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In der Nacht vom 24. zum 25. Dezember erschießt Konrad seine verkrüppelte, seit Jahren an den Rollstuhl gefesselte Frau. Zwei Tage später findet ihn die Polizei halb erfroren in einer ausgetrockneten Jauchegrube. Er läßt sich widerstandslos abführen. Thomas Bernhard beschreibt in seinem Roman Konrads Gründe für diese Tat.
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Seitenzahl: 353
Thomas Bernhard
Das Kalkwerk
Roman
Suhrkamp Verlag
Anstatt daß ich aber während des Aufundabgehens an die Studie denke, soll er zu Wieser gesagt haben, zähle ich die Schritte und werde dadurch halb verrückt.
… wie Konrad vor fünfeinhalb Jahren das Kalkwerk gekauft hat, sei das erste die Anschaffung eines Klaviers gewesen, das er in seinem im ersten Stock gelegenen Zimmer habe aufstellen lassen, heißt es im Laska, nicht aus Vorliebe für die Kunst, so Wieser, der Verwalter der mußnerschen Liegenschaft, sondern zur Beruhigung seiner durch jahrzehntelange Geistesarbeit überanstrengten Nerven, so Fro, der Verwalter der trattnerschen Liegenschaft, mit Kunst, die er, Konrad, hasse, habe sein Klavierspiel nicht das geringste zu tun gehabt, er improvisierte, so Fro, und habe, so Wieser, an jedem Tag eine sehr frühe und eine sehr späte Stunde bei geöffneten Fenstern und bei eingeschaltetem Metronom auf dem Instrument dilettiert …
… das zweite sei, einerseits aus Furcht, aus Leidenschaft für die Handfeuerwaffen andererseits, der Kauf einer größeren Anzahl von älteren, aber doch exakt funktionierenden Gewehren der Marken Wänzl, Vetterli, Gorosabel, Mannlicher etcetera aus dem Besitz des im Vorjahr verstorbenen Forstrates Ulrich gewesen, mit welchen Konrad, ein von vornherein durch und durch scheuer Menschentypus (Wieser), in gesteigertem Maße furcht- und wachsam geworden vor allem im Hinblick auf die noch nicht lange zurückliegenden, noch immer unaufgeklärten Morde an den Landwirten Mußner und Trattner, das Kalkwerk gegen Einbrecher und überhaupt gegen sogenannte Fremdelemente schützen wollte …
… seine durch jahrzehntelange falsche Medikamentenbehandlung schon beinahe gänzlich verkrüppelte, die Hälfte ihres Lebens in einem speziell für sie konstruierten französischen Krankensessel hockende Frau, eine geborene Zryd, der jetzt, wie Wieser sagt, nichts mehr weh tue, habe Konrad im Umgang mit einem Mannlicher-Karabiner angelernt, den die sonst vollkommen Wehrlose hinter ihrem Krankensessel versteckt immer in entsichertem Zustand griffbereit hatte; mit dieser Waffe hat Konrad sie in der Nacht vom vierundzwanzigsten auf den fünfundzwanzigsten Dezember mit zwei Schüssen in den Hinterkopf (Fro), mit zwei Schüssen in die Schläfe (Wieser), urplötzlich (Fro), am Ende der konradschen Ehehölle (Wieser), erschossen. Auf die geringste Bewegung in Kalkwerksnähe feuerte er, heißt es im Laska, und er habe, wie bekannt, vor viereinhalb Jahren, also schon kurz nach seinem Einzug, dem nach Feierabend mit Rucksack und Rechen am Kalkwerk vorbeigehenden Holzfäller und Wildhüter Koller, den er für einen Einbrecher gehalten hat, in die linke Schulter geschossen und ist in der Folge zu neuneinhalb Monaten schweren Kerkers verurteilt worden. Bei dieser Gelegenheit waren an die fünfzehn Vorstrafen Konrads, größtenteils wegen sogenannter Ehrenbeleidigung und wegen sogenannter leichter und schwerer Körperverletzung, zum Vorschein gekommen, heißt es im Laska. Konrad verbüßte die Strafe im Kreisgericht Wels, in welchem er auch jetzt inhaftiert ist …
… von Ausnahmen, Interessenten an seiner zweifellos exzentrischen, gleichzeitig aber auch unauffälligen Person abgesehen, hätten ihn nach und nach alle geschnitten; einerseits wollten die Leute sein Geld, andererseits nichts mit ihm zu tun haben. Ich selbst bin Konrad mehrere Male auf der Straße nach Lambach, mehrere Male auch auf der Straße nach Kirchham begegnet, zweimal im Hochwald und von ihm jedesmal augenblicklich in ein mehr oder weniger rücksichtsloses medizinisches oder politisches oder ganz einfach naturwissenschaftliches oder medizinischpolitisches oder naturwissenschaftlich-politisches oder medizinisch-politisch-naturwissenschaftliches Gespräch verwickelt worden, darüber später …
… im Lanner heißt es, Konrad habe seine Frau mit zwei Schüssen, im Stiegler mit einem einzigen Schuß, im Gmachl mit drei und im Laska mit mehreren Schüssen getötet. Klar ist, daß bis jetzt außer den Gerichtssachverständigen, wie man annehmen muß, kein Mensch weiß, mit wie vielen Schüssen Konrad seine Frau umgebracht hat …
… die für den fünfzehnten angesetzte Verhandlung aber wird in die sich mit der Zeit merkwürdigerweise immer mehr verfinsternde Finsternis in Zusammenhang mit der Erschießung der Konrad durch ihren Mann Licht hineinbringen, wenn auch, wie Wieser meint, nur ein juristisches Licht …
… entgegen der noch im Jänner verbreiteten Annahme, Konrad habe sich nach der sogenannten Bluttat selbst gestellt, weiß man heute, daß er sich überhaupt nicht gestellt hat, im Laska, wo ich gestern gleich drei der neuen Lebensversicherungen habe abschließen können, heißt es, die Gendarmen hätten ihn erst nach zweitägiger Suche schließlich in der ausgetrockneten und ausgefrorenen Jauchengrube hinter dem Kalkwerk entdeckt. Gesagt wird folgendes: die Gendarmen seien, nachdem sie von dem sogenannten Hausknecht Höller von der unheimlichen Stille im Kalkwerk verständigt worden waren, gewaltsam ins Kalkwerk eingedrungen und hätten die in ihrem Krankensessel Ermordete entdeckt, von ihrem Mann aber, den sie unschwer sofort als den Mörder der Konrad hatten identifizieren können, keine Spur. Das ganze Kalkwerk von oben bis unten hätten sie mehrere Male mit der größten Sorgfältigkeit durchsucht, schließlich auch das vom Höller bewohnte Zuhaus und schließlich die anderen umliegenden Gebäude, auch die unmittelbar an das Kalkwerk angrenzenden Waldstücke, vergeblich. Erst am zweiten Tag habe der Hilfsgendarm Moritz die morschen Bretter der Jauchengrube aufgehoben und darunter den halb erfrorenen Konrad entdeckt, der sich im Zustand der vollkommenen Kraftlosigkeit, wie sich denken läßt, anstandslos festnehmen und ins Kalkwerk, sofort in das Mordzimmer habe führen lassen, in welchem inzwischen die tote Konrad durch einen vom Dachboden heruntergeschleiften alten Strohsack ersetzt worden war. Konrad durfte, noch bevor er Angaben über den Hergang der Tat machen mußte, frische Kleider anziehen, die Gendarmen drängten ihn aber während des Aus- und Anziehens zur Eile, heißt es, weil sie möglichst rasch mit ihm nach Wels wollten. Erst als Konrad sie auf mehrere volle Schnapsflaschen, die im Mordzimmer herumstanden, aufmerksam machte und sie ermunterte, sie möchten doch die Schnapsflaschen austrinken, ließen sie sich plötzlich Zeit, heißt es. Die Schnapsflaschen waren ihnen jetzt, nachdem sie mit Konrad so viel Mühe gehabt hatten, gerade recht und angeblich haben die Gendarmen die vier oder fünf oder gar sechs Schnapsflaschen im Arrestantenwagen auch zur Gänze ausgetrunken, um sie aber tatsächlich bis zum Kreisgericht Wels bis zur Gänze austrinken zu können, hätten sie schon gleich hinter Sicking einen sechzig oder siebzig Kilometer langen Umweg über die Krems gemacht, von Sicking bis Wels hätten sie zweieinhalb Stunden gebraucht, für eine Strecke also, die sie in einer knappen halben Stunde hätten zurücklegen können, zweieinhalb Stunden und in Wels sei ihnen Konrad, weil er sich durch die Handschellenfesselung nicht selbst am Arrestantenwagen habe anhalten können, wahrscheinlich, weil ihm einer der Gendarmen einen Stoß versetzt hat, kopfüber aus dem Arrestantenwagen herausgefallen, er sei nur mit grauen Walksocken bekleidet gewesen, weil sie ihm aus Zeitmangel, wie sie angegeben haben sollen, keine Möglichkeit gelassen haben, Schuhe anzuziehen, die Schuhe, die Konrad angehabt hatte, wie sie ihn aus der Jauchengrube herausgezogen hatten, seien von der Jauche derartig vollgesoffen gewesen, daß er sie zwar aus- aber nicht mehr anziehen habe können; andere Schuhe anzuziehen und das heißt, aus seinem Zimmer zu holen, war ihm durch die Hast und, so Wieser, durch die Unmenschlichkeit der Gendarmen nicht gestattet gewesen, bei der großen Kälte hätte Konrad keinesfalls ohne Kopfbedeckung abtransportiert werden dürfen, sagt Fro, Konrad sei in einem Alter, in welchem schon die geringste Verkühlung verheerende Folgen haben, ja unter Umständen ein kurzer Luftzug gegen den Hinterkopf zum Tode führen könne, aber tatsächlich sei es auch lächerlich, in Anbetracht der Ungeheuerlichkeit des Vorgefallenen und vor allem im Hinblick auf die Tatsache, daß Konrad über zwei Tage lang bei großer Kälte, vor allem in der beißenden Nachtkälte in der Jauchengrube zugebracht und offensichtlich davon keinen größeren Schaden davongetragen hat, jetzt, wo er ja schon wieder trockene und verhältnismäßig warme Kleider anhabe, sich an der Tatsache zu stoßen, daß er nur in Walksocken und nicht in Schuhen sei, zuerst hätte Konrad von den Gendarmen verlangt, sie sollten ihm aus seinem Zimmer seine bis zu den Knöcheln hinunterreichende Lederhose herbringen, die er anziehen wolle, weil ihn die Lederhose auf das verläßlichste gegen Erkältung schütze, aber der Hilfsgendarm Moritz, der in Konrads Zimmer hinunter ist, habe sich nicht nach dem Verlangen des Konrad gerichtet und sei anstatt mit der Lederhose mit einer gewöhnlichen schwarzgrauen Lodenhose erschienen, mit Lodenhose und Lodenrock, hätte die Kleidungsstücke, Unterwäsche, Hemd, Walksocken, auch ein Schneuztuch, vor Konrad auf den Boden geworfen und ihm anbefohlen, er möge sich raschest umkleiden. Der Gendarm Halbeis, der in der Zwischenzeit den Konrad mit dem Gewehrkolben in die Schreibtischecke gedrückt hatte, offensichtlich traute Halbeis dem völlig wehrlosen und, wie sich Fro ausdrückt, vollkommen gleichgültigen Konrad Widerstand zu, soll zu Konrad mehrere Male Mörder gesagt haben, was den Bezirksrichter, den das Wort Mörder aus dem Munde von Halbeis gleich bei seinem Eintreffen im Mordzimmer zu der Bemerkung veranlaßt haben soll, den Gendarmen stehe es nicht zu, Konrad schon jetzt als Mörder zu bezeichnen. Die Gendarmen hielten sich aber nicht an diese, wie Wieser meint, korrekte Belehrung, sondern sagten immer wieder zu Konrad Mörder, auch während der Bezirksrichter noch anwesend war, offensichtlich hatte der Bezirksrichter nicht bemerkt, daß die Gendarmen Konrad weiter als Mörder bezeichneten, obwohl der Bezirksrichter ihnen verboten hatte, Konrad als Mörder zu bezeichnen. Der Hilfsgendarm Moritz soll übrigens die in ihrem Krankensessel völlig zusammengesunkene Konrad, deren Kopf durch den Schuß oder durch die Schüsse aus dem Mannlicher-Karabiner zur Gänze zerfetzt gewesen sein soll, ganz gegen die Vorschrift geradegerichtet haben, und zwar in einem Augenblick, in welchem der Gendarmerieinspektor Neuner das Mordzimmer für einen Augenblick verlassen hatte, wahrscheinlich, vermutet Wieser, um mit Höller, der zu diesem Zeitpunkt im oberen Vorhaus gestanden war, zu reden, etwas aus dem am meisten mit dem Kalkwerk vertrauten Manne herauszubringen, also gleich nach Entdeckung der Bluttat, weil er befürchtete, daß der schwere Körper der Frau durch die ständig sich vergrößernde Gewichtsverlagerung plötzlich aus dem Sessel heraus und auf den Holzboden fallen könnte. Der Bezirksrichter nannte dieses Vorfalls am Rande wegen Moritz einen noch grünen Stümper, sagt Fro. Dem Lokalredakteur Lanik, einem der übelsten Charaktere, soll der Zutritt zum Kalkwerk verweigert worden sein. Wieser spricht auch vom zertrümmerten Handgelenk der Konrad, Beweis dafür, daß die Konrad die Hände vor dem Gesicht hatte, als der Schuß fiel. Fro gebraucht immer wieder das Wort Unkenntlichkeit, ununterbrochen sagt er blutüberströmt …
… im Laska heißt es, Konrad habe die Tote zuerst aus ihrem Zimmer heraus ins obere Vorhaus und dort zu dem über dem Wasser gelegenen Fenster zu schleifen versucht, wie alle, die einen umgebracht haben, glaubte auch Konrad, sich der Ungeheuerlichkeit bewußt geworden (Wieser), das Opfer beseitigen zu können, und was war näherliegend, als den Leichnam durchs Vorhaus ans Fenster zu schleifen und am Ende des Vorhauses, mit einem größeren Gegenstand aus Eisen oder Stein, wie Fro meint, ganz einfach aus dem Fenster fallen zu lassen, dazu hätten sich ihm zwei unter dem wasserseitigen Fenster gelegene Marmorblöcke, die ursprünglich für den Türstock bestimmt gewesen waren, aber dann doch von dem Vorbesitzer des Kalkwerks, dem Vetter Konrads, Hörhager, nicht zu diesem Zweck verwendet worden waren, weil Hörhager sich für einen Türstock aus Tuffstein und nicht für einen solchen aus Marmor entschlossen hatte, förmlich angeboten, er, Fro, sei überzeugt, daß im Laufe des Prozesses noch von den beiden Marmorblöcken die Rede sein werde, aber Konrad habe schon bald einsehen müssen, daß er die Leiche nicht ans wasserseitige Fenster schleifen könne, dazu war er tatsächlich zu schwach und wahrscheinlich war ihm auch plötzlich zu Bewußtsein gekommen, daß es sinnlos sei, die Tote aus dem Fenster ins Wasser zu werfen, denn schon ein mittelmäßiger Kriminalist hätte diese von Wieser als recht plump bezeichnete Methode, sich des Mordopfers zu entledigen, in der kürzesten Zeit aufgedeckt, zu Anfang glaubten Untäter immer, das Unsinnigste zur Tatverwischung unternehmen zu müssen, und was wäre in diesem Falle unsinniger gewesen, als die Konrad aus dem Fenster zu werfen, ungefähr in der Mitte des oberen Vorhauses habe Konrad das Vorhaben, die Tote ans wasserseitige Fenster zu schleifen und hinauszuwerfen, aufgegeben, möglicherweise wollte er auch plötzlich die Leiche gar nicht mehr wegschaffen, wie Fro vermutet, und er habe die stärker und stärker Blutende wieder in ihr Zimmer zurückgeschleift und unter Zuhilfenahme aller seiner Kräfte wieder in ihren Sessel gesetzt, wie die Rekonstruierung ergeben hat, Konrad selbst habe zugegeben, daß ihm die Tote in dem Bemühen, sie wieder in ihren Sessel zu setzen, mehrere Male unter seinen Armen durch auf den Holzboden gefallen sei, über eine Stunde habe er gebraucht, um den leblosen, ihm immer wieder entgleitenden schweren Frauenkörper in den Sessel hineinzubringen. Wie er die Tote endlich im Sessel hatte, sei er so erschöpft gewesen, daß er neben dem Sessel zusammengebrochen sei …
… unmittelbar nach der Tat, habe er angegeben, sei er wie für immer wahnsinnig geworden durch das ganze Kalkwerk gerannt, von oben bis unten und von unten bis oben, und wie er sich, stehengeblieben, im oberen Vorhaus auf die wasserseitige Fensterbank gestützt habe, sei ihm der Gedanke eingefallen, die tote Frau durch das wasserseitige Fenster zu werfen. Anhand der Blutspuren im ganzen Kalkwerk wisse man genau, wie und wo Konrad durch das Kalkwerk gerannt ist, seine Aussagen, die unschwer zu überprüfen gewesen waren, seien richtig, Fro meint auch, daß Konrad keinen Grund habe, nicht die Wahrheit zu sagen, das sei ja gerade das Charakteristische an Konrad, daß er in seinem Leben immer ein sogenannter Wahrheitsfanatiker gewesen sei, so auch jetzt. Im Gmachl ist gesagt worden, Konrad habe die Frau kaltblütig von hinten erschossen, habe sich überzeugt, ob die Angeschossene auch wirklich tot sei, und habe sich augenblicklich gestellt. Im Laska ist auch gesagt worden, der Kopf der Konrad sei durch einen Schuß in die linke Schläfe zertrümmert worden. Ist von der Schläfe die Rede, heißt es abwechselnd die rechte oder die linke. Im Lanner ist auch gesagt worden, Konrad habe seine Frau mit einer Hacke erschlagen und erst, nachdem er sie schon mit der Hacke erschlagen gehabt hatte, mit dem Mannlicher-Karabiner angeschossen, daraus ersehe man, daß es sich bei Konrad um einen Verrückten handle. Im Laska sagten sie, Konrad habe seiner Frau den Mannlicher-Karabiner am Hinterkopf angesetzt und erst nach ein oder zwei Minuten abgedrückt, sie habe gewußt, wie sie den Lauf an ihrem Hinterkopf spürte, daß er sie jetzt umbringen werde, und habe sich nicht gewehrt. Wahrscheinlich habe er sie, heißt es im Stiegler, auf ihren eigenen Wunsch erschossen, ihr Leben sei nichts als qualvoll und an jedem Tag eine noch größere Qual als an dem vorausgegangenen gewesen und es sei gut, daß die Arme, als die sie fast immer und überall bezeichnet wird, tot sei. Konrad hätte sich aber, nachdem er seine Frau erschossen hat, selbst erschießen sollen, heißt es, denn jetzt erwarte ihn das Fürchterliche einer zweifellos lebenslänglichen Strafanstalts- oder Irrenhaushaft …
… aber ein Mensch, der einen ihm Nahestehenden umbringt, sagt Fro, sei weit entfernt von Folgerichtigkeit …
… der Bezirksrichter soll zu den umstehenden Gendarmeriebeamten gesagt haben, das auf dem Boden liegende Hirn der Toten erinnere ihn in Beschaffenheit und Farbe an Emmentalerkäse, sagt Wieser. Höller bestätigt diese Aussage. Über Konrad selbst soll der Bezirksrichter gesagt haben, er habe Schriddesche Krebshaare usf….
… tatsächlich habe Konrad im Zimmer seiner Frau wochenlang eine Hacke versteckt gehabt, eine ganz gewöhnliche Holzhacke, er, Konrad, habe aber seine Frau nicht mit dieser Hacke erschlagen, sagt Höller, sondern erschossen, die Hacke sei wochenlang hinter dem Krankensessel auf der Fensterbank gelegen und dort verstaubt. Als Tatzeit wird drei Uhr früh vermutet, aber es ist auch von anderen Zeiten die Rede, so heißt es im Lanner immer wieder, Konrad habe seine Frau um vier Uhr früh umgebracht, im Laska, um ein Uhr, im Stiegler, um fünf Uhr früh, im Gmachl um zwei. Niemand, auch Höller nicht, hat einen Schuß gehört. Während er selbst das Sickinger Kalkwerk als den einzigen ihm noch möglichen Ort bezeichnete, sagt Wieser, sei ihm, Konrad, Sicking in Wahrheit nach und nach und in den letzten beiden Jahren, so Fro, mit geradezu bösartiger Schnelligkeit zum Verhängnis, im Grunde ihm selber auf das tödlichste bewußt zu einer einzigen deprimierenden Niederlage geworden, Wieser sagt auf seine Art ganz pathetisch: zur Tragödie. Während er, Konrad, schon sehr früh alles versucht habe und auch alles getan habe, in den Besitz des Kalkwerks zu kommen, das zwar immer schon in der Familie der Konrad, aber durch Erbschliche, wie Konrad einmal Fro anvertraut haben soll, zwischen den beiden Weltkriegen in die Hände von Konrads Neffen Hörhager gespielt worden sei, das Kalkwerk käuflich zu erwerben, war an die drei oder gar vier Jahrzehnte Konrads Wunschtraum gewesen, der sich, das muß gesagt werden, meinte Fro, immer schwieriger, aber dann auf einmal doch über Nacht, wie Wieser meint, verwirklichen habe lassen, Konrad habe schon in der Kindheit an der Vorstellung gearbeitet, sich einmal im Kalkwerk niederzulassen, meint Fro, von frühester Jugend an habe er den Plan, einmal in das Kalkwerk einziehen und in ihm hausen zu können, verfolgt, Besitz zu ergreifen von dem alten Mauerwerk, den Rest des Lebens in der, wie Konrad selbst einmal zu Fro gesagt haben soll, absoluten Isolierung von Sicking auf seine ihm mehr und mehr zur Notwendigkeit gewordene intensive Art und vor allem immer von seinem ihm tatsächlich noch immer vollkommen gehorchenden Kopfe aus zu verbrauchen, habe er sich schon früh vorgenommen, aber der unaufhörlich von seinem Neffen Hörhager in die Höhe getriebene Kaufpreis und das fortwährende Ja und Nein des Neffen, den Verkauf des Kalkwerks an Konrad betreffend, die ihn, Konrad, geradezu sadistisch anmutende fortwährende Willensänderung des Neffen, der alle Augenblicke einmal zusicherte, das Kalkwerk zu verkaufen, dann aber wieder plötzlich von einem Verkauf an Konrad nichts wissen wollte, der immer wieder drohte, er werde wohl das Kalkwerk verkaufen, aber nicht an Konrad, dann wieder versprach, das Kalkwerk nur an Konrad zu verkaufen, der an einem Tag Konrad die Zusicherung gab, das Kalkwerk zu verkaufen, am nächsten diese Zusicherung wieder zurückzog oder von einer solchen an Konrad gegebenen Zusicherung auf einmal immer wieder nichts mehr wissen wollte, dieses ständige Verkaufenwollen und Nichtverkaufenwollen, die unaufhörliche, in Wahrheit durch nichts gerechtfertigte Preishinauftreibung (Fro), von Tag zu Tag hatte das Kalkwerk einen höheren, immer einen immer noch höheren Preis, zermürbten Konrad, aber er wäre nicht er selbst gewesen, wenn er nicht gegen und vor allem gegen alle diese, wie er gesagt haben soll, unmenschlichen Widerstände schließlich doch in den Besitz des Kalkwerks gekommen und in das Kalkwerk eingezogen wäre. Während man aber also ruhig sagen kann, meint Wieser, daß Konrad jahrzehntelang alles getan habe, um schließlich und endlich in den Besitz des Kalkwerks zu kommen und mit immer rücksichtsloserer Schärfe diesen Plan vorangetrieben und verfolgt und eines Tages tatsächlich verwirklicht habe, habe seine Frau, die, und das hängt mit ihrer Verkrüppelung und Unbeweglichkeit zusammen, solange sie im Kalkwerk gelebt hat, außer dem Höller, dem Bäcker, dem Rauchfangkehrer, dem Friseur, dem Gemeindearzt und der Störschneiderin kein Mensch je zu Gesicht bekommen hat, die Konrad, von welcher gesagt wird, daß sie zwar verkrüppelt, aber von großer Schönheit gewesen sei, habe also die Konrad alles versucht und auch alles getan, um nicht in das Kalkwerk gehen zu müssen, er, ihr Mann, meint Wieser, habe naturgemäß immer nur an seine Studie gedacht, für die ihm immer das Kalkwerk als ein ideales erschienen war, sie aber befürchtete schon zu der Zeit, in welcher ihr Mann die ersten, damals von ihr kaum noch ernstgenommenen Gedanken an das Kalkwerk, wie sie später immer wieder gesagt habe, regelmäßig, ja mit einer in der Folge zunehmenden leidenschaftlichen Gewohnheit, gehabt habe, daß ihr ja schon genug trauriges Leben mit der Verwirklichung des Vorhabens ihres Mannes, ins Kalkwerk einzuziehen, in eine mehr oder weniger fürchterliche Existenz einmünden werde, was sich auch, wie man heute weiß, bewahrheitet hat; sie hat nach Toblach, in ihren Elternort und in ihr Elternhaus, zurückgehen wollen, aber nach Toblach zurückgehen hätte für ihn nichts anderes als die endgültige Aufgabe seiner Studie und also auch seines Existenzzweckes und in der Folge auch für seine Frau, in Wahrheit Konrads Halbschwester, nichts anderes als die totale mutwillige Existenzvernichtung noch dazu im Ausland bedeutet, denn die Abhängigkeit seiner Frau von ihm war die vollkommenste, die man sich vorstellen kann, sagt Wieser, und es habe in jedem Falle immer nur eine tödliche Wirkung, aus Verzweiflung und Ratlosigkeit und letzter Lebensanstrengung und also aus doppelter Verzweiflung und doppelter Ratlosigkeit, weil man ganz einfach keinen anderen Ausweg mehr weiß und weil man weiß, daß es ganz einfach keinen Ausweg mehr gibt, keinen Ausweg mehr geben kann, schließlich das Elternhaus im Elternort und in der Elternlandschaft wieder aufzusuchen, den sogenannten Rettungsort. Tatsächlich wäre seiner Frau immer Toblach als der alleridealste Rettungsort unter allen anderen Rettungsorten im Gedächtnis gewesen, das alleridealste Toblach fortwährend im Gegensatz zu dem für sie furchtbaren Sicking, das sie fürchtete. Aber gerade nach Sicking sind die beiden gegangen, er, sagt Fro, habe sich durchgesetzt, sie habe das Kalkwerk immer gehaßt, sie habe immer alles versucht, ihn von der Idee, in das Kalkwerk zu gehn, abzubringen, seinen Neffen Hörhager habe sie zuerst zu überreden versucht, das Kalkwerk nicht oder jedenfalls nicht an Konrad zu verkaufen, dann habe sie den Neffen Konrads zu bestechen versucht, habe dem Neffen, sagt Fro, sogar eine sechsstellige Summe angeboten, für den Fall, daß er das Kalkwerk nicht an Konrad, sondern an einen andern verkauft, schließlich habe sie dem Hörhager gedroht, ihn abwechselnd erpreßt und gewarnt und ihm gedroht, aber das alles habe nichts genützt, sagt Fro, Konrad habe sich durchgesetzt, wie er sich immer und in jedem Falle immer durchgesetzt habe, wie Fro sagt. Und die fünfeinhalb Jahre, die die Konrad in Sicking waren, hätten ihm, Konrad, nach Aussage Wiesers, bewiesen, daß seine Entscheidung und seine Rücksichtslosigkeit, aus der für ihn schon jahrzehntelang nutzlosen und reizlosen, wie ihm immer vorgekommen sei, ständig als eine völlig geschichtsfeindliche, auf der Stelle tretenden Welt heraus, seiner Studie und dadurch ihrer beider Existenz zuliebe in das Kalkwerk zu gehen, und zwar in kein von ihnen nur gemietetes, sondern von ihnen rechtmäßig gekauftes, denn Hörhager habe Konrad ja angeboten, ihm das Kalkwerk, wie üblich, auf zwölf oder gar auf vierundzwanzig Jahre zu vermieten, was Konrad immer strikt abgelehnt habe, wie Wieser sagt, weil das gänzlich seiner Natur entspreche, daß also seine Entscheidung und seine Rücksichtslosigkeit die richtige Entscheidung und die richtige Rücksichtslosigkeit gewesen wären. Ab und zu, habe Konrad zu Fro gesagt, wären in den ersten Sickinger Jahren im Kopf seiner Frau noch recht oft das Wort und der Begriff Toblach aufgetaucht, immer nur das Wort Toblach, sagt Fro, niemals Tobiacco, dieser Kindheitsbegriff sei ihr oft stundenlang durch den Kopf und schließlich durch ihr Zimmer und in der Folge immer auch durch das ganze Kalkwerk gegeistert, aber immer weniger oft, soll Konrad zu Fro gesagt haben. Auf dem sogenannten Kaltmarkt soll Konrad noch vor einem Jahr zu Wieser gesagt haben, daß es den Anschein habe, als tauchte Toblach jetzt auf einmal nicht mehr auf, der Begriff Toblach spiele auf einmal keine Rolle mehr, seine Frau habe Toblach aufgegeben, wie ihm scheine, indem sie Toblach aufgegeben habe, sich selber aufgegeben, er bemerke das. Sie sei immer gegen Sicking gewesen, habe Konrad zu Fro gesagt, immer gegen das Kalkwerk und also auch schon immer gegen ihn selbst, gegen seine Studie, also, konsequent zu Ende gedacht, auch gegen sich selbst. Toblach hätte sie von den allerersten Gedanken an Sicking gegen Sicking in die Debatte gebracht. Schließlich sei sie aus Gewohnheit gegen das Kalkwerk gewesen, aus Gewohnheit gegen seine Studie, von Natur aus also gegen seine Studie, gegen Das Gehör. Auf einmal existierte Toblach ganz einfach nicht mehr, soll Konrad gesagt haben, und: man muß das wissen, meine Frau hat ja nie etwas anderes außer Toblach gehabt, und sie habe im Grunde auch heute nichts außer Toblach. Natürlich sei Sicking ein Kerker, sagte Konrad zu Fro, und es mache ja auch von außen schon den Eindruck eines Kerkers, eines Arbeitshauses, einer Strafanstalt, eines Zuchthauses, dieser Eindruck sei durch Jahrhunderte verdeckt gewesen, habe Konrad gesagt, von Geschmacklosigkeiten verdeckt gewesen, er aber habe diesen Eindruck wieder voll zum Vorschein kommen lassen, zu rücksichtslosem Vorschein. Diesen Eindruck verstärkten vor allem die Fenstergitter, die er sofort, wie er das Kalkwerk gekauft gehabt hat, in die dicken Mauern hineinmauern habe lassen, diese Zweckmäßigkeitsgitter, wie Konrad sich ausgedrückt haben soll, die Ziergitter habe ich herausgerissen und die Zweckmäßigkeitsgitter hineinmauern lassen, habe Konrad gesagt, die dicken Mauern und die in den dicken Mauern verankerten Gitter weisen sofort auf einen Kerker hin. Die Schnörkel, die, bevor er das Kalkwerk gekauft habe, da und dort am ganzen Kalkwerk gewesen wären, Kennzeichen zweier geschmackloser Jahrhunderte, habe er, so Konrad zu Wieser, entfernen lassen, alle Schnörkel sofort, zu einem Großteil habe er diese Schnörkel mit seinen eigenen Händen aus den Wänden heraus- und von den Wänden heruntergerissen, herausgebrochen und herausgeschlagen und herausgerissen und heruntergeschlagen und heruntergebrochen und heruntergerissen und er habe alle diese heraus- und heruntergeschlagenen und -gebrochenen und heraus- und heruntergerissenen Schnörkel durch keine neuen Schnörkel ersetzt. Das Kalkwerk sei vollkommen frei von Zierat, habe Konrad zu Fro gesagt. Und auch die Wege, habe er gesagt, die zum Kalkwerk führen, und tatsächlich führe ja, wie man gleich sehen könne, nur ein einziger steiniger Weg zum Kalkwerk, habe er grob aufgeschottert. Alles vereinfacht. Ihm sei es darum gegangen, den Urzustand des Kalkwerks wiederherzustellen, ohne Rücksicht auf Meinungen. Hohes Gestrüpp, aber keinerlei Ziergesträuch. Zu Wieser: er, Konrad, sei ja auch niemals ein sogenannter Naturfex gewesen, kein Naturfanatiker, kein Naturmasochist, überhaupt kein Pflanzennarr, und die Natur, genauer gesagt, die Außennatur, habe ihn auch immer nur an sich selber, also Konrads Natur, erschrecken lassen, niemals erstaunen, die Empfindung des sogenannten Naturentzückens sei nichts anderes als Perversion. Er sei auch kein Tierfreund, da er auch kein Menschenfreund sei, sei er auch kein Tierfreund, da er sich selbst sei, was dazu gesagt werden müsse, das wäre also falsch, zu glauben, er wäre ein Tierfreund, er beschäftige sich zwar ununterbrochen mit der Natur und keine andere Beschäftigung fülle sein Gehirn aus, aber er sei und zwar gerade aus diesem Grunde der ununterbrochenen Naturbeschäftigung, kein Naturfreund, ja ganz im Gegenteil, sei er, auf das unheimlichste naturgemäß seiner Frau, ein geradezu leidenschaftlicher Naturhasser und also, worauf man kommen müsse, Kreaturhasser. Zu Fro: kahle Wände, Zweckmäßigkeit. Selbstverletzungsstrategie. Katastrophalcephalökonomie. Zu Wieser: festverschlossene, festverriegelte Türen, festvergitterte Fenster, alles festverschlossen und festverriegelt und festvergittert. Früher waren ja an den Kalkwerkstüren nur ganz gewöhnliche Mauskastenschlösser!, soll Konrad ausgerufen haben, stellen Sie sich vor, ganz gewöhnliche Mauskastenschlösser! Jetzt aber sicherten schwere, tief in die Mauern hineingelassene Kanthölzer die Kalkwerkstüren ab. Tief in die Mauern hineingelassene schwere Kanthölzer, soll Konrad zu Wieser gesagt haben, die man mit Gewalt herausziehen oder hineinschieben muß, naturgemäß in der Feuchtigkeit, die hier herrsche, immer mit Gewalt. Der Sicherheitsfaktor sei der allerwichtigste Faktor. Zuerst, habe Konrad zu seiner Frau gesagt, sagt Wieser, müßten sie vor der Außenwelt, der sie endlich entkommen seien, sicher sein, müßten also sofort die Fenster vergittern und die Türen verriegeln lassen und sie hätten ja auch, sagte Konrad zu Wieser, sofort nach ihrem Einzug, und schon den nächsten Tag nach Erlegung der unerhört hohen, ja unglaublichen Kaufsumme waren die Konrad im Kalkwerk eingezogen, sämtliche Fenster vergittern und sämtliche Türen verriegeln lassen, Riegel auch an die Kalkwerksinnentüren machen lassen, schwere Riegel und schwere Gitter, zuerst soll sich ja der Schmied, soll Konrad gesagt haben, geweigert haben, so schwere Gitter anzufertigen, der Zimmermann geweigert haben, so schwere Riegel anzufertigen, aber der Schmied habe schließlich, weil Konrad unnachgiebig gewesen war und einen sehr hohen Preis versprochen hatte, die schweren Gitter gemacht und der Zimmermann habe die schweren Riegel gemacht, tatsächlich sollen der Schmied, der die schweren Gitter gemacht hat, und der Zimmermann, der die schweren Riegel gemacht hat, über Konrad den Kopf geschüttelt haben, aber schließlich seien für beide, für den Schmied wie für den Zimmermann, Konrads Argumente überzeugend gewesen und heute seien der Schmied wie der Zimmermann stolz auf ihre Arbeit, der Schmied stolz auf die schweren Gitter, die er mit äußerster Präzision nach den Angaben Konrads angefertigt hat, der Zimmermann stolz auf die schweren Riegel, die er nach genauso präzisen Angaben Konrads präzis gemacht habe. Und damit die Leute, die, unerwünscht und unaufgefordert, wie das ihre Art sei, immer wieder am Kalkwerk vorbeigehen, nicht zum Kalkwerk herüberschauen könnten, soll Konrad zu Wieser gesagt haben, brauchten sie, er und seine Frau, hochwachsendes Gestrüpp, und Konrad soll zu seiner Frau gesagt haben, wir brauchen hochwachsendes Gestrüpp um das Kalkwerk, höchstwachsendes Gestrüpp, und sie hätten sofort hochwachsendes, besser höchstwachsendes Gestrüpp aus der Schweiz bestellt und nach Sicking transportieren und fachgemäß setzen lassen. Heute, soll Konrad vor zwei Jahren zu Wieser gesagt haben, ist das Kalkwerk vollkommen abgesichert, man entdeckt es nicht, man sieht es nicht und wenn man es entdeckt und wenn man es sieht, soll Konrad gesagt haben, erinnert sich Wieser, kann man unter gar keinen Umständen herein. Das hochwachsende Gestrüpp ist so hoch gewachsen, mein lieber Wieser, daß kein Mensch mehr einen Blick auf das Kalkwerk werfen kann, man sieht ja auch das Kalkwerk erst, wenn man schon unmittelbar davorsteht, so Konrad zu Wieser, das heißt, wenn man nur noch einen oder einen halben Meter davorstehe, dann sehe man es aber erst recht nicht, weil man nur noch einen oder einen halben Meter davorstehe. Das Kalkwerk sei ja auch nur von der Ostseite her zu erreichen und das sei merkwürdig, daß das Kalkwerk nur von der Ostseite her zu erreichen sei, aber auch wieder gar nicht merkwürdig, soll Konrad zu Wieser gesagt haben, einerseits sei
das merkwürdig, andererseits gar nicht merkwürdig, alles sei einerseits merkwürdig, andererseits überhaupt nicht merkwürdig, genau an dieses merkwürdig hin und merkwürdig her erinnert sich Wieser, gegen Norden aber grenze das Kalkwerk wie auch gegen Westen ideal ans Wasser, gegen Süden ideal ans Felsgestein. Im Winter aber komme man oft nicht einmal mehr von der Ostseite an das Kalkwerk heran, weil das Kalkwerk kein Kalkwerk mehr sei, fahre der Schneepflug nicht mehr bis zum Kalkwerk, in ein totes, aufgelassenes Kalkwerk fährt ganz einfach kein Schneepflug, soll Konrad zu Wieser gesagt haben, keine Arbeiter, kein Kalk, kein Schneepflug, soll er gesagt haben, für einen einzigen nichtsnutzen Konrad und seine Frau, eine genauso nichtsnutze Konrad, fährt der Schneepflug nicht, der Schneepflug zahle sich für sie nicht aus, also fahre der Schneepflug nicht, der Schneepflug fahre seit Jahren, wie ihm, Konrad, jetzt auffalle, seit sein Neffe Hörhager nicht mehr im Kalkwerk sei, nurmehr noch bis zum Gasthaus, Hörhager hatte verschiedene sogenannte Gemeindefunktionen inne, also wenn jemand Gemeindefunktionen innehabe, könne er auch damit rechnen, daß der Schneepflug bis zu ihm hinfährt, aber ich, soll Konrad gesagt haben, habe keine Gemeindefunktion inne, ich habe überhaupt keine Funktion inne, schon gar nicht eine Gemeindefunktion, schon das Wort Funktion hasse er, nichts hasse er tiefer als das ihm jedesmal beim Anhören Ekel verursachende Wort Funktionäre, allerdings, soll Konrad gesagt haben, da er die Menschen hasse, hasse er naturgemäß auch die Funktionäre, denn heute ist ja jeder Mensch Funktionär, alle seien Funktionäre, alle funktionierten, es gibt keine Menschen mehr, Wieser, es gibt nur noch Funktionäre, deshalb kann ich den Ausdruck Funktionär nicht mehr hören, mir ist das Wort Funktionär zum Erbrechen, aber mein Neffe Hörhager ist naturgemäß Funktionär gewesen, Gemeindefunktionär, und zu einem Funktionär, noch dazu zu einem Gemeindefunktionär, fährt der Schneepflug, dahin fährt er, zu einem Funktionär!, soll Konrad Wieser gegenüber ausgerufen haben, für einen alten Narren wie ich und für eine alte verkrüppelte Närrin wie meine Frau fährt der Schneepflug nicht und wie leicht, soll Konrad zu Wieser gesagt haben, könnte der Schneepflug am Kalkwerk umdrehen, aber er fährt ganz einfach nicht mehr bis zum Kalkwerk. Eine Winterschikane!, soll Konrad gerufen haben, mehrere Male Eine Winterschikane! Wieser sagt, Konrad bezeichnete über eine Stunde lang die Tatsache, daß der Gemeindeschneepflug nurmehr noch bis zum Gasthaus, aber nicht mehr bis zum Kalkwerk fährt, immer wieder als Groteske. In Sicking sei alles eine Groteske, man könne in Sicking anschauen was und von wo aus man wolle, man schaue eine Groteske an. Aber daß der Schneepflug nicht mehr zum Kalkwerk, nurmehr noch bis zum Gasthaus fährt, bedeute für die Konrad auch einen Vorteil, soll Konrad behauptet haben: durch den tiefen Schnee stapft kein Mensch mehr zu uns. In dieser vollkommenen Abgeschiedenheit und Abgeschnittenheit sei naturgemäß Ruhe. Die Tatsache, meint Wieser, daß im Winter im Kalkwerk absolute Ruhe herrsche, habe ihn, Konrad, zuerst am Kalkwerk begeistert. Dieser Gedanke verfolgte ihn, der Gedanke, daß im Kalkwerk vollkommene Ruhe sei im Winter, habe ihm, Konrad, jahrzehntelang keine Ruhe gelassen. In diesem Gedanken sei er oft nahe daran gewesen, wahnsinnig zu werden. In das Kalkwerk!, habe er immer wieder gedacht, in das Kalkwerk!, in das Kalkwerk!, während seine Frau an nichts anderes gedacht habe als nur: nach Toblach zurück, zurück nach Toblach!, aber der Gehorsam seiner Frau sei der außerordentlichste gewesen. Durch den Felsvorsprung höre man ja auch vom Sägewerk nichts herüber, soll Konrad immer wieder gesagt haben, ehrlich gesagt, machten ihm, Konrad, aber Sägewerksgeräusche nichts aus, hätten ihm nie etwas ausgemacht, wie ihm sein eigener Atem nichts ausmache, machten ihm Sägewerksgeräusche nichts aus, weil sie immer schon dagewesen wären, er hätte niemals gedacht: da hörst du ein Sägewerk, da kannst du nicht denken!, weil er immer in der Nähe von Sägewerken gelebt und gedacht habe, eines aus dem andern immer in Sägewerksnähe, denn gleich, wo er sich auch immer aufgehalten habe, er habe sich in der Nähe eines oder gar mehrerer Sägewerke aufgehalten, zur Familie und zu allen seinen, wie auch zu ihren Verwandten, gehörte immer wenigstens ein Sägewerk. Und das Gasthaus, soll er zu Wieser gesagt haben, sei so weit vom Kalkwerk weg, daß er nichts aus dem Gasthaus höre. Wie ich durch den Felsvorsprung nichts vom Sägewerk höre, höre ich auch nichts vom Gasthaus herüber durch den Felsvorsprung, soll er gesagt haben. Ist es im Gasthaus am lautesten, hier im Kalkwerk höre er nichts. Manchmal gingen Lawinen ab, soll Konrad gesagt haben, Geröll, Eis, Wasser, Vögel höre er, Wild, Wind. Weil man beinahe überhaupt nichts höre, werde man im Kalkwerk, besonders wenn einem ein solches ungemein empfindliches Gehör zu eigen sei, wie ihm, besonders hellhörig. Alles, was man höre, wie alles, was man nicht höre, mache einen im Kalkwerk hellhörig. Dieser Umstand komme naturgemäß seiner Studie zugute, die sich nicht zufällig mit dem Gehör befasse, schließlich sei ja auch Das Gehör der Titel der Studie. Daß sie, die Konrad, da seien, habe Konrad zu Wieser gesagt, sei Berechnung im Hinblick auf die Studie, auf Das Gehör. Das alles hier, alles jetzt mit dem Kalkwerk Zusammenhängende, sei Berechnung, mein lieber Wieser, soll Konrad gesagt haben. Es sei alles vorausberechnet, vieles mag als das Zufälligste erscheinen, als das Unsinnigste, aber alles sei durchaus vorausberechnet. Die Empfindsamkeit sei in dem Zustand der totalen Überraschungslosigkeit die vollkommenste, naturgemäß tödlich, soll Konrad gesagt haben. Zu Fro habe Konrad folgendes gesagt: er höre, wenn er in seinem Zimmer sei, arbeite, beschäftigt mit der Studie, seine Frau in ihrem Zimmer oben atmen, ob man das glaube oder nicht, für wahr haben wolle oder nicht, tatsächlich. Man kann natürlich meine Frau in ihrem Zimmer von meinem Zimmer aus nicht atmen hören, das ist wahr, das ist oftmals erwiesen, soll Konrad gesagt haben, tatsächlich aber höre er seine Frau in ihrem Zimmer atmen, wenn er in seinem Zimmer sei. Naturgemäß befände er, Konrad, sich aber auch immer in der höchstmöglichen Aufmerksamkeit. Er könne sogar Menschen hören, die am andern Seeufer miteinander reden, obwohl das nicht möglich ist, vom Kalkwerk aus Menschen am andern Seeufer miteinander reden zu hören. Diese Menschen am andern Ufer brauchen gar nicht hell aufzulachen, soll Konrad zu Fro gesagt haben, nur zu reden brauchen sie miteinander, und ich höre sie. Wie oft höre ich ein Geräusch, ein tatsächliches Geräusch, soll er gesagt haben, und ich frage meinen Gesprächspartner, ob er das Geräusch auch höre, und mein Gesprächspartner hört das Geräusch nicht. Ich höre Leute am andern Ufer und ich stehe auf und gehe ans Fenster und höre die Leute am andern Ufer noch besser, obwohl ich sie nicht einmal sehen kann, soll er gesagt haben, während ich selbst aber die Leute am andern Ufer höre, die ich nicht einmal sehen kann, hören und sehen meine Versuchspersonen nichts, soll Konrad zu Fro gesagt haben, die Schwierigkeit des Zusammenlebens mit Menschen habe für ihn immer darin bestanden, daß er immer vieles hörte und vieles sah, die andern aber nichts hörten und nichts sahen, und in der Unmöglichkeit, die Menschen, gleich welcher Kategorie, in Hören und Sehen einzuschulen. Entweder ein Mensch hört und sieht oder ein Mensch hört oder ein Mensch sieht oder er hört und sieht oder hört oder sieht nicht und man kann keinen Menschen Hören und Sehen lehren, aber der hört und sieht, kann an sich Hören und Sehen vervollkommnen, und zeitlebens habe ich immer alles versucht, um mein Hören und Sehen zu vervollkommnen, vor allem mein Hören zu vervollkommnen, denn wichtiger, als daß ein Mensch sieht, sei, daß ein Mensch hört. Aber was meine Frau betrifft, soll Konrad gesagt haben, seien seine Bemühungen, ihr Hören und Sehen zu vervollkommnen, auf halbem Wege gescheitert, er habe plötzlich, schon vor zehn oder vor fünfzehn Jahren, einsehen müssen, daß es sinnlos sei, sie weiterhin Hören und Sehen zu lehren, er habe bald aufgegeben, ihr Hör- und ihr Sehorganisches zu entwickeln, naturgemäß sei das ja gerade das Wesen der Frau, daß sie auf halbem Wege und zwar immer in dem Augenblicke der allerhöchsten Konzentration und zwar immer auch im Augenblicke der allergrößten Erfolgswahrscheinlichkeit eine disziplinäre Geistes- und Geisteswillensanstrengung aufgebe. Die urbantschitsche Methode, die er an ihr, seiner Frau, vor allem von dem Zeitpunkt des Einzugs in das Kalkwerk an mit großer Rücksichtslosigkeit trainiere, habe er ja nurmehr noch für seine Zwecke, nicht mehr für sie auf dem Programm gehabt. Was das Hören meinerseits von Gesprächen aller möglichen Leute am anderen Ufer betrifft, soll Konrad zu Fro gesagt haben, konnte ich oft einzelne, ja die kompliziertesten Wörter, wie auch die kompliziertesten Satzkonstruktionen mit geradezu belebender Präzision in das Kalkwerk hereinhören. Plötzlich soll er gesagt haben: meine Versuchspersonen, meine Frau zum Beispiel, Höller zum Beispiel, Wieser zum Beispiel, haben noch niemals etwas, das ich ganz präzise vom anderen Ufer herübergehört habe, herübergehört, während ich alles überdeutlich herüberhöre, soll Konrad gesagt haben, hören meine Versuchspersonen überhaupt nichts und tatsächlich hören Sie selbst ja auch niemals etwas vom anderen Ufer herüber, soll Konrad gesagt haben. Schließlich einfach alles zu hören, soll er gesagt haben, sei, Folge der ununterbrochenen jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Studie, Triumph, gleichzeitig furchtbar. Aber nichts schaffe eine größere Klarheit als ein vollkommenes oder wenigstens ein nahezu vollkommenes Gehör. Auf das Kalkwerk selbst zurückkommend, soll Konrad zu Fro gesagt haben, daß es ein jeden Ankömmling sofort verblüffendes Bauwerk sei. Jedes Jahrzehnt sei etwas dazugebaut, etwas daraufgebaut worden, ein Teil von ihm abgerissen worden, die vielen Unterkellerungen, bedenken Sie, sage ich zum Baurat, soll Konrad zu Fro gesagt haben. Da, wo das Wasser am tiefsten sei, tatsächlich an der tiefsten Stelle, schaue er, Konrad, aus dem Fenster. Dem unvermittelt aus dem Gestrüpp Heraustretenden müsse aber doch immer die tatsächliche Größe des Kalkwerks verborgen bleiben, nur wer in ihm haust, wer es, soll Konrad gesagt haben, mit Kopf und Seele bewohnen und mit diesem ungeheuerlichen Mechanismus ausfüllen kann, könne das Ganze ausmessen. Erfassen nicht, aber ausmessen, soll Konrad gesagt haben. Der Betrachter sei irritiert, der Besucher vor den Kopf gestoßen, der Betrachter werde gleichzeitig von dem Kalkwerk angezogen und abgestoßen, der Besucher in jedem Falle augenblicklich Opfer aller möglichen Enttäuschungen. Der Betrachter kehrt um und flüchtet, der Betreter oder Besucher verläßt es und flüchtet. Wie oft habe er einen Menschen beobachtet, der aus dem hochgewachsenen Gestrüpp herausgetreten und erschrocken und umgekehrt ist, immer der gleiche Mechanismus, soll Konrad gesagt haben, die Leute treten aus dem Gestrüpp heraus und kehren augenblicklich um, oder sie treten in das Kalkwerk ein und stürzen sofort wieder hinaus. Und sie haben immer das Gefühl, beobachtet zu sein, nähert man sich einem Bauwerk wie dem Kalkwerk, hat man immer das Gefühl, beobachtet zu sein, von allen Seiten beobachtet zu sein, das entmutigt sehr rasch, soll Konrad gesagt haben, alles wird nach und nach, nach anfänglicher unerhörter Wachsamkeit, Angespanntheit aller Sinnesorgane, kraftlos, eine große Erschlaffung bemächtigt sich aller, die in den Bereich des Kalkwerks eingetreten sind, auf einmal. Das sei das Augenfälligste: allein der Anblick des Kalkwerks lasse die Leute umkehren, sie hätten plötzlich nicht mehr den Mut, anzuklopfen, hineinzugehen. Erschrecken sie nicht schon beim Anblick des Kalkwerks, soll Konrad gesagt haben, so erschrecken sie, wenn sie tatsächlich anklopfen, die wenigsten allerdings kommen so weit, daß sie anklopfen, denn das Anklopfen mache einen fürchterlichen Lärm. Alles an der Architektur des Kalkwerks sei das Resultat jahrtausendealter Berechnung. So müsse man annehmen, trete man aus dem Gebüsch heraus, meinte Konrad zu Wieser, das Kalkwerksinnere lasse nur die geringste Bewegungsfreiheit zu, daß man im Kalkwerksinnern nur den geringsten Spielraum habe, vermute man gleich, aber tatsächlich habe man im Kalkwerk den größten Spielraum. Aber jede Vorstellung sowie jede Vorstellung einer Vorstellung sei in jedem Falle immer eine irrtümliche, erniedrigende. Das müsse man wissen, wenn man denke. Das Tatsächliche sei tatsächlich immer anders, das Gegenteil, immer das Tatsächliche, tatsächlich. Daß wir aus Täuschung existieren und aus nichts sonst, sei nicht unbedingt auszusprechen. Sie können im Kalkwerk wie in keinem andern Gebäude, das ich kenne, soll Konrad zu Wieser gesagt haben, und er kenne die größten und vorzüglichsten und im Grunde alle möglichen Arten von Gebäuden oder besser gesagt, Mauerwerken, soviel Sie wollen und zwar immer soviel Sie wollen, ohne fortwährend die gleiche Strecke Weges benützen zu müssen, hin- und her und im Grunde immer weiter- und weitergehen, in jedem Fall auf das fortschrittlichste fortschreiten. Die Konstruktion des Ganzen sei auf Totaltäuschung angelegt, der oberflächliche Beurteiler auf jeden Fall in die Falle gegangen. Betritt man das Vorhaus, sagte Konrad zu Wieser, erkennt man sofort, daß man sich täuschen habe lassen, denn allein das Vorhaus ist beispielsweise dreimal so groß wie das Zuhaus und naturgemäß seien unteres wie oberes Vorhaus gleich groß, als ein Herrenhaus angelegt, soll Konrad zu Wieser gesagt haben, habe das Kalkwerk für ihn, Konrad, alle Vorzüge eines sogenannten freiwilligen Arbeitskerkers.