Das Ketzerdorf - In Ketten - Richard Rost - E-Book

Das Ketzerdorf - In Ketten E-Book

Richard Rost

5,0

Beschreibung

Augsburg, Anno Domini 1577. Das geschäftige Treiben in der großen Stadt begeistert den vierzehnjährigen Raymund nach seiner Flucht aus Leeder. Voller Tatendrang beginnt er seine Lehre zum Büchsenmacher und setzt sich zum Ziel, eine Meisterbüchse herzustellen und das Augsburger Schießfest zu gewinnen. Er ahnt nicht, dass er sich damit mächtige Feinde macht. Gleichzeitig gerät in Leeder seine Schwester Helena durch eine Intrige ins Visier des Großinquisitors Erminio vom Berg. Für beide beginnt ein Kampf ums Überleben gegen skrupellose Gegner …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 483

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Richard Rost

Das Ketzerdorf – In Ketten

Historischer Roman aus der Zeit der Reformation

Impressum

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rafael_-_Retrato_de_um_Cardeal.jpgund Nielen de Klerk / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6890-2

Widmung 1 und Vorbemerkung

Pia

Die Charaktere und Ereignisse dieses Romans sind fiktiv; Inquisition und »Hexen«-Verfolgung verbreiteten jedoch tatsächlich Schrecken und Leiden über Jahrhunderte, Kontinente und Weltanschauungen hinweg. Die historische Forschung zeigt, dass bislang wenige selbstkritische Stimmen bekannt sind. Bei den Dominikanern haben die Klostergemeinschaften Norddeutschlands im Jahr 2000 innerhalb ihrer Ordensprovinz klar Stellung bezogen für ihre Gegenwart und Zukunft:

»Deutsche Dominikaner waren nicht nur in die Inquisition verstrickt, sondern haben sich aktiv und umfangreich an ihr beteiligt. Historisch gesichert ist die Mitwirkung an bischöflichen Inquisitionen und an der römischen Inquisition. Unabhängig von den vielleicht manchmal nachvollziehbaren historischen Gründen für die Mitwirkung erkennen wir heute die verheerenden Folgen dieses Tuns unserer Brüder. Wir empfinden dies als ein dunkles und bedrückendes Kapitel unserer Geschichte. Dies gilt in gleicher Weise für die nachgewiesene Beteiligung des deutschen Dominikaners Heinrich Institoris an der Hexenverfolgung. Durch das Verfassen des ›Hexenhammers‹ unterstützte und förderte er die menschenverachtende Praxis der Hexenverfolgung. Folter, Verstümmelung und Tötung haben unendliches Leid über zahllose Menschen gebracht; deutsche Dominikaner haben dazu, neben anderen, die Voraussetzung geschaffen. Die Geschichte dieser Opfer – namenlos und vergessen – können wir nicht ungeschehen machen. Wiedergutmachung ist unmöglich. Uns bleibt die Verpflichtung zur Erinnerung.

Wir wissen, dass der Geist von Inquisition und Hexenverfolgung – Diskriminierung, Ausgrenzung und Vernichtung Andersdenkender – auch heute latent oder offen in Kirche und Gesellschaft, unter Christen und Nicht-Christen lebendig ist. Dem entgegenzutreten und sich für eine umfassende Respektierung der Rechte aller Menschen einzusetzen, ist unsere Verpflichtung, die wir Dominikaner den Opfern von Inquisition und Hexenverfolgung schulden. Das Provinzkapitel fordert alle Brüder unserer Provinz auf, unsere dominikanische Beteiligung an Inquisition und Hexenverfolgung zum Thema in Predigt und Verkündigung zu machen.«

Widmung 2

Allen gewidmet, die in Gottes Namen in der Kirche Gutes tun, und den zahllosen Opfern derer, die unter dem Deckmantel der Kirche gesündigt haben.

Dramatis Personae

Johann Otto von Gemmingen*: Dekan am Augsburger Dom, ein Suchender

Erminio vom Berg: Kardinal, gefürchteter Großinquisitor

Paschalis: Kind der Kirche, hört alles und sagt nichts

Georg Mayer alias Agricola*: Prediger, wird zum Sämann

Anna Dorn*: Herrin von Leeder, Witwe

Raymund Rehlinger*: sein Erfolg weckt Begehrlichkeiten

Helena Rehlinger*: seine »Zwillingsschwester«, geht durch ein tiefes Tal

Hans Jakob Rehlinger*: ihr Bruder, Opfer der Teuerung

Viktoria Tradel*: sein Weib, zu allem fähig

Karl:: Kutscher der Rehlinger

Hieronymus Rehlinger*: Tuchhändler, spinnt die Fäden

Jakob III. Fugger, genannt Giacomo* Herr von Babenhausen, reich und mächtig

Oktavian Honold von Emmenhausen Amtsarzt in Augsburg

Berkel Aleman: Dolmetsch am Hof des Sultans

Don Alfonso: weit gereister Gaukler, Geschichtenerzähler

Tiburtius Benzenauer*: Augsburger Büchsenschmied, protestantisch

Korbinian Greisinger: sein Obergsell, genial und gefährlich

Jos: Lehrbub aus Lauingen, Frohnatur

David Altenstetter*: Goldschmied, Alchemist, Schwenckfelder

Zacharias Geizkofler*: Reichspfennigmeister des Kaisers

Eugenio Castranova: Spion, niemand weiß, für wen

Keggelbäuerin, Mesnerin, Huetter, Theo, Linder, Schmelzerin, Halblützerin: Marianische, beten viel und denken schlecht

Els von Ettringen*: angesehene Wahrsagerin und Kräuterkundige, keine Hexe

Gerhild Maierin Schankmagd beim Semmerwirt, besitzt das zweite Gesicht

Maria:: ihre Tochter, findet das stille Glück

Andrea Balbetta: Stotterer, niemals untätig

Haseki Safiye*: italienische Prinzessin, Lieblingsfrau des Sultans Murad III.

Hanns Friedrich Hörwarth*: Landrichter in Schongau, der es allen recht machen will

Hans Semmer*: Wirt im »Sternen«,berühmt für seine Milchsuppe

Mit einem * gekennzeichnet sind historische Personen, deren Lebensläufe teilweise verwendet wurden. Alle anderen Personen sind frei erfunden und wurden nach bestem Wissen in den historischen Kontext eingearbeitet.

Ketten in der Pfarrkirche Mariä Verkündigung in Leeder (© privat)

 

1

Konstantinopel, Frühjahr 1577

Eine bunte Versammlung von Trägern verschiedenster Uniformen, glänzender Rüstungen und blinkender Waffen, von denen jeder glaubte, wichtiger zu sein als die anderen, lieferte sich im Diwan, dem Versammlungsraum des Sultans, ein ohrenbetäubendes Geschrei. Einmal im Jahr, zum Halbmond nach Ramadan, fand diese Zusammenkunft der Legaten und Abgesandten des Militärs, Schiffbaus, der Versorgung und des Straßenbaus statt. Es galt, die Erfolge, Verluste und Nachschubfragen des Osmanischen Reiches zu erörtern.

Der Reichswesir Sokollu Mehmed, ausgestattet mit den Insignien eines Paschas, verschaffte sich nach mehreren vergeblichen Versuchen endlich Gehör: »Ihr verehrungswürdigsten Offiziere, Befehlshaber, Kommandeure und Kapitäne. Welch große Taten habt ihr vollbracht zu Ruhm und Ehre unseres erhabenen und allmächtigen Sultans. Ihr habt das Reich vergrößert, Städte, Häfen und Meere gesichert, unseren Widersacher, den Habsburger, in die Schranken gewiesen und damit die Überlegenheit des Osmanischen Reiches demonstriert. Kaiser Rudolf II. lenkt nun seit einem halben Jahr die Geschicke des Habsburgerreiches. Er legt sein Augenmerk nicht auf die große Politik, sondern fördert die Künste, die Kultur und die Wissenschaften. An seinem Hof in Wien arbeiten die berühmtesten Mathematiker, Astronomen, Maler und Architekten. Militärische Angelegenheiten, Grenzsicherung und Waffenkammern interessieren ihn nicht. Zudem ist er mit Religionsstreitigkeiten beschäftigt, die das ganze Land in Zwist und Unruhe versetzt haben. Und so frage ich euch: Wie können wir im Reich von der Schwäche des Monarchen profitieren?«

»Zuerst einmal sollten wir nicht über die Grenzen blicken, sondern im eigenen Land für Fortschritt und Verbesserung sorgen!«, rief eine Stimme aus dem Hintergrund.

»Ne tür aptalsınız!1 Egal, ob der Kaiser schwach ist, das westliche Kriegswesen ist uns um mehr als eine ganze Generation voraus, daran müssen wir arbeiten. Wir sind nicht einmal in der Lage, die beschlagnahmten Waffen zu bedienen, geschweige denn, sie nachzubauen«, ertönte die hohe Stimme eines untersetzten Offiziers mit schwarzem Bart, rotem Kopf und funkelnden Augen.

Die Umstehenden nickten zustimmend.

»Wir haben unsere Flotte wieder aufbauen können, viertausend Galeeren liegen kampfbereit in den Häfen. Aber was nützt es uns? Mit Armbrüsten haben wir jämmerlich versucht, unsere Schiffe gegen die Kanonen der Habsburger zu verteidigen. Schande über uns!«, ergänzte ein hochdekorierter Kapitän.

»Die Zeit ist günstig, das Abendland wird von Hungersnöten und Seuchen geplagt. Manch einer der Handwerker denkt vielleicht daran, sein Glück in der Ferne zu suchen«, verkündete ein anderer Minister mit großer Gestik.

»Wie stellt ihr euch das denn vor, meine Freunde? Nur ein Einfaltspinsel, wie ich einer bin, entschuldigt den Begriff, Sokollu Mehmed, verlässt freiwillig seine Heimat und seine Familie. Die Pfaffen im Abendland rufen es täglich von den Kanzeln, dass wir Türken für alles Böse in der Welt verantwortlich sind. Die Stimmung ist gegen uns. Und außerdem: Jeder Meister ist strengstens darauf bedacht, seine Geheimnisse besser zu hüten als die Jungfräulichkeit der eigenen Töchter.« Die Turbane wippten unter dem Gelächter ihrer Besitzer. »Wir brauchen Spione, die versuchen, sich Zugang zu den Gießereien und Werkstätten zu verschaffen. Wir brauchen das Wissen, und wenn wir die Waffen bauen können, dann können wir sie auch bedienen«, fuhr der Dolmetsch fort und jeder im Diwan wusste, dass dieser sicherlich nicht zu den Einfältigen gezählt werden konnte.

Der Minister kam auf ihn zu. »Ich werde mit dem Sultan über dieses Problem sprechen, das meiner Meinung nach dringend angegangen werden muss, und vielleicht brauchen wir dann auch deine Hilfe. Ich habe eine Idee, wie wir uns das Wissen über die neueste Technik beschaffen könnten.«

»Mein Herr, es ehrt mich, und ich bin beschämt, Euer geschätztes Vertrauen genießen zu dürfen. Ihr könnt dem Sultan bestellen, dass er immer auf meine Hilfe zählen kann.« Insgeheim hoffte der Dolmetsch, dass der Minister ihn nicht in die finsteren und unsicheren Städte des Abendlandes zurückschicken würde.

1 Was seid ihr doch Dummköpfe!

2

Augsburg, im Herbst 1577

Raymund war fasziniert von der Stadt, den Gebäuden, gepflasterten Straßen, Kunstwerken und all den neuen Eindrücken. Wie klein erschien ihm Leeder, sein Heimatdorf, in dem er Mutter und Geschwister zurückgelassen hatte. Seinem kleinen Bruder Hans hatte er noch aufmunternd zugerufen: »Sei fleißig und strebsam, du willst einmal das Gut übernehmen!«

Seine Mutter hatte ihm das Kreuz auf die Stirn gezeichnet mit den Worten: »Vergiss Caspar nicht.«

Helena hatte hemmungslos in seinen Armen geweint, und erst als er ihr versprochen hatte, regelmäßig zu schreiben, war ein kleines Lächeln auf ihre Wangen zurückgekehrt. »Nimm meine Kappe, die brauch ich jetzt nicht mehr«, hatte er zu ihr gesagt und sie ihr zum Abschied in die Hand gedrückt.

Und der gute Karl hatte noch einen Ratschlag für ihn gehabt: »Weisch, Raymund, liaber hundert Neidar als oin Mitleidar. Du wersch es no alle zoige.«

Nach zwei Wochen im herrschaftlichen Haus von Onkel Hieronymus hatte dieser ihn mit einem Wagen ins Lechviertel fahren lassen, wo die Handwerker ansässig waren. Dort wurde er in der Werkstatt von Tiburtius Benzenauer erwartet. Eine Angestellte ging voraus und der Fuhrknecht half ihm, seine Kiste nach oben zu bringen. Das geräumige Zimmer mit einer engen Dachkammer tauschen zu müssen, machte ihm gar nichts aus.

»Ich bi… bin der Jos aus Lauingen«, strahlte ihn ein ellenlanger, dünner Bursche an und es klang wie ein kleines Lied. »Wir teilen uns die Kammer, sei willkommen!«

»Und ich heiße Raymund Rehlinger.«

»Du musst wissen, dass ich gerne singe, weil ich mir damit das Stottern abgewöhnt habe.«

Mit dem werde ich bestimmt gut auskommen, dachte sich Raymund. »Wie lange bist du schon beim Benzenauer?«

»Ich bin jetzt im zweiten Lehrjahr«, antwortete Jos.

»Hast du denn selber schon eine Waffe gebaut?«

Jos lachte schallend. »Wo denkst du hin? Jetzt wirst du erst einmal dem Obergsell unterstellt und darfst für ihn Botengänge erledigen, abends die Werkstatt aufräumen, zusammenkehren, das Metall aus dem Dreck heraussieben und so weiter. Bis er dich an die Werkbank lässt, vergehen schon ein paar Wochen.«

»Wochen?«

»Aber dann hast du es überstanden. Der Obergsell heißt eigentlich Korbinian Greisinger, aber alle müssen Obergsell zu ihm sagen, einzig der Meister darf ihn mit seinem Vornamen ansprechen, weil er angeblich die Heiligengeschichte mit dem Bären so gerne hört. Wenn du ihn siehst, schau dir seine Pranken an, Raymund, und nimm dich in Acht!«

»Da hast du wohl schlechte Erfahrungen gemacht, Jos! Ich werde den Kerl einmal in Augenschein nehmen«, erwiderte Raymund.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Raymund die Organisation der Büchsenmacherei durchschaut hatte. In der Halle vom Benzenauer arbeiteten neben dem Meister noch fünf Gesellen, drei Lehrbuben und neun Gehilfen. Alle waren in den verschiedenen Bereichen Gießerei, Mechanik, Schäfterei, Marqueterie und Ziselierung tätig. Im hinteren Drittel war die Gießerei mit den Schmelzöfen und den Gussformen für die Kanonen, Rohre und andere Aufträge. Ganz hinten gab es einen Raum, dorthin durften nur der Obergsell und der Meister. Was jenseits der eisernen Tür geschah, war ein großes Geheimnis, das die beiden offensichtlich aneinanderschweißte. An den Wänden der ganzen Werkstatt hingen Dutzende von verschiedenen halb fertigen Schlossmechanismen. Die Werkzeuge waren an den Außenwänden über den Werkbänken aufgehängt, auf die durch große Fenster das Tageslicht fiel. In einem Seitenraum war die Schmiede mit dem gewaltigen Blasebalg und der Esse eingerichtet. Die Gesellen teilten sich die Arbeitsbereiche und hatten dafür die Verantwortung zu tragen.

Nach einigen Tagen, an denen Raymund das Gefühl bekam, den Leuten nur im Weg zu stehen, schickte ihn der Obergsell mit dem Handkarren los.

»Bring gefälligst die Sachen, die auf dem Zettel stehen, hast lang genug dumm herumgestanden!«

Raymund schob den Karren aus dem Hof, nahm das Lehrbuch heraus und versuchte zu wiederholen, was da stand.

»Zu den Aufgaben der Büchsenmacher gehört die Herstellung aller Arten von Feuerwaffen wie Handbüchsen, Kanonen, Mörser und …« Der Meister Benzenauer hatte ihn die Grundsätze des Berufs in sein Lehrbuch schreiben lassen. Auswendig lernen war überhaupt nicht Raymunds Stärke, aber bis zur Brotzeit sollte er es können. »Und … und … Bombarden.« Immer wieder fiel ihm dieses dumme Wort nicht ein, Bombarden. Es juckte ihn in den Fingern, irgendein Werkzeug in die Hand zu nehmen. Stattdessen Theorie und unverständliche Begriffe wie Bombarden. »Sie beherrschen das Richten und Laden, die Instandhaltung und Reparatur der Stücke.« Den ganzen Weg, mit dem Handkarren in der einen und dem Lehrbuch in der anderen Hand, bläute er sich leise vor sich hinredend ein, was alles auf ihn zukommen würde. »… daneben stellen sie auch Geschosse, Schwarzpulver und Zündmechanismen her.« Ja, wenn er das denn schon tun dürfte, stattdessen fuhr er wie mit einem Kinderwagen in der ganzen Stadt umher, um die Einzelteile zusammenzuholen, die die Gesellen benötigten. Zuerst Kupferplatten beim Behringer, dann Holzschäfte aus Nussbaum vom Meister Madringer, der im Jakoberviertel seine Schreinerei hatte. »Der Büchsenmacher hat Kenntnisse von Metallguss für die Laufherstellung, von Alchemie für die Pulvermischung, von Mathematik und vom Messwesen für den Zielvorgang und von Architektur für das Zielobjekt.« Je schneller er das Zeug im Kopf hatte, desto früher würde er hoffentlich an die Werkbank dürfen. Als er den Hinteren Lech an der Schlossermauer überquerte, beherrschte er den Text aus dem Lehrbuch.

»Gut gelernt, Raymund!«, lobte ihn der Meister, als er bei seiner Rückkehr alles fehlerfrei aufsagen konnte.

Dem Obergsell, dem nichts zu entgehen schien und der von hinten neugierig zugehört hatte, gefiel es anscheinend überhaupt nicht, wenn jemand anderer als er vom Meister ein Lob bekam. »Mach dich nicht so wichtig, du Hundsfott aus dem Wald, du wirst auch noch auf die Welt kommen, dafür werde ich schon sorgen«, schnauzte er ihn im Vorbeigehen an.

Raymund schluckte. Er fand diese Bemerkung ziemlich unverschämt, wo er doch so stolz auf sich war. Einem Lehrling war allerdings jede Widerrede verboten.

»Der Meister hat ihm zwar das Prügeln der Lehrbuben verboten, aber er hält sich nicht immer dran. Du musst aufpassen, Raymund, vor allem, wenn er nach seinem freien Tag noch nicht ganz nüchtern ist und die Lehrbuben wie wild rumscheucht.« Remigius, einer der Schäfter, hatte die Szene beobachtet. Er gab ihm einige gute Ratschläge, wie er sich vor den Hieben des Obergsells rechtzeitig abducken solle.

Im Hause Benzenauer wurde mittags und abends gekocht. Um die Zwischenmahlzeiten mussten die Gesellen sich selbst kümmern und die schickten ihre Lehrlinge.

An einem Novembermorgen hatte Raymund gerade seinen Wagen vor der Werkstatt abgeladen, da wartete bereits der nächste Auftrag. Immer dieselben Fuhren, seit Wochen! Wenn das nicht bald aufhört mit diesem langweiligen Karrengeschiebe von der Oberstadt in die Unterstadt, raus in die Jakoberstadt und zurück ins Lechviertel! Immerhin kann ich den Jos jeden Abend fragen, was mich brennend interessiert.

»Jetzt kannst du gleich die Brotzeit holen, oben in der Stadtmetzg die Würste und drüben in der Bäckerei das Brot, verstanden? Aber beeil dich, Rotschopf, du hast beim Madringer viel Zeit gelassen, deine Trödelei werd ich dir austreiben«, nörgelte der Obergsell hinterher.

»Jawohl, Obergsell.« Er nickte betont untertänig und freute sich darüber, dass ihm der Spott über seine roten Haare überhaupt nichts mehr ausmachte. Und es kam ihm einer von Karls aufmunternden Sprüchen in den Sinn. Nur einfache Menschen beurteilen andere nach Äußerlichkeiten. Der gute Karl, Raymund lächelte nur. Von dir lasse ich mich nicht unterkriegen, Greisinger!

Im Lechviertel waren zwar viele Handwerksbetriebe in kurzer Reichweite angesiedelt, aber bis zur Stadtmetzg war es ein weiter Weg, sodass es einige Zeit dauerte, bis er den Rundgang beendet hatte.

Als Raymund den Gesellen, die es sich an ihrem Tisch gemütlich gemacht hatten und ungeduldig auf ihre Brotzeit warteten, den Korb auf den Tisch stellte, stand ein großer, stattlicher Mann mit einem riesigen Hut in der Werkstatt. So wie er aussah, musste er ein Patrizier oder ein Abgesandter eines mächtigen Fürsten oder gar Königs sein.

Der Benzenauer kümmerte sich persönlich um den hohen Gast und Raymund spitzte vom untersten Platz des Gesellentisches die Ohren.

»Wir haben seit einiger Zeit das Radschloss durch das Schnapphahnschloss ersetzt, Herr Castranova. Die grundsätzliche Änderung gegenüber dem Radschloss ist, dass jetzt der Hahn das aktive Element wird. Er wird von der Schlagfeder nach vorn geschleudert und trifft mit seinem Feuerstein auf einen Feuerstahl, der über die Pfanne geklappt ist.« Raymund entging nicht, dass der kluge Benzenauer die eigentliche Erfindung für sich behalten hatte.

Der hohe Gast schien sehr an den Neuerungen interessiert. »Um wie viel verkürzt sich denn die Ladezeit gegenüber herkömmlichen Hakenbüchsen2?«, wollte er wissen. Endlich wurde es interessant. Raymund rückte ein Stück näher, um ja nichts zu überhören.

»Das Entscheidende ist nicht die Verkürzung der Ladezeit, sondern die Zuverlässigkeit der Zündung, die dem Schützen die Sicherheit gibt, dass die Kugel tatsächlich fliegt, wenn die Schlagfeder zuschlägt. Das Wild muss getroffen sein, bevor es das Geräusch wahrnehmen kann. Denn jede Fehlzündung bedeutet, dass das Tier aufgeschreckt davonläuft. Zudem ist der Waidmann nicht mehr, wie bisher, mit der ständig brennenden Lunte vom Wetter abhängig«, erklärte der alte Benzenauer.

»Der hohe Herr kommt vom Dogen in Venedig, hab ich mir sagen lassen; dort brauchen sie immer wieder die neuesten Waffen für die Besatzungen ihrer Handelsschiffe im Kampf gegen die Piraten«, erklärte der Obergsell den anderen am Tisch und grinste so breit, dass seine Zahnlücke sichtbar wurde. Er erntete anerkennende Blicke am Tisch, doch der Meister drehte sich mit warnendem Blick zu den Gesellen.

»Sei still, wenn der Meister spricht!« Der Schäfter Remigius war anscheinend der Einzige, der es wagte, dem Ober­gsell zu widersprechen.

Der Obergsell, das wurde Raymund von Tag zu Tag deutlicher, war der heimliche Herr im Hause. Selbst der Benzenauer kam um seine Meinung nicht herum, vor allem, wenn es um technische Dinge ging.

»Halt du dein Maul, Remigius! Schließlich war ich es, der dieses Schnapphahnschloss entwickelt hat, und frag den Meister, wo wir ohne mich wären!«

»Benehmt euch wenigstens, wenn ein Gast im Haus ist!«, fuhr der Meister dazwischen.

Dem vornehmen Herrn war die Streiterei am Tisch nicht entgangen.

»Eure Waffen sind gefragt und sicherlich ist Eure Schmiede eine der fortschrittlichsten nördlich der Alpen. Dann geht es jetzt nur noch darum, dass die Waffe so dimensioniert wird, dass sie nicht nur vom Infanteristen, sondern auch vom Reiter abgefeuert werden kann.« Raymund begriff sofort, wie listig der große Herr seine Frage gestellt hatte: Weil die Venezianer so eine mächtige berittene Armee haben! Ganz sicher nicht!

»Unsere Waffen sind reich verzierte Prunkwaffen, allein die Hirschhorn-Einlegearbeiten, die wir nur auf Bestellung anfertigen, benötigen dreimal so viel Zeit wie der Rest der Büchse. Sie werden bisher hauptsächlich von Jägern benutzt, denen das Laden der Waffe keine besonderen Schwierigkeiten bereitet, da es in der Einsamkeit des Waldes oder der Stille des Vogelherds geschieht.«

»Da seid Ihr zu bescheiden, Meister Benzenauer! Eure Waffen haben das Zeug, nicht nur bei der Jagd, sondern auch im Kampf auf den Schlachtfeldern eingesetzt zu werden und den Reitern mit ihrer Leichtigkeit und einfachen Handhabung bei jedem Wetter einen großen Vorteil zu verschaffen. Die Treffsicherheit allerdings muss auf hundert Schuh Entfernung garantiert sein. Auf jeglichen anderen Zierrat könnt Ihr getrost verzichten. Ein Reiter benötigt lediglich einen großen Kugelknauf, der ihm ein schnelles Ziehen ermöglicht.«

»Ihr meint also, Herr Castranova, dass ich meinen Betrieb von Prunkwaffen auf Gebrauchswaffen für Kriegsleute umstellen soll?«

»Wir sprechen von einem Volumen von fünfhundert Waffen jährlich. Könnt Ihr das bewerkstelligen, Benzenauer?«, fragte Castranova provokant, aber selbst Raymund wusste, dass diese Zahl aus der Luft gegriffen war.

»Warum geht Ihr nicht nach Suhl, Nürnberg oder München. Da sind sie viel eher auf so große Mengen eingestellt«, warf der Obergsell vorlaut ein, und seine Zahnlücke entließ einen Schwall Spucke über den Tisch.

Der Meister schaute verärgert in seine Richtung.

»Mein Auftraggeber braucht kurze, treffsichere und wetterunabhängige Waffen ohne viel Zierrat. Darüber solltet Ihr nachdenken. Es gibt wohl bereits in Frankreich sogenannte Pistoletten, die nicht viel länger sind als eine Elle, jedoch lässt ihre Zielgenauigkeit sehr zu wünschen übrig. Wenn Ihr Euch anstrengt, Benzenauer, soll es zu Eurem Schaden nicht sein. Ich komme in einem halben Jahr wieder, bis dahin habt Ihr Zeit, das Ganze durchzurechnen.«

»Dann kann ich meine Schäfter wohl nach Hause schicken. Nein, nein, sagt Eurem Herrn, dass ich mir einen solchen Auftrag schon sehr gut überlegen muss.«

»Denkt an die Zukunft Eurer Werkstatt: Jäger und Fürsten, Bischöfe und Herzöge, sie alle brauchen Frieden, um auf die Pirsch zu gehen, brauchen Geld, um sich Eure teuren Waffen kaufen zu können. Aber die Zeiten ändern sich, es wird Krieg geben, den der gewinnen wird, der mit der Entwicklung geht.« Castranova nahm seinen mit Federn geschmückten Hut und verließ mit ausladender Geste den Raum.

»Aufgetakelter Wichtigtuer! Wenn es nach mir ginge, würde ich die Produktion von diesen Spielzeugpistoletten den Franzosen überlassen«, murmelte der Obergsell vor sich hin. »Ja, ja, die Treffsicherheit! Der Graf von Oettingen-Oettingen war schon dreimal mit seiner Büchse zum Nachbessern hier, weil er angeblich innerhalb von vier Wochen siebenmal in seinem Revier auf denselben Zwölfender geschossen hat und dieser immer noch brunftvergnügt herumläuft.«

Alle am Tisch lachten über die Geschichte des Obergsells.

»Wie kann der Obergsell ungestraft seine Klappe so aufreißen?«, raunte Raymund dem Schäfter Remigius zu, der neben ihm saß.

»Er ist ein genialer Tüftler und er hätte längst seinen Meister gemacht und eine eigene Werkstatt eröffnet, wenn ihm die Zunft nicht aufgrund der zahlreichen Anklagen wegen Unruhestiftung die Zulassung verweigert hätte«, sagte Remigius so leise, dass ihn der Obergsell nicht hören konnte. »Aber psst, im Vertrauen, der Obergsell hat eine große Schwäche, er ist ein Vollmondsäufer, der sich in seinem Suff nicht mehr unter Kontrolle hat, in Schlägereien gerät und auch schon die eine oder andere Waffe benutzt hat. Der Meister hat ihn mehrmals freikaufen müssen und ihm so die Haut vor dem Pranger oder dem Gefängnis gerettet.«

Aha, sieh einmal an! Auch er hat einen wunden Punkt. Ich werde meinen Meister machen, da kannst du Gift darauf nehmen, Herr Obergsell!, dachte Raymund und lächelte in sich hinein. Sein Ehrgeiz war geweckt.

Von einem schrecklichen und wundersamen Cometen, so sich am Dienstag nach Martini dieses laufenden Jahres 1577 am Himmel erzeiget hat.

Es hat der Allmächtige / Ewige / Gütige und Barmherzige Gott / uns abermals ein Schrecklichs Wunderzeichen für unser Augen dargestellet / und wir müssen es sehen wegen unserer schweren und grossen sünde / ob welcher wir nicht allein dem Zorn Gottes und der zeitlichen straffe hie / und nach diesem leben der ewigen verdammnis / nicht entgehen mögen / wo wir uns nicht in dem waren Christlichen Glauben zu Gottes Barmherzigkeit bekeren …

Wie dann der Menschen unverstand die Wunder und Zeichen Gottes allwegen anders auffnimbt und zueignet / ist ihm zugethan ein langer und schrecklicher Schwanz / von der linken seiten des Mittags Ragts hinauff uber die Stern Chyron fast bis zu dem Steinbock /

Jiří Daschitzsky, Prag, 1577

2 Gewehr mit langem Lauf, das aufgeständert werden musste.

3

Leeder, ein Tag vor Mariä Empfängnis3 1577

Die Marianischen standen an diesem kalten Abend im Hof des Keggelbauern und schauten hinauf in den wolkenlosen Nachthimmel. Die Stimmung schwankte zwischen Entsetzen und Faszination.

»Meine Leit, was des wohl mea alls bedeided. Dea wead immer no greaßer und greaßer!«, fand die Schmelzerin als Erste ihre Sprache wieder.

»Eisre Kiah bleared dia ganz Nacht und gennt bloß no d’Hälfte Milch«, warf Theo vom Hauserbauer ein.

»Vielleicht isch des aber au a guats Zoache, dr Stern vo Bethlehem hot schließlich unseren Heiland verkünded«, wandte die Halblützerin ein.

»Dea Komet kommt doch immr nächer, der wead jede Dag heller, des sigt doch a Blinder. Mir kenned froa sei, wenn des bloß a Warnung isch vo eiserm Herrgott und ear dean Komet idda auf eis rafalla losst.« Die junge Keggelbäuerin trat in die Fußstapfen ihrer Schwiegermutter, die seit Monaten bettlägerig war, und hielt die Tradition des Gastgebens für die Marianischen aufrecht. »Kommet, gang mer in d’Stuba«, forderte sie die Umstehenden auf.

Die Mesnerin hatte ihren Rosenkranz schon um die gichtigen Finger gewickelt. »Mir sollted immer no mehr beata, des isch dia oanzig Kraft, dia wo mir hand.«

»Und was au, wenn des a beas Zoache isch?«, meldete sich Vitus Linder. Inzwischen hatten alle an dem großen Tisch Platz genommen.

»I glob, dass der Komet a Prophezeiung isch, dia mir bloß no idda verstanded. Dea schaugt doch aus wia a riesiger Beesa.« Die Lehnerin war nun die Älteste in der Runde, nachdem die Hefflerin im Sommer elendiglich an ihrem Kropf erstickt war und der dazugerufene Bader machtlos ihren Todeskampf hatte ansehen müssen.

»Die kloi Hex hot zwoi Kräha, dia ständig um se rumflattred. Des isch doch Beweis gnua, dass dia am Deifl diena duad«, warnte die Mesnerin vor der jungen Helena Rehlinger und bekreuzigte sich. »Solang dia Ketzerei it aufheart im Schloss doba, wear mer koi Ruah it hau; eis hülft entweder der Inquisitor oder der Fugger. Aber der oine gibt koa Antwort und fiar de andere sind mir viel z’ kloane Leit.«

»Der Mayer isch des Problem, dear ziagt des ganze Gschmoas her. Dean miass mer vertreibe. Dear isch des geistige Oberhaupt«, warf die Mesnerin ein. »Fünf Mol hammer dean Ziegekopf an sei Diar g’schlage. Ums Eck hammer ean beobachtet: Käsweis war er, dr Mayer, aber dann hot er dös Bluat ra g’wäsche«, erzählte der Theo stolz.

»Scheints hot a si davo idda beeindrucka lao«, bemerkte die Keggelbäuerin.

»Dann muass ma ean andersch vertreibe, Heiliger Florian, hilf!«, nuschelte die Mesnerin vor sich hin. »Was isch eigentlich mit em Magnus? Der war doch dunda z’Augschburg«, fragte Vitus Linder besorgt nach dem Moosmüller, den die Marianischen im Sommer zum Großinquisitor geschickt hatten, um Abhilfe gegen die ketzerischen Rehlinger zu erbitten. Die Herren über Leeder waren Schwenckfelder und damit Häretiker. Als Hufschmied war der Veit einer der wenigen, die nicht dem Wetter ausgesetzt waren. Seinen bescheidenen Wohlstand hatte er den Aufträgen aus dem Schloss zu verdanken. Alles Flehen der Marianischen, die katholischen Fugger mögen den Rehlingern das Dorf abkaufen, war vergebens gewesen.

»Dr Magnus isch krank und mit seir Mihle got’s bald de Bach na«, meldete sich die Halblützerin.

»Mir weared au immer weniger und in a baar Johr hot si des ganze Thema, dass mir mea katholisch weared, erlediged, weil mir dann halt all luthrisch sind«, befürchtete Theo vom Hauserbauer.

»D’Els hot anscheinend em Herzog kund dau, dass dea Komet im Januar verschwunde isch, drum losset eis de Roasekranz anfanga und beata, dass des Unglück vorbeifliagt.«

Die Schmelzerin hatte kaum ausgesprochen, als die Mesnerin schon den Schmerzhaften anstimmte und sich so die Angst vor dem Kometen in die Gedanken jedes einzelnen zurückzog. Nur Halblützers Lina ließ sich von den Sorgen der Marianischen nicht anstecken und kugelte mit großer Begeisterung unentwegt einen Apfel von der einen Hand in die andere, während sie Unverständliches murmelte.

3 8. Dezember

4

Augsburg, Dezember 1577

Die Familie Benzenauer besuchte mit den Mitarbeitern den protestantischen Gottesdienst in der Barfüßerkirche. Raymund aber war mit Remigius und Jos, den einzigen katholischen Angestellten Benzenauers, aus Freundschaft in den Dom zur sonntäglichen Messe gegangen, um dem ungeliebten Obergsell aus dem Weg zu gehen, und das, obwohl die Rehlinger Protestanten und Anhänger der Lehre Caspar Schwenckfelds waren. Von den Bildern, der Musik und den schönen Prozessionen im Dom war er beeindruckt, auch wenn dieser Prunk von seiner Familie als unwichtiges Beiwerk angesehen wurde.

Mit Karl hatte er sich oft über die Heiligen, den Papst und die Kirche unterhalten. Die Predigten, die im Dom gegen Protestanten, Juden und Türken gehalten wurden, empfand er als Anstiftung zu Hass und Hetze. Als er einmal seinem Onkel Hieronymus davon erzählt hatte, wie die Domprediger über Ketzer und Häretiker wetterten, versprach dieser ihm, ihn mit zu einer Witwe zu nehmen, die Konventikel abhielt, wie er sie von seinem Elternhaus gewohnt war.

»Du hättest schon viel früher kommen sollen mit diesem Problem, Raymund!«, hatte sein Onkel gesagt. »Ich war der Meinung, dass du mit den Benzenauers zu den Barfüßern gehen würdest.«

5

Konstantinopel, Januar 1578

»Die neue habsburgische Delegation unter dem Orator4 Ungnad wird in wenigen Wochen in der Stadt erwartet. Sultan Murad befiehlt dir, bei allen Zeremonien der Begrüßung, des Kniefalls und der Geschenkübergabe an seiner Seite zu stehen.«

»Welch große Ehre, gerne werde ich dem Befehl des großmächtigen Sultans nachkommen«, antwortete der Dolmetsch dem Minister.

»Für deinen Vorschlag allerdings, Spione ins Abendland zu senden, um Zugang zu den Waffen der Habsburger zu erhalten, fehlen uns die geeigneten Kandidaten. Von denjenigen, die dem Sultan bedingungslos ergeben sind, wird erwartet, dass sie neben unserer Sprache des Deutschen und Italienischen mächtig sein müssen. Keiner unserer Gefangenen bringt diese Voraussetzungen mit. Man wird wohl mit dem Anwerben hier im Palast beginnen.« Der Minister lächelte. Dem Dolmetsch verging mit einem Schlag das Lachen.

4 Diplomatischer Vertreter des Kaisers.

6

Dillingen, Sankt Sebastian5 1578

»Beim Grafen von Waldburg scheint ein ganzes Heer von Hexen ihr Unwesen zu treiben. Seine Eminenz hat für insgesamt neun Weibspersonen die Hinrichtungen erwirkt, und stellt euch vor, dreizehn weitere sind noch inhaftiert, wobei sich eine mit einem Scherben die Adern aufgeritzt hat und verblutet ist. In Isny und Wangen laufen die ersten Examinationen durch den Ravensburger Henker.«

Die Zuhörerschaft nickte interessiert. Paschalis gab sich teilnahmslos. Er verachtete den Wichtigtuer Coelestis, der regelmäßig das Mittagessen im Refektorium benutzte, um mit lauter Stimme seine hässlichen Neuigkeiten herauszuposaunen. Was für ein Unterschied zu den Essenszeiten bei den Benediktinern in San Paolo fuori le mura, wo Stillschweigen herrschte und aus der heiligen Schrift vorgelesen wurde. Nicht nur das Gesagte der geschwätzigen Dominikaner, sondern auch der Lärm schmerzte ihn.

Wenigstens lassen mich die Weißröcke in Frieden, dachte er sich. Er stand bereits fünf Jahre in den Diensten des Kardinals. Die Nähe zu ihm schützte ihn. Seines Körpers hatte sich niemand mehr bemächtigt. Tiziana di Santa Fiora, die berühmteste Kurtisane Roms, hatte ihn nach seiner Flucht aus dem Kloster aufgenommen, und sie hatte ihn gelehrt, den eigenen Leib zu genießen. Es hatte ihm alles bedeutet, wenn sie ihn zu sich in ihr Bett gerufen hatte und ihn teilhaben ließ an ihrer Lust. Sicherlich hatte sie ihn für ihre Zwecke benutzt, aber niemals hätte er ohne sie erkannt, welch ausdauernde Fähigkeiten ein Mann zu erlernen imstande war. Er war immer wieder versucht, sich einzugestehen, dass sie ihm fehlte, doch ihre schändlichen Taten verhinderten es. Sie hatte ihren Vater ermorden lassen, für ihren eigenen Vorteil den Mörder verraten und sogar die Unterschrift des Papstes gefälscht. Diese letzte Intrige war es gewesen, die dem Kardinal den Weg in die deutschen Lande geebnet hatte, wo er Ketzer und Hexen mit Feuer und Schwert bekämpfte. Paschalis war ihm treu ergeben, als Büßer wollte er mindestens doppelt so lange enthaltsam leben, wie er bei der Santafiora der Lust gefrönt hatte. Er unterdrückte seinen Trieb, auch wenn es ihm manchmal schwerfiel. Die Beschäftigung mit dem Verfassen von Klageschriften und Anträgen zu peinlichen Befragungen und Hinrichtungen hatte ihn anfangs nachdenklich gestimmt. Inzwischen war es ihm gleichgültig geworden. Das Schlimmste für ihn waren Gewaltanwendungen jeglicher Art. Ihm drehte sich dabei stets der Magen um. Nach der ersten Hinrichtung, zu der er den Kardinal persönlich begleitet hatte, hatte er flehentlich auf seine Tafel geschrieben: »Bitte, bitte keine weiteren Hinrichtungen.«

Der Kardinal sah es ihm nach und ließ ihn im Skriptorium malen und zeichnen, anstatt ihn auf »blutige Reisen« mitzunehmen, wie er es nannte. Dort war Paschalis zufrieden mit sich und der Welt. Was ihm wirklich fehlte, war etwas anderes: die warme Sonne Roms, die frische Brise vom Meer und die Küche der Santafiora.

5 20. Januar

7

Augsburg, 18. Mai 1578

Raymund hatte sich an diesem Sonntagabend mit seinem Onkel getroffen, um gemeinsam mit ihm in das großzügige Patrizierhaus der Witwe Eiselin unterhalb des Weinmarktes zu gehen. Es war ihm, als würde er nach Hause kommen. Wie er es unzählige Male in Leeder erlebt hatte, traf er auf eine begeisterte und froh gelaunte Versammlung von Schwenckfeldern aller Altersgruppen, Geschlechter und Stände.

»Schau an, ein junger Rehlinger aus Pilgerhausen! Sei herzlich willkommen, Raymund«, sagte die Witwe und umarmte ihn. Auch die anderen nahmen ihn freundlich auf.

Nach der Bibellesung, die von dem Herrn handelte, der seinen Knechten Talente anvertraute, die zwei der Knechte vermehrten, der dritte aber vergrub, stand ein stattlicher Mann in mittlerem Alter auf. Er hatte einen schwarzen Bart und ebenso schwarzes schulterlanges Haar.

»Wer ist das?«, flüsterte Raymund seinem Onkel zu.

»Der Goldschmied Altenstetter, hast du noch nie von ihm gehört?«

Raymund schüttelte den Kopf. Er war fasziniert von diesem Mann, der eine Auslegung und Erklärung der Bibelstelle vortrug. Sein in Schwarz und Grün gehaltener Umhang aus feinstem Samt verstärkte seine imposante Erscheinung und wies ihn als Meister und Gildenmitglied aus. Er verstand es, mit der Kraft seiner Worte und einer großen Gestik die Anwesenden in seinen Bann zu ziehen. »… denn jeder, dem unser Gott, der Schöpfer des Lebens und aller Dinge, eine Fähigkeit gegeben hat, verwende diese, damit sie sich entwickle und der Gemeinschaft oder einem höheren Zweck diene, denn dafür hat er sie uns gegeben. Wer seine Bestimmung noch nicht gefunden hat, suche nach ihr, wer seine Talente nicht kennt, frage nach ihnen und wühle im Sand des Alltäglichen, um Gott dem Herrn gefällig zu sein und seinem Dasein einen Sinn zu geben. Oft werden unsere Gaben unterdrückt durch Herkunft, Stand oder andere Hindernisse. Diese gilt es zu überwinden. Betet zum Herrn, dass er euch den Weg leite, um zu erkennen und zu Gottes Werkzeug zu werden, Amen.« David Altenstetter verneigte sich vor der aufmerksamen Zuhörerschaft, die ihm beipflichtend zunickte, und nahm wieder auf seinem Stuhl neben der Witwe in der ersten Reihe Platz.

Die Predigt hatte Raymund sehr nachdenklich gemacht. Er wusste, dass er ein Talent für den Beruf des Büchsenmachers hatte, und ja, er würde eine besondere Waffe erfinden. Aber waren seine Gründe dafür gottgefällig oder eitel und nichtig? Er musste sich eingestehen, dass er mit seinem Talent glänzen wollte. Es nagte an ihm, denn er wusste, er wollte eine Waffe erschaffen, um nie wieder hilflos dazustehen, nie wieder ohnmächtig zu sein. Er fragte sich, ob er beim Benzenauer auf dem richtigen Platz war oder ob Gott vielleicht etwas ganz anderes mit ihm vorhatte.

»Dieser Mensch hat etwas Begeisterndes und gleichzeitig Geheimnisvolles; Ihr müsst mir diesen Mann unbedingt vorstellen, Oheim«, raunte Raymund.

Nach dem Gottesdienst servierten die Mägde der Witwe Gebäck und Getränke, und ganz beiläufig machte ihn sein Onkel mit dem Goldschmied bekannt.

»Wie gefällt es dir denn in Augsburg, mein junger Bruder?«, wandte sich Altenstetter an Raymund. »Es ist bestimmt nicht einfach, sich an die Stadt zu gewöhnen, wenn man in den Wäldern aufgewachsen ist. Ich kann mir das nur schwer vorstellen, denn ich habe ausschließlich in Städten gelebt und gearbeitet.« David Altenstetter war noch größer, als es während seiner Ansprache den Anschein gehabt hatte.

»Leeder ist nicht so hinterwäldlerisch, wie Ihr vielleicht vermuten mögt. Wir sind ein Gut, an dem mehrmals im Jahr von weit her Händler, Kaufleute und viel Volk zusammenströmen, und wir haben eine richtige kleine Lateinschul…«

»Mein Neffe hat es nicht leicht beim Benzenauer«, fiel Hieronymus ihm ins Wort. »Neid, Eifersucht und auch seine roten Haare sind immer wieder Anlass zu Streitereien und Spott.«

»So schlimm ist es nicht. Mein Oheim meint es nur gut mit mir«, Raymund war es peinlich, dass der Onkel seine Haare erwähnte. »Ich werde in zwei Jahren meine Gesellenprüfung machen und sehen, ob ich dann weiter beim Benzenauer arbeite. Aber es stimmt schon. Der Obergsell macht mir Schwierigkeiten, wo es nur geht. Es ist unmöglich, eigene Ideen und Vorschläge zu unterbreiten. Dabei habe ich etwas entdeckt, was die Zielgenauigkeit eines Gewehrs entscheidend verbessern könnte.«

»Wie meinst du das?«, fragte der Goldschmied. Anscheinend hatte Raymund seine Aufmerksamkeit geweckt.

»Indem ich den Lauf nicht in einer geraden Naht verschweiße, sondern den gegärbten Stahl um einen Dorn drehe, wird ein Gewehr viel kürzer und handlicher. Somit wird der Lauf viel stabiler und die Kugel behält mit einer größeren Pulverladung wesentlich länger ihre Richtung.«

Der Goldschmied runzelte die Stirn. »Das klingt sehr interessant. Neben meiner Goldschmiedetätigkeit fertige ich hin und wieder Schusswaffen, die aber meist von reichen Auftraggebern zur Zierde und als Symbol ihrer Macht getragen werden. Getötet wurde damit wohl kaum jemand, dafür sind sie viel zu ungenau.« David Altenstetter lächelte und zwinkerte ihm vielsagend zu, nahm ihn etwas zur Seite und senkte die Stimme. »Warum kommst du nicht einmal in meine Werkstatt? Ich zeige dir, welche Art von Waffen bei mir hergestellt wird, und vielleicht kann ich dir ja bei deiner Idee von einem zielgenaueren Lauf behilflich sein?« Der Meister packte Raymund väterlich mit beiden Händen an den Schultern. »Ich wohne nicht gerade in der vornehmsten Gegend der Stadt, das hat Gründe, die ich dir heute noch nicht darlegen kann. Überleg’s dir, junger Bruder, es soll zu deinem Schaden nicht sein!«

Es machte Raymund sehr glücklich, das zu hören, und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, in der Werkstatt dieses würdevollen und geheimnisvollen Mannes zu arbeiten. Was für ein Unterschied zu Meister Benzenauer, der sich in seinen Entscheidungen vom Obergsell bevormunden lässt.

8

Augsburg, Schießfest auf der Rosenau, 30. Mai 1578

Raymund hatte auf seine Schwester am Roten Tor gewartet. Endlich, nach über acht Monaten, in denen er sie nicht gesehen hatte. Schon von Weitem hatte sie gewunken und war auf ihn zugelaufen, aber anstatt ihn zu umarmen, war Helena vor ihm stehen geblieben und hatte ihn mit ihren blauen Augen von oben bis unten angestarrt. »Raymund, du bist ja ein richtiger Mann geworden.«

Raymund packte sie mit beiden Händen an der Hüfte und hob sie in die Höhe.

»Wie stark und kräftig du geworden bist!«, lachte sie.

»Ich bin so froh, dass du da bist, Helena!« Er setzte sie ab und streichelte ihre Wange. »Und es gibt so viel zu erzählen.«

»Komm, lass uns auf die Rosenau gehen, ich will das Schießfest sehen!«

Er nahm ihre Hand und versuchte, sie zu berühren, wo es nur ging, am Knie und der Hüfte. Seine Schwester ließ es geschehen.

»Heilung von jeder Krankheit,

Entfernung von Warzen und Geschwüren,

Wunderwasser, Salben und Tinktüren,

Siehst du schlecht auf Nähe und Weite:

Ich bin an deiner Seite!

Beschwerden aller Art und den Wahn,

ich zieh dir deinen eitrigen Zahn!

Schöne komm herüber,

ich hab für dich was über!«, deklamierte der Quacksalber mit rollendem R und in einem bassigen Singsang von seinem offenen Wagen herunter, während die beiden im Gewühl der Menschen an seiner Karre vorbeigedrängt wurden.

»Na, du schöne Maid, schon alt genug für deinen Rotfuchs?«

»Beleidige meine Schwester nicht, sonst kriegst du es mit mir zu tun, Großmaul!«, schrie Raymund dem Aufschneider zu.

»Pah, Schwester, dass ich nicht lache, da hat man deiner Mutter wohl einen Kuckuck ins Nest gelegt.«

Raymund legte schützend seinen Arm um Helena. Schon waren sie umringt von lachendem Volk.

»Ich hau dir auf dein freches Maul, so schnell kannst du gar nicht schauen!«, brüllte Raymund und wollte zu dem Quacksalber auf den Wagen steigen.

Helena hielt ihn mit aller Kraft fest. »Lass ihn, Raymund, du bringst uns nur in Schwierigkeiten.« Sie wandte sich an den Rüpel. »Hütet Eure Zunge, mein Herr, und beschränkt Eure Reden auf die Dinge, mit denen Ihr den Leuten das Geld aus dem Beutel zieht. Der Rat in Augsburg, in dem meine Familie seit mehreren Generationen einen Sitz innehat, hört es gar nicht gern, wenn eine Rehlingerin öffentlich beleidigt wird.«

Augenblicklich kehrte Stille ein.

»Ich entschuldige mich, Fräulein Hochwohlgeboren; es war keinesfalls meine Absicht, irgendetwas Schlechtes über Eure Familie zu verbreiten. Lasst mich Euch zum Zeichen meines guten Willens ein kleines Geschenk mitgeben, ein Wässerchen vom Feinsten«, sagte der Mann nun zuckersüß und hielt ihr ein kleines Glasfläschchen entgegen.

»Behaltet es für Eure Kunden; ich habe kein Vertrauen in Eure Medizin. Komm, Raymund, du wolltest mir doch so vieles zeigen.«

Dem Quacksalber blieb für wenige Augenblicke der Mund offen stehen.

Raymund ließ sich von Helena zurück in die Menge ziehen. »Wenn du mich nicht zurückgehalten hättest, wäre ich dem Angeber an die Gurgel gesprungen.«

»Das ist ja schön, dass du mich verteidigen willst, aber mit Gewalt ist diesem Menschen nicht beizukommen. Denk an die Worte der Schrift: Was du dem geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan.«

»Du hast ja recht, Helena! Es tut mir leid, dass ich mich immer wieder reizen lasse.« Er nahm sie bei der Hand und sah in ihre funkelnden Augen. Es war das erste Mal, dass Mutter ihr erlaubt hatte, ihn in Augsburg zu besuchen, seitdem er beim Benzenauer seine Lehre begonnen hatte.

Sie wollte die Nacht bei Onkel Hieronymus verbringen und am nächsten Tag wieder zurück nach Leeder fahren.

»Ich habe bei Mutter lange genug gebettelt, bis ich die Erlaubnis zur Reise hatte.«

»Irgendwann musstest du mir ja das neue Kleid zeigen. Das steht dir ganz hervorragend.«

»Karl hat schon bei der Abfahrt in Leeder durch die Zähne gepfiffen, als er mir auf den Wagen half.«

»Das glaube ich dir gern. Der alte Schwerenöter!«

»Jetzt komm, erzähl mir alles.«

»Der Benzenauer ist kein schlechter Meister, er hat allen Gesellen und Lehrbuben während des Festes freigegeben. Das Problem ist, dass er unter der Fuchtel seines Obergesellen steht. Aber vielleicht bin ich beim nächsten Schießfest in zwei Jahren nicht mehr als Zuschauer dabei. Ich habe nämlich etwas entdeckt, was die Büchsen viel treffsicherer machen kann. Ich bräuchte jemanden, der mich das ausprobieren ließe! Beim Benzenauer ist das unmöglich. Onkel Hieronymus hat mich mit einem Goldschmied bekannt gemacht, David Altenstetter, ein Bruder von uns, bei dem könnte ich mir das vorstellen.«

»Es ist schön zu sehen, dass der Beruf dir liegt«, Helena griff ihm an den Oberarm und lächelte. »Vielleicht kannst du ja nach der Lehrzeit zu dem Goldschmied wechseln?«

»Ich weiß nicht, ob ich es so lange aushalte. Ich hätte so viele Ideen, aber dieser eifersüchtige Greisinger sitzt mir im Nacken und verhindert alles.«

»Jetzt denk nicht an diesen Obergsell, sondern lass uns das Schießfest genießen!«

»Die Schützen kommen von weit her, aus Frankreich, Italien und sogar aus Spanien, um ihre Waffen und den Umgang mit ihnen zu präsentieren. Die Sieger erhalten wertvolle Preise, aber noch wichtiger ist, dass man von heute auf morgen berühmt wird. Ich will es dem Greisinger zeigen und so schnell als möglich hier mitmachen!«

»Das wirst du, ich weiß es, Raymund«, dabei strahlte sie ihn an.

»Heute sind die Armbrustschützen dran. Sie ziehen mit einer großen Parade auf den Festplatz. Das dürfen wir auf keinen Fall verpassen.« Sie zogen an den Ständen vorbei, wo aus mächtigen Holzfässern Bier ausgeschenkt wurde, schlenderten um die Wurfbuden und die Felder, wo man Wettbewerbe im Steinewerfen und Laufen austrug.

»Schau, Helena, die Trompeter und Trommler stellen sich schon auf. Gleich beginnt die Parade.«

Auf einer Tribüne, von der aus man den ganzen Platz überblicken konnte, hatten Musikanten in bunten Gewändern angefangen, eine Fanfare zu spielen. Alle Blicke richteten sich auf den Eingang. Mit Hellebarden bewaffnete Landsknechte drängten die Menschenmasse dazu, eine Gasse zu öffnen. Die schweren Armbrüste auf den Schultern, mit der freien Hand in die Menge winkend, zogen die bunt gekleideten Männer unter dem Jubel der Zuschauer auf den Platz.

Raymund hatte für sich und Helena auf der unteren Stufe der Tribüne einen Platz gefunden, sodass sie das Geschehen etwas erhöht mitverfolgen konnten. Hinter den Armbrustschützen lief ein ganzer Tross Neugieriger, die versuchten, einen guten Standort zu ergattern, von den Ordnern aber am Zugang zur Schützenwiese unsanft gehindert wurden.

»Raymund, he! Hast du dort oben ein Plätzchen für mich?« Raymund suchte in der Menge nach dem Rufer, bis er den winkenden Jos entdeckte.

»Komm her, Jos, dich schmales Hemd bringen wir hier sicher noch unter.« Er packte den ausgestreckten Arm seines Freundes und zog ihn zu sich auf die Tribüne.

»Helena, das ist Jos, mein Freund und Mitlehrbub beim Benzenauer«, stellte er ihn vor.

»Ich wusste nicht, dass du so eine schöne Schwester hast, Raymund«, stammelte Jos und Helena lächelte verlegen. »Gestern hättest du da sein sollen; da haben die Franzosen mit ihren Pistoletten geschossen, da war so manche Fehlzündung dabei, was die Leute herzlich lachen ließ.«

»Haben sie denn getroffen?«

»Zu den aufgeständerten Hakenbüchsen ist noch ein großer Unterschied. Gewonnen hat auf die hundert Fuß ein Nürnberger. Den Namen hab ich schon wieder vergessen. Die Augsburger haben wieder nichts gemacht.«

Inzwischen hatten die Armbrustschützen Aufstellung genommen und jeweils zwei traten gegeneinander an. Der Sieger kam in die nächste Runde. Die Scheibenbuben liefen aufgeregt hin und her und streckten die Ergebnisse auf Tafeln in die Höhe. Der Jubel der Menge war jedes Mal groß, und bald gab es einen Favoriten, der bereits seine siebte Runde gewonnen hatte und unter frenetischem Beifall zum letzten Duell antrat.

»Kennt ihr beide den Langen?«, fragte Helena. »Dem drücke ich die Daumen und der wird wohl gewinnen.«

»Den kenn ich nicht, aber der wird es schwer haben, weil sein Gegner ist der alte Meichelböck aus den Stauden, der in den letzten Jahren immer gewonnen hat«, entgegnete Jos.

»Dann wird es Zeit, dass einmal ein anderer gewinnt, oder? Ich bin für den Jungen.«

»Gewinnen soll der Beste. Vielleicht ist es ja zum letzten Mal, denn die Armbrust ist früher oder später zum Aussterben verurteilt«, wandte Raymund ein. »Bis man sie aufgezogen und gespannt hat, ist die Beute entwischt und der Schütze selbst getroffen.« Jos lachte.

Die letzte Runde hatte begonnen. Obwohl er bisher immer mindestens neun oder zehn Ringe getroffen hatte, verzog dem Meichelböck ein leichter Windstoß den Pfeil, der gerade noch auf dem linken Rand der Scheibe einschlug. Die Scheibenbuben streckten eine Eins in die Höhe und sofort ging ein Raunen durch das Publikum. Der Meichelböck drehte sich laut fluchend und auf den Wind schimpfend ab.

Dann kam der lange Unbekannte an die Reihe. Siegessicher streckte er seine Waffe in die Höhe und drehte sich im Kreis allen Zuschauern zu. Eine Weile stand er ganz ruhig da, visierte das Ziel an und wartete auf einen windstillen Augenblick. Just in dem Moment, als er den Pfeil abschoss, wirbelte eine unberechenbare Bö über den Platz und wehte Hüte und Tücher davon. Auch der Pfeil flog zum Entsetzen der Zuschauer an der Scheibe vorbei in den Erdwall, der hinter den Zielen aufgeschüttet war. Die Fanfarenbläser traten in den Kreis und der Herold verkündete den Namen des Siegers. Simon Meichelböck wurde sofort von seinen Freunden aus den Stauden umringt und auf die Schultern gehoben.

»Na, da haben wir es ja wieder einmal gesehen. Diese Armbrüste haben keine Zukunft«, stellte Raymund fest.

»Schade, dass der Lange so ein Pech mit dem Wind hatte«, bemerkte Helena ein wenig ernüchtert.

»Ich lasse euch beide jetzt allein und gehe nach hinten in die Kegelhütte. Da geht es immer lustig her; nicht unbedingt etwas für junge Damen. Aber ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen werden.« Jos reichte Helena zum Abschied die Hand und verschwand in der Menge.

»Ich wollte noch so viel mit dir bereden, Raymund, lass uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass ich vor Sonnenuntergang bei Onkel Hieronymus sein muss.« Helena hakte sich bei ihm unter und schlenderte mit ihm über den Festplatz in Richtung Stadt.

»Das Leben auf dem Gut wird immer schwieriger; Mutter versucht zwar alles, um den schönen Schein zu wahren und das Schloss und das Dorf mittels der Erträge der Bauern gewinnbringend zu halten, aber diese Marianischen sind sich für nichts zu schade, um uns in Schwierigkeiten zu bringen. Karl hat erfahren, dass sie anonyme Briefe an das Hochstift und an den bayerischen Herzog schreiben, in denen sie uns der Häresie bezichtigen. Es werden allerlei Gerüchte gestreut und Unwahrheiten verbreitet, wir stünden mit dem Teufel im Bunde und würden alles Unglück anziehen. Das Vermächtnis von Caspar, das wir in Gedanken und Schriften bewahren, ist ihnen ein Dorn im Auge. Für sie sind wir Ketzer. Und nun versuchen sie, uns irgendeiner Tat zu bezichtigen, die unter die hohe Gerichtsbarkeit fällt.«

»Das wird ihnen schwerfallen. Ich würde sie ja aus dem Gut vertreiben. Sollen sie in irgendein katholisches Dorf umziehen und uns in Ruhe lassen. Vater hätte schon viel früher gegen sie vorgehen sollen! Er war viel zu gutmütig.«

»Vater hat das Evangelium gelebt, er hat die Bauern nie als Untertanen gesehen, sondern als Mitmenschen. Und das haben wir jetzt davon. Wohltaten erzeugen Rachegefühle.«

»Was wird unsere Mutter unternehmen?«, fragte Raymund.

»Ich habe einen Brief an Onkel Hieronymus dabei. Sie hofft wohl auf weitere Hilfe von ihm.« Eigentlich wollte Raymund Helena sein Herz ausschütten, aber es war viel tröstender, jemandem, den man so gern hatte, zuzuhören.

»He da, hereinspaziert! Wollt ihr beide nicht einmal in die Zukunft schauen? Marfisa liest euch für einen halben Kreuzer aus der Hand«, sagte eine tiefe, dunkle Frauenstimme und ließ die beiden innehalten. Unter einer Plane saß im Schneidersitz eine ältere Frau mit langen schwarzen Haaren und großen Ringen in den Ohren. Sie funkelte verführerisch mit den Augen. Helena zappelte aufgeregt.

»Komm, Raymund, das wollte ich schon immer einmal machen. Lass uns auf andere Gedanken kommen und einen Blick in die Zukunft werfen!«

Widerwillig ließ er sich von ihr unter die Plane ziehen. »Ich halte nichts von diesen Dingen; es geht doch immer nur um das Geld von leichtgläubigen Menschen. Dem Quacksalber vorher hast du nicht glauben wollen; jetzt lässt du dir von so einer Gauklerin aus der Hand lesen.«

»Ach bitte, bitte, Raymund, schau, ich hab hier auch schon einen Kreuzer für uns beide.«

»Nur nicht so zögerlich, junger Herr, setzt Euch ungeniert auf das Bänkchen, Bezahlung erfolgt im Voraus«, lud ihn Marfisa mit einem vielversprechenden Lächeln ein. Helena legte der Hellseherin die Münze in den Schoß, die sie sofort in einem kleinen Beutel an ihrem Gürtel verschwinden ließ. Raymund hasste Wahrsagerei, wollte Helena aber nicht enttäuschen. So ließ er es sich gefallen, dass Marfisa seine und Helenas Rechte nahm und unruhig zwischen den geöffneten Handflächen hin und her blickte. Lange Zeit sagte sie nichts, als wäre sie sprachlos von dem, was sie in den Händen las.

»Jetzt mach es nicht so spannend und sag schon, was die Zukunft für uns bereithält, oder fällt dir nichts dazu ein?«, unterbrach Raymund die unangenehme Stille. Er fühlte sich bestätigt, dass Handleser nur mit der Zukunftsangst der Leute Geschäfte machten.

Marfisa zögerte; anscheinend hatte sie irgendetwas gesehen, was sie sehr beunruhigte. Sie fuhr immer wieder mit ihren dünnen Fingern die Linien auf den Händen nach, schaute zuerst Helena, dann Raymund in die Augen, schüttelte den Kopf, verglich erneut die Hände und setzte endlich an zu sprechen: »Kind des Glücks und Kind der Sünde. So verschieden ihr auch in eurem Aussehen seid, eure Hände deuten etwas ganz anderes. So weit wie die Vergangenheit euch aus verschiedenen Richtungen zusammengeführt hat, so eng wird die Zukunft euer beider Leben vereinen. Doch stehen widrige Umstände bevor, die von allen große Geduld fordern werden. Ich sehe einen weißen Mönch und einen schillernden Mann, beide bereiten große Schmerzen. Was für die eine Hand sieben Monate, sind für die andere sieben Jahre. Die Macht des Propheten, die die eine Hand zerstören will, rettet sie; die Macht der Kirche, die die andere Hand verbrennen will, befreit sie.«

Raymund schüttelte den Kopf. Es gab für ihn keinen Sinn, und als Marfisa abschließend seine und Helenas Hand mit ihrer zu umschließen suchte, winkte er unwillig ab.

»Es hat mich viel Kraft gekostet«, versuchte sich die Hellseherin zu entschuldigen.

»Ich danke Euch, gute Frau. Ich werde Eure Worte stets bei mir tragen.« Helena stand auf und verabschiedete sich von Marfisa.

Raymund drehte sich um und ließ die Wahrsagerin grußlos zurück. »Ich habe genug gehört. Was für dummes Zeug. Kind des Glücks und Kind der Sünde, die Macht des Propheten und ein weißer Mönch! Was soll das denn alles bedeuten?«

»Vieles habe ich mir auch nicht erklären können. Das Schönste ist aber doch, dass wir beide eine gemeinsame Zukunft haben; das habe ich mir immer gewünscht. Ich liebe dich, mein Bruder, seit ich dich kenne, und so wie es aussieht, mein ganzes Leben lang.«

Raymund nahm seine Schwester in den Arm und küsste sie auf die Stirn.

9

Augsburg, zwei Tage nach Mariä Himmelfahrt61578

Otto stand vor der Barfüßerkirche und wartete. Seit seiner dringenden Aufforderung an Hieronymus Rehlinger, Raymund so schnell wie möglich aus Leeder in die Stadt zu holen, war ein ganzes Jahr vergangen. Aber sie schien erfolgreich gewesen zu sein. Der Denklinger Pfarrer hatte ihm in einem Brief – neben den Schwierigkeiten mit den Schwenckfeldern in Leeder, den hohen Schulden auf dem Gut und der Rehlingertochter, die mit Krähen spricht – auch von dem Sohn geschrieben, den man nach Augsburg geschickt hatte. Es konnte nur Raymund gewesen sein. Aber wohin hatten sie ihn geschickt? Vorsichtig hatte er bei der städtischen Handwerkergilde nachgefragt. Otto war entsetzt, als man ihm mitteilte, dass Raymund Rehlinger als Büchsenmacherlehrling beim protestantischen Benzenauer eingetragen war. Diese Berufswahl hatte doch wenig mit den geistigen Fähigkeiten zu tun, die er glaubte, seinem Sohn vererbt zu haben. Er hatte sich Raymund als Studenten vorgestellt, vielleicht im katholischen Italien, jedenfalls weg aus dem protestantischen Leeder. Er sollte ein guter Mensch und Christ werden. Nach der Jugend bei den Schwenckfelderketzern arbeitete er nun in einer Waffenschmiede. Otto seufzte. Hatte er überhaupt das Recht, Erwartungen in diesen Menschen zu setzen, den er selbst seinem Schicksal und der Huld und Güte Gottes überlassen hatte? Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Raymund in Augsburg vor den Nachstellungen der Inquisition sicher war. Er lächelte, wenn er daran dachte, dass das von ihm angestrebte Rechtsgutachten aus Ingolstadt dem Kardinal eine Untersuchung in Leeder untersagt hatte, vorerst. Ach, Raymund … in zwei Wochen würde er fünfzehn werden. Auch wenn er sich ihm nie würde offenbaren können, verspürte er ein unbändiges Verlangen, seinen Sohn wenigstens zu sehen. Er war immer wieder durch das Lechviertel spaziert, in der Hoffnung, dass er ihm begegnen würde, hatte sogar daran gedacht, beim Benzenauer anzuklopfen, um missionarisch tätig zu werden. Doch immer wieder hatte er gezögert. Schließlich kam er auf die Idee, dass der Kirchgang eine günstige Gelegenheit wäre. Für Otto war selbstverständlich, dass die Benzenauersippe im Lechviertel zu den Barfüßern zur sonntäglichen Predigt ging.

Da stand er nun vor der protestantischen Kirche. Es schmerzte ihn zu sehen, wie viele Menschen sich von seiner katholischen Kirche abgewandt hatten. Es waren eben nicht nur die Gebildeten, sondern Menschen aus allen Schichten, darunter viele Handwerker. Allen, die hier einzogen in ihrem protestantischen Einheitsgrau, hätte er am liebsten zugerufen: Kommt zurück, ihr seid auf dem falschen Weg! Seine Augen musterten die Handwerkerfamilien, die an ihren bunten Zunftwappen leicht zu erkennen waren, eine nach der anderen. Letztlich schlossen sie die Tore. Otto blieb alleine vor der Kirche zurück. Raymund war nicht dabei gewesen.

6 15. August

10

Augsburg, September 1578

Raymund war bereits im zweiten Lehrjahr. Es hatte sich nicht viel verändert, wenigstens durften er und Jos ab und zu an die Werkbank. Am heutigen Sonntag verließ er nach dem gemeinsamen Gottesdienst mit Remigius und Jos den Dom und verabschiedete sich von seinen Freunden. »Ich mache einen Besuch bei einem Freund meines Onkels«, sagte er, was nicht gelogen war. Raymund wollte der seit Langem ausgesprochenen Einladung endlich folgen.

»Untern Waeschen«7, nicht weit vom Jakobertor entfernt, hatte der Goldschmied Wohnung und Werkstatt. Die Gegend war bekannt für das eher ärmliche Handwerk. Seifensieder, Korbmacher, Scherenschleifer oder Pfannenflicker hatten sich hier niedergelassen. Raymund war aufgeregt, als er vor der Tür des dreistöckigen Hauses stand. Ob er sich an mich erinnert und mich empfangen wird? Ehrfürchtig zog er an der Glocke. Alle Fenster im Erdgeschoss waren mit dicken Eisenstäben vergittert, die Öffnungen und die Tür waren groß und prächtig in Stein gefasst, die Beschläge an der Pforte aus poliertem Messing glänzten in der Morgensonne. Die prächtige Unterkunft wollte nicht so recht in dieses Viertel passen, doch es war bekannt, dass dieses Haus dem Fugger gehörte und dieser im Keller einen Behandlungsraum für Syphiliten eingerichtet hatte, die aus dem ganzen Reich anreisten und sich von einer neuen Heilmethode Linderung und Genesung erhofften. Raymund wusste nichts Genaues darüber, nur dass es etwas mit Quecksilberdämpfen zu tun hatte.

Meister Altenstetter persönlich öffnete ihm. Raymund war ein weiteres Mal beeindruckt von der aufrechten Gestalt und schüttelte ihm die Hand.

»Guten Morgen, junger Freund, du hast meine Einladung doch nicht vergessen, komm herein!«

»Meister, ich bin gekommen, weil es mir … Weil die Sache mit dem … Weil ich Euch um einen großen Gefallen bitten möchte«, stammelte Raymund.

»Ich bin dein Bruder David, also nenne mich nicht Meister; denn wer außer Jesus selbst verdiente es zu Lebzeiten, dass seine Jünger ihn so nannten. Jetzt lass uns erst einmal ins Haus gehen, mein Weib wird dir gerne etwas zu trinken geben.« Er schob Raymund in den Hauseingang, in dem seine Frau im Sonntagsgewand wartete.

»Das ist Raymund Rehlinger, Catherina, ein Bruder im Geiste. Wir haben uns bei der Witwe kennengelernt. Er geht beim alten Benzenauer in die Lehre.«

Catherina umarmte ihn herzlich, wie es bei den Schwenckfeldern der Brauch war. »Sei willkommen, Bruder, ich nehme an, der Kaufmann Hieronymus ist ein Verwandter von dir. Wir kennen ihn, seit wir in Augsburg wohnen. Er war uns eine große Hilfe bei vielen Dingen und hat uns manche Tür geöffnet. Was möchtest du trinken?«

»Ich trinke gerne einen Saft, wenn es recht ist.« Raymund sah sich verwundert im Haus um. Schnell wurde ihm klar: Hier wohnte ein Mann, der weder seinen Wohlstand aus dem Zehnten der Bauern und der Arbeitskraft von Leibeigenen zog noch auf die Schieß- und Jagdleidenschaft der Leute höheren Standes angewiesen war wie sein Lehrmeister. Der Bewohner dieses Hauses stand mit Fürsten, Adligen und Königen in Verbindung und war reich.

»Raymund, hör zu! Bevor ich dir meine Werkstatt zeige, musst du mir das Versprechen geben, keinem Menschen davon zu erzählen. Sowohl über das, was du von mir erfährst als auch über das, was du sehen wirst.«

»Ich verspreche es Euch, Meister, äh Bruder«, verbesserte sich Raymund rasch.

»Na dann komm mit!« Der Hausherr schob ihn durch einen Korridor in den hinteren Teil des Hauses, bis eine ungewöhnlich breite, schwere Eichentür den weiteren Weg versperrte. David Altenstetter griff in seine lederne Seitentasche und holte einen kunstvoll geschmiedeten Schlüssel heraus, mit dem er das Schloss geräuschvoll öffnete.

Raymund war auf eine Werkstatt vorbereitet, wie er sie bei den Goldschmieden im Lechviertel gesehen hatte. Was sich hinter dieser Tür befand, ließ ihm jedoch staunend den Mund offen stehen. Er übersah die beiden Treppenstufen, die in die Werkstatt hinabführten. Der Goldschmied hielt ihn am Ärmel fest, sonst wäre er gestolpert. In dem gut sechzig auf dreißig Schuh großen Raum erinnerte wenig an die kleinen Kammern der Goldschmiede. Mehrere mannshohe Bronzeskulpturen, Dutzende Figuren aus Gips, eine Esse und Schmiedewerkzeuge ließen eher auf das Reich eines Bildhauers schließen. Im hinteren Teil des Raumes dampfte und brodelte es aus einer Vielzahl an Töpfen, Kesseln und Phiolen, ohne dass jemand im Raum gewesen wäre. An den Fenstern standen mehrere Tische, wohl Arbeitsplätze der Goldschmiede. Auf ihnen lagen Feilen, Scheren, Punziergeräte, Pinsel und Hämmerchen. Raymund war fasziniert von all diesen geheimnisvollen Geräten.