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Es fühlte sich großartig an, als sein Herz zu schlagen aufhörte. Mehr als 50 Jahre nach seiner Schließung gerät der legendäre Hamburger „Star-Club“ wieder in die Schlagzeilen. Die Villa des letzten Geschäftsführers Ritchie Sanders wird schwer verwüstet, deren neuer Besitzer mit Kopfschuss hingerichtet. Das Team vom Landeskriminalamt 41 – unter Leitung der Ersten Hauptkommissarin Sandra Holz – erwartet ein verheerender Anblick. Was haben die Täter in der Villa gesucht? Die Spur führt das Hamburger Ermittlerteam zunächst weit zurück in die Vergangenheit, als sich noch musikalische Größen im Hamburger Kultschuppen die Klinke in die Hand gaben. Doch fehlende Motive und verschwundene Zeitzeugen erschweren die Ermittlungen. Als plötzlich ein gesuchter RAF-Terrorist und weitere Tote auftauchen, wird allen Beteiligten klar: Es geht hier um weit mehr als nur um musikalische Erinnerungen!
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Seitenzahl: 381
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Für Ingrid,die Liebe meines Lebens.
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf und Adobe StockEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8420-7
Klaus E. SpieldennerElbgierHamburg-Krimi
Komm, bleib doch noch,leg Dich zu mir.Komm, lass uns noch ein letztes Malgemeinsam einsam frieren.Yann Sterling, Auszug aus seinem Song „Gemeinsam einsam frieren“
Star-Club Teil I
31.12.1969 – Das Ende!
Die Kellnerin Marie Deneuve stand im Hof des alten Gebäudes Große Freiheit 39 auf St. Pauli und sog an ihrer filterlosen Zigarette. Die Nebelschwaden des Tages waren auch der Nacht treu geblieben. Es roch nach Schwarzpulver und Verbranntem. Noch immer zerbarsten letzte Feuerwerksraketen am Himmel über Hamburg und vereinzelte Böllerschläge zeugten von der sich verabschiedenden Silvesternacht. Musikfetzen erreichten Maries Ohr, während grelle Lichterblitze zwischen den Häuserschluchten aus Richtung Reeperbahn zuckten. Der Körper der 27-jährigen Hamburgerin zitterte, denn ihr war gerade bewusst geworden, dass ihre Bekleidung, was die Außentemperaturen an diesem Jahreswechsel 1969 auf 1970 anging, keineswegs verhältnismäßig war. Hinter ihr grölten Hunderte von Gästen, die in diesen frühen Morgenstunden aufbrachen, das letzte Konzert des legendären Hamburger Star-Clubs zu verlassen. Die bekannte englische Band ,The Beatles‘ hatte es sich nicht nehmen lassen, mit ihrem aktuellen Repertoire auf der Star-Club-Bühne aufzutreten, bevor der Club schon knapp zehn Jahre nach seiner Eröffnung in wenigen Minuten seine Pforten schloss. Erneut zog Marie an der Reval. Ein Hustenanfall bahnte sich an, als der Zigarettenrauch – gepaart mit der kühl-feuchten Außenluft – auf ihre Lungenbläschen traf. Sie klopfte sich genervt auf die Brust, das brachte nichts, wieder musste sie husten. Der weltweit bekannte Star-Club sollte nach kurzer Umbauzeit dem Salambo, einem Sex-Schuppen, weichen. Marie trat frustriert mit dem Fuß gegen eine leere Bierflasche, die wohl ein besoffener Gast vor Kurzem in der Dunkelheit des Hofes abgestellt hatte. Zum Glück war sie dabei nicht zerbrochen. Ein lautes Klirren zeigte der Frau an, dass sie diesen Akt gerade übernommen hatte. Auch hatte sie irgendein Tier aufgeschreckt. Das tapste seitlich an ihr vorbei und machte ihr Angst. Doch schon Sekunden später erkannte sie im Schein einer Funzel, dass es sich um eine Katze handelte. Diese war wohl noch unterwegs, um per Jagd ihr Überleben zu sichern. Jagd! Überleben! Adrenalin strömte durch den Körper der Frau. Ja, eigentlich war es gut, dass es nun vorbei war! Die Jahre als Kellnerin hier im Hamburger Star-Club hatten ihr zwar eine Menge Ersparnisse eingebracht, aber auch extrem an ihrer körperlichen Substanz gezehrt. Doch morgen würde für sie ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Aber nicht nur für sie, für alle Mitarbeiter, die unter dem letzten Star-Club-Inhaber und Geschäftsführer Richard Sanders so leiden mussten. Dabei war Ritchie Sanders Maries leiblicher Bruder. Gut, eigentlich ihr Halbbruder, nachdem die Mutter sich im hohen Alter noch einmal von einem Fremden hatte schwängern lassen.
Wenige Meter von der Frau entfernt auf der Reeperbahn zogen johlend Gestalten vorbei. Marie nahm nur ihre Schatten wahr, aber schon daran glaubte sie erkennen zu können, dass es sich um Seeleute handelte. Sicher hatte man ihnen eben erst Landgang gewährt und nun waren sie dabei, ihre Heuer zu versaufen oder diese – hier auf der sündigsten Meile der Welt, St. Pauli – in Bordellen und Strip-Clubs an billige Huren zu verteilen. In wenigen Stunden würden die Kopfschmerzen der Männer schwer, der Katzenjammer groß sein, wusste Marie und grinste voller Schadenfreude in sich hinein. Sie hatte es so satt und trat aus diesem Frustgefühl heraus gegen eine imaginäre Flasche. Die filterlose Zigarette war bis auf den Stummel aufgeraucht. Marie zog ein letztes Mal daran, bevor sie die Kippe im hohen Bogen in Richtung der verschwindenden Matrosen schnippste. Ab der nächsten Woche würde sie die Schulbank drücken und etwas aus ihrem Leben machen. Nie wieder hinter einer Bar-Theke arbeiten, nie wieder sich von betrunkenen Musikern begrapschen lassen! Wie oft hatte sie – erstarrt mit einer Flasche in der Hand – hinter dem Tresen gestanden, während Ritchie sie angeschrien hatte, und nur den einen Wunsch gehegt: die sonore laute Stimme des Bruders mit einem Schlag verstummen zu lassen! Aber das eigene Fleisch und Blut töten? Andererseits wurden durch die langen Nächte im Club, Abend für Abend – seit Ritchie die Schwester eingestellt hatte – ihr Überleben gesichert. Jedoch gab es auch weitere Lichtblicke, wenn sie genauer und ohne Frust darüber nachdachte: die schönen Zeiten mit den jungen Musikern, den Beatles, den Rattles, Tony Sheridan und vielen Hundert weiteren Gruppen. Die meisten davon waren heute Stars und würden sich nicht mehr an sie, die kleine Kellnerin, und den Club, der sie großgemacht hatte, erinnern. Mehr als einmal hatte sie sich verliebt in einen Drummer, einen Bassisten oder einen Sänger. Bis ihr letztendlich klar geworden war: Sie war stets nur eine Episode auf dem vermeintlichen Weg der Band zum musikalischen Olymp, der sich Erfolg nannte. Der Schauer, der sie gerade durchlief, fühlte sich an wie der Vorbote eines Infarktes. Doch er wurde eher durch ihre guten Erinnerungen – hier im Star-Club – ausgelöst, glaubte die Hamburgerin zu wissen, während sie kehrt und einen Schritt nach vorne machte. Ein letztes Mal abwaschen, Theke putzen, die Bühne fegen, dann war die Ära Star-Club vorbei. Viele nette Kollegen, viele sympathische Musiker würden ihr fehlen, die Arbeit nicht. Der Feuerwerkslärm hatte nachgelassen und Marie atmete aufs Neue die rauchgeschwängerte Luft unzähliger Hamburger Kamine tief ein. Hustend betrat sie das Gebäude des Star-Clubs durch die enge Hoftür.
*
„My Höfner-Bass was stolen!“
Marie mochte den jungen Bassisten der Band ,The Beatles‘. Der Engländer Paul McCartney hatte wunderschöne Augen, die blitzten, wenn er aufgeregt war, und eher sanft schimmerten, wenn er verträumt auf der Bühne sang und dabei seinen Bass bearbeitete. Paul hatte ihre vor Jahren aufkeimenden Gefühle nie erwidert, dafür aber etwa zur gleichen Zeit eine Liaison mit Cory, der achtzehnjährigen Tochter des Wirts der Blockhütte, einem Lokal am oberen Ende der Großen Freiheit, begonnen. Schon lange war Marie über den Liebeskummer hinweg. Und es war über die Jahre nicht der einzige Kummer geblieben. Was rief Paul da? Sein Höfner-Bass sei gestohlen worden? Marie schob den Vorhang, der die Bühne von der Bar trennte, etwas beiseite und blinzelte durch die Ritzenecke zu den Personen dort oben. Die Scheinwerfer blendeten sie nach den Minuten auf dem dunklen Hof. Endlich hatten sich ihre Augen an das Licht gewöhnt. Sie erkannte ihren Bruder Ritchie, der kleinwüchsig neben Paul McCartney auf der Bühne zwischen Instrumenten und Boxen vor der blau gestrichenen Wand stand. Ihr hatte die Manhattan-Skyline, die man vor wenigen Jahren entfernte, besser gefallen als Hintergrund der ständig wechselnden Rock- und Pop-Bands. Dahinter konnte sie auf einem Stuhl Beatle John Lennon sitzen sehen, der – eine Zigarette im Mundwinkel, eine Bierflasche in der Hand – dem Treiben vor sich gelangweilt zuschaute. Bassist Paul selbst wedelte wild mit den Armen, wie ein auf niedrig gestellter Ventilator. Seitlich hatten Gäste das Durcheinander genutzt und waren auf die Bühne geschlichen. Einer hing regelrecht am rechten Vorhang und war bemüht, diesen von der Decke zu reißen. Sicher suchte der Angetrunkene ein letztes Souvenir, bevor der Club dauerhaft Vergangenheit war. Doch Clubbesitzer Ritchie Sanders hatte den geplanten Diebstahl mitbekommen, trat einen Schritt zu ihnen hin und brüllte die Typen in jahrelang gewohnter Manier nieder. Verängstigt und schmollend trollten sich die Männer schleunigst in Richtung Ausgang.
Wenn der Bass des Beatles tatsächlich verschwunden war, wunderte das Marie nicht. Instrumentendiebstähle waren hier im Star-Club nichts Ungewöhnliches. Der Club war oft bis auf die letzten Plätze gefüllt und als Gast hatte man dann meist nur die Wahl zwischen Erstickungs- oder Zerquetschungstod. Nicht selten kam es vor, dass auf der Bühne getanzt wurde, und nach dem Auftritt kämpften die überwiegend weiblichen Gäste darum, Kontakt mit den Musikern aufzunehmen. Dabei konnte im Gedränge schnell etwas vom Equipment verschwinden. Ob Mikrofon, Instrumentenkabel oder Verstärker, nichts war vor Dieben sicher. Auch den Verlust einiger Gitarren hatte sie während ihrer Arbeit hier schon einige Male erleben müssen. Aber das Instrument des jungen Beatle-Bassisten zu stehlen, war da schon eine andere Hausnummer, und die Frau litt irgendwie mit dem smarten, aufgelösten Engländer. Marie schaute in die sanften Augen des jungen Bassisten und glaubte eine Träne zu entdecken. Laut schreiend bahnten sich zwei Polizisten der Davidwache den umgekehrten Weg durch die Menge, die noch immer bemüht war, durch die aufgeklappten Türen das ehemalige Stern-Kino zu verlassen. Als Paul McCartney die Uniformierten bemerkte, verlagerte er seine Armbewegung in deren Richtung, und Marie sah, wie die Beamten Schritt aufnahmen. Sportlich erklommen sie die Bühne, was die Frau anerkennend registrierte. Marie konnte hören, wie ihr Bruder die Vermutung aussprach, ein fremder Gast könne womöglich den Bass, versteckt unter seinem Mantel, hinausgeschleppt haben. Paul, der bestohlene Engländer, stand fassungslos daneben und es schien, als warte er auf ein Wunder. Eines, das den verschwundenen Höfner-Bass wieder in den leeren Instrumentenständer zurückzauberte. Einer der beiden Polizeibeamten hatte einen Stift und einen Block gezogen und machte Anstalten, alles aufzuschreiben. Der zweite schaute interessiert auf John und das Schlagzeug des vierten Beatles, Ringo Starr. Aber so war es immer, die Polizisten schrieben alles auf Zettelchen, doch dann blieb das gestohlene Instrument dauerhaft verschwunden. Und natürlich hatten die Musiker keinerlei Versicherung, die den Schaden abdeckte. Marie drehte sich desinteressiert um, schlenderte hinter die Bar und griff nach einem Spüllappen. Demnächst würden hier Porno-Shows abgehalten, aber ihr konnte das egal sein.
Kapitel 1
Olaf Londgrün gähnte zum x-ten Mal, als er von der Schönefelder Landstraße in Hamburgs Mühlenberg abbog. Der gefragte 39-jährige Hamburger App-Entwickler hatte am Abend noch mit seiner Frau und der kleinen Tochter im Sylter Ferienhaus zu Abend gegessen und anschließend den letztmöglichen Autozug nach Niebüll genommen.
Er konnte den Verladeschluss um 19 Uhr auf den letzten Drücker erreichen und legte sich dort mit einem Bahnbediensteten an. Erst nachdem dieser den Streit um einen Platz auf dem Zug durch Herbeirufen der Bahnpolizei schlichten wollte, wurde Londgrün ruhiger. Er änderte den Ton, und nur der Wechsel eines Fünfzigeuroscheins zwischen ihm und dem Bahner verhinderte schließlich sein Zurückbleiben auf der Insel. Doch der gemeinsame Urlaub war noch nicht vorüber. Erst für das kommende Wochenende war die Abreise der dreiköpfigen Familie geplant. Aber eine kurzfristige Anfrage zur Programmierung einer App für ein großes Hamburger Bankhaus rief ihn außerplanmäßig für den nächsten Morgen in sein Büro am Ballindamm. Doch schon in einigen Tagen beabsichtigte er wieder zurück zu sein im Ferienhaus auf Deutschlands beliebtester Ferieninsel. Sein Aggressionsspiegel sank langsam, während der Zug Fahrt aufnahm.
*
Die A 7 war, was den Verkehr anging, für Wochentagsverhältnisse äußerst gut zu befahren und Londgrün konnte alle Pferdestärke seines Porsche Cheyenne für die 200 Kilometer von Niebüll bis Hamburg einsetzen. Er mochte es, alleine im Auto zu sitzen, leise Klaviermusik zu hören und nachzudenken. Allzu selten kam er dazu.
Mit blinkendem Fernlicht scheuchte er gerade einen kleinen Smart von der Überholspur. „Depp!“, brüllte er, als er an dem Wagen vorbeischoss. An der Raststätte Hüttener Berge Ost hatte er eine kurze Pause eingelegt, einen starken Coffee to go gekauft und ihn dort auch ausgetrunken. Erschöpft und gähnend rollte er kurz nach Mitternacht im Schritttempo den Blankeneser Mühlenberg hinunter.
Erst seit knapp einem Jahr war die Familie Londgrün im Besitz dieses knapp fünfzig Jahre alten Anwesens. Aber sie waren angekommen, fand zumindest Olaf Londgrün. Es gab die ersten nachbarschaftlichen Kontakte, zwar überwiegend alte Hamburgerinnen und Hamburger, aber dennoch: Der riesige Bungalow mit dem Spa-Bereich und dem großen parkähnlichen Garten könnte ihr zukünftiger Wohnsitz und die Heimat der kleinen Luise werden.
Noch wenige Meter und der App-Entwickler hatte sein Ziel erreicht. Endlich bog der SUV rechts auf die Torzufahrt zur Hausnummer 111 ab. Der im Porsche eingebaute Sensor berechtigte seinen Besitzer und sofort begann sich das große Tor automatisch zu öffnen. Langsam glitt das überbreite Aluminiumtor zur Seite. Londgrün gab etwas Gas und rollte auf die Pflastersteine des riesigen Hofes vor der Doppelgarage. Erst bei ihrem Einzug im letzten Jahr hatte er seiner dänischen Ehefrau Gabrielle einen Sportwagen geschenkt. Er hatte sich etwas danebenbenommen und hoffte damit alles wiedergutzumachen. Erneut schaute er entzückt auf den Porsche, der – wie auf einer Verkaufsshow – langsam unter dem hochschwebenden Garagentor erschien. Gelb war eh Gabrielles Ding, da hatte er nichts falsch machen können, grinste der App-Entwickler müde. Mit diesem Wagen war seine Ehefrau während seiner Abwesenheit nicht mehr auf Busse oder Bahnen angewiesen. Und Gabrielle, da war er sich sicher, hatte das Geschenk voller Dankbarkeit entgegengenommen.
Das Sektionaltor hatte seinen automatischen Öffnungsprozess beendet, als der Mann – leicht erschreckt – aus dem Wagenfenster nach oben zur Fensterfront des Bungalows blickte.
Gab es dort im Wohnzimmer nicht einen Lichtblitz?
Londgrün wurde sofort hellwach und sein Kreislauf fuhr wieder hoch. Er strengte seine Augen an, glitt damit über die riesigen Scheiben hin und her, konnte aber nichts Wesentliches erkennen. Die eingeschalteten Außenleuchten mussten den Schein reflektiert haben, und er, müde wie er war, hatte das falsch gedeutet. Leise kicherte er über seine ängstliche Ader. Er musste sich keine Sorgen machen, hatte der Erbauer des Gebäudes doch großzügig in Alarmsysteme und Türschlösser investiert. Anfänglich kam sich die Familie im neuen Haus vor wie im amerikanischen Fort Knox.
*
In der Garage angekommen, stellte Londgrün den Motor des Porsche SUV aus, dann verließ er den Wagen. Hinter ihm glitt das Tor fast geräuschlos nach unten. Die Beleuchtung hatte sich automatisch eingeschaltet und hüllte den weiß getünchten Raum in eine Art sterilen Operationssaal. Der 39-Jährige zog seine Ledertasche vom Beifahrersitz und schloss die Wagentür. Ein Blick auf seinen Breitling Chronografen zeigte, dass ihm nur noch wenige Stunden Schlaf blieben, bevor er sich mit seinem Team am Morgen an die wichtige und gewinnbringende Arbeit machen musste. Müde entschloss sich Londgrün, dieses eine Mal auf das abendliche Duschen zu verzichten. Er öffnete die Stahltür, die Garage und unteren Keller- und Spa-Bereich verband, und betrat den Flur. Da war plötzlich so ein seltsames Gefühl in seinem Unterleib. Er spürte das selten, aber wenn, bahnte sich meist eine Überraschung oder gar Ungemach an. Schon als Junge im Gymnasium war er, der Nerd, oft Ärger und Mobbing ausgesetzt gewesen. Erst als die Klassenkameraden seine Qualitäten als Programmierer und PC-Fachmann erkannt hatten, ließen sie ab und er konnte sich plötzlich vor Freunden gar nicht mehr retten. Olaf Londgrün blieb einen Moment stehen, denn er glaubte im oberen Stockwerk Stimmen zu hören. Der Bewegungsmelder reagierte auch hier zuverlässig und tauchte den breiten Flur, der zum Wellnessbereich des Hauses führte, in warmes Licht. Es roch wie stets nach Lavendel, Zimtplätzchen und Apfel, und der Hauseigentümer verdrängte den Gedanken und überlegte, noch schnell die Sauna einzuschalten. Plötzlich polterte es oben, Türen schlugen. Wie versteinert stand Londgrün vor dem Treppenaufgang und überlegte seine nächsten Schritte. Erneut vernahm er laute Geräusche im oberen Teil des Bungalows. Was war da los? Unterschiedliche Antworten schossen ihm durch den Kopf: Eine Fete, die seine Frau organisiert haben könnte, zumal er seinen letzten Geburtstag aufgrund der Arbeit nicht feiern konnte? Aber das wäre entgegen jeglicher Charaktereigenschaften Gabrielles gewesen. Seine Frau war kühl, nüchtern, devot, aber stets geradeaus. Nicht verspielt, und Fantasien waren absolut nicht ihr Ding. Das war auch das, was er bei Gabrielle nach der Hochzeit und der Geburt Luises im Bett so vermisst hatte. Schon seit Langem besaß er diese bisexuellen Fantasien. Aber dass er sie inzwischen immer stärker auslebte, schob er der frigiden Lebensweise seiner Ehefrau zu. Ja, er kam sexuell schon auf seine Kosten, grinste er.
*
Er erinnerte sich wieder an das Poltern im oberen Bereich. Vielleicht waren irgendwelche Handwerker zugange, die er selbst oder gar Gabrielle beauftragt und deren Anwesenheit er verdrängt hatte. Aber um diese nächtliche Stunde? Die Zeit musste auch für Handwerker zu spät sein! Nein, dort oben mussten sich Personen aufhalten, die wer weiß wie hier hineingekommen waren und im Haus absolut nichts zu suchen hatten. Olaf Londgrün glaubte kein Angsthase zu sein, trotzdem musste er die Polizei verständigen. Mit zittriger Hand zog er sein Smartphone aus der Jackentasche. Fast wäre es aus seiner Hand geglitten. Der Code zum Entsperren fiel ihm nicht ein. Auch der Fingersensor versagte! Schweiß? Endlich befand er sich im Telefonmenü und drückte die 110. Sekunden später verlangte eine freundliche, aber bestimmte weibliche Stimme Informationen zu seinem Anliegen. Er spürte, wie ihm Körperflüssigkeit in Strömen über seine Augenlider in Richtung Wangen lief. Auch unter den Achseln wuchs die Nässe. Sein Atem ging stoßweise. Nein, er war wahrhaftig kein Held. Noch während der Hausherr Worte sammelte, um der Polizeibeamtin seine Entdeckung sowie seinen Aufenthaltsort zu erzählen, öffnete sich zu Londgrüns Schrecken oben die Durchgangstür. Sein Herzmuskel raste und er hielt den Atem an. Schaudernd fiel sein Blick nach oben. Eine maskierte Person erschien dort und betrachtete den Hausbesitzer stumm. In der Hand, das registrierte Londgrün sofort, eine Pistole mit einem überlangen Lauf. Noch bevor Olaf Londgrün einen weiteren seiner unendlich vielen Fragen und Gedanken verbal formulieren konnte, vernahm er einen gedämpften Knall. Er spürte einen festen Schmerz in der Brust, fühlte einen Stoß, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Wie in Zeitlupe beobachtete er, wie sein Handy aus der Hand auf die hochwertigen italienischen Fliesen fiel. Er glaubte das alles nicht, hoffte endlich aus dem bösen Traum zu erwachen. Er hörte noch oben an der Treppe Stimmen, englische Worte, die wie ,Done! Where do we have to go?‘ klangen. Dann verließen ihn die Kräfte und der Hauseigentümer Olaf Londgrün sackte tot in sich zusammen.
Kapitel 2
Die 1. Hauptkommissarin Sandra Holz, Interims-Abteilungsleiterin bei der Hamburger Mordkommission, hatte in der Nacht Bereitschaft. Irgendwie kam es ihr vor, als sei sie die letzten Wochen in stetiger Dauerbereitschaft. Doch seit Ausbruch des Corona-Virus waren viele Kolleginnen und Kollegen abwechselnd krank beziehungsweise in Quarantäne; nur sie selbst hatte ohne Erkrankung und Fehlzeiten durchgehalten. Dumm gelaufen! Der Anruf mit der Information zum Auffinden eines Toten in einem Gebäude in Blankenese erreichte sie gegen zwei Uhr am frühen Morgen. Zusammen mit den ersten Streifenwagen und einem Krankentransporter lenkte sie – unter Gähnen – ihren privaten Elektro-Smart auf den riesigen Hof vor dem Blankeneser Bungalow am Mühlenberg. Das Tor stand offen und eine Handvoll Straßenlaternen war bemüht, die Wohngegend auszuleuchten, schaffte es aber tatsächlich nicht. Sandra verließ den Wagen, um sich durch die Dunkelheit in Richtung des Hauses zu bewegen. Plötzlich blieb sie stehen. Ihr war eingefallen, dass ihr ehemaliger Freund und Lebensgefährte Caro Lutteroth nur einen Steinwurf von hier wohnte. Seit der Trennung im letzten Jahr hatte sich das einstige Liebespaar gerade einmal gesehen, auf der Beerdigung von Caros Vater. Wenige Worte wurden dort gewechselt; zu viel Prominenz war gekommen, um dem ehemaligen Hamburger Reeder die letzte Ehre zu erweisen. Und Ex-Freund Caro hatte sich um alles zu kümmern. Nur so viel war zu erfahren, dass der alte Lutteroth an Corona verstorben war und Caros Mutter unter starker Demenz litt. Sandra schob die Gedanken beiseite und setzte sich wieder in Bewegung.
*
Weiter vorne erkannte sie zwei uniformierte Kollegen, auf die sie jetzt zusteuerte. Sie hatten sicher das übergroße Blaulicht auf dem Dach des Kleinwagens erkannt und winkten grüßend zu Sandra hinüber. Die Kommissarin zog ihren Mund-Nasen-Schutz über, während sie sich nach dem Fahrzeug der Spurensicherung umblickte. Kein weißer VW-Bus war zu sehen, was sie etwas wunderte.
„Die Spusi ist noch nicht da?“, rief sie einem der Uniformierten zu, als sie ihm entgegentrat. Er zupfte unruhig an seiner Maske und zuckte mit den Schultern.
„Haben Sie ein nervöses Zucken oder wollen Sie damit ...“, sie wiederholte die Schulterbewegung des Uniformierten, „... etwas ausdrücken?“ Sandras Blutdruck war angestiegen. Sie blickte leicht erzürnt zum Kollegen.
„Nein, tut mir leid, also ... die Spusi ist unterwegs!“
Etwas abwesend nickte Sandra und überlegte ihre nächsten Schritte: Sicher trampelte die Nachtschicht des Kriminaldauerdiensts – kurz KDD – oben auf den Spuren herum. Vor Kurzem hätte sie sich noch riesig darüber aufgeregt. Aber in den letzten Monaten war ihr klar, Ärger zog nur gesundheitliche Beschwerden hinter sich her, und sie war froh, dass ihre lang andauernden Magenschmerzen seit geraumer Zeit verschwunden waren.
„Moin, Sandra, was machst du denn hier?“
Erschrocken drehte sich die Kommissarin um und blickte in die müden, aber grinsenden Augen von Oberkommissar Jonas Sokolowski. Sandra reckte ihren Kopf etwas und suchte nach dem Auto des Kollegen.
„Wenn du meinen Wagen suchst, der steht weiter oberhalb. Hier war mir zu viel Blaulicht, und so habe ich oben geparkt. Aber sag mal, ich habe doch Bereitschaft! Wolltest du heute nicht mal ausschlafen?“
Sandra hörte die Worte des Kollegen wie durch Watte. Natürlich, jetzt erinnerte sie sich. Soko hatte sie gebeten, den heutigen Dienst zu tauschen. Was würde sie dafür geben, noch im warmen Bett ihres Appartements zu liegen. Sie schüttelte den Kopf. „Mein Gott, Soko, was bin ich nur für ein Dummerchen!“
Soko zog amüsiert die Maske über. Seinen T-Shirt-Tick hatte er inzwischen um den Mund-Nasen-Schutz-Tick erweitert; täglich trug er das Teil mit einem neuen dummen Spruch darauf im Dienst. Heute las Sandra auf der Maske: Ich mache heimlich eine Grimasse! Grinsend lief die Kommissarin im Abstand neben Soko in Richtung des riesigen Bungalows.
Sie betraten das Gebäude durch das offene Garagentor. Sandra wies auf die beiden Nobelfahrzeuge und Soko lachte: „Hier in Blankenese fährt keiner einen Golf!“ Ein Beamter stand breitbeinig vor der Durchgangstür die, so glaubte Sandra, die Garage mit den Kellerräumen verband.
„Wo liegt die Leiche?“
Der Beamte trat schmunzelnd zur Seite. „Hinter der Tür, Frau Kommissarin.“ Sie war bekannt in der Hansestadt und er zog die angelehnte Tür auf. Sandra bewegte sich einen Schritt nach vorne. Kommissar Sokolowski folgte ihr. Im Flur war nur wenig Licht, und erst als sie den Türrahmen hinter sich gelassen hatten, schaltete die Beleuchtung ein.
Bei dem Toten handelte es sich definitiv um einen Mann. Er lag auf dem Rücken, die Beine in unbequemer Haltung angewinkelt, neben sich ein Handy. Als das Licht wieder erlosch, wies Sandra den uniformierten Kollegen an, einen Scheinwerfer zu organisieren und diesen im Flur aufzustellen. „Wir können uns ja nicht andauernd bewegen, um den Sensor zur Arbeit zu überreden!“, rief sie ihm hinterher.
Der laute Motor eines Dieselmotors ließ die beiden Kommissare aufhorchen. „Ich tippe auf die Spusi!“, meinte Soko.
Sandra ergänzte: „Selten, dass wir vor denen am Tatort ankommen.“
Außer Atem erschien erst der Kollege mit einem schweren Strahler. Er baute ihn zwischen Tür und Rahmen auf. Dann folgten drei Kriminalbeamte der Spurensicherung. Wohl verwundert über ihre frühe Anwesenheit, begrüßten sie die beiden Kommissare des Landeskriminalamtes 41 und verzogen sich dann schleunigst hinein in das riesige Gebäude. Ein in weißem Overall Bekleideter blieb neben Sandra stehen, stellte seinen riesigen Alukoffer ab, bückte sich und öffnete das Behältnis.
„Wieso seid ihr beiden denn schon da? Habt ihr das Opfer auf dem Gewissen?“, meinte er und Sandra glaubte ein breites Grinsen unter der Gesichtsmaske zu erkennen.
„Scherzkeks! Wurde die Rechtsmedizin informiert?“
„Wie, die sind auch noch nicht da? Ungewöhnlich! Dann beschränke ich mich erst mal auf das Fotografieren!“, und er griff eine riesige Kamera aus dem Koffer.
„Lass uns außen herum nach oben gehen!“, schlug Soko vor und Sandra folgte ihm aus der Garage.
„Weißt du mehr, Sandra?“
Soko hatte die Maske etwas heruntergeschoben und sog die Luft ein wie ein Ertrinkender.
Sandra schaute ihn müde an: „Nur dass der Hausbesitzer Londgrün heißt und dass es sich bei dem Toten um diesen handelt. Er hat den Notruf gewählt, da er bei seiner Ankunft im Haus Geräusche hörte. Aber bevor er den Aufenthaltsort durchgeben konnte, so die Kollegin, vernahm sie einen Schuss, dann das Geräusch des herabfallenden Handys und abschließend wohl den Sturz der anrufenden Person. Dann hatte jemand das Handy abgeschaltet, sodass die Kollegen es nicht orten konnten. Der Zufall wollte es, dass ein Nachbar seinen Hund in der Nacht ausführte und noch mitbekam, wie ein großer weißer Mercedes-Transporter den Parkplatz der Villa verließ. Er schrieb sich das Kennzeichen auf und rief zur Vorsicht bei der Polizeiwache an. Sie schickten sofort einen Streifenwagen her. Mehr weiß ich leider auch nicht. Ach ja, das Nummernschild des Transporters wurde als gestohlen gemeldet!“
„Okay, danke!“
Beide spazierten die breiten Marmorstufen seitlich des Hauses hinauf. Eine automatische Außenbeleuchtung schaltete sich ein. Das Anwesen gehörte sicher zu einem der teuren hier im schon hochpreisigen Blankenese, schätzte die Kommissarin, als sie oben auf dem Gartengrundstück angekommen waren. Eine große Terrasse, seitlich ein großer Außenpool. Dazu der unverbaubare Blick nach Hamburg-Neuenfelde und auf das Alte Land, auf die Festbeleuchtung beim Airbusgelände; und das dunkle Wasser der Elbe erwartete sie. Sprachlos genossen beide die Aussicht in die Nacht.
Durch die riesigen Scheiben war innen das Gewusel der Spusi-Beamten zu erkennen, als Sandra vorschlug, hier bis zum Abschluss der Tätigkeit der Spurensicherung zu warten. Sie setzten sich auf die riesigen Lounge-Sessel und blickten in den frühen Morgen.
„Ein Kaffee wäre jetzt prima!“, bemerkte Soko.
„Ja, das wäre traumhaft!“ Sandra hatte die Augen geschlossen und das Bedürfnis, den fehlenden Schlaf nachzuholen, überkam sie.
*
„Na ihr beiden! So wie ihr arbeitet, möchte ich meinen Urlaub verbringen!“
Die Stimme war eher sanft als aufdringlich und Sandra erkannte sofort die Rechtsmedizinerin Traudel Kensbock.
„Oh, Traudel, ich bin doch nicht etwa eingeschlafen?“ Sandra blickte zur Seite, wo auch Soko gerade dabei war, seine Glieder zu strecken.
„Kein Problem, ihr konntet eh nichts tun. Die Spusi hat die Arbeit soeben eingestellt und ich habe den Leichnam kurz untersucht. Klassischer Tod durch einen einzelnen Schuss in die Brust. Das Leben des Mannes war sofort beendet. Er hatte keine Chance.“
Sandra war aufgestanden und bemühte sich trotz ihres noch leicht schwankenden Kreislaufs, gerade zu stehen.
„Der Schütze hat nur einmal geschossen?“
Die Rechtsmedizinerin zuckte mit den Schultern. „Zumindest hat er nur einmal getroffen. Weitere Fragen musst du mit der Spurensicherung klären. Aber beeile dich, die Jungs packen schon. Hatten wohl nicht gewusst, dass ihr beiden Süßen hier vor euch hinschlummert.“ Traudel bekam das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht.
Das schlechte Gewissen packte die Kommissarin und Sandra rannte an Traudel vorbei die Stufen nach unten zur Einfahrt.
*
Kommissar Junghans, verantwortlicher Leiter der Spusi vor Ort, führte Sandra und Soko durch den Bungalow. Auch er hatte eine Maske auf, aber zum Glück sprach er laut und verständlich.
„Wir haben Spuren von mindestens vier Paar Schuhen gefunden. Sie haben sich auf dem Berberteppich, der überall hier oben liegt, gut abgebildet.“ Junghans wies auf die Abdrücke, die noch mit kleinen Fähnchen vom Fotografieren versehen waren.
„Es gab keinerlei Einbruchsspuren. Entweder der Hausbesitzer hat sie hineingelassen oder sie hatten einen Schlüssel und dazu den Code der Alarmanlage.“
Soko und Sandra hörten schweigend zu.
„Sie haben den Hausbesitzer Olaf Londgrün erschossen. Ein Schuss! Pistole! Der Schütze stand wohl oben und der Tote unten im Flur des Spa-Bereiches ...“
„Spa-Bereich?“, unterbrach ihn der Kommissar.
„Ja, tatsächlich! Gegen diese Wellness-Oase im Keller kommt manches Hallenbad nicht mit. Folgt mir!“
„Eines noch ...“, fragte Sandra, während sie dem Kollegen hinterhertrotteten, „... gab es hier oben Kampf- oder Einbruchsspuren?“
Junghans war stehen geblieben. „Das hat mich auch etwas gewundert. Oben haben sich die Männer wenig aufgehalten. Nichts war unordentlich, nichts umgeworfen, keine Gewaltspuren an Schränken, nichts! Aber dafür unten.“
Sie liefen weiter hinter Junghans her durch einen breiten gepflegten Flur mit teuren Möbeln und Kunstwerken an den Wänden. Dann erreichten sie eine Eichentür, die anscheinend in den unteren Bereich des Bungalows führte.
„Hier oben muss er gestanden haben“, erklärte Junghans, „aber das ist noch Spekulation. Warten wir erst mal alle Ergebnisse ab.“ Er öffnete die schwere Tür und sie betraten einen Kellerabgang, dessen geschwungener Gang mit breiten Stufen eine Etage nach unten führte. Sandra war sich sicher, sie waren nach Abstieg dieser Treppe wieder in Höhe der Garage angekommen. Unten am Ende der Treppe waren zwei Männer der GBI damit beschäftigt, die Leiche in einen Sack zu heben.
„Halt, warten Sie einen Moment!“, rief Soko, während er Junghans auf einer der letzten Stufen überholte. Die Bestatter schauten sich fragend an, legten dann den Leichnam wieder vorsichtig ab. Während Sandra und Junghans noch weitere Treppenstufen herabliefen, hatte sich Soko über die Leiche gebeugt. „Raubmord würde ich schon mal ausschließen!“, erklärte der junge Kommissar.
„Wie kommst du so schnell darauf, Soko?“
Soko wies auf das Armgelenk des Toten: „Schau diese fantastische Uhr an! Das ist ein Breitling Professional Exospace B55 Chronograf. Der steht auch bei mir auf der Wunschliste ganz oben. Sobald ich 8.000 Euronen übrig habe!“
*
Die Bestatter hatten die Leiche inzwischen aus dem Flur entfernt und Sandra kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Junghans hatte nicht übertrieben. Auf der unteren Ebene befand sich außer einem Whirlpool-Bereich eine Saunalandschaft, die manchen Betreiber neidisch gemacht hätte. Dazu ein bestens ausgestatteter Fitnessraum und eine kleine, aber gut bestückte Bar. Was die Kommissare aber am meisten verwunderte, waren die vielen Zerstörungen, die an den Wänden der Räume zu finden waren.
„Waren die Schäden schon vorhanden?“
Soko schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht! Die haben gezielt nach etwas gesucht!“, erklärte er und fuhr vorsichtig mit den Fingern über einige der zerschlagenen Wandfliesen. „Die sind sicher schwer zu ersetzen“, grinste er.
„Tatsächlich!“, fügte Junghans hinzu. „Erst waren wir der Meinung, die haben hier zerstörerisch gewirkt. Vielleicht Jugendliche aus Frust am Reichtum oder so, die alle Wände mit einem Hammer oder Ähnlichem beschädigt haben. Aber dann war uns klar, die Einbrecher haben tatsächlich nach etwas Bestimmtem gesucht. Nach einem Tresor oder einem Raum – irgendwas.“
„Und, sind sie fündig geworden?“, wollte Sandra wissen.
„Nein, es sieht nicht so aus. Kommt mit, die haben hier unten auch keine Wand ausgelassen. Die vier, wenn es denn nur vier waren, müssen mit großem Kraftaufwand und schweren Hämmern die Wände abgeklopft haben. Aber fragt mich nicht, was sie gesucht haben. Das herauszufinden ist ja zum Glück euer Job!“ Junghans grinste und zog seinen heruntergerutschten Mundschutz wieder über die Nase.
„Oben kein Interesse, aber dafür unten?“ Soko kratzte sich am Kopf. Auch seine Maske hing auf halb acht und Sandra wies ihn darauf hin. Etwas ungelenk zog er sie wieder über Mund und Nase.
„Wir müssen unbedingt mit den Angehörigen des Toten sprechen. Gibt es darüber schon Informationen?“
Junghans nickte. „Wir haben oben im Schlafzimmer ein Familienfoto gefunden. Aber schaut doch selbst. Londgrün besaß wohl Frau und eine kleine Tochter.“ Der Leiter der Spurensicherung blieb stehen und faltete die Hände. So, als ob er ein kleines Stoßgebet für die Angehörigen zum Himmel sandte. Sandra fragte sich indessen, ob der Mann gläubig war.
„Ich muss nun los, die aufgefundenen Spuren weiter auswerten. Habt ihr noch Fragen, ansonsten verabschiede ich mich ...“
Sandra bedankte sich bei dem Kollegen und setzte sich auf eine der Sauna-Liegen.
„Soll ich anheizen?“, wollte Soko wissen.
Sandra verstand nicht. „Wie anheizen?“
„Die Sauna meine ich!“
„Soko, du spinnst!“
Kapitel 3
Kommissarin Sandra Holz saß zusammen mit ihren beiden Kollegen Emma Meyfeld und Jonas Sokolowski im Büro am Bruno-Georges-Platz und schaute auf die digitalen Fotos, die die Spusi schon am Morgen übermittelt hatte. Auch der Abschlussbericht war eingetroffen. Man hatte ausnahmsweise einmal zügig geliefert, vielleicht aber, so vermutete die Kommissarin, war gerade wenig zu tun bei der Spurensicherung. Die Rechtsmedizin hatte bisher noch nichts von sich hören lassen, aber diese Infos trugen auch nicht zur schnellen Aufklärung bei, glaubte Sandra.
„Die haben einhundertprozentig einen Raum gesucht. Sicher einen großen Tresor“, mutmaßte Emma Meyfeld, die 30-jährige Hamburgerin.
Sandra nickte. „Ja, aber nicht gefunden. Vielleicht eine Fehlinformation? Wir werden heute Nachmittag mehr erfahren. Die Ehefrau des Toten, Gabrielle Londgrün, kommt samt Tochter mit dem Flieger von Sylt nach Hamburg. Ich werde sie am Airport abholen.“
„Wer hat die Frau vom Tod ihres Mannes unterrichtet?“, wollte Emma wissen.
„Kriminalhauptkommissar Sören Tabler, der Leiter der Kriminaldienststelle Sylt!“
„Tabler? Du kennst den Kollegen?“, fragte Soko überrascht.
„Nein!“, antwortete Sandra. „Ich hatte dort in Westerland angerufen, man gab mir Tabler und ich habe ihn gebeten, das Gespräch zu übernehmen. Ein freundlicher Typ, hat sofort zugesagt und ist persönlich in das Ferienhaus der Familie gefahren.“
„Ferienhaus?“ Soko hatte die Lippen zusammengepresst und bewegte den Kopf stetig auf und ab.
„Hättest du etwas Anständiges gelernt oder wüsstest, wie man eine App programmiert ...!“, grinste Kommissarin Meyfeld und boxte den Kollegen sanft in die Seite.
„Halt, Emma!“, entgegnete der Kommissar. „Ich habe sogar meine eigene Webseite, www.t-shirt-tick.de, selbst eingerichtet.“
„Aber das ist doch nicht zu vergleichen mit einer App, die millionenfach heruntergeladen wird!“
„Hört auf, ihr zwei!“, unterbrach Sandra die Streithähne. „Konzentrieren wir uns auf etwas Wichtigeres: Was haben die Männer gesucht? Sie haben viel Energie investiert, da ging es sicher nicht um einige Silbermünzen oder um eine Briefmarkensammlung!“
Kapitel 4
Sandra verfolgte am späten Nachmittag von der Besucherterrasse aus den Landeanflug der kleinen zweimotorigen Maschine, die aus Sylt kommend auf dem Hamburg Airport einflog. Erinnerungen an ihren eigenen Flug über der Hansestadt kamen in ihr hoch. Das war inzwischen drei Jahre her. Noch immer schauderte es sie bei dem Gedanken an dieses Abenteuer. Sanft setzte die Maschine auf und die Kommissarin bewunderte den Piloten, der, im Gegensatz zu ihr, dem Fluggerät keinerlei Schäden zugefügt hatte. Ihr lädierter Nackenwirbel erinnerte sie noch oft an die harte Landung.
Die Kommissarin erkannte die Dänin Gabrielle Londgrün sofort. Sie war die einzige Person des Fluges 7E024 von Sylt, die ein Kind an der Hand hielt. Die Frau war groß und von eher dünner Statur. Sie trug ein langes Kleid, das nichts verhüllte, und darüber eine modische Lederjacke in der Trendfarbe Gelb. Sandra tippte vom Alter her auf ihren eigenen Jahrgang. Das Mädchen neben ihr trug exakt das gleiche Kleid, und wie Zwillinge unterschiedlichen Alters näherten sich die beiden der Kommissarin.
„Hallo, Frau Londgrün, ich bin Kommissarin Sandra Holz. Herr Tabler hat mich angekündigt.“
Erst jetzt bemerkte Sandra die verheulten blauen Augen der jungen Frau. Dunkle Tränensäcke hatte sie mit einem Abdeckstift unkenntlich gemacht. Aber wie es aussah, waren die nicht über Nacht entstanden. Frau Londgrün stellte den kleinen hellblauen Koffer ab und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann hielt sie der Kommissarin wie in Trance die Hand hin. Sandra bemerkte das Zittern und fast hätte sie ihre Hand ergriffen. Doch dann erinnerte sie sich an die Corona-Regeln und hielt die geballte Faust hin, eine Begrüßung, die ihr jedes Mal einiges abverlangte, so unmenschlich fand sie diese.
„Oh, entschuldigen Sie!“ Frau Londgrün drückte ihre Faust gegen die der Kommissarin und blickte dann zur kleinen Tochter: „Das ist Luise.“
„Hallo, Luise!“, grinste Sandra das Mädchen an und die etwa Dreijährige grinste schüchtern zurück. Die Kommissarin vermutete, dass die Kleine noch nichts vom Tod des Vaters wusste. Das würde Sandra auch nicht ändern wollen, sondern die Aufklärung des Kindes der Mutter überlassen.
*
Schweigend fuhren sie im Passat durch Hamburg. Sandra hatte sich einen neutralen Dienstwagen ausgeliehen; im Smart war nur Platz für zwei. Sie hatte selbst an einen Kindersitz gedacht. Man konnte ihn bei der Fahrbereitschaft ausleihen, und das hatte sie heute zum ersten Mal gehört.
„Wo werden Sie wohnen?“, fragte die Kommissarin.
„Im Strandhotel Blankenese. Wie ich weiß, ist der Bungalow noch nicht freigegeben. Olaf besitzt zwar aus seiner Studienzeit noch eine kleine Wohnung in Hamburg, aber erst einmal sind wir hier untergekommen.“
Sandra nickte. „Das ist gut so, sicher ist es im Hotel für Sie und die Kleine zunächst angenehmer.“
„Ist Papa auch im Hotel?“, wollte die Kleine plötzlich wissen.
Die beiden Frauen schauten sich an, und wie abgesprochen rollten ihnen Tränen die Wangen herab. Sandra griff vorsichtig nach der Hand der Beifahrerin und meinte: „Keine Angst, ich bin bei Ihnen!“
*
Sandra war heute zum ersten Mal im Blankeneser Strandhotel und es entpuppte sich als echtes Kleinod. Luise lag auf dem zweiten Bett im Zimmer und war eingeschlafen.
„Wie ist Olaf gestorben?“, flüsterte die Mutter.
„Der Täter hat ihn mit ... mit einem Schuss ins Herz niedergestreckt!“, stotterte die von der Frage überraschte Kommissarin.
„Musste er leiden?“
Sandra schüttelte den Kopf. „Nein, auf keinen Fall!“ Die Kommissarin wollte noch hinzufügen, dass der Täter wohl ein ausgezeichneter Schütze war, ließ es aber.
„Gibt es schon Hinweise darüber, was die Männer im Haus gesucht haben?“
„Nein, aber helfen Sie mir. Eigentlich sollten wir das im Kommissariat besprechen, aber die Kleine ...!“ Sandra wies auf Luise, die nur wenige Meter neben ihnen lag.
„Befand sich in der Villa etwas besonders Wertvolles, etwas, was einen ... Mord rechtfertigen würde?“
Gabrielle Londgrün ließ sich Zeit für ihre Antwort. Erst nach einigen Minuten begann sie: „Mein Mann sammelt leidenschaftlich Uhren. Im Tresor in seinem Arbeitszimmer liegen sicher Chronografen für einige Tausend Euro. Wahrscheinlich hatten sie es darauf abgesehen.“
Sandra schaute zur Sprecherin. Sie fand den Satz etwas merkwürdig, fragte aber: „Mehr Wertsachen gab es nicht?“
„Was meinen Sie mit mehr?“
„Aktien, Gold, Diamanten, Wertpapiere, keine Ahnung, Wertvolles halt.“
Die Frau starrte Sandra entgeistert an. „Glauben Sie, wir sind Millionäre?“
Sandra überlegte, wie sie antworten sollte, und bereute erneut ihren voreiligen Entschluss, die erste Vernehmung im Hotel durchgeführt zu haben.
„Verstehen Sie doch, Frau Londgrün. Die Einbrecher haben in der Villa etwas von großem Wert gesucht und sind dabei von Ihrem Mann überrascht worden. Was also könnten Sie unten in der Wellness-Einrichtung gesucht haben?“
Die Kommissarin zog ihr Handy hervor und zeigte ihr Fotos von den beschädigten Wänden im Spa-Bereich. Sie glaubte am Zittern der Dänin zu erkennen, dass sie psychisch am Ende war. Tränen liefen ihr die Wangen hinab, woraufhin die Kommissarin aufgesprungen war.
„Ich lasse Sie für den Rest des Tages allein. Lassen Sie uns morgen auf dem Kommissariat weitersprechen. Zehn Uhr? Hier ist meine Karte, rufen Sie an, wenn Sie unten an der Pforte angekommen sind, ich hole Sie dann ab.“ Sie legte ihre Visitenkarte auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett und trat zur Tür.
„Eine Frage noch!“
Frau Londgrün nestelte nervös an ihrer Bluse und schaute die Kommissarin an.
„Was genau hat Ihr Mann mit seiner Firma gearbeitet?“
Frau Londgrün zögerte, dann erklärte sie: „Olaf war App-Entwickler. Er und seine Angestellten haben unter anderem an der Corona-App mitgearbeitet.“
Sandra nickte. Sie war kein Freund dieser Corona-App, hatte sie aber trotzdem auf beiden Handys installiert. Da hatte Londgrün bestimmt gut verdient, schätzte die Kommissarin. Die Bundesregierung hatte ja anfänglich Milliarden verpulvert, zum Beispiel mit der Beschaffung des medizinischen Mund-Nasen-Schutzes. Warum nicht auch für eine App? Sie grüßte, indem sie die Hand hob, und verließ dann das Hotelzimmer.
Kapitel 5
Sandra hatte bisher vergeblich auf den Anruf von Frau Londgrün gewartet. Sie war zur angegebenen Zeit nicht – wie vereinbart – an der Eingangsschleuse des Polizeipräsidiums erschienen. Als die Frau des getöteten Olaf Londgrün sich dreißig Minuten danach immer noch nicht gemeldet hatte, rief die Kommissarin sie auf dem Mobiltelefon an.
„Ja, hallo!“ Die Stimme klang dünn und zögerlich.
„Sandra Holz vom Landeskriminalamt. Ich hatte Sie hier erwartet!“
Am anderen Ende kam nach einem langen Zögern: „Oh, entschuldigen Sie, ich ... ich bin gleich so weit!“
„Was schlagen Sie also vor?“
„Können wir uns nicht beim Bungalow in Blankenese treffen?“
Sandra war erstaunt. Mal abgesehen davon, dass der Tatort für den Besitzer bisher nicht freigegeben war, wollte sie die Vernehmung wie üblich in ihrem Büro stattfinden lassen.
„Der Bungalow steht erst mal nicht zur Verfügung, Frau Londgrün: Es handelt sich um einen Tatort.“
„Bitte, Sandra, ich bitte Sie!“
„Also gut, in einer Stunde!“
Frau Londgrün saß allein auf einer kleinen Mauer gegenüber ihres Bungalows, in Richtung Elbe starrend. Sandra parkte ihren Elektro-Smart vor der Einfahrt der Villa und wartete einen Moment. Die Dänin schien abwesend. Sie hatte die Kommissarin bislang nicht bemerkt. So stieg Sandra aus und spazierte auf die andere Straßenseite. Erst als die Kommissarin neben Gabrielle Londgrün trat, setzte Regung ein.
„Danke!“
„Wofür?“
„Dafür, dass Sie mir den Besuch in Ihrem Polizeigebäude erspart haben!“
Sandra lachte. „Nun, Sie werden wohl oder übel in den nächsten Tagen dort auftauchen müssen. Wir benötigen eine Aussage, aber die kann ich nicht auf einer Mauer fertigen.“
Gabrielle Londgrün drehte den Kopf, und nun konnte die Kommissarin ihr Gesicht sehen, das von Tränen benetzt war. Die junge Frau trug diese dunklen Augenringe wie nach einer schweren, lang andauernden Nachtschicht in der Intensivmedizin.
„Es ist wie in einem Albtraum! Noch vor wenigen Stunden waren wir eine glückliche Familie. Wir hatten Pläne, Ziele, eine Zukunft. Und jetzt?“
Sandra fixierte einen Hafenkran seitlich an, um den Blick abwenden zu können. Sie hörte das Schluchzen der Frau.
„Sind Sie denn überhaupt in der Lage, das Haus betreten zu können?“
Das Weinen stoppte und Frau Londgrün war aufgesprungen.
„Es ist mein Haus, lassen Sie uns hineingehen!“
*
„Wo genau ist Olaf gestorben?“, wollte die Hausbesitzerin wissen.
„Unten im Abgang zum Wellnessbereich.“
Frau Londgrün hatte sich nach kurzem Rundumblick im Wohnzimmer mit einem lauten Seufzer auf der Ledercouch niedergelassen.
„Was raten Sie mir, Frau Kommissarin?“
„Was meinen Sie damit?“
„Also, Sie haben doch andauernd mit solchen Dingen zu tun. Wie geht es nun weiter. Ich hatte noch nie ...!“ Die Frau legte ihre Hände vor das Gesicht und begann erneut zu weinen.
„Wo ist die Kleine?“
„Luise? Ich habe sie oben in der Kita abgegeben. Sie waren sehr freundlich und verständnisvoll.“
„Wollen wir uns hier oben mal umschauen? Sie müssen nicht nach unten.“
Gabrielle Londgrün erhob sich langsam und fragte: „Was erhoffen Sie sich davon?“
„Erhoffen? Sie wollten hierher!“ Sandra fand den Satz zu formell und ergänzte, „aber wenn wir schon einmal hier sind. Vielleicht fällt Ihnen etwas auf!“
Beide Frauen spazierten durch den Wohnbereich und erreichten die Küche.
„Gut, dass wir die neue Anbauküche noch nicht haben einbauen lassen.“
„Sie wohnen noch nicht lange hier?“
„Nein, knapp ein Jahr.“
Frau Londgrün schwieg, während Sandra vor die große Terrassentür trat, die in den Garten führte.
„Wir waren sofort verliebt, obwohl der Bungalow fünfzig Jahre alt ist. Olaf hatte schon diverse Umbaupläne ...!“
Sie ging zum Schrank und machte Anstalten, ein Glas herauszunehmen. Sandra überlegte kurz, ob sie das zulassen sollte. Eigentlich durften sie nicht hier sein. Wenn noch irgendwelche Spuren auftauchten, gab es richtig Ärger mit der Staatsanwaltschaft. Doch Frau Londgrün hatte dem Schrank schon zwei Gläser entnommen und beide mit Wasser aus dem Hahn gefüllt. Eines davon hielt sie der Kommissarin hin. Sandra nahm es ihr ab und trank einen Schluck.
„Eigentlich ...!“
„Was eigentlich?“
„Ach, vergessen Sie es!“ Sandra schüttelte den Kopf. „Ein Jahr wohnen Sie hier?“
„Ja, ich sagte es schon.“
„Gab es Zwischenfälle? Bekamen Sie Anrufe, die Sie nicht zuordnen konnten? Fremde Besucher? Überlegen Sie genau, gab es etwas, was Ihnen heute nach dem ... Vorfall ... seltsam erscheint?“
Die Frau trank das Wasser in kleinen Schlucken und Sandra glaubte erst, sie habe nicht zugehört. Dann stellte sie das Glas ab und drehte sich zur Kommissarin. „Natürlich ist anfänglich alles neu und unbekannt. Aber nichts deutete darauf hin, dass ...!“
Sie füllte das Glas wieder auf. Für Sandra sah es wie mechanisch aus, aber sie wartete geduldig, wie es weiterging.
„Wir sind eine normale Familie. Sicher gehen die Geschäfte meines Mannes gut, aber ihn dafür zu töten? Ich habe keinen wertvollen Schmuck, auch keine Goldbarren in einem versteckten Tresor. Es gibt diese Uhrensammlung und hinten im Schlafzimmerschrank einen Minitresor mit zwei Golduhren und einigen Ketten.“ Sie trank erneut. „Ich habe Geschichten gelesen, da wurden Menschen für weniger als tausend Euro umgebracht.“
Gabrielle Londgrün trank ein weiteres Mal und Sandra erinnerte sich an das Protokoll, in dem von zwei intakten, verschlossenen Tresoren die Rede war. Ihrer Meinung nach konnte der Inhalt nicht der Grund sein, dass mehrere Personen in diese Villa eindrangen. Außer die Räuber waren falsch informiert. Dass Olaf Londgrün sie beim Einbruch überrascht hatte, sah die Kommissarin als erwiesen an. Aber den 39-Jährigen mit einem Schuss zu töten, das kam fast einer Hinrichtung gleich. Oder war es ein Versehen. Beides schien möglich. Ihren plötzlichen Gedanken, Londgrün habe die Männer gekannt und vielleicht gemeinsame Sache mit ihnen gemacht, fand sie eher absurd. Aber auch der Vermutung musste nachgegangen werden. Frau Londgrün hatte inzwischen ein drittes Glas Wasser ausgetrunken. Sandra bat sie, ihr den Tresor im Schlafzimmer zu zeigen.
*
Das Zimmer der Eheleute war nicht groß, aber gemütlich eingerichtet: ein riesiges französisches Bett, ein viertüriger Schiebeschrank, ein kleiner Tisch und ein überproportionaler Spiegel hinter dem Bett. Bunte Vorhänge im Stil eines japanischen Kimonos hielten das Tageslicht fern. Frau Londgrün trat zum Fenster und zog mit einem ,Sie erlauben!‘ die Gardinen auf. Sofort erhellte das eindringende Licht das Zimmer und es bekam etwas Persönliches. Sandra fühlte sich mit einem Mal extrem unsicher, hier im Schlafzimmer einer Frau zu stehen, die seit wenigen Stunden den Verlust des Ehemannes zu beklagen hatte. Sie trat zum Fenster und blickte hinaus auf das Grün des Gartens.
Plötzlich hörte sie Kratzgeräusche hinter sich. Sandra drehte sich um. Gabrielle Londgrün stand am riesigen Kleiderschrank und war dabei, etwas zu entfernen.
„Was machen Sie da?“
„Oh, irgendetwas hat Olaf an den Schrank geklebt! Ich mag so etwas nicht und kratze es ab!“ Die Stimme von Frau Londgrün klang in den Ohren der Kommissarin äußerst nervös.
„Halt, lassen Sie das!“, schrie Sandra überzogen laut, worauf die Frau erschreckt zurückzuckte.
Die Kommissarin war mit einer schnellen Bewegung neben der Dänin.
„Das sieht nach Resten von Klebestreifen aus.“
Frau Londgrün war zur Seite getreten, um für Sandra den Blick freizugeben.
Dort, an der hellen Schranktür, hatte tatsächlich jemand etwas befestigt. Einen Plan oder einen riesigen Zettel. Später wurde er entfernt. Doch noch drei Klebestreifen waren vorhanden. Sandra schätzte den Plan auf etwa DIN A3 oder gar ein wenig größer. Beim oberen Kleberest war noch etwas vom Papier zu erkennen. Wieder machte Gabrielle Londgrün Anstalten, das Teil zu entfernen.
„Nein, lassen Sie das!“, forderte Sandra erneut, „vielleicht hat das etwas mit dem Einbruch zu tun!“
Frau Londgrün schaute die Kommissarin entsetzt an. „Sie glauben ...?“
„Wenn es nicht Ihr Mann war, der etwas an den Schrank geklebt hat, waren es vielleicht seine Mörder!“
Die Frauen verließen den oberen Stock und Sandra steuerte den Wellnessbereich an. Sie nahmen die Treppe nach unten. Gabrielle Londgrün blieb kurz bei der Kreidezeichnung der Spusi stehen.
„Hier wurde er also getötet?“