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Konflikte begleiten die Menschheit seit Urzeiten und wohl fast genauso lange versuchen Menschen, sie zu begrenzen und mit ihnen umzugehen – sei es als Betroffene oder als Helfer, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Denn wenn erst einmal ein Konfliktsystem entstanden ist, wenn sich negative Erwartungsstrukturen und mit ihnen negative Selbstverständlichkeiten und Eigengesetzlichkeiten entwickelt haben, wird es für die Beteiligten immer schwerer, diesen zu entrinnen: Die Komplexität unserer sozialen Lebenswelt, in der es für die Kommunikation ohnehin nicht leicht ist, sich zu orientieren, wird ausgeblendet. Verletztes Gerechtigkeitsempfinden, Missverständnisse und unglückliche Versuche, diese zu korrigieren, wechseln sich ab. Man beginnt, Konfliktursachen »personenbezogen« zuzurechnen (»Es liegt an dir! Deine Schuld!«), und dem Konfliktpartner negative Motive zu unterstellen (»Das machst du nur, weil ...!«), der das wiederum ebenfalls tut. Eine Reihe gut untersuchter, aber wenig bekannte psychologischer Vorgänge laufen in uns ab, wenn wir in Konflikte geraten. Die Empörung über den anderen wächst, dummerweise meist auf beiden Seiten. Langsam beginnt das Karussell sich zu drehen – immer schneller, bis ... Das Buch stellt die verschiedenen psychologischen Mechanismen in den Kontext eines systemischen Verständnisses von Konflikten und erläutert Möglichkeiten wie das Karussell gebremst und verlangsamt werden kann.
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Seitenzahl: 335
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Arist von Schlippe
Konflikteskalation verstehen und begrenzen
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 27 Abbildungen und einer Tabelle
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe
(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)
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Umschlagabbildung: svenkaiser2803/photocase.de
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-99377-5
Meinem Freund Jochen Schweitzer in herzlicher Verbundenheit gewidmet
Zum Geleit: Friedenslinde, Richard von Weizsäcker und die »Blöde Ziege«
Eine Gebrauchsanleitung für dieses Buch – anstelle eines Vorworts
Erster Teil: Keine Angst vor Theorie
1 Die Form des Konflikts
1.1 Was ist eigentlich ein Konflikt?
1.2 Symmetrie und Komplementarität
2 Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen
2.1 Die Unwahrscheinlichkeit von Ordnung und Verständigung
2.2 Wir sind wechselseitig füreinander undurchschaubar
2.3 Der Erwartungsbegriff
2.4 Erwartungs-Erwartungen
2.5 Ein kleiner Seitenblick
2.6 Beziehungsstörungen und Metaperspektive
2.7 Zwischenfazit
3 Empörung: Der Motor des Karussells
3.1 Gefühle in der systemischen Therapie
3.2 Das Wörtchen »sollte« und der moralische Anspruch
3.3 Empörung und Gerechtigkeit
3.4 Innere Kontenführung und Gerechtigkeit
3.5 Ist Empörung ein Gefühl? Über affektiv-kognitive Eigenwelten
3.6 Eine kleine Übung
4 Wie weiß die Kommunikation, wohin sie gehört?
4.1 Der Kontext bestimmt die Bedeutung
4.2 Kontextmarkierung
4.3 Polykontexturalität
4.4 Der Systembegriff der Systemtheorie
4.5 Soziale Systeme sind unsichtbar
5 Der Erlebensdruck der Kausalität
5.1 Die »Brille« Kausalität
5.2 Tief in uns angelegte Erkenntnisschemata
Zweiter Teil: Karussellfahren – Los geht’s!
6 Zirkularität und Interpunktion
6.1 Wer hat angefangen?
6.2 Das Paradox der Vereinfachung
7 Enttäuschte Erwartungen
7.1 Die Kraft von Erwartungen
7.2 Implizite Versprechen: Psychologische Kontrakte
7.3 Enttäuschte Erwartungen und die »Tiefengeschichte«
7.4 Der implizite Beziehungsvertrag bei Paaren
8 Es rumort: Erleben und Selbstwertgefühl
9 Der einäugige Blick: Wahrnehmung im Konflikt
9.1 Der einseitige Blick (Folge 1): Personenbezogene Zurechnung und Motivunterstellungen
9.2 Der einseitige Blick (Folge 2): Wahrnehmungsverzerrungen
Der fundamentale Wahrnehmungsfehler
Der feindselige Wahrnehmungsfehler
9.3 Der einseitige Blick (Folge 3): Absicherung überstabiler Muster
9.4 Groupthink: Die Gleichschaltung der Kommunikation
9.5 Zwischenfazit
10 Dumm, krank, böse: Dämonisierung
11 Aufpassen: Gefährliche Gedanken
11.1 Der Glaube an den Mythos der Macht
11.2 Das Denken in Kategorien von Entweder–Oder
11.3 Die Idee der eigenen Überlegenheit und der Andersartigkeit des anderen
11.4 Grundmisstrauen, Verschwörung und Heimlichkeit
11.5 Die Notwendigkeit der unmittelbaren Reaktion
11.6 Versunkene Kosten
12 Immer schneller: Hochgeschwindigkeitskommunikation
13 Das Gedächtnis sozialer Systeme: Die transgenerationale Weitergabe von Konflikten
14 Wir haben ein Haustier: Der Konflikt als parasitäres Sozialsystem
14.1 Das Konfliktsystem
14.2 Demoralisierung
15 Keinen Schritt weiter: Die apokalyptischen Reiter und der Abgrund
15.1 Die neun Stufen der Eskalation
15.2 Die apokalyptischen Reiter
Dritter Teil: Wege im Konflikt – Der mögliche Ausstieg
16 Rehabilitierung der Empörung
17 Wer herrscht, wenn Krieg herrscht? Gedanken über das Management von Konflikten
18 »Consciousness raising«, Entautomatisierung und Selbstarbeit
18.1 Die Kunst der unerwarteten Antwort
18.2 Die Erste-Hilfe-Pause
18.3 »Weder zu viele noch zu wenige Worte!«
18.4 Dem Sog der Dämonisierung widerstehen
18.5 Sprachliche Sorgfalt
18.6 Symbolische Gesten und gute Momente
18.7 Bedauern
19 Positionen und Interessen: »Wofür ist Ihnen das wichtig?«
20 Die Balkonperspektive und der blinde Fleck
20.1 Selbstbeobachtung
20.2 Das Karussell der Erwartungen
20.3 Reflektierendes Team
20.4 Reflektierende Positionen
21 Das »dritte Element«
21.1 Eine Person oder ein Prinzip als »das Dritte«
21.2 Die Bedeutung einer großen Geste
Vierter Teil: Zehn Empfehlungen für den Umgang mit Konflikten
Literatur
Stichwortverzeichnis
Wenn Bücher Gewächse wären, dann wäre Arist von Schlippes Buch »Das Karussell der Empörung« vielleicht wie eine große, kraftvolle Friedenslinde. Die Wurzeln holen ihr Wissen aus der Tiefe von vier wichtigen Quellen: aus Theorie und Forschung, aus reicher Praxiserfahrung und kollegialem Austausch.
Friedenslinden sind historisch seit Jahrhunderten Orte für Konfliktverstehen und Friedensfindung. Unter dem freundlichen Blätterdach dieses Buches haben alle Platz: Konfliktprofis, Moderatorinnen, Mediatorinnen und Mediationssupervisoren ebenso wie Laien, die in Beruf und Familie, Sport und Politik verstehen wollen, in welche Dynamik sie selbst und andere geraten – und was sich tun lässt, um wieder herauszukommen.
Wir Leserinnen und Leser können uns nun gemeinsam vorstellen, oben geborgen und sicher auf einem dicken Ast dieses Baums zu sitzen, locker an den Stamm angelehnt und mit einem guten Überblick von oben auf das Karussell der Empörung zu schauen und jede Station des immer schneller sich drehenden Eskalationsgeschehens von oben genau zu erkennen.
Die einzelnen Elemente der Karussellfahrt sind mit Leichtigkeit und Frische in Erzählungen und Bilder eingebettet: Ob von Schlippe in einer seiner Praxisgeschichten so heftig auf den Tisch schlägt, dass seine besorgte Smartwatch laut und vernehmlich zu sprechen beginnt: »Offenbar bist du gestürzt, brauchst du Hilfe?«, was die in dem Moment angespannte Situation aller Konfliktbeteiligten in Lachen auflöst, oder ob der Blick der treffend-witzigen Zeichnungen seines Bruders Björn zwei Elemente gleichzeitig in uns anrührt … Das vielleicht bedeutungsvollste Thema unserer Zeit, Konflikt, atmet im »Karussell der Empörung« Tiefe und Humorressourcen gleichzeitig: klar, strukturiert und nützlich.
Wenn Bücher Ereignisse der Zeitgeschichte wären, dann wäre das »Karussell der Empörung« in einigen Teilen wohl eine präzisierende Fortsetzung der großen Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985, die dieser vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges hielt. Dort sagte er unter anderem:
»Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit …«
und:
»Es hilft unendlich viel zum Frieden, nicht auf den anderen zu warten, bis er kommt, sondern auf ihn zuzugehen.«
Als Studentin habe ich zu der Zeit damals für von Weizsäcker gearbeitet. Millionen Menschen waren berührt von seiner großen Rede. Die Rede war ein wichtiges Samenkorn. Aber wir wussten weder, wie Eskalation funktioniert, noch wussten wir, wie man aussteigen könnte. Wir wussten nicht einmal, dass wir nicht wussten, dass wir es nicht wussten:
– Was genau geschieht eigentlich in der Eskalation?
– Wie kommt man denn wieder heraus – oder wenigstens nicht tiefer hinein?
– Was ist ein fundamentaler Attributionsfehler und wie sorgt er dafür, dass wir in Eskalationen einsteigen?
– Was ist ein feindseliger Wahrnehmungsfehler und wie sorgt er dafür, dass wir nicht so leicht wieder herauskommen?
– Warum ist es so wichtig, dass wir die Mechanismen der Eskalation kennen?
Und wenn Bücher Speisen wären, dann wäre das »Karussell der Empörung« vielleicht »Blöde Ziege«. So heißt einer meiner Lieblingssalate, ein Ziegenkäsesalat mit besonders köstlichen Zutaten. Wir entdecken ihn an einem großen Buffet – gemeinsam mit Virginia Satir und mit Gregory Bateson, mit Niklas Luhmann und mit Ihnen, sehr geehrte Leserin und sehr geehrter Leser, und mit vielen anderen weisen Menschen, deren Wissen in das Karussell eingeflossen ist. Hier findet sich für alle Eskalationslebenslagen etwas Gutes. Denn ob »Blöde Ziege« der Einstieg in eine Eskalationsspirale der Beleidigungen ist oder der schmackhafte Ausstieg daraus, das können wir mitgestalten.
Langfristig jedenfalls – und da bin ich ganz mit Arist von Schlippe einig – ist es eine wesentliche Aufgabe in wohl allen gesellschaftlichen Feldern, mit der eigenen Empörung und der Empörung anderer so umzugehen, dass sich Wege des Vertrauens finden lassen. Denn diese sind – eine Quintessenz des Buchs – die Wege mit der größeren Reichweite.
Anita von Hertel
Die Aufgabe, Konflikte und ihre Dynamiken zu verstehen und Ideen zum Umgang mit ihnen zu finden, hat mich in den letzten Jahrzehnten zunehmend mehr beschäftigt. Ich habe bereits an verschiedenen Stellen dazu etwas geschrieben, vielfach mit einem Bezug zu Unternehmerfamilien, meinem Arbeitsfeld der letzten Jahre. Dieses Buch wird unter der Metapher des Karussells – ein Symbol für die zirkuläre Organisation der Prozesse in Konfliktsystemen – vieles aus diesen verstreuten Publikationen zusammenfassen. Die vielen Kolleginnen und Kollegen, von denen ich gelernt, mit denen ich zusammengearbeitet und auch gemeinsam an Texten geschrieben habe, hier aufzuzählen, würde zu weit führen. Stellvertretend für sie soll hier die Verbindung zu meinem Freund und Kollegen Haim Omer aus Tel Aviv hervorgehoben werden. Seine Überlegungen, Familien in hoch eskalierten Konfliktsituationen zu helfen, mit gewaltloser Beharrlichkeit der Zwickmühle zwischen entweder Nachgiebigkeit oder Eskalation zu entkommen, haben mich sehr geprägt.
Zum durchaus ehrgeizigen Anliegen dieses Buchs: Ich möchte Sie als Leserin und Leser in erster Linie persönlich erreichen, ganz unabhängig davon, ob Sie selbst in einem eskalierenden Konflikt gefangen sind, ob Sie sich hilflos fühlen, wenn Sie Ihnen nahestehende Menschen in Konflikten beobachten, oder ob Sie aus professioneller Perspektive als Vorgesetzte oder Beraterin beziehungs- weise Berater mit konflikthaften Beziehungen – auf welchen Ebenen auch immer – zu tun haben. Ich würde mich freuen, wenn Sie möglichst oft bei der Lektüre nachdenklich werden und sich fragen, was das Geschriebene in Ihrem Alltag, in Ihren Familienbeziehungen und in Ihrem praktischen Umfeld bedeutet, wo der Text einen Unterschied herstellt zu der Art, wie Sie sich die Dinge vorher beschrieben haben (gelegentlich rege ich an, das eine oder andere ins eigene »Konfliktnotizbuch« zu übertragen; die Abbildung, hier am Rand macht auf diese Gelegenheit aufmerksam). Dabei geht es mir zugleich auch darum, Anregungen für den Umgang mit Konflikten zu übermitteln, sei es in der Art, wie man selbst das kleine eigene Konfliktboot in den Stromschnellen der Eskalation auf Kurs hält oder wie man als praktisch tätige Person andere genau dabei unterstützt. Schließlich möchte ich auch einen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu dem Thema leisten und zeigen, dass die Ideen der Systemtheorie ausgesprochen hilfreich sein können, wenn es darum geht, Konflikte zu verstehen. Das ganze Projekt ist also ein Spagat: Laien und Praktiker nicht zu verschrecken und zugleich im akademischen Feld nicht unterm Radar zu laufen. Ich freue mich über Ihre Rückmeldungen. Für kritische Kommentare und Anregungen während der Entstehungszeit des Buches danke ich meiner Frau Rita und meinen geschätzten Kolleginnen Anita von Hertel, Franziska von Kummer, Lina Nagel, Barbara Ollefs, Susanne Quistorp sowie meinem ebenfalls hoch geschätzten Freund und Kollegen Jürgen Kriz herzlich.
Kommen wir zur Gebrauchsanleitung: Das Buch hat drei große Teile, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können.
Der erste Teil ist mit »Keine Angst vor Theorie« überschrieben. Hm, ob das funktioniert? Also, ich habe versucht, so leserlich wie möglich zu schreiben und gelegentliche tiefer gehende Tauchgänge deutlich zu markieren, sodass jede und jeder, der oder die sich noch nicht so ins tiefe Wasser traut, den Teil auch getrost überspringen kann (oder davon – wir sind ja bei der Gebrauchsanleitung – nur jeweils zwei Seiten nach dem Abendessen lesen wird). Es ist auch möglich, den ersten Teil ganz zu überspringen oder hier nur das Kapitel über die Empörung zu lesen (vielleicht dann auch eher ab 3.2), das die Grundlagen dafür legt, den Motor des Karussells zu verstehen.
Oder man kann zum zweiten großen Teil gehen und gleich mit dem Karussellfahren beginnen. Hier beschreibe ich die vielen sozialpsychologisch gut untersuchten Vorgänge, die in unserem Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Erinnern ablaufen, wenn wir in konflikthafte Kommunikationszusammenhänge geraten. Diese uns Menschen aus Urzeiten mitgegebenen Mechanismen haben mich schon immer interessiert. Man muss hier nicht unbedingt die Reihenfolge einhalten, sondern man kann sich von einer der Überschriften anregen lassen: Wie beim Karussellfahren kann man sich auf das eine oder das andere Pferdchen setzen, es geht sowieso immer in die gleiche Richtung (manchmal überschneiden sich die Beschreibungen ja auch). Mit diesem Teil ist auch das zweite besondere Anliegen des Buches verbunden. Es geht mir darum, das Bewusstsein dafür zu schärfen, wie sehr wir in Konflikten in Gefahr sind, diesen Mechanismen einfach ohne Nachdenken zu folgen. Entstanden sind sie, um uns in gering oder mittelmäßig komplexen Umwelten, in denen es oft nur um die Alternative Tod oder Leben ging, zu helfen, schnell und ohne Zweifel zu reagieren. Daher tarnen diese Mechanismen sich auch so geschickt, dass wir denken, ganz rational und im Besitz aller unserer Sinne zu handeln, während wir zugleich vom Geschehen hypnotisiert sind und mit unseren Handlungen zur Steigerung der Eskalation beitragen. Es sind diese Mechanismen, die so gefährlich sind, im Kleinen wie im Großen, und die uns, wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind, wie Schlafwandler in kleine und große Kriege führen können (eindrücklich bei Clark, 2013, für den Ersten Weltkrieg beschrieben; hoffen wir, dass wir heute ein wenig dazugelernt haben, ganz sicher bin ich mir nicht).
Warum ist mir das Bewusstsein für diese Prozesse so wichtig? Mich hat immer sehr überzeugt, was der amerikanische Anthropologe Gregory Bateson über die Prämissen unseres Handelns geschrieben hat: »Mit einem Wort: Ihre Wahrnehmungsmaschinerie, die Art, wie Sie wahrnehmen, wird von einem System von Voraussetzungen regiert, das ich Ihre Epistemologie nenne: eine ganze Philosophie tief drinnen in Ihrem Geist, aber jenseits Ihres Bewusstseins« (Bateson u. Bateson, 2005, S. 136, siehe auch Kapitel 18 in diesem Buch). Es ging ihm darum, die Bewusstheit über diese implizite Philosophie zu schärfen, im Wissen, dass dies immer nur begrenzt möglich sein kann, denn »[…] wir sind keineswegs die Kapitäne unserer Seele« (Bateson, 1981, S. 564).
Wer will, kann das Buch auch von hinten anfangen zu lesen und mit dem praktischen Ausblick im dritten Teil beginnen. Allerdings wollte ich ganz bewusst weder einen Konfliktratgeber noch einen Praxisleitfaden schreiben und schon gar nicht die verschiedensten Interventionsmethoden noch einmal neu erfinden. Dafür gibt es inzwischen viele gute Bücher mit sogenannten Werkzeugkoffern. Und wir verfügen auch über ein breites Wissen über praktikable Wege zur Konfliktlösung und Mediation. Methodisch habe ich da nicht viel hinzuzufügen. Ich möchte Sie eher mit Denkwerkzeugen versorgen. Daher ich habe in diesem letzten Teil einige Grundzüge systemischer Konfliktarbeit skizziert, die leicht nachvollziehbar sind und die in der Konfliktmoderation nützliche Dienste leisten können. In meinem ersten Buch über Konflikte (von Schlippe, 2014c) hatte ich eine Unterteilung vorgenommen in drei Perspektiven, wie man als Betroffene oder Betroffener oder auch von einem beobachtenden oder professionellen Standort aus das Konfliktgeschehen konstruktiv beeinflussen kann. Vielleicht gibt auch hier der dritte Teil einige Anregungen, ohne in die Falle der Machbarkeitsillusion zu geraten. Persönlich bin ich ohnehin eher vorsichtig, was die Erfolgsaussichten der Arbeit mit Personen in hocheskalierten Konflikten angeht. Es ist gut, keine Hollywoodlösungen im Sinne einer TV-Show (»Verzeih mir!«) zu erwarten, sondern eher die vielen kleinen Schritte zu würdigen, die manchmal die Lage einfach nur etwas verbessern. Damit allerdings will ich nur ausdrücken, dass man die Messlatte nicht zu hoch hängen sollte. Es ist nie vergebens, im Konflikt an der eigenen Bewusstheit zu arbeiten.
In diesem Teil habe ich vor, grundlegende Überlegungen anzustellen, die helfen können, Konflikte und ihre Dynamiken zu verstehen, und zwar, wie gesagt, aus der Betroffenenperspektive wie aus professioneller Sicht. Gerade weil normalerweise viele Menschen auf das Wort »Theorie« mit einer Mischung aus Respekt, Angst und Desinteresse reagieren, ist es mir ein Anliegen, das Thema so anzugehen, dass die Überlegungen unmittelbar auf das konkrete private und das professionelle Alltagsleben hin übersetzt werden können. Wenn eine Leserin oder ein Leser sich in den Ausführungen immer wieder zumindest punktuell wiedererkennt, ist dies gelungen.
Das Verständnis für Konflikte zu fördern, ist ein mir wichtiges Anliegen mit diesem Buch. Zumindest hier soll es weniger um Methoden und Tools gehen, mit denen wir – und dann auch möglichst schnell – Konflikte lösen können. Ich möchte vielmehr das Verstehen in den Vordergrund rücken. Wer die Dynamiken von Konflikten versteht, versteht vielleicht auch sich selbst besser. Die Fähigkeit, sich und andere zu verstehen, ist möglicherweise das beste Gegengift gegen destruktiv eskalierende Konfliktdynamiken. Jay Forrester wird der Ausspruch zugeschrieben: »Der menschliche Verstand ist nicht geeignet, menschliche Sozialsysteme zu verstehen« (zit. nach Riedl, 1981, S. 89). Aber das sollte meines Erachtens nicht heißen, dass man es nicht zumindest versuchen sollte.
»Wir leben nicht in einem solchen Universum, in dem eine einfache, geradlinige Kontrolle möglich wäre. Das Leben ist nicht so …« (Bateson, 1981, S. 564).
Konflikte sind Teil des Alltags im menschlichen Leben. Sie gehören irgendwie dazu. Vielfach werden sie als etwas Negatives angesehen, doch kann man sie in den verschiedensten sozialen Situationen auch als den Motor von Veränderung sehen. Sie bringen Menschen dazu, klar Position zu beziehen und sich für den eigenen Standpunkt, die eigene Sicht der Dinge einzusetzen. Im Verhandeln, in der Auseinandersetzung kommt man in vielen Konfliktlagen zu tragfähigen Ergebnissen. Gerade Familien sind als Spielfeld für das Erlernen von Konfliktfähigkeit wichtig. Und in Organisationen gelten kognitive oder »Faktenkonflikte« um »tasks« (was ist zu tun) und Konflikte um »processes« (wie ist es zu tun) auch keinesfalls als problematisch, denn sie haben das Potenzial, positive Effekte zu bewirken sowie Kreativität und Innovation zu stimulieren (Jehn, 1997; Kellermanns, von Schlippe, Mähler u. Mähler, 2018). Es fällt schwer sich vorzustellen, wie sich etwa ein Unternehmen ohne diese Konflikte entwickeln sollte.
Doch sollten Konflikte auch nicht bagatellisiert werden. Wenn ein Konflikt erst einmal entstanden ist, kann sich die Dynamik leicht verselbstständigen, können die Auseinandersetzungen auf der Sachebene schnell umschlagen und statt »tasks« und »processes« rückt zunehmend die Beziehungsebene (»relationships«) in den Vordergrund. Es ist diese Art von Konflikten, die für das negative Image von Konflikten verantwortlich ist. Die Emotionen schlagen hoch und höher, die eskalierenden Verhaltensweisen der Akteure werden immer irrationaler (zumindest aus einer Außensicht), sie selbst glauben ja in der Regel, alles im Griff zu haben. Dabei sind sie schon lange nicht mehr Kapitäne ihrer Seele, sondern in einem Strudel von Teufelskreisen gefangen, wie es das diesem Kapitel vorangestellte Bateson-Zitat andeutet. Beleidigungen, Kränkungen bis hin zu physischen Angriffen beschädigen oft die Beziehung der Akteure nachhaltig, ob es sich um offen heiß ausgetragene oder verdeckte kalte Konflikte handelt (Glasl, 2014a, 2014b), der Schaden für die Beziehungen ist oft groß, soziale Systeme können auseinanderbrechen, man kündigt, lässt sich scheiden und vieles andere mehr.
Um diese Art von eskalierenden Konflikten soll es in diesem Buch vor allem gehen. Daher wird der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf dem Verständnis und der Handhabung der destruktiven Seite von Konflikten liegen. Das bedeutet, wie gesagt, nicht, dass Konflikte grundsätzlich als etwas Negatives anzusehen wären. Im Gegenteil: Je besser man die Eigendynamiken kennt und versteht, in die sich eine an sich wichtige, sachliche Auseinandersetzung hinein verirren kann, desto konstruktiver kann gestritten werden. »Die Schwierigkeit, das positive, konstruktive Potenzial von Konflikten zu nutzen, resultiert daraus, dass das negative, destruktive Potenzial so groß ist. Daher wird oft die Chance, die im Konflikt liegt, nicht genutzt, um das Risiko, das damit verbunden ist, zu vermeiden« (Simon, 2012, S. 36). Es muss daher um einen bewussten Umgang mit Konflikten gehen, ein reines »Vertragt euch!« ist keine Option. Consciousness raising im Sinne von Sensibilisierung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Konfliktdynamik ist die Aufgabe (Harvey u. Evans, 1994) oder, um es in Abwandlung eines Ausspruchs meines Kollegen und Freundes Jochen Schweitzer zu sagen: Die meisten Konflikte sind eine ungewollte Gemeinschaftsleistung und bedürfen zu ihrer Lösung oder Linderung einer gewollten Gemeinschaftsleistung.1
Genug der Vorrede, beginnen wir mit dem Moment, an dem deutlich wird: »Wir haben einen Konflikt!« Was »hat« man da eigentlich? Ein Konflikt ist ja keine Sache (wie Abbildung 1 nahelegt), kein Ding, das man vermessen könnte (obwohl man manchmal auch davon spricht, es sei ein großer, ein schwerer oder ein kleiner/leichter Konflikt, hat ihn noch nie jemand in Metern oder Kilogramm vermessen). Interessanterweise heißt es auch »wir haben«.2 Irgendwie haben zwei oder mehr dieses »Es« gemeinsam – manchmal antwortet der andere zwar, dass er das anders sehe: »Wir haben doch keinen Konflikt, vielleicht Meinungsverschiedenheiten!« Aha, es gibt also offenbar graduelle Abstufungen.
Doch, wie auch immer, wenn es sich um einen »richtigen Konflikt« (hm, was ist das jetzt schon wieder?) handelt, ist meist die letzte Gemeinsamkeit beider Parteien, dass sie sich darin einig sind, sich uneinig zu sein. Vielfach gibt es auch gar keinen expliziten Anfangspunkt, man schlittert so hinein, ein Wort gibt das andere und der Konflikt entsteht – aus dem Nichts ist er da. »Nein, nein«, sagt der eine, »nicht aus dem Nichts, wenn Sie wüssten, was sie da gemacht hat …!« – »Moment«, sagt die andere: »Glauben Sie ihm kein Wort, das ist doch gerade das Problem, dass er alles durcheinanderbringt. Er war es doch, der damit angefangen hat, und zwar war das so: …« – »Halt!«, unterbricht der andere wieder:3 »Genau das ist es doch, sie sieht einfach ihren Anteil an der Sache nicht! Wenn das so weitergeht, ist unsere Beziehung bald am Ende. Ich frage Sie im Ernst: Muss man sich das alles gefallen lassen?«
Abbildung 1: Ein »richtiger« Konflikt (Zeichnung: Björn von Schlippe)
Also, was ist ein Konflikt denn nun – sind wir schon weiter? Ein wenig schon: Es ist kein Ding, sondern ein Etwas und zwar ein Etwas von einiger Intensität (eben mehr als nur Meinungsverschiedenheit), das sich zwischen zwei oder mehr Personen abspielt und das offenbar darin besteht, dass den Aussagen des jeweils anderen widersprochen wird, zumindest werden sie eher negiert als bejaht, ein Muster also. In diesem Sinn sind Konflikte auch alltäglich auftretende Erscheinungen, meist so schnell bereinigt wie entstanden. Von Interesse sind für uns die Konflikte, die nicht einfach wieder verschwinden. Aber verschwinden kann ja nur etwas, das da ist. In welcher Weise ist denn ein Konflikt »da«? Man kann ihn ja nicht sehen, man hört vielleicht, wie sich zwei Menschen anschreien oder sarkastisch entwerten, sieht verschlossene Gesichter, zusammengezogene Augenbrauen, blaue Flecken gar und Schlimmeres, aber den Konflikt selbst sieht man nicht in der Weise, wie man ein Ding sehen kann. Man kann ihn als Betroffener an sich selbst erleben, man kann ihn als Beobachter atmosphärisch spüren und entsprechend benennen (»Oh, dicke Luft hier!«) oder ihn auch als dynamisches Muster beschreiben, vielleicht sogar verschiedene Stadien der Eskalation (vgl. Glasl, 2014b; siehe auch Kapitel 15) unterscheiden. In jedem Fall wird deutlich: Da haben zwei (oder mehr) sich ein merkwürdiges (und zugleich ein aus vielen Beispielen vertrautes) Kommunikationsgebäude gebaut, aus dem sie nicht mehr, zumindest nicht so einfach, wieder herauskommen. Die Form des Konflikts scheint in dem fortwährenden Widerspruch, einem dauerhaften Nein zu liegen, durch das sich das Kommunikationsmuster der Parteien, seien es Personen oder Gruppen, auszeichnet (Bonacker u. Imbusch, 2004, S. 196).
Zugleich scheint ein Konflikt (wohlgemerkt, der »relationship conflict«, bei dem die Sachebene mehr und mehr verschwindet) auch durch einen Prozess gekennzeichnet zu sein, in dem es vor allem eine Richtung gibt: Die Form der Widerspruchskommunikation ten-diert dazu, sich zu verschärfen. Von sachlichen Differenzen geht es zu Entwertungen und »Angriffen auf das Gesicht« des anderen über. Und damit geht es dann immer weniger um die Sache, denn jetzt ist das Selbstwertgefühl der Betroffenen angegriffen: Das Ich ist »im Belagerungszustand« (Pfab, 2020, S. 2). Generalisierende Aussagen, die mit »immer« oder »nie« beginnen, werden getätigt, und das geht weiter bis hin zu Handgreiflichkeit und Gewalt. Die Kommunikation wird zwar kontinuierlich fortgesetzt – wie in jedem anderen Kommunikationssystem auch – aber es gehen Spielräume verloren. Der Möglichkeitsraum der Parteien, sich zu verhalten, wird immer enger. Es gibt nur noch einige wenige Varianten, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, dem anderen ein Nein zu kommunizieren, also seine Kommunikationsangebote zu verwerfen. Kann man also sagen: Konflikt ist eine Dynamik der sich verschärfenden wechselseitigen Negation?
Ja, da ist was dran. Wie gesagt, einen Konflikt kann man nicht allein und nicht für sich allein haben. Nehmen wir an, der eine will im Urlaub an die See, die andere in die Berge (und sie wissen nicht, dass sie in Asturien in Nordspanien leicht beides zusammen haben könnten …). Solange beide diesen Wunsch für sich behalten, gibt es noch keinen Konflikt. Erst wenn der Wunsch in die Kommunikation kommt, besteht die Chance, dass sich ein Konfliktsystem bildet. Dazu braucht es den Widerspruch: »Berge?« – »Nein, See!« Okay, das allein ist noch kein Konflikt, es muss etwas dazukommen: Auf den kommunizierten Widerspruch muss wiederum mit einem Widerspruch geantwortet werden (Luhmann, 1984, 1996), es geht um die doppelte Verneinung: Das Nein wird negiert (Simon, 2012). Das Wort »Dynamik« weist bereits darauf hin, dass dieser Widerspruch nicht nur von dem einem kommt, sondern dass es ein System des Einander-Widersprechens ist: Ein Konflikt ist eine bestimmte Form der Abfolge von Kommunikationen, die darin besteht, dass eine Kommunikation mit einer Negation beantwortet wird und auf diese wieder eine Negation folgt. Diese Art des spiegelbildlichen Aufeinander-Reagierens wird als »symmetrisch« bezeichnet: Formal reagiert man gleich, beziehungsweise mit mehr desselben, also einer Eskalation,4 während das Einlenken komplementär genannt wird (Bateson, 1981; Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1969; mehr dazu im weiteren Verlauf des Kapitels).
Erst wenn eine Kette solcher symmetrisch aufeinander bezogener Negationen erkennbar ist, »hat« man einen Konflikt: »Ich würde dieses Jahr gern im Urlaub an die See fahren!« – »Oh nein, da waren wir so oft, ich möchte mal in die Berge!« Das allein reicht eben noch nicht – es ist wie beim Feuer: Das Streichholz ist angezündet, aber das allein genügt noch nicht, und auch wenn schon das Papier brennt, muss daraus kein großes Feuer entstehen. Noch liegt die Möglichkeit des komplementären Ausstiegs zum Greifen nah: »Na gut, dann machen wir es eben so, wie du willst!« oder: »Wie wäre es denn diesmal mit einer Städtereise?« Wenn dann aber das dünnere Holz erst einmal Feuer gefangen hat, haben auch die dicken Scheite eine Chance. Von dort bis zum Waldbrand ist es noch ein weiter Weg, aber es beginnt immer so, mit dem »Streichholz des ersten Widerspruchs« und der dann folgenden Negation der Negation und daraufhin deren Negation: »Ich will aber an die See!« – »Was soll das denn jetzt schon wieder? Immer willst du deinen Willen durchsetzen!« (aha, merken wir uns auch das: Ein Konflikt hat offenbar manchmal eine längere Vorgeschichte, alte Rechnungen werden mit hineingezogen: Es geht nicht nur um das Urlaubsziel, sondern darum, dass sich aus der Sicht des oder der einen offenbar immer der oder die andere durchsetzt und dass ihm oder ihr das stinkt) – »Du doch auch, jetzt tu doch bloß nicht so scheinheilig!« – »Ich sag dir eins: Ich fahre auf jeden Fall dieses Jahr nicht mit an die See, da kannst du dich auf den Kopf stellen!« – »Okay, wenn du mir so kommst, dann …« – »Nun werde doch nicht gleich wieder so aggressiv!« – »Ich b i n nicht aggressiv!« Man kann sich vorstellen, wie es weitergeht (meisterhaft etwa von Loriot beobachtet: »I c h s c h r e i e n i c h t !!!«).
Schon geraten wir – mehr oder weniger schnell – in gefährliches Fahrwasser: Die Positionen verhärten sich. Mit jeder Interaktion, bei der eine Kommunikation konflikthaft, also verneinend, abwehrend an die andere anschließt, verselbstständigt sich der Konflikt, gewinnt das entstehende Konfliktsystem an Einfluss: Ohne dass sie es merken, geben die Parteien ihre Kontrollfähigkeit ab und folgen dem Konfliktsystem, das sie – und das ist das Spannende an diesen selbstorganisierenden Dynamiken – ja erst selbst erzeugt haben. Man kann als Beobachter merken, wie immer wieder beide versuchen, die Dynamik zu steuern, den Konflikt zu deeskalieren: »Komm, lass uns doch vernünftig miteinander reden!« – aber das Muster lässt sich so einfach nicht auflösen, wie man schnell an der Antwort des anderen erkennt: »Klar, von mir aus! Dann hör doch endlich auf, immer solchen Blödsinn zu erzählen! An mir liegt’s jedenfalls nicht!«, und das Konfliktsystem ist wieder in der Spur.5 Nicht nur den Konfliktparteien, oft auch denen, die diese Muster beobachten, fehlt es oft an Bewusstsein für die Macht interpersoneller Dynamiken. Diese stoßen ihrerseits innerpsychische Prozesse an, die uns dazu bringen, aus vielen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten eine einzige bewusste »Realität« sozusagen (natürlich unbewusst) auszuwählen (Kriz, 2017b, S. 192 f.). Gerade von diesen soll in den späteren Kapiteln dieses Buchs ausführlich die Rede sein, denn sie sind es, die dazu beitragen, dass diese Muster so überstabil sind, sich also gegen Änderungen sperren. Bereits jetzt, obwohl wir erst in der Einführung sind, möchte ich der Versuchung nachgeben, eine Zeichnung zu zitieren, die das Verhältnis der einzelnen Elemente (die kleinen unteren Quadrate in der Abbildung 2) und dem System (das obere Viereck) beschreibt. Genauer: Es wird verdeutlicht, wie aus einzelnen kleinen Aktionen ein »Feld« oder auch ein System entstehen kann. Mir hat das Bild geholfen, das Phänomen der Selbstorganisation von Kommunikationssystemen im Allgemeinen und von Konfliktsystemen im Besonderen zu verstehen: Zwei Personen (oder, wie gesagt, Parteien, Gruppen oder Ähnliches, das werde ich nun nicht immer wiederholen) erzeugen aus ihren Interaktionen ein eigenes Kommunikationssystem (manchmal kann man in dem Zusammenhang auch scherzhaft sagen: »Ah, ich verstehe, Sie haben sich ›ein Haustier‹ zugelegt!«, um das Muster zu konfrontieren, das sie im Laufe ihrer Kommunikationsgeschichte erzeugt haben, siehe Kapitel 14). Wenn das erst einmal entstanden ist, und das ist das Interessante, beginnt es seinerseits die Interaktionen zu steuern, die Möglichkeiten der Beteiligten, sich zu verhalten, werden zunehmend begrenzt. Dies bringt Luhmann dazu, von einem »hochintegrierten Sozialsystem« zu sprechen, in dem die Möglichkeiten des Kommunizierens immer stärker eingeschränkt werden (Luhmann, 1996, S. 479).
Abbildung 2: Musterbildung als zirkulärer Prozess (Kriz, 2004, S. 32)
Die kleinen Quadrate kann man sich jetzt bei unserem Thema, wie gesagt, als die einzelnen Interaktionen vorstellen, all die Beispielsätze, die oben angeführt sind. Das große Feld, das darübersteht, ist aus diesen Interaktionen heraus entstanden (Pfeile von unten nach oben) und hat sich damit als Ordnungsparameter entwickelt. Und obwohl es erst die anfänglichen Interaktionen gewesen sind, durch die das ordnende Muster, das Bedeutungsfeld, entstanden ist, bestimmt nach einiger Zeit dieses Muster wiederum die Interaktionen (Pfeile von oben nach unten). Man kann sich das ähnlich vorstellen wie eine Melodie, die ja anfangs aus einzelnen Tönen gebildet wird, aber nachdem sie einmal entstanden ist, bestimmt, welche Töne passen und welche nicht. Die Melodie »regiert« die Töne, ein Satz »regiert« die Worte und ein einmal entstandener Konflikt »regiert« eben auch die folgenden Interaktionen (natürlich ist der Prozess wesentlich komplexer als bei der Melodie). Kriz führt ein einfaches, besonders illustratives Beispiel an: Wenn nach einem Konzert geklatscht wird, kann es passieren – jeder hat das schon erlebt –, dass auf einmal, aus dem Nichts heraus, sich das Gefüge aus Hunderten unorganisierter Klatschbewegungen verwandelt und ein rhythmisches Muster entsteht: Alle klatschen in einem gemeinsamen Rhythmus. Und obwohl der Rhythmus aus den Klatschbewegungen heraus entstanden ist, kontrolliert dieser nun seinerseits die Klatschbewegungen. Das Muster entsteht spontan, es löst sich auch schnell wieder auf (Kriz, 2017b, S. 107).
Wir kennen ähnliche Selbstorganisationsphänomene auch aus anderen Situationen, etwa an einem Wochenendseminar, am Anfang sucht man sich seinen Platz, nach der Pause setzt man sich wieder dorthin, aber nach dem Mittagessen sitzt dort ein anderer. Eine Irritation entsteht: »Hey, das ist ›mein‹ Platz!« – wie es weitergeht, mag jeder sich selbst überlegen, je nachdem, ob es ein gruppendynamisches oder wirtschaftswissenschaftliches Seminar ist … Der wichtige Punkt: Durch die Art, wie gehandelt wird, wie kommuniziert wird, entstehen Muster. Und diese wirken auf die Handlungen und Kommunikationen zurück. Dies ist weniger problematisch bei einfachen, flüchtigen Mustern in Interaktionssystemen, kann aber, wenn sich zwei Parteien gemeinsam in ein Konfliktsystem hineinkommunizieren, auch ziemlich dramatisch werden.
Durch ihre Interaktionen haben die Akteure nun ein Feld, ein sich zirkulär selbst verstärkendes Konfliktsystem erzeugt, das in eine Dynamik von zunehmender Eskalation führt.6 Man kann sich vorstellen, wie es weitergeht, wenn es keine Bremse gibt: Der eine hat ja bereits angedroht, gegebenenfalls allein an die See zu fahren, aus einem solchen getrennten Urlaub werden beide vermutlich keine netten Karten aneinander schreiben. So könnte man vielleicht am Ende schon die Trennung des Paares vermuten, also das Ende der Partnerschaft (die Liebe ist vielfach schon einige Zeit vorher auf der Strecke geblieben). Das wäre dann eine der möglichen Formen, mit der ein Konflikt endet: mit dem Auseinanderbrechen des sozialen Systems. Gregory Bateson prägte dafür den etwas schwer zugänglichen Begriff »Schismogenese«, also: Entstehung von Spaltung, von Trennung (Bateson, 1981, S. 107). Er unterschied dabei zwei Formen, wie man kommunikativ auf die Aussage/Position eines anderen reagieren kann: symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Grundlage der Beziehung zwischen den Akteuren auf dem Prinzip der Gleichheit oder dem der Unterschiedlichkeit aufgebaut ist.
Bateson stellte nun in seinen ethnologischen Forschungen, die er zusammen mit Margaret Mead an den Iatmul, einem Südseevolk, anstellte, fest, dass diese Völker sehr komplexe Regeln entwickelt hatten, um vor allem die Eskalation von Symmetrie zu regulieren. Als »symmetrisch« bezeichnete er, wie bereits erwähnt, eine Kommunikation, in der »Gleiches mit Gleichem« beantwortet wird, etwa die erwähnte Negationsspirale. In der Symmetrie »regiert« die Logik der Gleichheit: Gleiches wird mit Gleichem vergolten, mit der damit eingebauten Steigerungsdynamik, der Verschärfung und der Gefahr einer Explosion, falls keiner die Bremse zieht. Er fand auch ein zweites Muster, die Komplementarität, bei der deeskalierend reagiert wird (»Na gut … Ich gebe nach!«). Auch dieses kann potenziell in Spaltung münden: Manchmal werden dabei nämlich »Rabattmarken« geklebt, die irgendwann einmal präsentiert werden: »Jetzt reicht’s, immer soll ich nachgeben, du nie, jetzt ist Schluss!« Eine komplementäre Dynamik ist leiser, weniger auffallend, doch auch sie kann eskalieren, etwa indem der eine immer mehr fordert, der andere immer mehr gibt, bis einer zusammenbricht,7 oder sie schlägt plötzlich in hohe Symmetrie um, wenn es dem Nachgebenden endgültig reicht (man spricht hier auch von heißen und kalten Konfliktdynamiken, siehe Glasl, 2014a, 2014b). Daher sollte man auch bei sehr viel einseitiger Nachgiebigkeit durchaus auf der Hut sein (der Klügere gibt ja bekanntlich so lange nach, bis er der Dümmere ist …).
Für Bateson sind Symmetrie und Komplementarität die beiden möglichen Formen, die eine Interaktion annehmen kann (Nagel, 2021). Im Alltag können wir ein komplexes Wechselspiel von symmetrischen und komplementären Interaktionen beobachten. Meistens »spielen« beide Parteien intuitiv so auf der Klaviatur von Symmetrie und Komplementarität, dass destruktive Eskalation verhindert wird. Man gibt ein wenig nach, legt dann wieder zu und gibt wieder nach. Doch das Risiko, dass der Prozess durch irgendetwas entgleist, ist immer gegenwärtig. Problematisch ist nämlich die Einseitigkeit, also wenn ein System sich auf überwiegend symmetrische oder dauerhaft komplementäre Interaktionen festfährt. Glücklicher- weise sind Menschen meistens in der Lage, potenzielle Eskalationen zu begrenzen. Wir lernen zu verhandeln, zu streiten und uns zu vertragen, Kompromisse zu schließen (»Okay, dieses Jahr noch einmal an die See, aber im nächsten Jahr …«). Ohne Symmetrie würde es keine Änderung geben, würde man in »Fried-höflichkeit« (ein Begriff von Schulz-von Thun, 2014) erstarren, wäre es schwierig, zu einer gemeinsam ausgehandelten Entscheidung »an die Berge« – »an die See« zu kommen (ohne dass einer der beiden ein Rabattmarkenheft führt). Dieser Aspekt ist wichtig, weil Konflikte damit auch ein wenig entdämonisiert werden: Sie erfüllen eben auch eine Stabilisierungsfunktion für ein soziales System, denn ein System, das nur auf Konsens beruht, ist sehr verwundbar, wenn dann einmal doch ein Konflikt auftritt und nie gelernt wurde, mit kommunizierten Widersprüchen umzugehen. Zudem erfüllen sie eine Alarmierfunktion (Luhmann, 1984, S. 525), d. h. sie machen deutlich, dass die Bedingungen der Beziehung einer Neuaushandlung bedürfen.
Umgekehrt gilt aber auch: Ohne Komplementarität, ohne dass man sich (am besten mal der eine, mal die andere) aufeinander zu bewegt, würde man sich nicht einigen. Wenn sich im Konfliktsystem ein Modus festfährt, sind die Mitglieder des Sozialsystems gefährdet – leiser und depressiver in der starren Komplementarität, lauter und heißer in der eskalierenden Symmetrie eines Machtkampfs. Eine Dynamik der unbegrenzbaren Eskalation kann zerstörerisch werden, sie kann Menschen zu Mord und Totschlag verleiten, ihre Dynamik kann in Kriege führen (Simon, 2001). Daher spricht Luhmann auch von parasitären Sozialsystemen (später dazu mehr). Diese tendieren »zur Absorption des gastgebenden Systems durch den Konflikt in dem Maße, als alle Aufmerksamkeit und alle Ressourcen für den Konflikt beansprucht werden« (Luhmann, 1984, S. 525).
Es ist also wichtig, Konfliktdynamiken verstehen zu lernen, um sie zu begrenzen. Ja, meines Erachtens ist es einer der wichtigsten Schritte in der Konfliktberatung, dass beide Parteien sich bewusst werden, dass es in erster Linie darum geht, die Eskalation einzugrenzen. Das kann gelingen, wenn beide das gemeinsam erzeugte Konfliktsystem (das »Haustier«, das sie »gezüchtet« haben) als die eigentliche Herausforderung sehen können.8 Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde dieses Buch geschrieben: Wer die Mechanismen kennt, die Konfliktsysteme mit sich bringen, die oft aus Urzeiten stammenden, tief in uns angelegten Reaktionsmuster aus Zeiten, in denen es täglich ums Überleben ging, der kann sie auch bei sich selbst registrieren und ist ihnen nicht, zumindest nicht ganz so, unterworfen, als wenn er oder sie ihnen einfach nur unreflektiert folgt. Konfliktarbeit bedeutet damit auch, an der Erkenntnistheorie der beteiligten Personen zu arbeiten.9
Verschiedentlich hatte ich in früheren Texten Konfliktdynamiken mit einer Reise verglichen (siehe z. B. von Schlippe, 2019a), die verschiedenen Stationen folgt.10 Hier soll einmal zusammengefasst die Metapher des Karussells als Ausgangspunkt genommen werden: Der Einstieg in ein Konfliktsystem gleicht dem Besteigen eines Karussells. Wer nicht merkt, dass er eigentlich Karussell fährt, der denkt, dass er alles im Griff hat, dass (nur) er die Lage richtig einschätzt und das Feuerwehrauto in die richtige Richtung steuert (siehe Abbildung 3). Aber »Das Leben ist nicht so«, um das Bateson-Zitat zu Beginn des Textes aufzugreifen. Oft hält er nur das Lenkrad eines Karussellautos in der Hand, die eigentliche Dynamik spielt ganz woanders. Das Karussell dreht sich nach seiner eigenen Logik, und ein Teil des Problems ist, dass die- oder derjenige, der oder die dort fährt, der Illusion verfallen ist, die Dynamik im Griff zu haben. Und meist sitzen eben zwei oder mehrere auf dem Karussell, sie jagen hintereinander her in der Erwartung, den anderen einmal überholen zu können. In einem Bonmot von Fritz B. Simon heißt es, dass ein Konflikt weiterläuft, solange jeder der Beteiligten noch irgendwo die Hoffnung hat, den anderen zu besiegen. Es könnte auch andersherum sein: Man sitzt auf dem Karussell und schaut ständig nach hinten aus Angst, vom anderen überholt zu werden. Dann kämpft man darum, nicht zu verlieren, was manchmal die Dynamik noch verschärft. In beiden Fällen handelt es sich um quälende Karussellspiele. In diesem Sinn ist dieses Buch eine Einladung zu einer Karussellfahrt, mit dem Ziel, das Karussell und seine Stationen kennenzulernen. Auf jeder Station kann man abspringen, um einen Schritt in etwas Neues, etwas anderes hinein zu wagen – oder eben weiterfahren und sich von der Konfliktdynamik weiter vereinnahmen lassen.
Abbildung 3: Das Empörungskarussell (Zeichnung: Björn von Schlippe)
Als Quintessenz der bisherigen Überlegungen können wir festhalten, dass man sich Konflikte sinnvollerweise als soziale Phänomene des Dazwischen vorstellt, also als Prozesse, die sich zwischen zwei oder mehr Parteien abspielen und die aus ihren Interaktionen (und den damit verbundenen Gefühlen) heraus entstanden sind. Sie tendieren dazu, sich als solche Konfliktsysteme selbstständig zu machen, also die Dynamik der Interaktion immer stärker zu bestimmen. Dieses Dazwischen, dieses selbstgeschaffene »Haustier« zu behandeln, ist Aufgabe der Konfliktberatung. Der große Vorteil eines systemtheoretischen Blicks auf Konflikte ist, dass er uns hilft, uns von der Idee zu lösen, der Konflikt würde irgendwo »in« der Person und ihren Fehlern liegen und es stünde in seiner oder ihrer Macht, ihn zu beenden (meist liegen ja ohnehin die Ideen, wer derjenige wäre, der sich ändern müsste, wie erwähnt, weit auseinander). In der Theorie sozialer Systeme wird davon ausgegangen, dass ein soziales System nicht aus Menschen besteht, sondern aus der Art und Weise, wie eine Kommunikation an die andere anschließt (Luhmann, 1984). Das gilt für jedes Kommunikationssystem (mehr dazu in Kapitel 4.4), nicht nur für Konflikte. Es entstehen Muster, die aber in der Regel genügend Spielräume für vielfältige unterschiedliche Anschlüsse erlauben. Im Fall eines hochintegrierten Konfliktsystems wird dagegen die Möglichkeit der Anschlüsse drastisch verringert: Man kann eigentlich, solange man sich in der Systemlogik des Konflikts bewegt, nur immer weiter eskalieren. Als Beraterin oder Berater erlebt man manchmal unmittelbar mit, wie verzweifelt die Akteurinnen und Akteure das entstandene System versuchen zu steuern – und immer wieder erleben, dass sich Kommunikation nicht einseitig steuern lässt, ja, dass auch die Klärungs-, Vermittlungs- oder Versöhnungsversuche oft scheitern (etwa am oben beschriebenen »feindseligen Wahrnehmungsfehler«), wie der folgende Cartoon zeigt (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: Der Wahnsinn (Zeichnung: Björn von Schlippe)
Eskalationen können eben als »unintendierte Handlungsfolgen« (Merton, zit. nach Ortmann, 2003, S. 13) auch aus den missglückenden Versuchen entstehen, einen Konflikt zu lösen. Der Vorteil dieses Verständnisses von (sozialen) Konflikten ist, dass es nicht in erster Linie nötig ist, auf Anlässe und spezifische Konfliktinhalte zu schauen oder mögliche Motive der jeweiligen Kontrahenten zu analysieren. Das mag helfen, in der Beratung zu versuchen, das Muster zu verstehen und sich nicht zu sehr von den jeweiligen Themen ablenken zu lassen. Konflikt ist die Form der sich selbstorganisiert fortsetzenden Negation der Negation, die den Konflikt ausmacht, und mit ihrer Unterbrechung/Beendigung endet auch der Konflikt. (Vorsicht, das klingt jetzt einfacher, als es ist!)11
Schauen wir uns zum Abschluss dieses Abschnittes mit diesen Überlegungen im Hinterkopf drei verschiedene systemische Definitionen aus der Literatur an:
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