Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Es läuft nicht gut für den 1,57 Meter kleinen Ernst Groß: Obdachlos, abgebrannt und auf der Flucht vor der Hamburger Polizei findet er sich im nächsten Moment im maroden Hymer-Mobil seines verstorbenen Vaters wieder. Sein Ziel? Polen, den Lkw-Kumpel aus besseren Zeiten besuchen. Seine spannende und unterhaltsame Reise entlang der Ostseeküste wirft nicht nur einen wunderschönen Blick auf Land und Leute, sondern vor allem in das Herz eines Mannes, der bisher vom Leben bitter enttäuscht worden ist. Neben Abenteuern, kriminellen Recherchen und Schicksalsschlägen lernt er unterwegs vor allem eins: Nicht am Ziel wird der Mensch groß, sondern auf dem Weg dorthin.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 390
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Nicht am Ziel wird der Mensch groß,sondern auf dem Weg dorthin.Ralph Waldo Emerson
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Städten und Gemeinden, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9777-1
Klaus E. SpieldennerDas kann doch nicht Ihr Ernst sein!
Vorwort des Autors
Liebe Leserinnen und Leser,
nach elf Regionalkrimis mit Kommissarin Sandra Holz, neun davon spielen in Hamburg, war es für mich an der Zeit, das Genre befristet zu wechseln. Sandra wurde es ,Manchmal etwas zu viel‘ und ich sehe das für den schreibenden Teil meiner Person ähnlich. Nach zwei Jahren Pandemie, einem andauernden Krieg in der Ukraine und diversen Veränderungen im Alltag musste ich das Defizit meines inneren literarischen Freude-speichers mal wieder auffüllen. So präsentiere ich Ihnen heute das Buch „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein“. Für mich als Wohnmobilist und begeisterten Camper war die Figur Ernst Groß schnell gefunden und so verkörpert der Hamburger auch einiges von mir selbst. Gut, nicht unbedingt die Körperlänge, dennoch habe ich im Buch vieles untergebracht, was mich als Mensch bewegt, aber auch stört. Die Kapitel selbst spielen an der Ostsee zwischen Lübeck und Usedom. Die Handlung bewegt sich zwischen spaßiger Komik und fiktiver Realität.
Es wird weitere Hamburg-Krimis geben, in denen meine langjährige Kommissarin Sandra Holz die Hauptprotagonistin sein wird. Doch im Moment erfreue ich mich an den Abenteuern von Ernst Groß und gebe Sandra Zeit sich zu erholen.
Haben Sie viel Spaß beim Lesen dieses Buches und vergessen Sie nicht: Lachen ist gesund!
Ihr Autor
Klaus E. Spieldenner
Kapitel 1Das kann doch nicht Ihr Ernst sein
„Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!“
Die Worte prasselten mit blankem Hohn auf Ernst Groß herab. Wie ein plätschernder Wasserfall. Und jeder Buchstabe, der den Halbwüchsigen traf, verstärkte die Beschwerden in seiner Magengegend.
„Mama“, stöhnte er, „ich werde doch sicher noch wachsen?“
Immer mehr Gestalten gruppierten sich um den um Hilfe bettelnden Jungen. Sie grinsten ihn an, als sei er die Hauptattraktion im Tierpark Hagenbeck. Eine Glocke aus Urin hing über der Szene und der Geruch verursachte ihm Übelkeit. Ernst spürte, wie ihm die Luft ausging. Röchelnd und mit letzter Kraft wehrte er sich gegen einen Typen, dessen fauler Atem ihm entgegenschlug. Mit verzerrtem Gesicht robbte dieser Untote auf ihn zu, ließ die Angst des Hauptschülers weiter ansteigen. Ernst musste das Näherkommen unbedingt verhindern. Mit aller Kraft und wütend trat er in Richtung des Angreifers. Er hatte die Gesichtsmitte des geifernden Irren angepeilt und war sich sicher, sie auch zu treffen. Doch beim Auftreffen auf den Schädel ließ ihn ein höllischer Schmerz im Fuß beinahe ohnmächtig werden. Sekundenbruchteile später explodierte der Schmerz auch in seinem Kopf. Ernst wurde schlagartig aus dem Albtraum gerissen und erwachte.
Der 64-Jährige richtete sich abrupt auf und massierte seinen lädierten Zeh. Wie oft hatte er von diesen Geschehnissen schon geträumt? Aber noch nie endeten sie mit Schmerzen im Fuß. Schuld daran war das Pflegebett des verstorbenen Vaters, in dem er die Nacht verbracht hatte. Es besaß rundherum ein Holzgeländer, woran er sich gestoßen hatte. Es tat höllisch weh. Er begutachtete den Fuß. Ein Zeh lief blau an. Das fehlte noch! Prasselte nicht gerade jeglicher Mist dieser dämlichen Welt auf ihn herunter? Der 1,57 Meter große Hamburger, Ernst Groß, hatte das Gefühl, ständig nur auszuweichen, bevor ihn die nächste Ladung der weichen, eklig riechenden Masse von oben traf.
Warum ich? Warum trifft es immer mich? Warum nicht die anderen?
Dem Hamburger begegneten ständig vergnügte und ausgelassene Menschen in der Innenstadt. An ihrer Seite Partner oder Freunde, die sich entspannt zeigten. Nur er hatte sein Päckchen zu tragen. Doch inzwischen war es zum riesigen Paket angewachsen und er konnte es bald nicht mehr stemmen. Waschmaschinengroß lastete es auf seinen Schultern. Ernst war aufgestanden, hatte die Hose übergezogen und humpelte zur Badewanne. Während er einen Lappen mit Wasser beträufelte, überdachte er seine aktuelle Situation: Vor weniger als 48 Stunden musste er seine alte Wohnung in Wedel Hals über Kopf mit dem Nötigsten verlassen. Nachdem seine Ex, Bärbel Boose, ihn durch ihren krankhaften Kaufzwang mit seiner eigenen Kreditkarte hoch in Schulden getrieben hatte, waren gefühlt alle hinter ihm her. Die Bank forderte ihn auf, seinen noch laufenden Kredit zu tilgen und den Dispo umgehend auszugleichen. Privatinsolvenz drohte ihm. Der türkische Hausbesitzer hatte ihm schon mehrfach Schläge angedroht, um an seine noch ausstehende Miete zu kommen. Das war ernst zu nehmen. Der Typ verfügte über eine ganze Horde muskelbepackter Gefolgsleute. Dabei waren es doch nur vier Monatsmieten, die ihm der Frührentner schuldete. Auch das für Wedel zuständige Amtsgericht Pinneberg hatte sich auf ihn eingeschossen und ließ ihn nicht in Ruhe. Dazu drohten Steuernachzahlungen. Seit wann mussten Steuern gezahlt werden, wenn man nichts besaß? Sicher hatten sie schon die Kuckucksaufkleber gedruckt und waren auf dem Weg in seine Wohnung. Doch die würden sich wundern! Bis auf den alten 32-Zoller-Fernseher im Wohnzimmer würde der Verkauf des Hausstandes kaum den Wert eines Kasten Holsten-Bier ergeben. Alles war alt, abgenutzt und aufgetragen. Aber war das nicht auch ein Armutszeugnis? Über dreißig Jahre hatte er als Lkw-Fahrer bei der Spedition Hansi Murksbach in Buxtehude gearbeitet. Just-in-time-Transporte, überwiegend innerdeutsch. Immer ehrlich seine Steuern bezahlt, zumindest in den besten Jahren. Selten sein Konto überzogen. Und nun besaß er … fast nichts mehr. Es gab noch das alte Hymer-Mobil, das ihm sein im März verstorbener Vater hinterlassen hatte. Aber auch dieses war inzwischen in die Jahre gekommen, eher in die Jahrzehnte. Ernst erinnerte sich, dass die Eltern den Hymer in den 70er Jahren gekauft hatten und noch lange danach abzahlten. Sie verzichteten sogar auf einen PKW, um das Fahrzeug finanziell halten zu können. Aber es hatte sich gelohnt. Sie konnten bis zu Mamas Tod zahlreiche Touren damit unternehmen. Inzwischen war das Wohnmobil vom Ordnungsamt Altona mit Parktickets überhäuft, wie nach einem Kamellen-Regen beim Kölner Rosenmontagsumzug. Die Abstellmöglichkeiten für einen fünf Meter fünfzig langen Wagen waren aber auch beschissen geregelt in der Stadt Hamburg. Überall funktionierte es nur noch mit Anwohnerparkausweis und auch hier in Rissen war kostenfreies Parken gerade so rar gesät wie eine günstige Penthouse-Wohnung. Das hatte Papa schon vor Jahren bemängelt und den Wagen bis vor einem Jahr in einer Scheune in der Wedeler Au abgestellt. Sicher hatten sich auch dabei weitere Schulden angehäuft. Der TÜV des Hymer-Mobils musste bereits vor vielen Monaten abgelaufen sein. Nur wer sehr blauäugig war, glaubte ernsthaft daran, den Wagen erneut für zwei weitere Jahre auf die Straße zu bekommen. Ernst massierte den schmerzenden Zeh mit einem kühlen, feuchten Lappen. Zum Glück hatte der Vater die Miete seiner Zweizimmerwohnung an der Rissener Dorfstraße noch bis Ende Juni bezahlt. Nach dem Tode Mamas war Papa aus der Siedlung Mechelnbusch, in der Ernst und seine Schwester aufgewachsen waren, weggezogen. Er bezog dann diese Zweizimmerwohnung, um Zuflucht zu suchen. Hier war Ernst im Moment noch sicher vor all denen, die hinter ihm her waren.
Eine Polizeisirene ließ ihn erstarren. Waren sie schon unterwegs? Kamen sie, um ihn abzuholen? Zuzutrauen wäre es den Gesetzeshütern. Die taten eh, was die Staatsanwaltschaft verlangte − ohne darüber nachzudenken, ob es den Falschen traf.
„Holt mal den Ernst Groß in Rissen ab und buchtet ihn ein!“
„Alles klar, Peter 11, sind unterwegs!“
Ernst hatte inzwischen jegliches Vertrauen in den Staat und dessen politische Führung verloren. Wer war gerade an der Regierung? Er versuchte seine Denkblockade zu überwinden. Bei „Wer wird Millionär“ wäre er schon bei der 100-Euro-Frage mit Glanz und Gloria rausgeflogen. Lange Jahre war es her, dass er sich an einer Land- oder Bundestagswahl beteiligt hatte. Es lag einfach an den Wahltagen, entschuldigte er sich. Die Termine lagen so blöd; er hatte die jeweiligen Sonntage stets mit dem Lkw auf einem Autobahnparkplatz verbracht.
Ernst packte zwei Löffel Kaffeepulver in den alten, noch von der letzten Zubereitung halb vollen Filter der alten Kaffeemaschine und schüttete etwas Wasser in ihren Tank. Nach dem Einschalten gab sie sofort beängstigende Zischlaute von sich.
„Das waren noch Geräte!“
Bewundernd starrte er die Krups-Kaffeemaschine aus den Neunzigern an. Er hatte sie seinem Vater, nach dem Tod der Mutter vor 26 Jahren, zum Einzug in die neue Wohnung geschenkt. Oder musste man Rückzug sagen? Auf jeden Fall verrichtete die Maschine noch immer ihren Dienst. Kaffeegeruch drang aus dem Filter und zog durch die kleine Küchenzeile in Richtung Wohnraum. Sofort wurde der muffige Geruch von Mottenkugeln und Urin überlagert. Ja, sein Vater hatte alles richtig gemacht. Er war bis zum letzten Atemzug hier in der Wohnung geblieben. Und sogar darin verstorben. Ohne jegliche Qualen. War einfach eingeschlafen. 89 Jahre alt war Rentner Julius Groß, ehemaliger Metallbauer im Kraftwerk Wedel und gebürtiger Rostocker, geworden. Sohn Ernst fand ihn bei seinem abendlichen Besuch tot im Bett. Wie friedlich er damals aussah. Es war gut, dass er das Elend seines einzigen Sohnes nicht weiter miterleben musste. Papa hatte mit Schwester Klara immer das bessere Verhältnis. Sie war vier Jahre jünger als er und stets fleißiger gewesen als er. Sie schaffte sogar den Realschulabschluss. Tatsächlich, Klara hatte es zu etwas gebracht. Die inzwischen 60-Jährige betrieb aktuell einen gut laufenden Blumenladen auf der Insel Fehmarn. Klara erschien ihm plötzlich vor seinen Augen. Das kleine brünette Mädchen mit den wippenden Zöpfen. Wie sie erschrocken am Strand vor den Wellen davonrannte und Papa ihr zärtlich „Klärchen, sei vorsichtig!“, zurief.
Ernsts Blick fiel auf die schwarzlackierte Hunde-skulptur. Sie sollte den Chihuahua darstellen, den Mama einst so liebte. Ernst selbst konnte mit dem Tier wenig anfangen und „Räuber“, so nannte Mama ihren Liebling, spürte seine Aversion gegen Hunde. Mehr als einmal wurde Ernst von ihm in die Wade oder in die Hand gebissen. Letztendlich war Räuber durch Gift gestorben, das Unbekannte auf der Wiese vor dem Häuserblock verteilt hatten. So hatte sich Ernst den Abgang des nervigen Hundes auch nicht gewünscht. Und Mama war lange Wochen kaum ansprechbar. Inzwischen stand die hässliche Skulptur seit Jahr und Tag auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster. Sie musste Papa an bessere Zeiten erinnert haben. Tage vor seinem Tod fragte er nach ihr. Sohn Ernst hatte ihm das schwere Teil in die zitternden Hände gelegt.
„Halte die Figur in Ehren, mein Junge!“, hatte Papa gesagt. „Es ist alles, was ich euch hinterlasse! Vertrag dich mit Klärchen und teile mit ihr. Versprich mir auch, meinen Bruder Bernd zu besuchen.“
Ernst hatte nicht alles verstanden, aber alles versprochen.
Hinter dem Bett hingen zwei über die Jahre verblichene Fotos. Mit Nadeln befestigt, zeigten sie zum einen die Hochzeit von Ernst mit seiner damaligen Frau Hilde. Schon seit fünfzehn Jahren war die Ehe geschieden. Aber Papa hatte Hilde gemocht und so das Hochzeitsfoto, trotz seiner Bitte, nie abgehängt. Ein weiteres Foto zeigte die Familie Groß, Mitte der 70er. Damals muss er knapp 17 Jahre alt gewesen sein, überlegte Ernst. Mama und Papa waren groß gewachsen. Beide um die 1,75 Meter. Auch die vier Jahre ältere Schwester Klara überragte ihn um eine Kopflänge. Nur er, mit seinen 1,57 Metern, stach auf diesem Foto wie ein Kleinkind hervor. Warum hatte ihn der liebe Gott so leiden lassen?
„Er hätte mir doch einen kleinen Wachstumsschub schenken können, keine Frage!“
Wie oft hatte er den Allmächtigen angefleht und noch ein ,Vaterunser‘ draufgelegt.
„Nur zehn Zentimeter, lieber Gott! Was sind schon zehn Zentimeter für dich, der du übers Wasser laufen kannst und Brot vermehrst?“
Doch Gott hatte ihn aus irgendeinem Grund nicht erhört. Vielleicht wurde er von ihm einfach übersehen? War vielleicht sein Kleinwuchs schuld? Und musste man, wenn man klein war, auch noch „Groß“ heißen?
Ernst riss das Familienbild von der Wand und steckte es ein. Nach einem schweren Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren, der gelungenen Operation und der Genesung hatte für Ernst alles nach einem guten Ende ausgesehen. Man schickte ihn, ohne große Diskussion, in den Vorruhestand. Mit Abzügen. 1.334,96 Euro reichten, um in Wedel zu überleben – wenn das geldgeile Luder, Bärbel, nicht gewesen wäre. Wie kam er nur auf die dumme Idee, sich mit der damals 54 Jahre alten und verwitweten Friseurin einzulassen. Die war doch nur hinter seinem Geld her gewesen. Wahrscheinlich hatte sie auch ihren Ex-Mann in den Tod getrieben, wenn sie ihn nicht selbst umgebracht hatte. Und Ernst ließ sich von ihrer üppigen Figur und dem aufgesetzten Charme blenden! Nun saß er hier, in der Wohnung des Vaters, verarmt und auf der Flucht vor der Staatsmacht. Er sah schon, wie Rudi Cerne zusammen mit einem Hamburger Kommissar in der Fernsehsendung Aktenzeichen XY … ungelöst einen Fahndungsaufruf nach ihm startete:
Wer hat diesen Mann gesehen? Er ist nur 1,57 Meter groß und sollte jedem sofort auffallen!
Ja, weit würde er nicht kommen.
Beim Durchstöbern des Hausstands war er im Schrank auf Papas Münzsammlung gestoßen. Dazu auf einen Geldbeutel voller DM-Banknoten. Papa gehörte zur alten Garde, hatte dem Euro nie getraut. Es waren zwar nur siebenhundertfünfzig DM in Fünfziger-Scheinen, aber immerhin. Papa hatte nie viel übrig gehabt und lebte stets in einfachen Verhältnissen. Vor Jahren tippte er sogar mal einen Fünfer im Lotto und überwies beiden Kindern je fünftausend Euro. Die Finanzspritze kam damals zur rechten Zeit und Ernst reichte sie 1:1 an den Scheidungsanwalt weiter. Er hatte tolle Eltern, erinnerte sich Ernst an seine Kindheit.
Plötzlich wurde dem 64-Jährigen klar, er musste unbedingt weg von hier. Weg aus seinem Geburtsort Hamburg. Weg aus der Stadt, die ihn von der Grundschule bis zur Rente gequält und nie ernst genommen hatte. Sein einziger Zufluchtsort war lange Jahre der Lkw gewesen. Dort fragte keiner nach der Körpergröße. Man war dann groß genug, wenn man die Zugmaschine und den Anhänger fahren und rangieren konnte. Und er konnte. Wie sehr wünschte er sich seinen Beruf zurück. In den Jahren hatte er so viele gleichgesinnte Trucker kennengelernt. Noch heute schrieb man sich E-Mails. Und sie alle fragten nach seinem Wohlergehen. Vor allem mit dem Polen Tymon Wójcik verband ihn eine tiefe Freundschaft. Plötzlich fiel es Ernst wie Schuppen von den Augen. Genau das könnte die Lösung seiner Probleme sein: Er musste zu Tymon nach Polen. Dort würde keiner nach ihm suchen. Er hatte dort seine Ruhe. In Polen waren auch die Ponys so klein, wie hierzulande die Rottweiler. Warum also sollte er dort aufgrund seiner Körpergröße auffallen? Er musste sich nur eine Fahrkarte kaufen und zum Freund aufbrechen. Plötzlich zitterten seine Hände. Was wäre, wenn man ihn zur Fahndung ausgeschrieben hatte? Er sah schon die Plakate in der Stadt, am Bahnhof: Kleinwüchsiger gesucht! Ernst Groß auf der Flucht! Nein, der Zug war keine gute Idee. Eher noch der FlixBus. Oder sollte er sich eine Mitfahrgelegenheit suchen?
Er schlürfte den schwarzen Kaffee aus einer ungespülten Tasse. Sein Magen meldete sich mit einem Knurren. War noch etwas zum Kauen da? Nein, die letzte Brotkante hatte er gestern Abend zusammen mit einer Flasche Holsten vertilgt. Es gab keinen Plan B. Er musste dringend von hier verschwinden. Polen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wie oft hatte Tymon ihn schon eingeladen.
„Komm zu mir, ich besitze in Rewal ein altes Haus nahe der Ostsee. Du kannst bleiben, solange du möchtest!“
Die Worte des befreundeten Truckers hingen noch in Ernsts Ohren. Das klang nach Zukunft. Nach Perspektive. Also, was hielt ihn noch hier in der Hansestadt? Er packte Papas Aktenordner in die Kiste mit seinen eigenen Utensilien und griff nach seiner Jeansjacke an der Garderobe. An einem Haken über der kleinen Ablage im Flur fiel ihm ein Schlüsselbund ins Auge. Es handelte sich um den Schlüsselanhänger, den Mama ihrem Mann beim Kauf des Hymer-Mobils im Jahr 1972 gebastelt hatte. Die Autonummer hatte sie damals mit Edding drauf gemalt: HH-VB 1972! Die Aufschrift war inzwischen fast verblasst. War das ein Wink mit dem Zaunpfahl? Sollte er womöglich mit dem Wohnmobil nach Polen aufbrechen? Ernst wurde plötzlich ganz schwindelig. Er musste sich setzen. Die Idee war gar nicht so abwegig, ging es ihm durch den Kopf. Der Wagen war zwar auf Papa zugelassen, aber bestimmt fahrbereit. Zumindest hatte Papa zu Lebzeiten nie über technische Mängel geklagt. Die wenigen Hundert Kilometer zu Tymon würde das alte Gefährt sicher durchhalten. Papa wäre stolz auf ihn. Ernsts Körper wurde plötzlich von einer Gänsehaut überzogen.
„Danke Papa für die Idee. Ich werde mit dem Hymer nach Polen fahren. Es wird so etwas wie die Abschlussfahrt für unser altes Wohnmobil. Und ich werde in Poppendorf vorbeifahren, wo du 1934 geboren wurdest und deinen jüngeren Bruder, Onkel Bernd, besuchen. So, wie du es gewünscht hast.“
*
Ernst schaute noch einmal aus dem Fenster hinaus, auf der Suche nach Beamten, die ihm ans Leder wollten. Unten an der Rissener Dorfstraße parkte das Hymer-Mobil. Die Scheibenwischerblätter wölbten sich vor Parktickets und Werbeprospekten. Papa hatte das Wohnmobil bestimmt genau dort abgestellt, um aus dem Bett einen Blick darauf werfen zu können. Es musste seine letzte Verbindung und Erinnerung an die Familie gewesen sein. Die Geschichten gaben ihm in den letzten Tagen und Wochen vor seinem Tod sicher einen Rest Lebensqualität. Ernst schlich aus der Wohnung wie ein gesuchter Terrorist. Ein letzter Blick durch den Flur auf Papas Bett. Halt, dort stand noch die dämliche Skulptur, und er hatte Papa doch versprochen…! Leise schlich sich Ernst Groß die Treppe hinunter, Skulptur und Kiste unter die Arme geklemmt. So verließ er das Haus.
*
Die Lackierung des alten Fahrzeugs hatte aufgrund jahrelanger Sonneneinstrahlung sehr gelitten. Ernst glaubte sich noch erinnern zu können, wie der Wagen bei seiner Übergabe glänzte. Inzwischen war der Lack verwittert und verblasst. Das Weiß war eher shabby, doch das kam ja gerade in Mode. Auch die ehemals spiegelnden Chromteile waren erblindet und Rostblasen hatten sich darauf gebildet.
„Nichts ist mehr, wie es war!“
Ernst dachte an die Fahrt und die Strecke nach Rewal. Die Lampengläser des Hymer-Mobils hatten eher etwas Milchfarbenes und er zweifelte daran, dass durch diese Gläser je wieder Licht auf die Straße fallen würde. Egal, da musste er durch. Die Polen sahen das sicher nicht so eng wie die Deutschen. Er schloss die Tür des Wohnmobils auf. Leichtgängig ließ sie sich öffnen. Der Geruch, der ihm entgegenströmte, war eine Mischung aus Moder, abgestandenem Rauch und Feuchtigkeit. Jetzt erinnerte er sich wieder: Papa hatte im Wagen stets viel geraucht. Trotz Mamas ständigem Gemecker und Hinweisen auf die Gesundheit der Kinder ließ er sich nicht davon abbringen. Und Mama, Chemielaborantin und Nichtraucherin, war später an Lungenkrebs gestorben. Papa, sechsundzwanzig Jahre danach, an Organversagen. Vielleicht war doch nicht das Chemiewerk schuld gewesen, sondern die von Papa jahrelang ausgestoßenen Rauchschwaden? Nach Mamas Tod hatte Papa mit der Quarzerei aufgehört. Warum erst dann? Hoffentlich kamen auf ihn und seine Schwester nicht noch lebensbedrohliche Lungenkrankheiten zu, quasi als Passivraucher ...
Der Innenraum des Hymer-Mobils hatte sich nicht verändert, stellte Ernst fest. Als ob es Sommer 1976 wäre, in dem Familie Groß wochenlang in Dänemark, mit Blick aufs Meer, gecampt hatte. Platz für eine Person gab es reichlich. Er würde sich zum Schlafen in das ehemalige Bett der Eltern legen. Unter die karierte Wolldecke, das von Mama gestrickte Kissen unter dem Kopf. Ob der Motor des Hymer-Mobils ansprang? Das wäre sicher ein Wunder. Doch Wunder gab es doch immer wieder. Wer sang diesen Schwachsinn noch? Nachdenklich stieg er aus, entfernte die Papierfetzen von der Windschutzscheibe und setzte sich wieder hinter das Lenkrad. Er steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn vorsichtig um. Tatsächlich, Öl- und Batterieleuchte zeigten Funktion. Ernst vergewisserte sich, dass kein Gang im Getriebe eingelegt war, und drehte den Zündschlüssel ganz nach rechts. Nur ein Klacken war zu hören. Hatte er es sich nicht gedacht? Der Batteriestrom reichte nicht aus, um den Anlasser zu drehen. Das fing ja schon gut an. Er brauchte dringend jemand, der ihm half. Im selben Moment scherte vor ihm ein DHL-Fahrzeug ein. Die Jungs hatten auf ihren zahlreichen Touren doch sicher ein Überbrückungskabel dabei. Ein Dunkelhäutiger im schwarz-gelben Dress stieg aus, in der Hand einen Stapel Kartons. Wie ferngesteuert lief der Postler auf das große Wohngebäude zu. Verrückt, irgendwie waren die Paketboten auch ferngesteuert. Der Konsument drückte einen Knopf auf seiner Computertastatur und die Boten schleppten umgehend die gewünschten Waren heran. Meist unnötiges Zeug, wie er von Bärbel wusste. Später ging alles wieder zurück und die Transportunternehmen verdienten ein zweites Mal, nun an der Retoure. Ob er den Boten nach Hilfe fragen sollte, wenn er zurückkam? Aber der Typ sah nicht nach einem Techniker aus, und wo genau die Kabelklemmen an die Batterie-Pole mussten, war auch ihm inzwischen entfallen. Nein, der Bote war nicht der Richtige. Weiter hinten schleppten zwei Unbekannte Möbel aus einem Kleintransporter in ein Haus. Sicher ein Umzug. Hier in der Straße war vielleicht ein Kommen und Gehen! Wie oft hatte Ernst oben vom Fenster aus die Aktivitäten beobachtet und sich gewundert, wie viele Umzugsunternehmen bei Tag und bei Nacht Hausstände aus- und einluden. Das stand in keinem gesunden Verhältnis. Es war ihm, als kämen mehr Familien in der Straße an, als von hier verschwinden würden. Aber wie sollte das funktionieren? Lösten sich die Menschen in Luft auf? Wurden sie von Außerirdischen auf einen anderen Planeten gebeamt? Egal, es war nicht seine Baustelle! Ernst vergewisserte sich, dass niemand auf der Straße war, der ihm schaden konnte. Dann lief er zu den Männern beim Transporter.
„Moin, könnt ihr mir bitte mal helfen? Meine Batterie streikt. Sicher habt ihr ein Kabel zum Überbrücken mit.“
Die Möbelpacker stellten den Schrank ab, den sie gerade trugen und musterten den Ankömmling. Ernst spürte, wie sein Blutdruck anstieg. Warten war nicht sein Ding und fehlende Antworten auf seine Fragen schon gar nicht.
„Was ist nun?“ Verstanden sie ihn nicht? Vielleicht handelte es sich um Polen. Die wurden hier in der Hansestadt immer beliebter, wenn es um Handwerk und Umzüge ging. Er wollte schon resigniert abdrehen, als einer der Männer bemerkte: „Was zahlen?“
Klar, immer ging es um Geld. Konnte denn keiner hier in der Republik mal etwas tun, ohne gleich dafür entlohnt werden zu müssen? Ernst fiel ein, dass er nur die DM-Scheine von Papa hatte. Sicher konnten die Typen nicht wechseln.
„Fünfzig Mark?“
Die beiden zeigten sich erst überrascht, dann grinsten sie. „Das alte Wohnmobil dort?“, fragte einer.
Ernst nickte. Schon war der Kleinere im Wagen verschwunden und kam einen Moment später mit einem Überbrückungskabel wieder. Er hatte es wie eine Schlange um den Hals gelegt und lachte. Zu zweit liefen sie über die Rissener Dorfstraße, während einer der Männer den Kleintransporter startete.
*
Das Hymer-Mobil war tatsächlich sofort angesprungen. Es machte noch einige Minuten Töne, als sei der Motor-Tod nur eine Frage von wenigen Umdrehungen. Doch mit der Zeit schien sich der Vierzylinder in sein Schicksal ergeben zu haben. Nach weiteren fünf Minuten klang er fast wie ein halbwegs funktionierendes Triebwerk. Nur der Qualm, den der alte Motor des Hymer-Mobils ausstieß, war Ernst mehr als peinlich. Dunkle Rauchschwaden zogen aus dem hinteren Bereich hoch. Sicher glaubten die Anwohner, die alte Rissener Kokerei sei wieder zum Leben erweckt worden. Er musste weg, bevor um die Umwelt bangende und genervte Nachbarn die Polizei riefen.
„Kommen Sie schnell, draußen geht es gerade der Erd-erwärmung an den Kragen!“
Während Ernst im Wohnmobil einen der Fünfzig-DM-Scheine herauskramte, hatten sich die beiden Umzugshelfer vom Fahrzeug entfernt. Sie riefen: „Bei dem Auto können wir kein Geld von dir nehmen“, rüber und lachten noch, als sie schon bei ihrem Transporter angekommen waren.
Ausnahmsweise ging es mal nicht um seine Größe, freute sich Ernst. Und es gab tatsächlich noch Menschen, die nicht so geldgierig waren. Obwohl, wie wäre es gewesen, hätte er Euros besessen?
Die Spritanzeige des Hymer-Mobils deutete auf einen fast vollen Tank hin.
„Danke Papa. Damit hast du mich gerettet!“
Es war 19.44 Uhr – die Flucht konnte beginnen.
Auf dem Weg von der Rissener Dorfstraße zur Autobahn musste Ernst mit dem Hymer-Mobil zwangsläufig durch die Innenstadt Hamburgs. Die Viergang-Schaltung zeigte sich, nach all den Jahren, in gutem Zustand. Die Kupplung dürfte auch noch einige Zeit halten. Nur die fehlende Servolenkung machte Ernst anfangs zu schaffen. Doch wenn der Wagen mal rollte, war alles in Ordnung. Aber einen kompletten Kreis wollte er mit dem Fahrzeug nicht wagen. Zunächst machte er einen kurzen Umweg zum Blankeneser Friedhof am Sülldorfer Kirchenweg. Er hielt kurz an einer Parkbucht an, den Motor ließ er laufen.
„Tschüss, Papa! Ich werde auf das Hymer-Mobil aufpassen!“, brüllte er aus dem Wagenfenster in Richtung des durch Bäume verdeckten Grabes. Eine alte Dame in Schwarz, die gerade am Wagen entlanglief, erschrak und ihre kalkweiße Gesichtshaut sprach Bände. Hastig ordnete sich Ernst wieder in den fließenden Verkehr ein.
Ernst bemühte sich, den Motor an den zahlreichen Ampeln nicht absterben zu lassen. Und es gelang. Beim Horner Kreisel fuhr er auf die A 24 und wechselte wenig später auf die A 1. Der Benzinmotor des alten Wohnmobils schnurrte fast wie ein Kätzchen und Ernst war sich sicher, schon am nächsten, spätestens am übernächsten Tag, Freund Tymon in Polen in die Arme schließen zu können.
*
Beim Kreuz Lübeck stand ein erneuter Autobahnwechsel an. Nun fuhr er auf der A 20 weiter, die ihn bis zum ersten Ziel nach Rostock führen würde. Mehr als 70 Stundenkilometer waren nicht drin mit dem altersschwachen Wohnmobil und noch nie in seinem Autofahrerleben hatten Ernst so viele Lkws überholt wie in den letzten Minuten. Er lenkte sich ab und überlegte die nächsten Schritte. In die Dunkelheit durfte er nicht geraten. Mit dem schlechten Scheinwerferlicht war das sicher äußerst riskant. Andererseits ging ihm das ständige Überholen mordsmäßig auf den Sack. Die Brummifahrer hupten und hatten auch noch ihren Spaß an dem vor ihnen kriechenden Wohnmobil. Sie sahen es als kurzweiligen Wettbewerb, den Hymer mit wenig Seitenabstand zu überholen und dann knapp vor ihm einzuscheren. Selten kam sich Ernst so schäbig vor wie auf dieser Tour. Vielleicht war es vernünftiger, in der Nacht die Reststrecke zu fahren? Dann saßen seine ehemaligen Fahrerkollegen aufgrund des Lkw-Nachtfahrverbots auf den Rastplätzen fest. Es war ein Vorteil, im Wohnmobil zu reisen. Zum ersten Mal hatte er kein Mitleid mit den ehemaligen Berufskraftfahrern. Er schaltete das Radio ein. Früher hörte die Familie während der Fahrt stets Musik. Gemeinsam grölten sie bekannte Lieder. Doch das alte Gerät war inzwischen, wie das Hymer-Mobil selbst, in die Jahre gekommen. Nur im Bereich Mittelwelle quälte sich ein schlecht klingender Sender aus dem Lautsprecher.
Die Tankanzeige hatte sich über die bisherige Strecke kaum verändert. „Der Hymer ist sehr sparsam“, dachte Ernst noch, als sich, kurz vor der Ausfahrt Schönberg, der Motor des Wohnmobils verabschiedete. Es war ein leises, schnelles Dahinsterben. Hupend fuhren drei Lkws eng an ihm vorbei. Ernst ließ den Wagen auf dem Standstreifen ausrollen. Das fehlte gerade noch. Es dunkelte auch schon. Wenn er jetzt den ADAC rief, musste er die Fahrzeugdaten preisgeben. Und sicher würden sie nicht die ,Gelben Engel‘ schicken, sondern gleich die Polizei. In dieser dämlichen, digitalen Welt konnte man nicht mal mehr auf einem Parkplatz urinieren, ohne Angst haben zu müssen, durch seine DNA den Behörden verraten zu werden.
Hinter dem Wohnmobil kam ein großer heller Transporter mit Kofferaufbau zum Stehen. Ein kahlköpfiger Typ im blauen Overall stieg aus. Er steckte die Hände oben in den Blaumann und lief, den Wagen neugierig musternd, am Hymer entlang.
„Wow, ein altes Hymer-Mobil 550! Solch einen hatten wir auch mal, 78er! Unserer ist schon vor zig Jahren der Schrottpresse zum Opfer gefallen. Sag, wie hast du denn den hier so lange am Leben erhalten können?“
Ernst war überfordert mit der Antwort. Er kam besser gleich zur Sache – bevor noch ein Polizeiwagen längs kam.
„Der Motor ging plötzlich aus.“
„Sprit?“
Ernst überlegte kurz. Ob die Tankanzeige tatsächlich defekt war und sich der Motor aufgrund fehlenden Treibstoffs verabschiedet hatte? Noch während Ernst spekulierte, war der unbekannte Fahrer hinter das Steuer gesprungen und bemühte sich, dem abgestorbenen Motor wieder Leben einzuhauchen.
„Sprit fehlt! Tankanzeige defekt! Kenn ich! Die Batterie ist auch leer – sicher die Lichtmaschine!“
Ernst hatte gehofft, das Aggregat würde während der Fahrt die Batterie wieder aufladen. Doch auch dieses Bauteil schien in die Jahre gekommen zu sein.
„Ich habe nur Diesel-Kraftstoff mit, das nützt dir wenig. Und Fremdstarten funktioniert hier auch nicht. Aber ich habe ne Stange dabei. Könnte dich abschleppen.“
„Wo musst du denn hin?“
„Nach Priwall! Bringe einen 6.400-Liter-Flüssiggastank auf einen Campingplatz. Wie heißt du eigentlich?“
„Ernst! Und du?“
„Willi, Willi Kemper!“ Die Männer gaben sich die Hand.
„Gut Willi, ich nehme dein Angebot dankend an. Also einmal bitte per Stange nach Priwall.“
„Alles klar! Dort wird man sich um deine Lichtmaschine kümmern. Sicher rutscht nur der Keilriemen durch. Wenn die Spannschrauben nicht gleich abbrechen, halbe Stunde Arbeit. Ist ein ständiger Fehler bei dem alten Opel-Motor. Und Sprit haben die dort auch“, grinste er. „Mach schon mal vorne die Klappe für den Haken auf. Ich stelle mich vor dich.“
Kapitel 2Auto fängt mit ,A‘ an und hört mit ,O‘ auf!
Unterwegs hatte Willi von einer knapp zwanzig Kilometer langen Fahrt nach Priwall gesprochen und zunächst verlief auch alles recht entspannt. An der Ausfahrt Schönberg rollte der Transporter, das Hymer-Mobil im Schlepptau, von der Autobahn 20 und das gemeinsame Gespräch drehte sich ausschließlich um ihre Erlebnisse als Lkw-Fahrer. Der Motor des Zugfahrzeugs war PS-stark genug, um den Wagen zu ziehen, und das Wohnmobil auch willig, sich schleppen zu lassen. Als Willi jedoch auf die Landstraße wechselte, machten die schmalen Alleen, die hinter der breiten Autobahn auf ihn lauerten, dem Fahrer extrem zu schaffen. So kamen sie nur mäßig voran. Ständig mussten sie anhalten. Hatten riesigen Lastkraftwagen oder Wohnmobilen Platz zu machen, da der Hymer stark ausscherte. Schweißgebadet verriet Willi, zwischen geschicktem Manö-vrieren und dem Zurücklenken des Zuges vom Bankett auf den Asphalt, dass seine Hauptaufgabe überwiegend darin bestand, leere Tanks durch die Weltgeschichte zu bugsieren. Er sei unverheiratet, selbstständig und habe sich darauf spezialisiert, Gastanks zu befördern.
„Ich komme gebürtig aus Hannover. Habe eine kleine Wohnung in Linden-Mitte beim Flughafen. Dort in der Nähe werden auch die Behältnisse produziert.“
„Linden! Kenne ich gut!“
Ernst war froh, ein Thema gefunden zu haben, um den Fahrer abzulenken. Es bekümmerte ihn, dass er den Fremden so viel Ärger ausgesetzt hatte.
„Da gibt es doch diese Eckkneipe, Willi. Ich komme gerade nicht auf den Namen. Doch, warte, Lindener Eck, kann das? Nahe einer U-Bahn-Station?“
„Das Lindener Eck? Klar kenne ich das. Gina, die Wirtin, und ich, wir hatten mal was miteinander. Nichts Ernstes, ist schon Jahre her!“
Willi riss gerade das Lenkrad herum, da vor dem Wagen ein riesiges Loch im Straßenbelag auftauchte. Er trat auf die Bremse und hinter ihm ertönte, wie bestellt, ein nerviges Hupkonzert. Inzwischen war gefühlt eine Stunde vergangen, seit Willi das Hymer-Mobil mittels Stange mit dem Transporter verbunden hatte. Sicher war der Zug keine zehn Kilometer weit gekommen und es war ein Wunder, dass die Schlange an Fahrzeugen hinter ihnen nicht außer Kontrolle geriet. Jeden Augenblick wartete der Besitzer des Hymer-Mobil auf die Sirene, die eine Polizeistreife ankündigte. Ernst war sich nicht sicher, wie weit es noch bis zum Ziel des Gastanks war, denn seine Nerven und die des Fahrers lagen brach.
„Ernst, hör zu. Du siehst, wie schwierig es ist, mit dem Fahrzeug am Haken zu rangieren. Ich hatte mir das echt einfacher vorgestellt. Ich denke, es ist besser, wenn ich dich beim Autohaus Schrader in Dassow abkuppele. Ich kenne den Besitzer, Markus Schrader, recht gut. Er bekommt auch hin und wieder einen Tank von mir. Dort kannst du übernachten!“
Willi machte mit dem Daumen eine Geste nach hinten und Ernst war klar, dass er damit das Wohnmobil meinte.
„Morgen früh werden sie bestimmt gleich in der Werkstatt nach dem Problem des Hymers schauen. Grüß Schrader einfach vom Gastank-Willi aus Linden, dann klappt das schon.“
*
Eine halbe Stunde später lehnte Ernst leicht verloren an seinem Fahrzeug und winkte Willi nach. Unter lautem Hupen verschwand der Transporter in der Dunkelheit. Das Autohaus Schrader lag etwas abseits im Indus-triegebiet der Kleinstadt Dassow. Der vordere Teil des Gebäudes war so hell beleuchtet, dass man Angst haben musste, eine verirrte Lufthansa-Maschine im Anflug auf den Airport Lübeck würde versuchen dort zu landen, grinste Ernst. Willi hatte das Wohnmobil im äußeren, hinteren Zaunbereich abgehängt. Hier war es, im Gegensatz zum vorderen Teil, extrem duster. Doch nach und nach gewöhnten sich die Augen des Hamburgers an die Dunkelheit. Schon wenig später erkannte er, jenseits des Zaunes, eine große Parkfläche, auf der zahlreiche Wagen abgestellt waren. Vergebens bemühte sich der Wohnmobilbesitzer, die Innenbeleuchtung im Fahrzeug anzuschalten. Die Batterie musste sich vollständig entladen haben. Kein Wunder, der Hymer war jahrelang nicht gefahren worden. Auch eine Taschenlampe gab es nicht. Egal, für eine Nacht musste es so funktionieren. Ernst spürte leichte Furcht. So alleine, in einer Ecke von Meck-Pomm, die er nicht kannte. Aber zu den Zeiten als Lkw-Fahrer hatte er auch die eine oder andere Nacht im Nirgendwo verbringen müssen, machte er sich selbst Mut.
Willi hatte ihm beim Abschied noch eine Stulle in die Hand gedrückt. Dazu eine Dose Bier. Auch seine Handynummer steckte ihm der neue Kumpel auf einem Zettel zu.
„Wenn du dich mal in meiner Ecke rumtreibst, besuchen wir zusammen Gina und trinken einen!“
So waren die Brummifahrer! In Ernst flammten schöne Erinnerungen auf. Die Außentemperatur war angenehm, und er setzte sich auf die Stufe des Wohnmobils. Sterne waren keine zu sehen. Doch das Bier war eiskalt und die Stulle mit einer Frikadelle belegt. Auch an Senf hatte Willi gedacht. Später, wenn seine Flucht vorüber war, würde er Willi in Linden besuchen. Ja, das war gesetzt.
Langsam fielen dem Hamburger die Augen zu. Sicher war es schon weit nach Mitternacht. Noch nicht mal eine Uhr hatte er dabei. Er musste dringend aus den Fehlern lernen, nahm er sich vor. Seine Blase meldete sich und er stand auf und spazierte seitlich am Zaun entlang. Beim Pinkeln vernahm er nicht weit entfernt Motorengeräusche. „Klingt nach Motorrad!“, dachte er bei sich. Auf dem Rückweg zum Wagen drehte er den Kopf, um zu schauen, wie weit die Lichter entfernt waren. Dabei übersah er den kleinen Wassergraben vor sich. Ernst stürzte der Länge nach hin und konnte noch in letzter Sekunde den Arm schützend vor sein Gesicht legen. Dann landete er in voller Körperlänge im Kiesbett.
*
Als Ernst aufwachte, bewegte sich etwas Feuchtes vom Ansatz seiner spärlichen Haare in Richtung der Wange. Es fühlte sich an wie das Abschlecken von einer Zunge! Noch während er halb ohnmächtig nach Gründen für die Situation suchte, sah er im Geiste Mamas geliebten Chihuahua vor sich. Nein, bitte nicht der Köter! Eben noch am Kackhaufen eines Kumpels geschnüffelt und nun mit der Zunge durch sein Gesicht! Es ekelte ihn. Ernst blinzelte, um der Ursache genauer auf den Grund zu gehen. Eines seiner Augenlider war mit etwas Feuchtem, Dickflüssigem überzogen und ließ sich kaum öffnen. Er spürte Schmerzen am Kopf. Ob das Blut war? Er erinnerte sich an den Sturz und an den Aufschlag. Ein Geräusch, genau vor ihm, ließ ihn zusammenzucken. Sein Herzschlag nahm Fahrt auf und er fasste den Entschluss, erst einmal ruhig liegen zu bleiben. Hieß es nicht, dass es in dieser Gegend irgendwelche Tiere gab, die für Menschen gefährlich waren? Man hörte ständig über Horden von Wildschweinen, die äußerst hungrig seien und nächtliche Jagd auf die kulinarisch interessanten Bio-Tonnen der Zivilisation machten. Oder gar Wölfe, die in den neuen Bundesländern ausgewildert worden seien. Eine Gänsehaut zog über Ernsts Körper. Plötzlich war da ein Geräusch – als ob ein Feuerzeug angezündet wurde. Hinter dem Zaun züngelte etwas. Die Flamme war größer als die eines normalen Feuerzeuges. Vielleicht so ein Ding mit dem man sich Zigarren ansteckte? Hinter dem Schein der Flamme tauchten Teile einer Gestalt auf. Ernst überlegte fieberhaft, ob er sich bemerkbar machen sollte. Zumindest lauerte dort kein Tier, sondern ein Mensch. Dann wurde das Feuer größer. Das Gesicht der Person vor ihm, nur durch den Maschendrahtzaun getrennt, wurde kurz sichtbar. Er sah aus wie … Buffalo Bill! Ernst hatte die Western um den legendären amerikanischen Cowboy als Jugendlicher geliebt und verschlungen. Der Typ besaß einen Schnurrbart wie Horst Lichter, dazu einen Spitzbart am Kinn und seine langen lockigen Haare hingen strähnig bis auf die Schultern. Die Person war unvermittelt aufgesprungen. Schritte im Kies waren plötzlich zu hören. Wieder brannte das Feuerzeug, verursachte diese lodernde Flamme. Dieses Mal etwa zwei, drei Meter von Ernst entfernt. Was spielte sich dort ab? Ernst konnte sich das Ganze zunächst nicht erklären. Er verlor den Unbekannten in der Dunkelheit aus den Augen. Wenige Atemzüge später vernahm er erneut Schritte. Ein Motor startete stotternd. Ein Zweirad entfernte sich.
Es hatte etwas von einer Eingebung, als Ernst bewusst wurde, was der Unbekannte Bösartiges im Schilde führte. Es musste die erklärte Absicht Buffalo Bills sein, diverse Fahrzeuge anzuzünden. In Hamburg hatte Ernst so etwas schon einmal beim G20-Gipfel im Jahr 2017 erleben müssen. Damals brannten an jeder Ecke Hamburgs irgendwelche Fahrzeuge. Inzwischen kokelte vor ihm schon der Reifen. Der Geruch von verbranntem Gummi zog in seine Nase. Etwas ratlos rappelte sich Ernst vorsichtig auf. Er konnte doch nicht tatenlos zuschauen, wie sich auf dem Gelände ein Feuer ausbreitete, musste dringend etwas unternehmen. Sicher standen in wenigen Minuten beide Fahrzeuge in Flammen. Gab es vielleicht im Hymer einen Feuerlöscher? Ernst hatte keine Ahnung, glaubte aber eher nicht daran. Im Innern des Wohnmobils war es dunkel, und wenn da ein Löscher hing, würde er sicher, ähnlich wie die Batterie, nicht mehr funktionieren. Ernst rannte los. Ihm wurde schwindelig und er hielt sich für einen Moment am Zaun fest. Dann wischte er sich das Blut von der Stirn und vom Augenlid. Endlich war er wieder beidäugig sehend unterwegs.
Die Flammen schlugen inzwischen schon höher. Ernsts Herz raste. Ein Feuerlöscher musste dringend her. Das Wohnmobil stand nahe beim Zaun. Wenn die Flammen in wenigen Minuten auf Papas Wagen übergriffen … nicht auszudenken. Der Hamburger rannte im heller werdenden Licht der Flammen um den Zaun herum auf das grell beleuchtete Gebäude des Autohauses zu. Der Zugang zum Außenbereich war durch ein hohes Tor verschlossen, ähnlich einem Hochsicherheitsbereich. Eines war klar: Er musste dort hinein. Sicher gab es irgendwo drinnen einen Feuerlöscher. Ernst zog sich am Eisentor hoch. Er war eher unsportlich, aber das Eingeständnis nutzte gerade nichts. Darüber musste er später nachdenken. Oben am Tor hatten irgendwelche Idioten Metallzacken aufgeschweißt. Er ignorierte sie tapfer. Riss sich dabei seine Hose auf. Auch etwas Haut seines Oberschenkels ging dabei drauf. Fluchend sprang er auf der anderen Seite des Tores hinunter und humpelte zum Eingang. Ob dort drinnen jemand schlief? Ernst hämmerte wie wild an die Tür. Nichts tat sich. Er konnte bis in die hinterste Ecke des Verkaufsraumes schauen. Keine Menschenseele. Seitlich von ihm an der Wand fiel ihm ein Kasten auf. Darin könnte sich ein Feuerlöscher befinden. Er riss den Deckel ab. Tatsächlich! Ernst hob das unhandliche Teil mit einem festen Ruck heraus und bemerkte erst beim Laufen, wie schwer es doch war. Wie funktionierten diese Dinger? Noch nie im Leben musste Ernst einen Löscher bedienen. Oder hatte er es bloß vergessen?
Der Feuerschein wies ihm den Weg. Schweißgebadet und außer Atem erreichte Ernst die Fahrzeuge. Einer der Reifen brannte schon lichterloh. Die Flammen drohten auf den daneben stehenden Wagen überzuspringen. Beim zweiten war der Brand noch nicht so weit fortgeschritten. Ernst drückte auf dem Feuerlöscher herum. Endlich gab dieser auf und löste aus. Der Druck, der dabei entstand, riss dem Hamburger das schwere Metallteil fast aus den Händen. Vorne trat weißes Pulver aus. Ernst packte den sich wie eine Schlange windenden Schlauch und hielt ihn in Richtung des brennenden Reifens. Schon bald waren die Flammen erstickt. Ernst rannte zum zweiten Wagen; die gleiche Prozedur. Noch im Unterbewusstsein hörte er quietschende Reifen, Bremsen, Geräusche wie Metall auf Metall, Schritte im Kies. Ernst hielt den leeren Löscher noch immer, wie in Schockstarre, in der Hand, obwohl das Pulver inzwischen vollständig ausgetreten war. Es war wieder dunkel geworden auf dem Hof, keinerlei Flammen mehr zu sehen. Nur noch eine weiße Schicht auf dunklem Boden wie nach einer Mehlschlacht. Und so stand er wie versteinert und blickte auf die Fahrzeuge. Dann war Lärm zu hören. Hinter Ernst leuchteten grelle Lampen auf. Eine laute, vor Wut zitternde Stimme brüllte: „Wenn du Arsch dich nicht sofort auf den Boden legst, blase ich dir das Gehirn weg, du dämlicher Brandstifter!“
Es klang ein wenig nach Buffalo Bill, aber der hatte damals sicher noch keine derartigen Schimpfwörter gekannt.
*
Im Schlaf schwankte Ernst noch immer zwischen tatsächlichem Geschehen und einem äußerst unangenehmen Traum. Der Geruch von Kaffee und frischen Croissants ließ ihn erwachen. Der Kopf schmerzte und seine erste Handbewegung führte zur Stirn. Sie schien geschwollen zu sein und ein riesiges Pflaster verlief vom Haaransatz bis zur Augenbraue. Auch seine angebrochene Zehe machte sich wieder bemerkbar. Am oberen und unteren Ende seines Körpers war gerade absolut nichts in Ordnung.
„Guten Morgen, Ernst! Kaffee?“
Der Hamburger wandte sich erschrocken um. Er lag auf einer dunklen Couch. Der Ledergeruch war angenehm, doch von einer Note Männerschweiß überlagert. Der Raum selbst sah nach einem Büro aus. Ein kräftiger Kerl im weißen Hemd beugte sich über ihn und er wich zurück. Doch der Mann grinste; schien ihm also eher wohlgesonnen. Ernst nickte erleichtert. Er fühlte, zusätzlich zu den Schmerzen, wahnsinnigen Hunger. Willis Brot kam ihm in den Sinn. Es war das Einzige, was er seinem Körper gestern an Nahrung angeboten hatte.
„Das war vielleicht eine Nacht, nicht wahr?“, meinte der Unbekannte. Er lief zu einer Kaffeemaschine und schenkte aus einer Thermoskanne Kaffee in zwei große Porzellanhumpen ein. Er stellte sie auf das kleine Tischchen vor Ernst und spazierte davon. Mit einem halben Dutzend Croissants, in einem Weidenkörbchen, kehrte er zurück.
„Ich hatte dir in der Nacht schon mehrfach gedankt für deine Umsicht. Das ganze Autohaus wäre womöglich abgefackelt, wenn du nicht so beherzt eingegriffen hättest. Und wir hatten zunächst geglaubt, du…!“
Ernst fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Er dachte kurz darüber nach, dass sein Eingreifen in der Nacht auch etwas von Egoismus gesteuert worden war.
„Wir konnten den von dir als Buffalo Bill beschriebenen Brandstifter sofort identifizieren. Gunter Glanz, ein ehemaliger Angestellter. Ich musste ihn vor Monaten entlassen, weil er unter der Hand einige meiner Fahrzeuge verkauft und den Gewinn eingesteckt hatte. Auch Ersatzteile hat der Gauner verschachert. Das ging dann bis vors Gericht. Der Arsch hat alles abgestritten. Kam mit einer Geldstrafe davon. Glanz kannte sich auf dem Gelände aus, wollte sich wohl rächen. Aber da hat er Pech gehabt. Die Polizei wird ihn dazu vernehmen.“
Erschrocken schnellte Ernst hoch. Gerade war ein Stück Croissant von der Speiseröhre auf dem Weg zu seinem Magen, als dieses sich irgendwie verhakte. Ernst würgte, hustete, verschüttete dabei den Kaffee aus der Tasse, die er in der Hand hielt. Der Mann nahm ihm das Gefäß ab und stellte es auf den Tisch. Dann schlug er ihm kräftig auf den Rücken. Die Speiseröhre hatte den massiven körperlichen Einwand verstanden und es gelang Ernst, den Bissen hinunterzuschlucken. Er hustete noch einige Male, spürte dann Erleichterung.
„Aber … die Polizei?“, keuchte Ernst.
„Nein, keine Angst. Du hast mir von deiner Flucht erzählt. Ich sage nur: Richard Kimble! Doch eine Hand wäscht die andere. Ich habe meine Jungs noch in der Nacht losgeschickt. Die haben sich um Glanz gekümmert. Er wird seiner gerechten Strafe nicht entkommen!“
„Muss ich vielleicht als Zeuge…?“
„Nein, nein, nichts dergleichen. Ich, Markus Schrader, habe auf der Lauer gelegen und ihn selbst auf frischer Tat ertappt.“ Der Autohändler tippte sich mit dem Zeigefinger unter sein linkes Auge, schob die Wange etwas hinunter, beugte den Kopf und grinste.
„Aber nun zu deinem Hymer-Mobil. Du warst so schnell eingeschlafen, vielleicht auch ohnmächtig geworden. Oder gar beides. Du konntest mir die Geschichte nicht mehr vollständig erzählen. Also Willi, der mir die Gastanks bringt, hat dich hergeschleppt?“
Ernst nickte und griff zu einem weiteren Croissant. Abwechselnd kauend und schluckend erzählte er von seiner Flucht aus Hamburg. Der Autohausbesitzer schien eine ehrliche Haut zu sein und das Geständnis fühlte sich an wie eine überfällige Aussprache in einem Beichtstuhl. Als plötzlich bei der Eingangstür zum Showroom eine Glocke läutete, hob Schrader die Hand, drehte seinen Kopf zur Seite und brüllte laut: „Gunnar, kümmere dich!“ Anschließend hörte er den weiteren Ausführungen Ernsts zu.
„Der Sprit war alle. Auch die Batterie wurde unterwegs nicht geladen. Und Willi, also der mit den Gastanks, meinte, hier könne man mal danach schauen. Ich werde es natürlich bezahlen.“ Ernst dachte kurz an die Fünfzig-Mark-Scheine, packte den Kaffeebecher und trank einen großen Schluck daraus.
„Ich habe Mettbrötchen bestellt. Freitags gibt es bei uns immer Mettbrötchen. Du isst doch Mett?“
Ernst nickte.
„Also, was dein Problem mit dem Wagen angeht, helfe ich dir. Kostenlos, ist doch klar. Du hast verhindert, dass es zu einem Großbrand kam. Dabei wurdest du auch noch verletzt!“ Schrader deutete mit mitleidsvoller Miene auf das Pflaster an Ernsts Kopf.
Der verzichtete auf eine exakte Aufklärung darüber, wie die Kopfwunde entstanden war.
„Ich habe dein altes Hymer-Teil in die Werkstatt schleppen lassen. Kann dir nix versprechen. Aber volltanken und neue Batterie bekommen wir hin. Was den TÜV angeht…!“
Schrader schien ein erfahrener Autohändler. Ihm war sogar der abgelaufene TÜV nicht entgangen.
„Später habe ich die DEKRA im Haus. Die werden einen Blick auf den Wagen werfen. Das sind mir die Jungs schuldig. Und ohne Fragen zu stellen, klar. Danach schauen wir mal, wie wir weiter vorgehen.“
Ein Mann in einer Art Fleischerkittel trat unaufgefordert in den Raum. „Markus, hier sind die Mettbrötchen. Wie gewünscht!“ Er trug sie in einen Seitenraum und kehrte kurz darauf zurück.
„Komm, Ernst, jetzt wird erst einmal gefrühstückt!“
*
Der Sachverständige der DEKRA trug einen blauen Overall, stellte sich als Ruben Rostich vor und trat, in der Hand einen riesigen Zettel, auf Ernst zu. Dieser saß auf der Couch und schaute seit einer Weile Werbe-Videos des Autohändlers an.
„Sind Sie der Besitzer des … alten Hymer-Mobils?“ Ernst war aufgesprungen und nickte.
„Meinen Glückwunsch, der linke hintere Reifen hat noch Profil!“