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Anno Domini 1560. Der junge Otto von Gemmingen ist die Hoffnung seiner verarmten Familie. Ein Studium in Bologna soll der Beginn einer großen Karriere in der katholischen Kirche werden. Doch Otto erfährt durch seine neuen Freunde schon bald Dinge, die seinen Glauben auf eine harte Probe stellen. Gleichzeitig sucht die junge Anna im schwäbischen Leeder ihr Glück, wo die protestantischen Rehlinger mit dem schlesischen Prediger Caspar von Schwenckfeld sympathisieren. Noch ahnen Otto und Anna nicht, auf welch dramatische Weise das Schicksal sie verbinden wird.
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Seitenzahl: 450
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Richard Rost
Das Ketzerdorf – Der Aufstieg des Inquisitors
Historischer Roman aus der Zeit der Reformation
S. 19: Text »Freut euch des Herrn …« und S. 24: © EVERS, UTE: Das geistliche Lied der Schwenckfelder. (Tutzing, Schneider-Verlag 2007)
S. 83: Text und Übersetzung des »Sub tuum praesidium« stammen aus dem Osservatore Romano (Oktober 2018). Mit freundlicher Genehmigung des Schwabenverlags.
S. 96-97: Briefauszug und Gebet Caspar Schwenckfelds zitiert nach: Eberlein, Paul Gerhard »Caspar von Schwenckfeld, der schlesische Reformator und seine Botschaft« (Metzingen, Ernst Franz Verlag, 1998)
Alle Angaben beziehen sich auf die Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe.
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© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rafael_-_Retrato_de_um_Cardeal.jpg
und © Nielen de Klerk / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-6708-0
Piae gratias
Die Charaktere und Ereignisse dieses Romans sind fiktiv; Inquisition und »Hexen«-Verfolgung verbreiteten jedoch tatsächlich Schrecken und Leiden über Jahrhunderte, Kontinente und Weltanschauungen hinweg. Die historische Forschung zeigt, dass bislang wenige selbstkritische Stimmen bekannt sind. Bei den Dominikanern haben die Klostergemeinschaften Norddeutschlands im Jahr 2000 innerhalb ihrer Ordensprovinz klar Stellung bezogen für ihre Gegenwart und Zukunft:
»Deutsche Dominikaner waren nicht nur in die Inquisition verstrickt, sondern haben sich aktiv und umfangreich an ihr beteiligt. Historisch gesichert ist die Mitwirkung an bischöflichen Inquisitionen und an der römischen Inquisition. Unabhängig von den vielleicht manchmal nachvollziehbaren historischen Gründen für die Mitwirkung erkennen wir heute die verheerenden Folgen dieses Tuns unserer Brüder. Wir empfinden dies als ein dunkles und bedrückendes Kapitel unserer Geschichte. Dies gilt in gleicher Weise für die nachgewiesene Beteiligung des deutschen Dominikaners Heinrich Institoris an der Hexenverfolgung. Durch das Verfassen des ›Hexenhammers‹ unterstützte und förderte er die menschenverachtende Praxis der Hexenverfolgung. Folter, Verstümmelung und Tötung haben unendliches Leid über zahllose Menschen gebracht; deutsche Dominikaner haben dazu, neben anderen, die Voraussetzung geschaffen. Die Geschichte dieser Opfer – namenlos und vergessen – können wir nicht ungeschehen machen. Wiedergutmachung ist unmöglich. Uns bleibt die Verpflichtung zur Erinnerung.
Wir wissen, dass der Geist von Inquisition und Hexenverfolgung – Diskriminierung, Ausgrenzung und Vernichtung Andersdenkender – auch heute latent oder offen in Kirche und Gesellschaft, unter Christen und Nicht-Christen lebendig ist. Dem entgegenzutreten und sich für eine umfassende Respektierung der Rechte aller Menschen einzusetzen, ist unsere Verpflichtung, die wir Dominikaner den Opfern von Inquisition und Hexenverfolgung schulden. Das Provinzkapitel fordert alle Brüder unserer Provinz auf, unsere dominikanische Beteiligung an Inquisition und Hexenverfolgung zum Thema in Predigt und Verkündigung zu machen.«
*
Für alle, die trotzdem glauben
Caspar Schwenckfeld von Ossig*: Prediger, Reformator, Verfolgter
Johann Otto von Gemmingen*: Student, Kanoniker in Augsburg, Vikar
Erminio vom Berg : Dominikaner, Kardinalpriester, Inquisitor
Georg Mayer alias Agricola*: Prädikant, Streiter für Schwenckfeld
Anna Dorn*: Vollwaise, später in Leeder verheiratet
Agatha Streicher*: berühmte Ärztin in Ulm, Schwenckfelderin
Jacobus Rehlinger*: Augsburger Patrizier und Herr über Leeder
Emanuel Rehlinger*: sein Sohn, erbt das Gut
Raymund Rehlinger*: Pfaffenkind mit roten Haaren
Helena Rehlinger*: seine »Zwillingsschwester«
Karl: Kutscher der Rehlinger, weiß viel
Hieronymus Rehlinger*: Emanuels Onkel, Tuchhändler
Jakob III. Fugger, genannt Giacomo*: Student, Sohn Anton Fuggers
Oktavian Honold von Emmenhausen: Student, späterer Medicus, nie um eine Idee verlegen
Heinrich Lauber, genannt Rico: Student, Hitzkopf, Söldner mit Rachegelüsten
Ambrogio und sein Weib und Moglie : italienischer Bauer
Mona, Giovanna, Bella, Paola: Bademägde in katholischen Diensten
Francesco: Kastrat, dem das Singen vergangen ist
Don Alfonso: Oberhaupt einer fahrenden Gauklerfamilie
Ugo Boncompagni*: Professor, später Papst Gregor XIII.
Michele Ghislieri* : Dominikaner, Großinquisitor, Papst Pius V., Heiliger
Tiziana di Santa Fiora, auch Santafiora: Kurtisane, bei Geistlichen sehr beliebt
Paschalis: Kind der Kirche, hört alles und sagt nichts
Luigi Cornaro*: Kardinal, Camerlengo des Papstes, lüstern
Alessandro, genannt Ultimo: Zuhälter und Kardinalsanwärter
Dominikus Engelschalk*: Pfarrer, lebt zölibatär
Keggelbauer und sein Weib*
Huetter, Theo, Linder, Mesnerin, Hefflerin, Schmelzerin, Halblützerin: Marianische, beten viel und denken schlecht
Totengräber der Rehlinger: verkannter Philosoph, konfessionslos
Els von Ettringen*: angesehene Wahrsagerin und Kräuterkundige, keine Hexe
Gerhild Maierin: reiche Witwe, Opfer einer Intrige, hat das zweite Gesicht
Balthasar von Hornstein*: Hofrat, Hofmarschall
Christoph von Biberach*: Nachrichter, Henker, selbstkritisch
Gottl Blärsch: Wirt im »Raben« zu Kempten, skrupellos
Mit einem * gekennzeichnet sind historische Personen, deren Lebensläufe teilweise verwendet wurden. Alle anderen Personen sind frei erfunden und wurden nach bestem Wissen in den historischen Kontext eingearbeitet.
Ulm, Unterstadt, am Vorabend zu Maria Magdalena1 1534
Tok … totok … totok, da war es wieder: das Klopfzeichen. Nino zuckte zusammen, obwohl es heute schon zum dritten Mal an die Tür pochte – er musste sich schnell in der Holztruhe verstecken, die dem Bett gegenüberstand. Als er nach dem Deckel griff, merkte er, dass er das Wichtigste für die nächste halbe Stunde vergessen hatte. Er rannte zum Bett zurück, langte unter das Kopfkissen und holte ein rotes Tuch hervor. Sofort war er wieder an der Truhe, hob den Deckel, sprang hinein und ließ ihn zufallen.
»Wenn du da drin nicht mucksmäuschenstill bist, setzt es Schläge«, hatte Mama gedroht. Nino presste sich das rote Tuch vor den Mund, um ja keinen Laut von sich zu geben. Die Truhe war gerade so lang, dass er sich hinlegen konnte.
Irgendwann hatte er aufgehört, durch die Luftlöcher das immer gleiche Schauspiel zu beobachten: Mama kam mit einem fremden Mann herein. Der Mann legte ein Geldstück auf den Tisch. Mama hob ihre Röcke und ließ sich darunter anfassen. Es machte ihr Spaß, denn sie lachte. Auch der Mann lachte und stöhnte. Dann ließ er die Hosen herunter und sie legten sich auf das Bett. Was dort passierte, konnte er durch die Luftlöcher nicht sehen. Er hörte jedoch ihre Laute. Die Schreie von Mama fand er jedes Mal widerwärtig.
Vater hätte das sicher nicht erlaubt. Der war Richter und kämpfte gegen das Böse und Schlechte. Aber Vater war seit seinem fünften Geburtstag verschwunden und hatte ihn und Mama zurückgelassen. Zuerst hatte seine Mutter geglaubt, dass er nur auf Reisen sei, doch er war bis heute nicht zurückgekommen. Seine Mutter erzählte überall, dass er ermordet worden sei, vielleicht von einem der üblen Burschen, die er in den Kerker gebracht hatte. Sie hatten jedenfalls die schöne große Wohnung am Münsterplatz verlassen müssen und lebten nun in diesem kleinen Dachzimmer im Gerberviertel, wo es im Winter bitterkalt war. Jetzt, im Sommer, war es unausstehlich heiß. Die toten Tierhäute an der Blau mussten trocknen, sie stanken so übel, dass man kaum atmen konnte. An so schwülen Tagen wie heute dachte Nino nur daran, schnell wieder aus der Kiste zu kommen.
»Oh, Wiga!« Der Ausruf holte ihn abrupt aus seinen Gedanken. Nie zuvor hatte er von irgendeinem der Männer den Namen seiner Mutter gehört. Das war kein Fremder. Diese Stimme kannte er. Schnell lugte er durch die Luftlöcher.
Das war der Pfarrer, der immer so lange von der Kanzel sprach und bei dem Mama jede Woche in dem großen Wandschrank kniete, um ihm ihre Sünden zu beichten. Nun stand dieser Mann nackt hier im Zimmer, war freundlich und zärtlich zu ihr – und sie zu ihm. Seine Mutter zog sich langsam aus und fiel diesem Mann um den Hals. Das hatte sie früher nur bei Vater gemacht. Der Mann legte auch kein Geldstück auf den Tisch, sondern schenkte ihr ein kleines Kästchen, über das sie sich offenbar sehr freute. Was anschließend im Bett passierte, das Nino normalerweise mit seiner Mutter teilte, konnte er wieder nicht sehen. Zuerst hörte er Stöhnen, dann lange Zeit Stille und schließlich die Stimme, die er von der Kanzel kannte: »Martinus, ich danke dir!«
»Wen meinst du?«
»Meinen werten Herrn Collega aus Wittenberg.«
»Erklär dich deutlicher.«
»Dem Luther hab ich recht eigentlich die Freuden mit dir zu verdanken. Denk nach, Wiga. Ohne den großen Reformator wäre dein Mann nie Protestant geworden, dich hätte dein unkeuscher Broterwerb nie in meinen Beichtstuhl getrieben, und ich wäre nie in deinem Bett zu solchen Freuden gekommen.«
»Aber dass jetzt die heilige Messe in Ulm verboten ist, kümmert dich wohl überhaupt nicht, Mann Gottes?«, fragte seine Mutter und lachte.
»Dein warmer Leib ist mir lieber.«
»Sacrilegium!«
»Nicht unter diesen gottlosen Umständen! Lass uns diesen ruchlosen Ort verlassen, wo Calvinisten, Lutheraner und Schwenckfelder die Luft verpesten. Komm mit mir dahin, wo uns niemand kennt und die Leute noch den wahren Glauben leben. Keine Einwände! Ich richte dir in der Nähe meiner neuen Gemeinde eine Unterkunft ein. Du wirst dieses Loch schnell vergessen.«
»Aber ich bin eine verheiratete Frau, Herr Pfarrer!«
»Erstens ist dein Mann Protestant geworden, eine solche Ehe kann man gar nicht brechen, weil dieses Sakrament nicht mehr gültig ist. Und zweitens ist der schöne Herr Richter mit einer Lutherischen gesehen worden. Von dem hast du nichts zu erwarten.«
Nach einer Pause flüsterte er: »Und was ist mit …?« Seine Stimme war kaum hörbar.
Nino wusste sofort, dass es um ihn ging.
»Er ist bei einer Nachbarin«, log seine Mutter.
Am liebsten hätte er gegen die Truhe geschlagen. Wenn er log, setzte es Hiebe.
»Für die Frucht deines Leibes wird die Mutter Kirche sorgen. Wenn du ihn wirklich loswerden willst, dann steht ihm eine glänzende Zukunft bevor.«
»Ich verstehe nicht.«
»Wenn du dich mir ganz und gar anvertraust, sorge ich dafür, dass er in strenger Zucht zu einem keuschen Mitglied der katholischen Kirche erzogen wird. Du kannst Gott kein größeres Geschenk machen als deinen Sohn. Das wäre der Ablass für all deine Sünden, meine Schöne! Die du bereits begangen hast und die da hoffentlich noch kommen werden!« Er lachte und erhob sich.
»Aber er ist doch noch so klein!«
»Er muss weg, je schneller, desto besser!«
Stämmige Beine näherten sich der Truhe. Nino presste sich ängstlich auf den Boden. Der Deckel ächzte unter dem Gewicht des Pfarrers und in Ninos Ohren dröhnte es, als der Mann mit der Faust auf die Truhe schlug und ein weiteres Lachen ausstieß.
»Ein Kind zu Gottes Ehren und unserer Lust! Am Ende bringt dein Balg es vielleicht sogar noch zum Bischof oder Kardinal und ich beichte ihm mein eigenes unkeusches Leben. Ist das nicht eine herrliche, eine geradezu göttliche Schnurrpfeiferei?«
Im nächsten Moment war der Pfarrer zurück im Bett. Das Stöhnen drang nicht durch Ninos Gedanken, die immer quälender wurden:
Warum? Warum, Mutter? Er war doch ganz still geblieben, hatte sich nicht gerührt. Sie wollte ihn nicht mehr bei sich haben. Er war doch immer lieb zu ihr gewesen, hatte sich ganz klein gemacht. Er hatte nichts falsch gemacht und sie trotzdem verloren. Es hatte keinen Sinn, lieb zu sein. Mama würde mit dem Mann von der Kanzel gehen und ihn alleinlassen – so wie sein Vater. Er nahm das rote Tuch, vergrub sein Gesicht darin; alles in ihm und um ihn wurde finster.
*
Ulm, Oberstadt, 21. Juli 1534
Tok … totok … totok, der schwere Eisenring mit der Schlange des Asklepios schlug auf die Metallplatte. Georg stand vor Taddäus Streichers Haus und wartete. Klopfzeichen und Losungswort hatte ihm ein Kommilitone anvertraut. Die Sonne war bereits hinter dem Münster verschwunden und die Straßen Ulms leerten sich allmählich.
Was für ein kluges Versteck sich diese Schwenckfelder gewählt haben, dachte er und lächelte. Das Haus eines Arztes können einzelne, ja sogar kleine Gruppen von Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit unauffällig aufsuchen.
Ganz wohl war ihm nicht beim Gedanken an die bevorstehende Zusammenkunft, schließlich gehörte er nicht zu den Anhängern dieser Gemeinschaft. Vielleicht würden sie ihn als Katholiken gar nicht einlassen? Andererseits würde er nur dann Antworten auf das erhalten, was ihn innerlich seit Langem umtrieb, wenn er neue Wege ging.
Solange er denken konnte, hatte er einen Riss gefühlt. Erst in der eigenen Familie, später in seiner Gemeinde, und je mehr er seinen Horizont erweiterte, desto tiefer und schmerzlicher empfand er ihn. Er konnte und wollte sich nicht damit abfinden, dass Menschen, die sich auf Christus beriefen, sich um Gottes willen bekriegten. Der absurde Wahnsinn darin hatte ihn schwindlig gemacht, als sein damals kindlicher Geist sich um diesen Punkt gedreht hatte. Die eigentliche Botschaft der Bibel war zur Nebensächlichkeit geraten. Georg kannte die Worte Jesu und die Forderung, ein Friedensreich zu bauen: Und dieses Friedensreich muss zuerst im Inneren der Menschen Gestalt annehmen, bevor es auch im Äußeren wächst. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.
Das, was Georg von den Kanzeln entgegengeschleudert wurde, waren nicht die Worte Jesu, sondern Angriffe und gegenseitige Schuldzuweisungen der Vertreter beider Kirchen. Wenn er für sich die Worte Jesu las, fühlte er sich Gott nahe, doch andere wollten sich als Vermittler zwischen ihn und den Herrn schieben. Warum sollte ein Mensch nicht selbst mit seinem Schöpfer in Kontakt treten können? Protestanten kämen ohne diese Vermittler aus, jedenfalls hatte man ihm das erzählt. Aber er wollte sich selbst ein Bild machen.
Was hatte er nicht alles auf sich genommen, um die berühmtesten Prediger des Landes zu hören, in Augsburg Michael Cellarius und in Mainz den Domprediger Johann Wild. Beide hatten ihn enttäuscht, denn eines war ihnen gemeinsam: Sie waren Eiferer, die neben sich nichts gelten ließen. Der Katholik verdammte jede Meinung, die nur um Haaresbreite von den Dogmen abwich, gab Juden, Türken und Hexen die Schuld am Zerfall der Kirche, und der Protestant rief dazu auf, Bauern abzuschlachten, die sich mit Bezug auf das Evangelium aus der Leibeigenschaft befreien wollten. Wo wurde denn Jesu Wort tagtäglich gelebt? In den Klöstern? Im Vatikan? Um Gottes willen! Fast hätte er laut gelacht, dass er sich über die Eiferer ereiferte.
Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen! Ja, der Glaube, es ging nicht mehr um den Glauben, sondern um die Macht und den Anspruch, den einzig wahren Glauben zu besitzen.
Irgendwann hatte er von ihm gehört, diesem Schwenckfelder. Man sagte ihm nach, er ziehe wie Jesus ohne Besitz durch die Lande, wohne bei Freunden und berufe sich ausschließlich auf das Evangelium. Als Georg ihm nachforschen wollte, hatte er wenig über den schlesischen Prediger erfahren können, schon gar nichts Geschriebenes, obwohl ihm mit seinen fünfzehn Jahren endlich der Weg zu einem Studium offenstand und er Zugang zu Bibliotheken hatte. Erst in einem vertraulichen Gespräch hatte ihm ein Kommilitone den Weg zu dieser Tür gewiesen. Hinter der regte sich aber nichts. Vielleicht hatte man sein Klopfen nicht gehört. Er nahm den Eisenring und schlug ihn noch einmal auf das Metall.
Die Tür wurde diesmal einen Spaltbreit geöffnet. »Wach auf, mein Seel!«, meldete sich eine freundliche Stimme.
Nach einigen Augenblicken begriff er, dass seine Antwort erwartet wurde. »Lobpreise – nein – lobsinge seinen Namen! Ich bin Georg Mayer und möchte zum Meister vorgelassen werden.«
»Na, dann kommt herein, aber seid leise. Der Meister spricht bereits.« Eine junge Bedienstete öffnete ihm die Tür.
Ehrfürchtig betrat Georg das Haus des berühmten Arztes. Das Mädchen führte ihn durch etliche Gänge und über mehrere Treppen hinunter ins Kellergeschoss. Modriger Geruch zog ihm in die Nase, und er verdrängte das aufkommende Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun.
Kurz darauf blieben sie vor einem schweren Vorhang stehen und er hörte zum ersten Mal die Stimme: durchdringend und gleichzeitig sanftmütig. Wie in einen unsichtbaren Sog geraten, wollte er nur noch den Menschen sehen, der so viel Wohlklang verbreitete.
Die Bedienstete legte den Zeigefinger auf ihren Mund und schob den Vorhang zurück. Alles, was Georg sah, war eine dichte Menschentraube, die den Prediger umgab wie ein Bienenvolk seine Königin.
»… Brüder und Schwestern im Herrn! Tragt das Reich Gottes in eurem Herzen und nicht vor euch her. Liturgie, Feierlichkeit, Messgewänder und Posaunenblasen von den Türmen mögen eure Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen, aber auch die Liebe zu eurem Nächsten? Gottesliebe ist Nächstenliebe. Jesus spricht die Menschen an, wie sie sind: in ihrer Armut, ihrem Hunger, ihrer Trauer, ihrer Verfolgung. Und in Matthäus fünfundzwanzig hat er uns erklärt, was das heißt: Wer zu mir gehören will, der muss den Hunger bekämpfen, den Menschen zu trinken geben, den Obdachlosen eine Wohnung, Flüchtende aufnehmen, den Frierenden Kleider geben, Kranke pflegen und Gefangene besuchen. Vier Kirchen: Die päpstische, die lutherische, die zwinglische und die täuferische verfluchen sich untereinander, im Streit, welche nun die wahre Kirche Christi sei. Wir aber wollen niemanden verdammen und mit Petrus antworten, dass Gott die Person nicht ansieht, sondern wer ihn fürchtet und ihm gehorcht, der ist ihm angenehm. Vor Gott werden diejenigen nicht ausgeschlossen und nicht verdammt sein, die im Gehorsam mit Christus leben und ihm nachfolgen. Wir haben hier keine bleibende Statt, darum lasst uns die zukünftige suchen. Jesus hat auf Plätzen, im Kreise seiner Freunde und auf dem Berg gepredigt: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen.«
Georg hörte gebannt die Worte und es schien ihm, dass die Anwesenheit dieses Mannes den Saal in einen Ort der Erleuchtung, des Friedens und der Zuversicht verwandelte. Endlich ging es nicht um das Verdammen Andersdenkender. Ein Mensch, der wie Jesus die Liebe und den Frieden predigt und deshalb von der Amtskirche als gefährlich erachtet und verfolgt wird. Georg war so in seinen Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie jemand ein Lied anstimmte.
»Freut euch des Herrn, ihr Christen all!
Ihr Frommen sollt Gott preisen
Ein neues Lied lasset erschall’n,
dankt ihm alle Weisen.
Von ganzem Herzen, ganzer Seel;
Preist ihn und macht der Freuden viel,
zu Lob und Ruhm dem Herrn.«
Die Schwenckfelder sangen voller Inbrunst.
Dass die Gemeinde sang, dazu noch auf Deutsch, war Georg völlig fremd. In seiner katholischen Kirche war die Gemeinde nur Zuschauer, Priester und Mönche sangen und zelebrierten. Aber wie doch ein gemeinsam gesungenes Lied in der Lage war, eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, ergriff Georg in seinem Innersten.
Aufgeregte Stimmen vor einer Tür, die anscheinend einen weiteren Zugang zu dem Haus gewährte, holten ihn aus seiner Einkehr.
»Sie haben unseren Freund Melchior ins Gefängnis geworfen, sie machen Ernst, bald sind wir alle an der Reihe!«, rief ein völlig aufgelöster junger Mann und drängte sich an Georg vorbei durch die verstörte Menge.
»Lasst ihn durch!«
»Es ist einer von uns.«
»Der Himmel steh uns bei!«
Die Unruhe unter den Schwenckfeldern wurde größer und die Leute riefen wild durcheinander. Durch die Gasse, die sich um den Jungen gebildet hatte, sah Georg den Prediger zum ersten Mal. Er saß vollkommen ruhig da, in ein einfaches Gewand gekleidet, eher klein von Gestalt, mit einem Bart, der ihm bis an die Brust reichte. Caspar Schwenckfeld erhob sich, winkte den Jungen zu sich und streckte ihm die Arme entgegen. Als dieser die dargereichte Hand Caspars nahm, ging ein Aufschrei durch die Menge: Man hatte seine Finger zerquetscht, blutige Fetzen hingen herunter.
»Sie haben Melchior und mich gefoltert, seht meine Hände an! Meister, verzeiht mir, ich bin schwach geworden! Ich habe alles gestanden und Euch verraten. Es kann nicht lange dauern und sie stehen auch vor dieser Tür. Ihr müsst fliehen«, schluchzte der Junge.
Ein Tuscheln ging durch den Raum, aber scheinbar breitete sich keine Angst unter den Leuten aus. Georg bewunderte die Gelassenheit der Schwenckfelder.
»Bringt heißes Wasser, Wundsalbe und Binden!«, rief jemand, anscheinend war es der Hausherr.
Georg beobachtete, wie sich der Junge vor Caspar kniete und dieser ihm über das Haupt strich.
»Simon Petrus hat unseren Herrn dreimal verleugnet«, verkündete er unbeirrt. »Und trotzdem hat Jesus ihm den Auftrag erteilt: Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam!2Petrus bleibt auch als Sünder der Fels der Kirche. Gott richtet nicht über ihn, obwohl er ihm das Bekenntnis verweigert hat. Simul iustus et peccator!3 Du hast keine Schuld auf dich geladen. Geh hin in Frieden und verkünde in Zukunft deinen Glauben. Mein Freund Taddäus wird deine Wunden behandeln!« Caspar Schwenckfeld segnete den Jungen, streifte sich das schlichte Holzkreuz über den Kopf und hängte es ihm um. Dann führte eine Bedienstete des Arztes den Jungen hinaus. »Möge Melchior standhaft bleiben im Glauben und Zeugnis ablegen, der Herr wird es ihm lohnen.«
»Gott stehe ihm bei!«
»Der Herr möge ihn befreien!«
»Gott segne ihn«, murmelte die Gemeinde durcheinander.
»Habt keine Angst vor den Menschen, die euch nach dem irdischen Leben trachten«, nahm Caspar erneut das Wort, als gäbe es keine Gefahr. »Bereitet euch auf das himmlische Leben vor, das in Ewigkeit währt. Wehret hingegen dem Bösen, das euer Seelenheil gefährdet. Geht in eure Häuser und lebt den Geist Gottes in eurem Inneren. Legt Zeugnis ab und verbreitet euren Glauben weiter an eure Kinder und Kindeskinder. Gehet, ihr seid entlassen. Amen.«
Georg war sich sicher, dass nur ein heiliger Mann so über den irdischen Dingen stehen konnte, wie Caspar Schwenckfeld es vermochte.
Schnell war der Prediger wieder von seinen Anhängern umringt und schüttelte die vielen Hände.
»Ich möchte auch den Propheten anschauen«, flüsterte ein kleines Mädchen mit langen blonden Zöpfen, zerrte an Georgs Wams und sah ihn flehend mit großen Kinderaugen an. »Kannst du mich nicht ein wenig hochheben, damit ich auch etwas sehe?«
»Na, dann komm!« Georg nahm die Kleine auf seine Schultern.
»Bist du ganz allein hier? Wie heißt du denn?«, fragte er, während sie sich an seinem Kopf festhielt.
»Ich bin Agatha, mein Vater ist ein Medicus und das ist unser Haus.«
»Dann bist du eine Streicherin und dein Vater Taddäus Streicher?«
»So ist es. Und wer bist du?«
»Ich bin Georg Mayer, Student und …« Weiter kam Georg nicht, denn die Kleine strampelte aufgeregt mit den Beinen gegen seine Brust.
»Lass mich schnell runter, der Prophet kommt und ich muss ihm die Hand geben, hat meine Mutter gesagt!« Die Kleine lief davon und er verlor sie aus den Augen. Georg wusste nicht, wie ihm geschah, plötzlich kam Caspar Schwenckfeld auf ihn zu, blieb direkt vor ihm stehen und sah ihn an. Er hatte nur zuhören wollen, jetzt fühlte er sich wie ein ertappter Eindringling. Doch in dem Moment, in dem ihn der Blick dieser gütigen und sanften Augen traf, wich das Gefühl von ihm und Georg war überwältigt. Die Zeit schien stillzustehen. Der Meister legte ihm seinen Arm auf die Schulter.
»Du bist auf der Suche«, sprach er, als könne er in Georgs Innerstes blicken. »Nur wer zweifelt, kann Gott wirklich nahekommen, denn der Weg zu ihm ist steinig und unwegsam.« Nun sah er Georg direkt in die Augen. »So sehr liebst du Gott? Du bist ohne Furcht und reinen Herzens, also hilf mir, mein Feld zu bestellen. Tu es Theophilus et Agricola.4« Ein Lächeln glitt über die Wangen Caspar Schwenckfelds.
Georg stand wie angewurzelt da, konnte nichts antworten. Eine Erleuchtung war über ihn gekommen. Er nahm gar nicht mehr wahr, wie er mit den anderen die steile Treppe hinaufging. Erst als er wieder hinaus in die abendliche Kühle trat, entglitt ihm ein tiefer Seufzer und er flüsterte: »Aber sprich nur ein Wort, und so wird meine Seele gesund!«Gott meint es ernst mit mir. Er hat mich zu diesem Prediger geführt. Jetzt gehöre ich innerlich zu ihm, wie all die anderen Zweifler, die vom Wittenberger Enttäuschten, die der Päpstlichen und deren Gefolgschaft Überdrüssigen sowie die Unschlüssigen und die religiös Heimatlosen. Aber wo wird meine Heimat sein?
Wache auff/ Meine
Seele/ klinge vnd ſchal-
le Muſica vnd Seiten Spiel/
Frühe wil ich auffwachen/ Deß
Herren Namen rühmen/ Vnd
des Abends wil ich frölich ſein.
Gott/ ich wil dir dancken vnter
den Völckern/ Jch wil dir Lob-
ſingen vnter den Leuten. Denn
deine Gütte erſtrecket ſich/ ſo
weit der Himmel iſt/ vnd deine
Warheit/ ſo weit die Wolcken
gehen. Der Herr hat groſſe
Ding an mir gethan/ der da
mächtig iſt/ vnd deß Nahme heylig iſt.
Aus »Gebete Caspar Schwenckfelds«
1 22. Juli
2 Du bist Petrus (der Fels), und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen!
3 Zugleich gerecht und Sünder!
4 Du bist Theophilus (ein Gottliebender) und Agricola (der Feldbesteller).
Kempten, drei Tage vor Sankt Josef5 1557
»Schaut, dass ihr heimkommt, versoffenes Pack!«
Anna Dorn schlug energisch die Tür zu und strich sich die schweißverklebten Strähnen aus dem Gesicht. Nachdem sie die letzten betrunkenen Gäste aus der Wirtsstube des »Raben« ins Freie verfrachtet hatte, kehrte sie in den Schankraum zurück, wo der alte Blärsch am Stammtisch schnarchte. Unter ihm hatte sich auf dem Boden, wie so oft, eine übel riechende Lache gebildet.
Anna versuchte, den Wirt noch immer mit Wohlwollen und Demut zu betrachten. Sie konnte sich gut daran erinnern, wie sie dem Alten vor Dankbarkeit um den Hals gefallen war, als er sie vor vier Jahren aus dem Waisenhaus geholt hatte. Damals hatte sie geglaubt, dass sie einen neuen Vater bekommen würde. Alle Kinder im Heim wünschten sich sehnlichst eine neue Familie. Aber dem Blärsch stand der Sinn nach etwas anderem. Freie Kost und Logis bei Mithilfe in der Wirtschaft hatte er der Schwester Oberin versprechen müssen und ihr einen schönen Batzen zugesteckt.
Kurze Zeit später war klar geworden, was er im Schilde führte. Manches Mal hatte er versucht, sich an ihr zu vergreifen, und nur weil die Blärschin Anna wegen ihrer Schreie zu Hilfe gekommen war, hatte er von ihr abgelassen. Wenn er am Abend betrunken war und sie lüstern anstarrte, versuchte sie, ihn möglichst auf Abstand zu halten. Sie hatte nur noch Abscheu für ihren vermeintlichen Retter übrig.
Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Anna stand einige Augenblicke da und kämpfte mit sich und dem gestrigen Bibelwort. War dies eine von den zahlreichen Erniedrigungen, die ihr im Himmelreich vergolten würden? Unter dem alten Blärsch aufwischen und gleichzeitig an die himmlischen Freuden denken?
»Ach, Georg, du hast gut reden! Ich wüsste mir schon Freuden, aber halt irdische«, seufzte sie leise.
Georg, der Prediger der Sankt-Mang-Kirche, war ihr einziger Lichtblick und Rückhalt. Sie kannte ihn bereits aus dem Waisenhaus, wo er Lesen und Schreiben unterrichtete. Schließlich hatte er sie eingeladen, seine Bibelstunden zu besuchen. Er war eben ganz anders als die ungebildeten Wirtshausbrüder. Seine große, noble Erscheinung, die gütigen Augen und sein gepflegtes schulterlanges Haar hatten sie seit jeher beeindruckt.
Sie war neugierig und löcherte ihn mit Fragen, und er allein war es, der ihren Wissensdurst stillen konnte. Oft hatte er ihr von Caspar erzählt, seinem Meister, den er pries und verehrte. Er hatte sich in das katholische Kempten begeben, um dort die Menschen zurück zu den Ursprüngen des Christentums zu führen. Das Wort Gottes in seiner reinsten Form, ohne Beiwerk. Sie konnte es kaum erwarten, ihn sonntags nach dem Gottesdienst zu hören – und zu sehen. Es gab keine andere Gelegenheit, aus der Wirtschaft zu entkommen. Der alte Blärsch wachte eifersüchtig über jeden ihrer Schritte.
Als sie den Wirt jetzt hilflos in seinem Erbrochenen sitzen sah, konnte Anna nicht anders. Sie holte Kübel und Putzlappen und begann, auf allen vieren die Holzdielen zu wischen. Während sie ihm so nahe kam, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte, stieg der vertraute Ekel in ihr auf und die ganze Demut war beim Teufel. »Stinkender Widerling!«
Am liebsten hätte sie ihm die Brühe über den Kopf geschüttet, doch sie beherrschte sich, brachte den Kübel nach draußen, löschte alle Kerzen in der Stube und ließ den Alten weiterschnarchen. Dann hangelte sie sich erschöpft und müde die Treppen hoch in ihre Kammer. Sie wusch sich die Hände, öffnete ihre blonden Haare und setzte sich an das Tischchen. Liebevoll streichelte sie das Buch, das Georg ihr überlassen hatte: die»Confessio von der Erklärung und der Erkenntnis Christi«. Es war zu dunkel, um zu lesen, aber Anna freute sich allein daran, es zu fühlen. Das Buch war für sie ein Teil von Georg, es zeigte seine Zuneigung, vielleicht sogar seine Liebe. Sie faltete ihre Hände zum Gebet.
Das irdische Leiden öffnet euch die Tür zum ewigen Leben. Seid demütig und duldsam, das ist der Schlüssel für das Himmelreich. Immer wenn es unten in der Stube besonders schlimm war, kamen ihr die Worte Caspars in den Sinn, mit denen Georg versucht hatte, sie zu trösten.
»Lieber Gott, sei nachsichtig mit deiner Dienerin.« Aber muss denn mein Leiden so lang und so ekelerregend sein? »Erlöse mich von dem Übel, aber nicht mein Wille geschehe, sondern …« Anna schreckte auf. Es hörte sich an, als hätte jemand ein Steinchen an die Scheibe geworfen. Sie öffnete das Fenster.
»Wach auf, mein Seel!«, kam es geflüstert von unten.
»Lobsinge seinen Namen!«, antwortete sie freudig und augenblicklich war jede Müdigkeit von ihr gewichen. Sie lehnte sich aus dem Fenster. »Georg? Ist etwas passiert?«
»Anna, hör zu, ich muss fliehen.«
Sie wollte den Gedanken, dass Georg weggehen würde und sie hier in diesem elenden Loch veröden müsste, gar nicht zu Ende denken. Sie gehörte nun einmal dem Blärsch, und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis er sie mit einem seiner versoffenen Stammtischbrüder verkuppelte. Ihr Entschluss fiel in Sekundenschnelle. Sie wandte sich dem schlichten Holzkreuz in ihrer Kammer zu. »Es ist göttlicher Wille! Du willst also, dass ich dieses Haus verlasse und mit deinem Prediger gehe!« Sie überlegte nicht mehr. »Georg«, rief sie in die Dunkelheit, »in Gottes Namen! Warte auf mich, bitte!« Anna zog ihren Kapuzenumhang über, nahm das Kreuz von der Wand, schnürte die wenige Wäsche, die sie besaß, zu einem Bündel und … Fast hätte sie das Wichtigste vergessen: das Buch. Sie nahm es, küsste es, schob es zwischen die Wäsche und stürmte aufgelöst die zwei Stockwerke hinunter, am Schankraum vorbei.
»Du wirst mich nie wieder anfassen, du mieses, ekelhaftes Dreckstück!«, zischte sie dem schnarchenden Blärsch als Abschiedsgruß in die Stube. Es tat ihr gut, diese Worte wenigstens einmal auszusprechen. Vorsichtig schob sie den Riegel zurück, was nicht ohne Geräusch vonstattenging, und lief in die Nacht hinaus.
»Georg«, flehte sie schon von Weitem und fiel ihm um den Hals, »bitte nimm mich mit, wohin du auch gehst. Ohne dich halt ich es hier nicht aus!«
»Anna, es ist nicht so einfach!«
Sie spürte, wie er sich aus ihrer Umarmung löste und sich seinem Pferd zuwandte. »Ganz ruhig, mein Brauner.« Der wiehernde Gaul, den es zu beruhigen galt, kam ihm anscheinend gerade recht. »Der neue Abt, Herr von Gravenegg-Burchberg, hat mich des Amtes enthoben, nachdem ich den ganzen Abend mit ihm gestritten hatte.« Seine Stimme klang besorgt. »Ich muss die Stadt noch vor dem Morgengrauen verlassen.«
Endlich erwiderte er ihre Umarmung und Anna genoss es.
»Ich habe es mir nach deiner Predigt am letzten Sonntag fast gedacht, als du die Gegenwart Gottes während der Wandlung infrage gestellt hast und daraufhin mehrere Ratsmitglieder unter Protest aus der Kirche gelaufen sind.«
»Sie verstehen uns hier nicht. Darum ist die Entscheidung des Pfaffen nur konsequent. Ich bin ab sofort ein Flüchtling, Anna. Du hast wenigstens ein Dach über dem Kopf.«
Anna wusste, dass er sie mit all ihren Habseligkeiten nicht stehen lassen würde und alles Gerede nur eine Ausflucht war.
»Die tägliche Unsicherheit, die Angst vor Verfolgung, Anna. Überlege es dir gut, ob du deine Heimat gegen das unstete Leben eines Prädikanten tauschen willst.«
»Da gibt es nichts zu überlegen, Georg. Ich gehe mit dir. Alles, was bisher mein Leben hier erträglich gemacht hat, würde ohne dich absterben. Du hast mich auf den richtigen Weg geführt. Frag dich doch, wie Caspar an deiner statt handeln würde? Ich kann nicht mehr zurück zu den Pfaffen mit ihrem Hokuspokus. Gott hat mir durch dich die Augen geöffnet. Lass uns da hingehen, wo wir unter Gleichgesinnten miteinander leben können.«
Während sie notdürftig ihre Haare zusammenband und ihr Bündel an einer der Satteltaschen befestigte, sah sie aus den Augenwinkeln Georg Mayer – den Prediger und Kämpfer vor dem Herrn, stattlich und eindrucksvoll, sonst nie um eine Antwort verlegen – wie zur Salzsäule erstarrt dastehen.
»Was ist mit dir, Georg? Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Ich weiß nicht, Anna …«
»Annaaaaaaa!«, klang es gellend aus der Gastwirtschaft und Anna zuckte zusammen. »Mach, dass d’reikommscht, aber weidle6!« Im nächsten Moment stand der alte Blärsch schwankend auf der Straße.
»Der Alte kommt, jetzt mach schnell!«, rief sie Georg zu.
Geistesgegenwärtig erkannte dieser die Situation, saß auf und zog Anna mit einem Ruck hinter sich auf das Pferd.
»Büttel, kruzitürkn, komm raus und hol mir dia Feel z’ruck, dia g’heart mir! Mein Lade kann i zuamacha, wenn des Luader die geile Böck nimma bediena duad«, lallte der Wirt, während Georg das Pferd antrieb.
»Lass se gau, Gottl!«, schrie die Blärschin aus dem geöffneten Schlafzimmerfenster. »Dia blond Hex hätt no viela Mannsbilder de Kopf verdräht!«
»Jetzt ist auch noch die Alte wach geworden«, rief Anna Georg ins Ohr.
Das Pferd trabte an und verlangsamte den Schritt erst kurz vor dem Illertor. Der Torwärter kam müde aus seinem Häuschen und ließ die beiden ungefragt passieren, zumal es ihm peinlich schien, im Schlaf erwischt worden zu sein.
»Halt dich gut an mir fest!«, mahnte Georg. Genau das wollte Anna hören. »Wir wollen die Stadt schnell hinter uns bringen, und wer weiß, ob die Stammtischbrüder vom alten Blärsch nicht versuchen, dich zurückzuholen.«
Anna legte vertrauensvoll ihren Kopf an seine Schulter und klammerte sich mit beiden Händen fest an ihn. Georg trieb das Pferd im Galopp in Richtung Norden.
»Machen wir uns jetzt auf die Suche nach Caspar?«, fragte sie.
»Ich brauche irgendwo eine Anstellung, nur mit dem Verfassen von disputationes kann ich nicht überleben. Aber vielleicht können wir das eine mit dem anderen in Verbindung bringen. Bei den Katholischen werde ich keinen Fuß mehr in die Tür setzen, das ist vorbei! Ich wollte eigentlich in die Reichsstadt Isny, wo Caspar eine treue Gemeinde hat, aber lass uns lieber gleich nach Ulm reiten, dort ist alles protestantisch. Da weiß man am besten, wo ich als Prediger oder Lehrer gebraucht werde.«
»Egal, wohin du mich bringst, Georg, bei dir fühle ich mich geborgen.«
»Also dann auf nach Ulm. Vielleicht bekommen wir dort Hinweise, wo sich der Meister aufhält.«
Mit ihrem Retter hinaus in die Freiheit, weg vom Mief und Dreck und der drohenden Verkuppelung! Anna hätte die ganze Welt umarmen können, und das zeigte sie Georg. Sie genoss es, eng an ihn geschmiegt hinter ihm zu sitzen und seinen Herzschlag zu fühlen. Sie war glücklich. Das fahle Mondlicht beleuchtete die Straßen. Als sie fast eine Stunde durch die kalte Nacht geritten waren, verlangsamte Georg die Geschwindigkeit und hielt an einem Heuschober an.
»Lass uns hier ein paar Stunden ausruhen«, schlug er vor. Im nächsten Moment war er abgestiegen und half Anna vom Pferd. Frierend folgte sie ihm zum Stadel. Im Inneren war es stockdunkel. Dennoch bemerkte sie, dass Georg zwei getrennte Lager aus Stroh vorbereitete.
»Kann ich heute Nacht nicht neben dir liegen, Georg? Mir ist so kalt. Wir gehören doch jetzt zusammen, werden beide verfolgt.« Anna versuchte, im Dunkeln Georgs Hände zu greifen.
Ohne auf ihr Anliegen einzugehen, legte sich Georg in sein Stroh.
»Wer der Kirche Christi angehören will, muss mit Verfolgung rechnen; dies ist ein konstituierender Faktor des Christenlebens. Je mehr einer Christus in sich aufnimmt, umso mehr wird er verfolgt.«
Anna war enttäuscht. »Ich weiß, Georg, aber du brauchst heute nicht mehr zu predigen! Mach etwas für mich, denn mich friert.«
Als wieder keine Antwort kam, stand sie auf, streifte trotz der Kälte ihre Kleider ab, nahm energisch ihre Decke und legte sich an seine Seite.
Georg machte weder Platz, noch wehrte er sich, er flüchtete sich in das, was er am besten beherrschte: in seine Sprache.
»Die katholische Kirche hat sich weit von der Urkirche entfernt, sie baut auf Macht und auf das alte Fleisch und nicht auf den Geist und das Gewissen. Die äußerlichen Zeichen unserer Kirche sind nicht großartige Gebäude, sondern Geduld, Liebe, Frieden, Gottesfurcht, Erkenntnis Christi und gottseliger Wandel. Das Haus Gottes, in dem ich gepredigt habe, ist nur ein Versammlungsraum und nicht meine Heimat. Jeder wahre Christ muss seinen Körper und seine Seele so bereiten, dass Gott darin ein Zuhause …«
»Ach, Georg, wenn du nur ein wenig mehr an das irdische Zuhause denken könntest«, nörgelte Anna, drehte sich einmal um die eigene Achse und lag nun direkt neben ihm. Sie schmiegte sich an ihn, nahm seine Hand, zog sie unter die Decke auf ihre nackte Haut und führte sie von ihren weichen Brüsten bis hinunter zwischen ihre Beine. Georg versuchte verzweifelt, mit irgendwelchen Nebensächlichkeiten abzulenken und sich so ihrem Begehren zu widersetzen.
»In Ulm gibt es ein Haus unserer Gemeinde, von wo die Ärztin Agatha Streicher Nachrichten und Botschaften verteilt. Sie steht in regem Briefkontakt mit Caspar, wenn du möchtest, gehen wir …«
Weiter kam er nicht; Anna hatte von seinem Mund Besitz ergriffen und ihn mit einem alles vergessen machenden Kuss zum Schweigen gebracht. Sie ließ ihm keine Möglichkeit, sich zu wehren. Anna öffnete ihm mit flinker Hand die Hose und ergriff den Teil seines Körpers, für den sie noch keinen Namen hatte. Sie kannte nur das, was sie an schamlosen Übertreibungen in der Wirtsstube des alten Blärsch aufgeschnappt hatte.
Es bedurfte keines Namens und Georg ließ es geschehen. Ihre Körper fanden so zueinander, wie sie es sich in ihren Träumen immer vorgestellt hatte. Sie war es, die ihn dahin führte, wohin ihre unbändige Lust es gebot und wo er sehnlichst erwartet wurde. Sie wiegten sich in einen Rausch des Gebens und Nehmens, der sich stetig steigerte. Immer kürzer wurde ihr Atem, immer lauter ihr Stöhnen, bis Georg mit einem unterdrückten Aufschrei an ihre Seite glitt. Erschöpft und glücklich sanken sie fest umschlungen in einen gemeinsamen tiefen Schlaf.
Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen in den Heuschober, und das Pferd, das in der Ecke angebunden war, scharrte ungeduldig mit den Hufen. Anna beobachtete, wie Georg aufstand, sich anzog, das Pferd sattelte und hinausführte. Sie fühlte sich trotz der Kälte wie neugeboren.
Als Georg sah, dass sie sich streckte und rekelte, kam er auf sie zu. »Ich hätte es nicht tun dürfen. Wir sind nicht verheiratet. Du warst noch Jungfrau. Ich habe mich an dir versündigt und deine Zukunft zerstört. Ich habe einen großen Fehler gemacht, Anna, es tut mir unendlich leid.« Georg ging vor ihr auf die Knie.
»Guten Morgen, Liebster«, flüsterte Anna mit einem breiten Lächeln, als hätte sie seine Worte nicht gehört.
»Ich weiß, dass du niemals heiraten wirst und dein Leben ganz und gar Gott geweiht hast, aber heute Nacht hast du mir etwas gegeben, das ich von keinem Mann hätte lieber empfangen mögen als von dir, nämlich eine richtige Frau zu werden.« Sie sprang hoch und umarmte ihn so wild, dass er ihr nicht ausweichen konnte.
»Anna, ich habe mich heute Nacht gehen lassen, die Wollust hat sich meiner bemächtigt, und ich schäme mich für meine Unbeherrschtheit. Verzeih mir, bitte!« Georg flüsterte diese Worte in ihr Ohr und drückte ihren Kopf fest an seinen Mund.
»Wie kannst du nur eine Sekunde von dem bereuen, was wir beide heute Nacht gemeinsam erleben durften, Georg? Hast du mir nicht ständig gepredigt, dass nichts Schlechtes sei an der Verbindung zwischen Mann und Frau, dass das Wesen der göttlichen Liebe auch die körperliche mit einschließe?«, erwiderte Anna und biss ihm ins Ohrläppchen.
»Wenn ich Caspar irgendwann mal treffe, werde ich ihn fragen, ob du unrecht getan hast, indem du mir eine himmlische Nacht bereitet hast. Quält es dich denn so, dass du nicht mehr zur Beichte gehen kannst wie deine katholischen Mitgeistlichen, die nach einer solchen Untat, oder wie du es nennen magst, sich bei ihrem Beichtvater das ego te absolvo7 abholen? Ist es das, was du vermisst? Willst du dir von einem Pfaffen die Absolution erteilen lassen?« Georg war ins Stroh gesunken und saß da wie ein Häufchen Elend. Es fiel ihm sichtlich schwer zu antworten.
»Ich liebe dich, Anna, das ist es! Aber ich kann dir keine Zukunft geben, ich bin Prediger. Ich weiß, wie sehr du dich nach einem festen Dach über dem Kopf sehnst, nach einer Familie, nach Kindern.«
»Lass das meine Sorge sein, Georg, du hast mir keine Gewalt angetan, bring das endlich aus deinen Gedanken. Ich werde dich nicht der Vergewaltigung anklagen. Es soll dir erspart bleiben, drei Sonntage lang im Büßergewand mit einer Kerze während des Gottesdienstes draußen vor der Kirche stehen zu müssen.« Anna lachte, denn diese Szene hatte sie oft genug in Kempten miterlebt.
Georg sah darüber wenig erheitert aus. »Sollte ich einen Mann finden, der mit mir ein gemeinsames Leben führen möchte, werde ich ihm von unserer Nacht erzählen, und wenn das für ihn ein Grund wäre, mich zu verstoßen, wäre er eben nicht der richtige«, stellte Anna abschließend fest.
Sie suchte ihre Kleider zusammen, zog sich an, warf den Mantel über, marschierte hinaus und setzte sich mit verschränkten Armen auf das Pferd. Georg sagte nichts mehr; es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich selbst zu ihr auf den Pferderücken zu schwingen und sich dem Herrn zu empfehlen. Anna lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und während Georg halblaut im Rhythmus der Hufe um Vergebung seiner Sünde betete, genoss Anna den Morgen; sie fühlte sich gut, freute sich über die neue Freiheit und hatte keinerlei Mitleid mit ihrem Georg.
5 19. März
6 Allgäuerisch: schnell.
7 Ich spreche dich frei.
Ulm, 20. März 1557
Vier Tage waren sie unterwegs gewesen. In Memmingen und Dettingen hatten sie züchtig in Herbergen übernachtet. Anna spürte, dass Georg sich immer noch schwere Vorwürfe machte. Sie zeigte ihm ihre Nähe, indem sie ihn stets fest umarmte, wenn sie wieder hinter ihm auf dem Pferderücken saß. Seine Gedanken wollte sie jedoch nicht stören. An diesem Tag hatten sie so gut wie nichts miteinander gesprochen. Sie waren die Letzten, denen am Memminger Tor noch Einlass nach Ulm gewährt wurde. Kaum eine Menschenseele war zu sehen, als sie den braven Gaul über die Donaubrücke in die Stadt führten.
»Glaubst du denn, dass wir Caspar treffen werden?« Anna war müde und erschöpft, alle Knochen taten ihr weh. Nie zuvor in ihrem Leben war sie auf einem Pferd gesessen und jetzt ritt sie schon tagelang.
»Agatha Streicher weiß eigentlich immer, wo er sich aufhält. Ihr Haus befindet sich in der Langen Gasse, ganz nah am Münsterplatz. Ich war fünfzehn, als ich bei ihrem Vater zum ersten Mal Caspar gehört habe. Er hat mir den Weg gewiesen, dem ich heute noch folge.«
»Ich kann kaum laufen, Georg«, seufzte Anna. »Ich sehne mich nach einem Bett, aber die Nacht mit dir im Heustadel werde ich nie vergessen.«
Georg tat so, als hätte er es nicht gehört. »Agatha wird uns sicher Quartier gewähren.«
»Was macht denn diese Agatha so besonders?«
»Sie hat sich von ihrem Vater ein ungeheures Wissen erworben, obwohl sie nie an einer Universität war, und sie ist ein Engel. Sie hilft den Leuten, die von weit her zu ihr kommen«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, »und lebt das Schwenckfeldertum. Bei ihr ist das Zentrum der Gemeinde. Agatha steht seit vielen Jahren mit Caspar in Verbindung, der selbst immer wieder in ihrem Haus Gast ist.« Inzwischen waren sie vor dem Haus in der Langen Gasse angekommen.
»Ich hoffe«, sagte Anna, »dass sie uns weiterhelfen kann.«
»In Gottes Namen, so lass es uns versuchen.« Georg klopfte mit dem schweren Eisenring an die Tür. Gleich darauf öffnete sich ein Fenster.
»Wach auf, mein Seel!«, rief er hinauf.
»Lobsinge seinen Namen«, klang es verschlafen von oben. »Wer klopft denn um diese Zeit noch an?«
»Gnade und Friede im Herrn, Schwester. Ich bin Georg Mayer, Agathen bin ich sehr wohl bekannt. Das ist Jungfer Anna Dorn aus Kempten, wir sind seit vier Tagen auf der Flucht und bitten für eine Nacht um Quartier.«
Anna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Stellt das Pferd hinten in den Stall, der Knecht wird es versorgen. Wartet dort, ich komme hinunter!«
Georg bedankte sich und führte das Pferd in den hinteren Teil des herrschaftlichen Hauses, wo durch einen Bretterverschlag Licht schimmerte.
»Ich bin dir so dankbar, Georg, dass du mich mitgenommen hast.« Anna band ihr Bündel von den Satteltaschen los, während Georg das Pferd dem Knecht übergab, der mit qualmender Pfeife aus seinem Verschlag getreten war. Die Frau, die sie an den Stallknecht verwiesen hatte, kam auf sie zu und bat sie ins Haus. Sie trug einfache Kleidung und war vermutlich die Magd.
»Die Herrschaft will am Abend nicht gestört werden und wird euch morgen früh empfangen. Ich habe euch etwas zu essen hergerichtet.«
Mit einer Laterne und zwei Holztellern voller Speck, Wurst und Brot begleitete die Magd sie in das oberste Stockwerk des Hauses, wo in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern Betten bereitstanden.
Georg verabschiedete sich mit einer heftigen, aber betont kurzen Umarmung von Anna. Für sie fühlte es sich an, als wolle er sie sich vom Hals halten, sie war allerdings zu erschöpft, um länger darüber zu grübeln. Ihr ganzer Körper schmerzte, mehr aber tat es ihr in der Seele weh. Sie hatte sich das Ende des heutigen Tages etwas anders vorgestellt. Sie hatte wenigstens einmal noch eine Nacht mit ihm verbringen wollen, dieses Gefühl des Verschmelzens ein zweites Mal erleben oder zumindest neben ihm einschlafen, dem Mann, den sie bewunderte und verehrte, der sie aus den Zwängen des Sklavendaseins befreit hatte und ihr eine neue Perspektive geben würde. Sie seufzte und wandte sich schließlich ihrem Essen zu. Kurz darauf fiel sie gesättigt ins Bett, dachte sehnsüchtig an Georg und inmitten dieser Gedanken fielen ihr die Augen zu.
»Der Friede sei mit euch, seid willkommen in meinem Haus, das allen unseren Brüdern und Schwestern, die guten Willens sind, offen steht. Georg, wie schön, dich wiederzusehen.« Agatha Streicher umarmte Georg und begrüßte Anna ebenso herzlich.
»Lasst uns in die gute Stube gehen. Susanna, ihr habt sie gestern bereits kennengelernt, hat euch die Milchsuppe hergerichtet.« Sie betraten das Kaminzimmer und setzten sich an den riesigen Eichentisch, der vielen Gästen Platz bot.
»Erzähl, wie geht es dir, und was verschafft mir die Ehre eures Besuchs?«, wandte die Hausherrin sich an Georg, nachdem Susanna heißen Tee eingeschenkt hatte.
»Du weißt, Agatha, dass ich vieles unter meinem Pseudonym für Caspar verfasst habe. Seit vier Tagen bin ich ohne Anstellung, weil mich der neue Abt in Kempten nicht mehr ertragen konnte. Jungfer Anna Dorn hat sich mir angeschlossen. Sie denkt und lebt in unserem Geiste und ist auf der Flucht vor einem skrupellosen Wirt, von dem sie ausgebeutet wurde. Wir hoffen, dass du uns Caspars Aufenthaltsort nennen kannst. Es ist unser gemeinsames Ziel, dem Meister nah zu sein.«
Anna lächelte Georg zu, hoffte aber vergebens auf einen Blick der Zuneigung.
»Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass der Meister sich bei den Augsburger Rehlingern in Pilgerhausen8 auf einem der Einödhöfe versteckt hält. Ich werde einen Brief an Jacobus verfassen und euren Besuch anmelden.« Anna dachte an ihre nach wie vor schmerzenden Knochen und sah Georg auffordernd an. Er hatte ihren Blick offenbar verstanden.
»Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet, Agatha. Wenn du erlaubst, würden wir uns gerne einen weiteren Tag erholen, bevor wir die lange Reise antreten.«
Agatha Streicher lachte. »Bleibt, so lange es euch gefällt, und seht euch in Ulm ein wenig um, bevor ihr dort oben in den Wäldern mit Füchsen und Bären hausen werdet. Unsere Stadt hat einiges zu bieten.«
8 Von Schwenckfeldern verwendetes Synonym für Leeder.
Leeder, 24. März 1557
Sie waren noch mehr als eine Wegstunde von Pilgerhausen entfernt, als ihnen bereits der rote Backsteinturm am Horizont die Richtung wies. Sie konnten den Ort nicht verfehlen.
»Unauffälliger hätte sich Caspar gar nicht verstecken können. In einem Ort mit so einem riesigen Kirchturm vermutet niemand Protestanten, und erst recht keine Schwenckfelder.« Seit sie am Spöttinger Ballenhaus vorbeigekommen waren, ging Georg zu Fuß neben dem Pferd her, während Anna im Sattel saß.
»Ich kann mich ja um deinen Haushalt kümmern. Wenn du dort eine Stelle als Prediger und Schulmeister bekommst, wird dir bestimmt auch eine Wohnung zugestanden.« Anna hatte sich bisher nicht mit Georgs Zurückweisung abgefunden.
»Das schlag dir aus dem Kopf, Anna! Das Konkubinat ist kein Weg für uns beide. Nur der gemeinsame Glaube wird uns für immer verbinden. Auf so einem Gut gibt es zahllose Möglichkeiten, sich nützlich zu machen, und jemand, der wie du keine Arbeit scheut, findet sicherlich etwas. Jacobus Rehlinger ist ein reicher Kaufmann, der in Augsburg sein Bürgerrecht aufgegeben hat, um sich dort oben in Leeder unbehelligt den Schriften Caspars widmen zu können. Er leistet sich wahrscheinlich ein großzügiges Gesindehaus.«
Anna verbarg ihre Enttäuschung und schwieg. Am späten Nachmittag trafen sie endlich ein. Sie hatte ein ungutes Gefühl, als das mächtige Schloss unterhalb der Kirche auftauchte.
Anscheinend wurden sie erwartet.
»Wach auf, mein Seel!«, rief ihnen ein Mann in schwarzem Talar freudig entgegen.
»Lobsinge seinen Namen«, antworteten Georg und Anna gleichzeitig, bevor sie das Tor erreichten.
»Das muss Jacobus sein«, erklärte Georg.
»Der Friede des Herrn sei mit euch beiden und geleite euch auf allen Wegen. Seid herzlich willkommen in Leeder. Deine Schriften sind meine tägliche Lektüre, Agricola. Ich freue mich wie ein Kind, dich leibhaftig vor mir zu haben! Das ist mein Sohn Emanuel«, stellte er einen jungen Mann vor, der zu ihnen getreten war. »Wir wollten es uns nicht nehmen lassen, dich und deine Begleiterin persönlich hier zu begrüßen.«
»Agricola?« Anna sah Georg verwundert an.
»Ich werde dir alles erklären«, versuchte er, sie zu beschwichtigen, und mit einem Schlag wurde ihr deutlich, wie bekannt Georg bereits durch seine Verteidigungsschriften für Caspar geworden war, wenn auch unter falschem Namen. Georg war berühmt. Und in seinem Leben war kein Platz für sie.
»Das ist Anna Dorn, ebenfalls aus Kempten«, stellte Georg sie vor. »Sie hat sehr früh ihre Eltern verloren und ist meine gelehrigste Schülerin. Sie hat mich gebeten, sie mitzunehmen. Wir ersuchen untertänigst und um der Barmherzigkeit des Herrn willen, bei euch aufgenommen zu werden.«
»Die Streicherin hat mich bereits benachrichtigt und es ist mir eine große Ehre, euch in meinen Besitztümern beherbergen zu dürfen.«
»Ich danke Euch von ganzem Herzen für Eure Gastfreundschaft. Gott vergelte es Euch tausendfach.« Anna ergriff Jacobus Rehlingers Hände und verneigte sich tief vor ihm.
»Wir haben zwei Zimmer hergerichtet. Mein Sohn Emanuel wird euch hinaufgeleiten. Es wird uns eine Freude sein, heute Abend gemeinsam mit euch zu speisen.«
Anna empfand es als wohltuend, in welch ruhigem Ton in diesem Haus miteinander gesprochen wurde, selbst den Bediensteten begegnete man respektvoll. Es ermutigte sie, eine Frage zu stellen: »Ist denn der Meister auch im Haus?«
»Caspar ist vor einigen Tagen unerwartet abgereist«, antwortete Emanuel. »Er wohnt meist nur ein paar Tage im Schloss und flüchtet sich anschließend auf einen der Höfe, wo er in Ruhe und Frieden seinen Studien nachgehen kann.«
Anna bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen.
In ein Gespräch mit Jacobus versunken, war Georg unten zurückgeblieben, während Emanuel sie in ihr Zimmer brachte. Sie hatte Georg verloren, war ihm unwichtig geworden, das spürte sie nur zu deutlich. Sie versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, doch selbst die Teppiche, Bilder und bemalten Teller, die überall an den Wänden hingen, konnten ihre Stimmung nicht verbessern. Schließlich fasste sie sich ein Herz. »Hast du den Meister schon oft gesehen?«, fragte sie Emanuel, als er vor einer Tür stehen blieb, die mit prächtigen Schnitzereien verziert war.
»Er war wie ein Familienmitglied. Seine Besuche wurden in letzter Zeit zwar seltener, aber als Kind habe ich oft auf seinem Schoß gesessen.«
»Darum beneide ich dich, Emanuel.«
Er öffnete die Tür, um ihr das Zimmer zu zeigen. Dabei sah sie ihm aus nächster Nähe in seine warmen hellbraunen Augen. Emanuel drehte sich rasch um und verabschiedete sich.
Anna warf ihre Sachen auf das Bett, zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster und blickte auf die schneebedeckten Berge in der Ferne. Auch wenn es ihr noch nicht vergönnt war, den Meister zu treffen, spürte sie in diesem Haus seinen Geist, eine tiefgründige Menschlichkeit und den Respekt untereinander. Auf dem Gut der Rehlinger herrschten kein Misstrauen, kein Hass und kein Befehlston, wie sie es jahrelang beim alten Blärsch erfahren hatte. Sie atmete tief durch. Diese Menschen waren Freunde. Sie wollte alles dafür tun, um hier ein Zuhause zu finden.
Eichstätt, Maria Immaculata9 1557
Kerzenschein flackerte über ihr weißes Gesicht und es schien ihm, als habe sich ihr roter Mund bewegt.
»Dein mildes Lächeln wird mir sehr fehlen.« Ungewollt war ihm ein tiefer Seufzer entglitten und sein warmer Atem vernebelte für einen Augenblick die Sicht in der eiskalten Kirche. Er konnte sicher sein, dass es keinen Mithörer gab, weil nach der Matutin alle wieder in ihren Zellen waren, um die wenigen Stunden Schlaf bis zur Morgenhore zu nutzen. Eigentlich hatte er gelernt, seine Gefühle zu unterdrücken. »Nur der Schwächling zeigt Gefühle«, waren die mahnenden Worte seines Novizenmeisters. Dennoch fiel ihm der Abschied schwerer, als er es sich vorgestellt hatte. Er würde dieses Bild der Madonna mit dem Kind vermissen. Fast vierundzwanzig Jahre hatte er beinahe täglich davor gekniet und gebetet. Sie war jederzeit für ihn da, wandte ihren Blick niemals von ihm ab, hatte ihn getröstet und ihm Kraft gespendet, diese Hure, seine treulose Mutter, zu vergessen. Die Madonna beschützte liebevoll ihren Sohn, der sein Köpfchen eng an ihre Wange schmiegte, das erhabene Rot ihres Kleides, die sie umgebenden Strahlen und die in allen Farben glitzernde Krone zeigten ihre Macht. Unter ihrem Schutz fühlte er sich geborgen, sie war die Himmelskönigin, der er sein Leben anvertrauen wollte; sie würde ihn nicht enttäuschen.
Auch die Klostermauern würden ihm fehlen, hatten sie ihm doch von klein auf Geborgenheit und Schutz bedeutet. Hier war er zu Hause, das Kloster war ihm Familie, Quell des Wissens, Ort der Kontemplation und Zuflucht vor weltlichen Begierden. Alles hatte er überstanden. Selbst das unkeusche Drängen im Dormitorium. Jahrelang musste er mit ansehen, wie dort mit Mund und Hand Unzucht getrieben wurde. Er hatte die Versuchungen an sich abprallen lassen.
»Nur eiserne Härte gegen dich selbst lässt dich stark gegen andere werden«, war ein weiterer Leitspruch des Novizenmeisters. Diesen Kampf hatte er gewonnen durch Fasten, Disziplin und den Nagelgürtel.