptkommissar legte den Verdampfer neben sich und schaute auf seinen Kollegen hinunter. Dann antwortete er: „Sicher ist das Ding baufällig!“
„Und dann sitzt du übergewichtiger Lulatsch oben auf der Rutsche?“
„Übergewicht? Falsch! Ich habe in den letzten Wochen sieben Kilo abgenommen.“
„Hast du deine Urlaubszeit in Kiel wieder um?“
„Nix Urlaub, das ist echte Schwerstarbeit, die wir beim Landeskriminalamt täglich leisten!“, erklärte Ünal-Quint grinsend. Ihm war klar, Kollege Sporn war bekannt, dass er im Kieler Landeskriminalamt nur eine Halbjahresstelle belegte und die Monate Juni bis November in der Türkei, der Heimat seines Vaters, verbrachte.
„Du hast recht, Jens, mein Flieger nach Antalya geht schon heute Abend.“
„Und da bist du noch hier, Can?“
Ünal-Quint griff nach seiner E-Zigarette und drehte sie nachdenklich zwischen den Fingern.
„Sie haben mich aus dem Bett geklingelt. Und wenn es um ein vermisstes Kind geht, kann ich nicht ablehnen.“
Sporn nickte heftig.
„Du bist noch immer Springer im Landeskriminalamt?“
Ünal-Quint war gerade dabei, an der E-Zigarette zu ziehen, als Sporn die Frage stellte. Der Dampf verzweigte sich noch irgendwie in der Speiseröhre, und der Kriminalbeamte erlitt einen heftigen Hustenanfall.
„Soll ich dir auf den Rücken klopfen?“
Mit einem Räuspern hatte Ünal-Quint den Anfall wieder im Griff und schüttelte den Kopf.
„Rauchen ist gefährlich!“, lachte Sporn.
„Wenn die in Kiel mir mal dauerhaft einen Schreibtischjob anbieten, verschwinde ich für immer nach Anamur!“
Sporn erinnerte sich, dass der Halbtürke Can ihm bei einem Glühwein im Winter auf dem Lübecker Weihnachtsmarkt von seinem kleinen Ferienhaus in der türkischen Kreisstadt Anamur erzählt hatte. Er hatte es vor Jahren mit seinem Vater gebaut. Sporn beneidete den Kollegen etwas über seinen zweiten Wohnsitz im Ausland. Er selbst war in Lübeck geboren, hatte eine Lübeckerin geheiratet und musste eigentlich glücklich sein. Denn wie Sporn auch bekannt war, starb Cans Vater vor zwei Jahren bei einem Unfall. Insofern war er selbst dankbar, noch beide Elternteile zu besitzen.
„Was meinst du?“, wollte Ünal-Quint wissen.
„Die 12-jährige Katharina ist wohl in der Nacht oder gegen Morgen aus ihrem Bett in Hütte vier verschwunden. Der Betreuer, der in dieser Hütte genächtigt hat ...“, Sporn zog ein altmodisches Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin, „... ein 22-Jähriger mit Namen Florian Burger, hat gegen Mitternacht noch in ihr Zimmer geschaut. Die Kleine lag – seiner Aussage nach – zu der Zeit schlafend in ihrem Bett.“
„Wann wurden die Kollegen informiert?“
Wieder blickte Sporn in sein Notizbuch. „Der Notruf wurde sechs Uhr zwölf nach Eutin übermittelt. Keine zehn Minuten später war die erste Streife vor Ort.“
Ünal-Quint schaute nach unten auf das Gelände und begann laut zu zählen: „Eins, vier, sieben, neun ... haben alle Uniformierten nur den Auftrag, hier rumzustehen?“
Auch Sporns Blick wechselte vom Notizbuch nach unten. „Die Kollegen haben alles durchsucht. Vom Strandbad bis hinein in die Siedlung.“
„Taucher?“
„Haben wir noch nicht angefordert. Seit ich die Information eines Anwohners über einen weißen Ford-Transporter mit Hamburger Kennzeichen habe, ermitteln wir erst einmal in Richtung Kindesentführung.“
Ünal-Quints Körperhaltung schlug von bisher relaxed auf Anspannung um. Mit einem Sprung hatte er die Rutsche verlassen und stellte sich neben den Kollegen aus Lübeck.
„Ja, Can, dieser Herr Baran, ein gebürtiger Pole, arbeitet im Hansa-Park und bewohnt mit seiner Familie ein Einfamilienhaus in Süsel. Er ist leidenschaftlicher Angler und ihm ist der Ford auf dem Gelände hier aufgefallen.“
„Haben wir ein Kennzeichen, und wann genau war das?“
„Nein zum Kennzeichen und: Es muss gestern, so kurz vor dem Dunkelwerden, gegen 21 Uhr, gewesen sein.“
„Gibt es für diese Ferienanlage auch einen Verantwortlichen?“
„Wenn du damit den Heimleiter meinst? Ja! Sönke Marsch ist hier das Mädchen für alles. Er bewohnt mit Frau und kleinem Sohn die große Finn-Hütte rechts!“ Sporn wies mit der freien Hand in die Richtung.
„Die Kleine ist aus Hamburg?“
Sporn nickte. „Katharina gehört zur dreißigköpfigen Gruppe einer Kinderfreizeit. Veranstalter ist die AWO Hamburg. Sie findet wohl regelmäßig statt. Vor und nach den Schulferien an den Wochenenden, in den Sommerferien über einen längeren Zeitraum.“
„Gibt es einen Raum, in dem ich mit den Betreuern und dem Heimleiter reden kann?“
„Klar, im Haupthaus. Ich werfe die Kinder, die noch frühstücken, raus, dann hast du Ruhe.“ Sporn stand auf, wischte sich den Hosenboden sauber und spazierte den Hang hinunter.
„Aber nicht, dass ich am Verhungern der Kinder schuld bin!“, warf ihm der Kieler Kollege hinterher. Sporn hob eine Hand und schüttelte den Kopf.
Das Dach des Haupthauses besaß – ebenso wie die kleineren Hütten – eine Konstruktion, die bis zur Erde reichte. Noch während Hauptkommissar Ünal-Quint über einen bauseitigen Platzverlust dieses Daches nachdachte, betrat er den großen Speisesaal. Kollege Sporn folgte ihm. Ünal-Quint überschlug kurz: Hier fanden sicher 50 Personen Platz, seitlich konnte er die Edelstahlelemente einer Küche erkennen. Vier Personen befanden sich im Raum: außer dem Lübecker Kollegen noch ein junges Paar und ein älterer Herr, der nervös an seinen Fingern spielte.
„Ünal-Quint, Landeskriminalamt Kiel!“, stellte sich der Hauptkommissar vor und nahm auf einem seitlich stehenden Tisch Platz. Seine Beine ließ er locker baumeln. Die drei Unbekannten musterten ihn, blieben aber still.
„Sie sind der Betreuer des vermissten Mädchens?“ Ünal-Quint hatte mit dem Zeigefinger auf einen der beiden Männer gezeigt.
Der Mann blickte zunächst zur jungen Frau an seiner Seite, trat dann einen Schritt vor und nickte.
„Florian Berger?“
„Burger, Florian Burger!“, antwortete der junge Mann, und sein Gesicht leuchtete dabei gefährlich rot.
„Und Sie sind?“, Ünal-Quints Blick war zur Frau gewechselt.
„Ich bin Laura Szenko!“
„Also Sie, Herr Burger, haben gegen Mitternacht noch nach dem vermissten Mädchen geschaut?“
Der angesprochene Burger nickte eifrig.
„Und es kann wirklich nicht sein, dass Sie, eher aus Vergesslichkeit, auf eine ... Überprüfung verzichtet haben?“
„Auf ... auf keinen Fall!“, stotterte der Mann und suchte Hilfe bei der jungen Frau.
„Für welche Hütte sind Sie verantwortlich?“ Ünal-Quints Blick war wieder zur jungen Frau gewandert. Auch ihr Gesicht wechselte sofort die Farbe, bevor sie die Worte ,Hütte zwei‘ ausstoßen konnte.
„Sie alle wissen, dass es nach einer Entführung der kleinen Katharina ausschaut. Jede Information ist wichtig!“
Das junge Betreuerpaar nickte, und auch der Heimleiter stieg in die Bewegung ein.
„Sie sind Marsch?“
„Sönke Marsch, richtig! Ich leite das Jugendferienheim.“
„Und Sie wohnen mit Ihrer Familie in unmittelbarer Nähe der Hütten, mit Blick auf den Parkplatz vorne, und Sie haben nichts Ungewöhnliches bemerkt? Vielleicht einen weißen Ford-Transporter?“
Marschs Kreislauf schien etwas durcheinander. Er wackelte verdächtig. Sporn war mit einem Schritt neben ihm.
„Ich ... also meine Frau und unser Sohn Julian, also ... ich habe beide gestern Nachmittag nach Kühlungsborn gebracht. Sie machen dort eine dreiwöchige Mutter-Kind-Kur.“
Ünal-Quint nahm es desinteressiert zur Kenntnis, und nur mit viel Körperbeherrschung gelang es ihm, ein aufkommendes Gähnen zu unterdrücken.
„Und ... ich hatte mich abgemeldet“, ergänzte Sönke Marsch und suchte Unterstützung bei den Betreuern. Diese stimmten wortlos zu. „Ich war erst gegen ein Uhr heute Morgen wieder hier in der Anlage.“
„Und Ihnen ist tatsächlich nichts aufgefallen? Auf dem Parkplatz, oder unterwegs auf der Straße, kein weißer Transporter?“
Marsch schüttelte den Kopf. „Ich ... wir sind mit der Bahn gefahren, und ich kam erst gegen Mitternacht wieder in Lübeck an ... eine Taxe ...!“
Die Eingangstür wurde aufgerissen und ein uniformierter Polizeibeamter betrat den Raum. „Entschuldigen Sie, die Kollegen aus Hamburg konnten endlich die Mutter des Mädchens erreichen. Eine Doktor Sabine Oltmanns, Ärztin im Krankenhaus Hamburg-Wandsbek. Die Frau ist natürlich ganz aufgelöst und konnte sich nicht vorstellen, dass die Kleine ausgerissen war. Nach Hause gekommen ist das Mädchen natürlich auch nicht!“, berichtete der Beamte weiter.
„Natürlich!“, murmelte Ünal-Quint.
„Wie bitte?“
„Alles gut, danke!“
Der Beamte verließ kopfschüttelnd die Runde.
Hauptkommissar Ünal-Quint überlegte einen Moment, wandte sich dann den jungen Leuten zu. „Und Sie beide sind ein Paar?“
Das Nein kam wie aus der Pistole geschossen aus deren Mündern. Man spürte, wie die Frage die Betreuer erregt hatte, und die jungen Menschen bewegten sich – wie zwei gleiche Magnetpole – automatisch ein kleines Stück voneinander weg.
„Ich habe oben auf der Rutsche gesessen und gesehen, wie Sie ...“, der Kieler Kriminalbeamte zeigte mit einer Kopfbewegung auf Florian Burger, „... der jungen Frau hier ...“, nun zeigte sein Kopf auf die Frau, „... nervös über den Rücken gestreichelt haben. Das sah mir eher nach einer intimen Beziehung aus!“
Laura Szenko gab plötzlich einen kleinen Schrei von sich und Tränen schossen in ihre Augen. Es sah wie einstudiert aus, und auch Oberkommissar Sporn schaute überrascht zu ihr.
„Sag es ihnen, Florian!“
„Was soll er uns sagen?“ Sporn hatte sich eingemischt. Er war zum Betreuer Burger getreten und sah ihm fest in die Augen. „Ihre Aussage von eben stimmt also nicht? Hören Sie, Burger, während wir hier reden, kann dem Mädchen schon etwas zugestoßen sein.“ Sporn packte den Mann am Arm und zog fest daran. So als wolle er ihn wachrütteln.
„Ich ... ich habe heute Nacht bei ... Laura übernachtet und ... nicht nach Katharina geschaut. Jetzt ist es raus!“
Sporn und sein Kollege Ünal-Quint waren hoch zur Wiese spaziert. Das Gras war frisch gemäht und Sporn genoss den Geruch, indem er bewusst ein- und ausatmete. Unten bei den Finn-Hütten hatten sich die Kinder in kleinen Gruppen versammelt und schienen über die Ereignisse zu diskutieren.
„Dort im Gebüsch hat einer gelegen!“ Ünal-Quint wies plötzlich seitlich auf niedergetretene Zweige. „Ist noch nicht lange her!“
Sporn trat zu ihm, beugte sich über die Stelle und nach einer Weile nickte er. „Du hast recht. Man kann deutlich das platt gedrückte Gras erkennen. Du glaubst auch, man hat es auf die Kleine abgesehen und sie entführt?“
Ünal-Quint nickte.
„Erpressung? Die Mutter Ärztin, der Vater vielleicht ein steinreicher Hamburger Reeder?“
Ünal-Quint zuckte mit den Schultern und gähnte dabei herzzerreißend. „Ich werde nach Hamburg fahren, hier kann ich gerade wenig anrichten. Die Spurensicherung soll alles auf den Kopf stellen, vielleicht finden sie etwas Brauchbares wie Reifenabdrücke!“
Der Kriminalbeamte quetschte sich durch ein verrostetes Tor, das quietschend zur Seite wich, winkte Sporn kurz zu und lief auf einen silbernen VW-Passat mit Kieler Nummer zu.
In der Cafeteria der Asklepios Klinik Wandsbek roch es nach frisch aufgebrühtem Kaffee und nach Toast. Die Klimaanlage kämpfte mit ihrem Surren vergebens gegen die lautstarken Gespräche der Handvoll Gäste im Raum.
Dr. Sabine Oltmanns saß in der Ecke an einem kleinen Tisch. Ihre Hände zitterten, und fast flehend schaute sie in die dunklen Augen ihres Gegenübers. Hauptkommissar Can-Marco Ünal-Quint hatte noch auf der Fahrt vom holsteinischen Süsel nach Hamburg Kontakt zu Katharinas Mutter aufgenommen und sie gebeten, die Klinik nicht zu verlassen, bis er mit ihr gesprochen habe. Frau Oltmanns hatte in der kleinen Cafeteria so lange Platz genommen. Als Ünal-Quint durch die offene Tür trat, war der wartenden Frau irgendwie klar, dass es sich bei dem großen Mann mit den nahezu schwarzen Augen um den Kriminalbeamten handeln musste, mit dem sie telefoniert hatte. Groß, lässig, selbstbewusst, spazierte er auf die Frau im weißen Kittel zu.
„Frau Doktor Oltmanns!“ Sie hielt ihm ihre zitternde Hand hin und vorsichtig drückte er sie.
„Can-Marco Ünal-Quint, es freut mich, Sie kennenzulernen. Auch wenn die Umstände ...!“
Er setzte sich ihr gegenüber und betrachtete die zierliche Ärztin. Sie war keine Schönheit, aber sie hatte dieses gewisse Etwas. Dr. Oltmanns musste stark über dreißig sein, sie schaute gepflegt aus, hatte dazu einen frechen Kurzhaarschnitt sowie selbstbewusste Augen. Wenn da nicht dieser angstvolle Blick gewesen wäre. Doch das war für den Kriminalbeamten nichts Neues. In seiner langen Dienstzeit hatte er schon Hunderte Male in solche ängstlichen Augen geblickt. Sie bettelten regelrecht um Hilfe, und nicht immer war er dazu in der Lage.
„Sie sind Ärztin hier in der Klinik?“, begann er das Gespräch.
Die Frau nickte. „Anästhesistin! Doch für den Moment habe ich einen Kollegen gebeten, ...“ Tränen bildeten sich in ihren Augen. Sie begann nervös in ihren Kitteltaschen nach etwas zu suchen.
„Hier!“ Ünal-Quint hielt seinem Gegenüber eine Packung Papiertaschentücher hin. Sie griff dankend danach, zog eines der Tücher heraus und reichte ihm die Packung zurück.
„Lassen Sie nur, ich denke, Sie brauchen die Taschentücher dringender.“
Frau Dr. Oltmanns schaute etwas erstaunt, und der Kriminalbeamte tadelte sich, weil dies ein äußerst dummer Spruch gewesen war. Nervös blickte er sich im Raum um. Die Tische der Cafeteria waren spärlich besetzt, stellte er dabei fest, das Geschäft schien heute für den Betreiber nicht zur Zufriedenheit zu laufen.
„Wann haben Sie Katharina das letzte Mal gesehen?“, versuchte er abzulenken.
„Das letzte Mal?“
Auch diese Frage war – aus Sicht der aktuellen Situation – falsch formuliert, fand der Kieler Beamte. Aber wenn er nur Rücksicht ausübte und jeden Satz auf die berühmte Goldwaage legte, kam er nicht weiter.
Die Mutter und Ärztin hatte sich die Augen mit dem Papiertaschentuch trocken gerieben und schaute dem Mann ins Gesicht.
„Ich habe mein Mädchen am Freitag gegen vierzehn Uhr zur Pfarrei St. Joseph gebracht. Sie ist dort in einen Bus nach Süsel eingestiegen. Zusammen mit einer großen Zahl anderer Kinder.“
Ünal-Quint nickte.
„Und Sie sind sicher, dass Katharina sich nicht irgendwo in der Tannenhöhe versteckt hat? Vielleicht hat sie einen Jungen ...!“ Etwas resigniert hatte der Kommissar nach dem Kopfschütteln seines Gegenübers den Satz abgebrochen.
„Sie waren schon in diesem Jugendferienheim, Frau Oltmanns?“
„Nennen Sie mich bitte Sabine!“
„Gut, Sabine, dann müssen Sie mich Can nennen!“
Can-Marco Ünal-Quint war gerade klar geworden, dass er sein Frühstück, morgen im türkischen Anamur, bis auf Weiteres verschieben musste.
„Ja, im letzten Jahr habe ich Katharina mal dort hingebracht. Sie ... also, wir hatten den Bus verpasst. Es war nicht ihre Schuld. Ich kam nicht rechtzeitig aus der Klinik weg und wir mussten noch packen!“, entschuldigte sich die Mutter und wieder wurden ihre Augen feucht.
„Gefiel es Katharina dort in der Tannenhöhe?“
Dr. Oltmanns stützte beide Ellenbogengelenke auf die Tischplatte und legte ihren Kopf auf den gefalteten Händen ab.
„Eigentlich ja. Sie hat sich nie darüber beschwert. Wir fanden, es war ein netter Ausgleich zum Schulalltag und dem Stress hier in Wandsbek.“
„Stress?“
„Unterliegen die Kinder heutzutage nicht alle einem großen Stressfaktor?“
Ünal-Quint hatte selbst keine Kinder und konnte daher nicht mitreden.
„Was ist mit dem Vater?“
„Ben? Wir haben uns vor vier Jahren getrennt. Er arbeitet eigentlich beim Finanzamt in Bunde.“ Die Frau schwieg und ihre Augen blickten ins Leere.
„Wo liegt Bunde und wieso eigentlich?“, erkundigte sich Ünal-Quint nach einer kurzen Pause.
„Ach ja, also, Bunde ist unsere Heimatstadt. Die von Ben und mir. Die Stadt liegt in Ostfriesland, nahe der holländischen Grenze. Wir haben uns dort kennengelernt. Und seit einigen Jahren ist Ben Schiedsrichter und nur noch sporadisch beim Finanzamt in Bunde tätig.“
Ünal-Quint verstand nicht ganz und hakte weiter nach.
„Er wohnt also in Bunde, nicht hier in Hamburg? Ist das Verhältnis zu seiner Tochter gut?“
„Er bewohnt sein Elternhaus in Bunde, hat es zurückgekauft aus einer Insolvenzmasse. Aber wir besitzen noch eine kleine Wohnung in Lokstedt, dort hält sich Ben sehr oft auf. Er liebt Katharina mehr als ...“, die Frau riss ihren Blick von den stechenden Augen des Beamten und schaute auf die leere Kaffeetasse, die vor ihr stand.
„Möchten Sie noch einen Kaffee?“ Ünal-Quint hatte ihren Blick falsch gedeutet, denn sie ergänzte: „Er liebt Katharina mehr als sein Leben und vielleicht mehr ... als ich.“ Tränen rannen über ihre Wangen.
„Wie kommen Sie denn darauf? Mütter haben doch eigentlich eine größere Bindung zu ihren Kindern als Väter“, versuchte Can Ünal-Quint die Frau zu beruhigen.
„Ich arbeite zu viel und ... liebe meinen Beruf als Ärztin sehr!“, entschuldigte sich die Medizinerin.
„Kann Katharina zu ihrem Vater gefahren sein?“
Frau Dr. Oltmanns schüttelte den Kopf. „Ben ist gerade auf Mallorca. Er nimmt dort an einem Seminar für Bundesligaschiedsrichter teil.“
„Haben Sie ihn schon über das Verschwinden Ihrer gemeinsamen Tochter informiert?“
Ein Ruck ging durch den Körper der Mutter. „Oh Gott, das habe ich doch vor lauter Aufregung vergessen.“ Sie fasste in ihre Kitteltasche und zog ihr Handy hervor. Fast liebevoll wischte sie über das Display, um dann regungslos hineinzustarren.
„Was soll ich ihm schreiben? Oder wäre es besser, ihn anzurufen?“
Der Kriminalbeamte streckte seine Hand nach dem Smartphone der Frau aus: „Lassen Sie mich mit ihm sprechen!“
„Gut, aber versprechen Sie mir eines ...!“
„Ja!“
„... bringen Sie mir mein Mädchen gesund zurück!“
Hauptkommissar Ünal-Quint hatte sich in den langen Jahren stets geweigert, solche Aussagen gegenüber Angehörigen zu tätigen. Doch die Frau sah ihn so verzweifelt an, dass er gegen alle Vernunft: „Ja, ich verspreche!“, flüsterte. Er kam sich ziemlich beschissen dabei vor.
Benjamin Giesecke hielt gerade den Türgriff zum Tagungssaal in der Hand, als das Telefon erneut vibrierte. Er schaute auf das Display, es zeigte den Namen ,Sabine‘ an. Der Mann drückte auf Rufannahme.
„Sabine, wo ist Katharina?“
Auf der anderen Seite des Hörers hörte er zunächst nichts. Dann erklärte eine dunkle Männerstimme: „Mein Name ist Ünal-Quint. Ich bin Hauptkommissar beim Landeskriminalamt in Kiel. Können Sie mir bitte Auskunft darüber geben, wo sich Ihre Tochter gerade aufhält?“
Benjamin Giesecke lehnte sich an die Holztür. Sein Kreislauf schien ins Schwanken zu geraten, und langsam rutschte er am Türblatt hinunter in die Hocke.
„Geben Sie mir meine Frau!“
Wieder blieb der kleine Smartphone-Lautsprecher einen Moment still. Dann sprach die ihm überaus bekannte Frauenstimme: „Ben! Katharina wird vermisst. Ich weiß nicht mehr weiter!“
„Sabine, hast du die Polizei gerufen?“
„Nein, Katharina befand sich das Wochenende über in Süsel. Dort war sie am Morgen aus ihrem Bettchen verschwunden.“
Beide Elternteile schwiegen.
„Ben?“
„Ja?“
„Was sollen wir tun?“
„Ich komme sofort zurück.“
„Gut!“
Frau Oltmanns hatte das Gespräch beendet.
Erschrocken war Benjamin Giesecke aufgesprungen und in den Nebenraum gerannt. Dort saßen die letzten Spätaufsteher des Hotels beim Frühstück. Giesecke griff sich eine noch unbenutzte Tasse und füllte sie am Kaffeeautomaten auf. Dann setzte er sich an einen der leeren Tische und nippte daran. Die Entführer hatten ausdrücklich verlangt, keine Polizei einzuschalten. Und nun rief ihn schon ein Kieler Kriminalbeamter in dieser Sache an. Und noch dazu auf dem Handy seiner Ex-Frau. Das brachte das Leben des Mädchens in große Gefahr, da war er sich sicher. Er trank den Kaffee in einem Zug aus und lief die wenigen Meter zur menschenleeren Rezeption.
„Ich möchte, dass Sie den nächsten Flieger nach Hamburg für mich buchen!“, rief er der Rezeptionistin zu. „Mein Vater liegt im Sterben!“
Die junge, in Schwarz-weiß gekleidete Frau schien Giesecke, aber auch die Bedürfnisse ihrer Hotelgäste gut zu kennen, denn sie widmete sich – ohne eine Miene zu verziehen – sofort ihrer Computertastatur.
Giesecke hatte sich währenddessen in einen der seitlichen Lounge-Sessel zurückgezogen. Er bat innerlich seinen Vater um Entschuldigung für den Spruch über die Sterbensankündigung und schaute auf die Armbanduhr: Es war 10.05 Uhr. Er wählte im Handy den Kontakt des Vaters, presste den Finger auf die Nummer im Display und schon nach wenigen Sekunden ertönte die beruhigend tiefe Stimme seines Vaters Gerold.
„Papa, ich bin es, Ben. Katharina ist verschwunden!“
„Was sagst du da?“
Gerold Giesecke war Hausmeister des Chilehauses in Hamburg und stand unmittelbar vor seiner Rente. Er war vor mehr als einem Jahrzehnt mit seinem Bunder Fuhrunternehmen insolvent gegangen, hatte aber nicht aufgegeben und sich später eine neue Existenz in Hamburg aufgebaut. Der Anruf erreichte ihn auf dem Sofa vor dem Fernsehgerät.
„Junge, sprich. Was ist mit Katharina?“, schrie er aufgeregt, und Ben hielt sich das Handy etwas weiter vom Ohr entfernt.
„Ich habe eine Nachricht bekommen, Papa. Da schreibt einer, er habe sie entführt!“
„Entführt? Das gibt es doch gar nicht. Sicher ein böser Scherz! Wenn ich den in die Hände bekomme. Was ist mit Sabine?“
„Die Polizei in Kiel hat die Ermittlungen ...“, Ben Gieseckes Handy vibrierte erneut. „Warte, Papa, ich melde mich gleich wieder.“ Der anonyme Versender von eben hatte ihm erneut eine Nachricht geschickt. Es handelte sich dabei um einen Link. Giesecke war zunächst unschlüssig, ihn zu öffnen. Er spürte, wie sein Herz beschleunigte, als wüsste der kleine Muskel, was da an Belastung auf ihn zukommt. Dann riss Giesecke sich zusammen und drückte auf die blaue Schrift. Es dauerte zwei nicht enden wollende Sekunden. Anschließend verschwand die Darstellung des Messaging-Dienstes zugunsten eines Bildes. Benjamin Giesecke traute seinen Augen nicht. Das Bild zeigte den Oberkörper der kleinen Katharina. Der Kopf der einzigen Tochter hing nach unten auf dem Kinn, Teile ihres Gesichts waren blutverschmiert. Der Körper des Mädchens war gefesselt; funzeliges Licht ließ ihr Gesicht fahl und wie tot aussehen. Die Augen Katharinas waren geschlossen.
Der Kreislauf Benjamin Gieseckes sackte ins Bodenlose, aber zum Glück saß er schon. Es wurde ihm schwarz vor Augen, das Handy fiel aus seiner Hand. Die Rezeptionistin war plötzlich neben ihn getreten, hatte sich gebückt und das Gerät aufgehoben. Mit sorgenvollem Gesicht hielt sie ihm das Smartphone hin und meinte: „Das mit Ihrem Vater tut uns sehr leid. Ich habe Sie auf den Flieger um 13.05 Uhr gebucht!“
Gieseckes Kreislauf arbeitete wieder. Zitternd nahm er der Frau das Handy aus der Hand und bedankte sich. Als sie wieder hinter dem Tresen verschwunden war, entsperrte er das Display und sah machtlos auf das Bild des Kindes. War das Foto echt? Und wenn, was sollte er davon halten? Plötzlich kam Bewegung in Katharinas Kopf. Wie in Zeitlupe löste sich der Kopf vom Kinn, die Augen des Mädchens öffneten sich und schauten ihren Vater Hilfe suchend an. Dicke Tränen liefen ihre Wangen hinunter, nahmen etwas vom Blut auf und verschwanden dann über das Kinn tropfend auf ihrer Bekleidung.
Benjamin Gieseckes Körper reagierte erneut mit einer Ohnmacht.
Gerold Giesecke war hart im Nehmen. Zumindest glaubte er das. Nach dem frühen Tod seiner Ehefrau, dann den langen Jahren als insolventer Geschäftsmann war der gebürtige Ostfriese nach Hamburg gezogen und hatte dort einen Neuanfang gewagt. Er hatte Glück, fand trotz seines hohen Alters die Stelle eines Hausmeisters im Chilehaus und war sich nicht sicher, seinen Ruhestand im nächsten Jahr antreten zu wollen. Die vielseitige Arbeit machte ihm Spaß, dazu wohnten Schwiegertochter und seine einzige Enkelin Katharina im Hamburger Stadtteil Wandsbek. Mit Sohn Ben war das Verhältnis über die Jahre etwas distanzierter geworden. Aber mit Katharina verband den 63-Jährigen viel. Wie der Großvater liebte auch die 12-Jährige Pferde und das Reiten. Oft waren beide zusammen unterwegs, während Mutter Sabine bis in die Nacht, aber auch an den Wochenenden in der Wandsbeker Klinik Dienst tat. Das Video mit der entführten und eingeschlossenen Enkelin erreichte Gerold Giesecke nur wenige Minuten, nachdem Ben aufgelegt hatte. Dazu schrieb der Sohn: „Muss sofort zum Flughafen. Bin um 14.35 Uhr in Hamburg. Melde mich!“
Gerold Giesecke bemühte sich, seine Tränen mit dem Hemdsärmel abzuwischen. Einige Minuten hatte er auf das verletzte und gepeinigte Mädchen geblickt und dabei geweint. Anschließend hatte er für sich entschieden, etwas zu unternehmen. Noch war er sich nicht klar darüber, was er tun sollte? Giesecke unterdrückte jeglichen aufkommenden Zorn sowie alle ihn plagenden Ängste und suchte nach einem sachlichen Gedanken.
Das Telefonat erreichte die Hamburger Hauptkommissarin Sandra Holz gegen 12.10 Uhr. Sie saß gerade mit Freund Caro beim Mittagessen im Restaurant Das Dorf in der Langen Reihe. Die laufende Spargelsaison hatten beide zum Anlass genommen, mal wieder – gut bürgerlich – Mittag zu essen. Zunächst glaubte Sandra beim Klingeln des Handys an ein Missverständnis eines ihrer Kollegen der Hamburger Mordkommission. Sandra hatte an diesem Wochenende frei und keinen Bereitschaftsdienst. Die angezeigte Rufnummer war ihr gänzlich unbekannt, und kurz überlegte sie, den Anruf abzulehnen. Doch sie wusste, nur wenige Auserwählte besaßen ihre Mobilfunknummer, und so entschuldigte sie sich bei Caro und nahm das Telefonat entgegen.
„Ja, hallo?“
„Hallo, Frau Kommissarin, Sie müssen mir helfen!“
Mit der dunklen Stimme am anderen Ende konnte Sandra zunächst nichts anfangen.
„Wer spricht denn da?“
„Gerold Giesecke ...!“
Auch mit dem Namen verband sie gerade nichts, und Sandra überlegte, um wen es sich handeln könnte. Der Anrufer schien ihr Schweigen richtig gedeutet zu haben und ergänzte: „... der Hausmeister vom Chilehaus!“
Sofort wurde Sandra bewusst, wer der Störenfried war. Gerold Giesecke hatte sie – dank seiner beruflichen Akribie – im Keller des Chilehauses gefunden. Angekettet, ohne Nahrung und Flüssigkeit wäre die Kommissarin im letzten Jahr ohne die Hilfe des Hausmeisters heute sicher nicht mehr am Leben!
Sandra hielt das Mikrofon des Handys mit der Hand zu und erklärte Caro, wer der Mann war. „Gerold Giesecke, der Hausmeister vom Chilehaus!“ Noch bevor Caro Lutteroth weiter nachfragen konnte, war die Kommissarin aufgesprungen und aus dem hinteren Ausgang des Restaurants nach draußen gerannt. Sie stellte sich seitlich der Biergarnituren in eine Ecke.
„Herr Giesecke, schön, dass Sie sich mal melden. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Mit wenigen Worten hatte Giesecke der Kommissarin den aktuellen Sachverhalt zur Entführung der Enkelin erklärt. Nahezu zeitgleich sandte er ihr den Link mit dem eingeschlossenen Mädchen. Als Sandra das Bild der kleinen Katharina empfing, musste sie sich auf den Boden setzen. Sie war inzwischen einiges an Leid und Elend gewohnt. Doch wenn es um misshandelte oder gar tote Kinder ging, wurde es auch ihr manchmal zu viel. Der Videolink zeigte ein Mädchen, das kaum älter als zwölf Jahre war. Es schien in einer – mit Holz verkleideten – Erdgrube zu sitzen. Die Kleine war offensichtlich verletzt, doch zum Glück nicht tot. Ihre Augen standen offen. Sie schaute ängstlich und verstört, teilnahmslos, mehr oder weniger lebendig in eine – vor oder über ihr angebrachte – Kamera. Neben ihrem Kopf zeigte das Display eines medizinischen Trackers diverse Zahlenwerte an. Sofort war Sandra klar, es musste sich um Blutdruck und Herzfrequenz handeln. Die Entführer hatten wohl keinerlei Mittel gescheut und die Kleine auf irgendeine Weise verkabelt.
Während der Erklärung des Großvaters hatte die Kommissarin auch eine Entführung des Mädchens durch den Vater in Betracht gezogen. Aber kein Vater konnte so grausam sein, wie sich ihr dieser Fall darstellte. Was nun sollte sie Gerold Giesecke sagen? Der Mann wartete dringend auf eine Antwort. Und zwar auf eine, die ihm die aufgebürdeten Lasten von seinen Schultern hob. Wie gerne hätte sie Giesecke geholfen – er hatte ihr Leben gerettet –, doch im Moment sah sie keinerlei Möglichkeit.
Als Sandra wieder zum Gespräch mit dem Großvater des Mädchens zurückkehrte, hörte sie den Mann am anderen Ende der Leitung bitterlich weinen. Sie selbst war ebenfalls Mutter einer kleinen Tochter und wenn man Lara Sophie ...? Nein, das wollte und konnte sie sich nicht vorstellen. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Ihren Lebensretter mit einer Absage zu enttäuschen, wäre die allerletzte Konsequenz.
„Herr Giesecke!“ Der Mann stoppte sofort seinen Gefühlsausbruch und seufzte noch einmal laut: „Ja?“
„Sie wissen, ich bin Kommissarin bei der Hamburger Mordkommission. Und wenn das stimmt, was Sie über das Verschwinden der kleinen Katharina aus dem Jugendferienheim Süsel erzählt haben, sind die Kollegen der Kriminalinspektion Lübeck beziehungsweise das Landeskriminalamt Schleswig-Holstein in Kiel für den Fall zuständig.“
Giesecke schwieg ein paar Sekunden. „Die Entführer haben deutlich gemacht: Keine Polizei! Sonst stirbt meine Enkelin. Außerdem habe ich im letzten Jahr Ihr Leben gerettet, Frau Kommissarin. Ohne mich ...!“
Sandra war unmissverständlich klar, dass diese Botschaft kommen würde. Im Lautsprecher klang es erneut nach herzzerreißendem Weinen.
„Hören Sie, Herr Giesecke, wann erwarten Sie Ihren Sohn zurück?“
Der gebrochene Mann erklärte mit Tränen erstickter Stimme: „Um 14.35 Uhr.“
Die Kommissarin hatte ihrem Lebensgefährten die Situation erklärt, das Mittagessen abgebrochen und war mit ihrem BMW-Mini unterwegs zum Hamburg Airport. Der Verkehr in Hamburg an diesem Sonntagmittag war angenehm. Erst am Flughafen stoppte Sandra den Wagen und setzte das Blaulicht auf das Dach des Minis. Nur mit dieser Maßnahme würde sie sich einen Parkplatz direkt vor dem Terminal sichern können.
Wie Giesecke berichtet hatte, war die Lübecker Polizei schon informiert, ging beim Verschwinden Katharinas wohl bisher aber noch nicht unmittelbar von einer Entführung aus. Sandra selbst gab offen zu – was Entführungen anging –, nicht unbedingt eine Spezialistin zu sein. Deshalb würde sie ohne die Unterstützung ihres Teams und den polizeilichen Dienststellen Schleswig-Holsteins wenig erreichen können. Sie musste Benjamin Giesecke bei seiner Ankunft vom offiziellen Einschalten der Hamburger und Kieler Fachdezernate überzeugen. Nur so, glaubte sie, hatte das Kind eine echte Überlebenschance.
Benjamin Giesecke verließ mit gesenktem Haupt und dunklen Augenrändern das Flugplatzterminal. Sandra hatte eine Botschaft über ihr Eintreffen am Hamburg Airport auf die vom Vater übermittelte Rufnummer gesandt, und nun stand Giesecke wie ein Häufchen Elend neben der wartenden Kommissarin.
„Was gedenken Sie zu tun?“
Sandra hatte nicht direkt mit dieser Frage gerechnet. Eher erwartete sie, Giesecke würde ihr zunächst über alle Details der Kontaktaufnahme berichten.
„Nun setzen Sie sich erst einmal in den Wagen. Ich fahre Sie nach Lokstedt und unterwegs erzählen Sie mir alles der Reihe nach.“ Benjamin Giesecke schienen diese Worte nicht zu beruhigen, denn er antwortete nicht, sondern setzte sich schweigend neben Sandra auf den Beifahrersitz. Die Kommissarin ließ das Blaulicht auf dem Dach, schaltete es jedoch ab und reihte sich in die Schlange heimkehrender Urlauber ein.
„Wann haben sich die Entführer das erste Mal bei Ihnen gemeldet?“
„So gegen zehn Uhr!“, flüsterte Giesecke.
„Und irgendwelche Forderungen hat man bisher noch nicht gestellt?“
Der Angesprochene schüttelte verneinend den Kopf.
„Könnten Sie sich vorstellen, warum man Katharina entführt hat und um was es geht?“
„Wenn Sie das meinen: Ich bin nicht reich!“
Im selben Moment gab Gieseckes Handy einen grellen Klingelton von sich. Er zog es aus seiner Jeansjacke und wischte panisch darauf herum. Plötzlich wurden seine Gesichtszüge starr, er schrie laut auf und schlug dann mit der Hand fest auf das Armaturenbrett. Sandra hatte Angst, er würde den Beifahrerairbag auslösen, sie bremste und stellte den Mini rechts auf dem Standstreifen ab. Zur Sicherheit betätigte die Kommissarin die Warnblinkanlage des Wagens.
„Was ist? Haben sich die Entführer gemeldet?“
Giesecke hatte seinen Kopf gegen die Nackenstütze gepresst und atmete gefährlich schnell. Ein Zittern ging durch seinen ganzen Körper. Sandra zog ihm das Handy aus den Fingern seiner Hand. Das Display hatte noch nicht abgeschaltet. Sie las die Worte: „Schiedsrichter Benjamin Giesecke: Sie werden das morgige Fußballspiel für den VfB Stuttgart 6:1 enden lassen. Sollte der Hamburger Sport-Verein am Abend wieder zurück in der 1. Liga sein, wird Ihre Tochter sterben und Sie werden sie niemals finden. Auch nicht, um sie zu begraben. Der Atem-Sauerstoff in der Kiste sichert Katharinas Überleben noch für exakt dreiunddreißig Stunden. Keine Minute länger! UND KEINE POLIZEI!“
ANGST
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