Das kleine Bücherdorf: Sommerzauber - Katharina Herzog - E-Book

Das kleine Bücherdorf: Sommerzauber E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

Sommer im kleinen Bücherdorf – die Leseabende werden länger, und in der Luft liegen Liebe, unerzählte Geschichten und alte Geheimnisse ...  Vintage-Mode und Bücher – das sind die zwei großen Leidenschaften im Leben von Ann Webster. In ihrer Boutique verkauft sie nicht nur wunderschöne Secondhandcouture, jedem Kleidungsstück liegt auch die Geschichte seiner früheren Besitzerinnen bei. Was niemand wissen darf: Ann schreibt heimlich unter Pseudonym ziemlich pikante Liebesromane! Als ein großer Verlag auf Ann aufmerksam wird, ist sie überglücklich. Doch die Lektorin möchte ausgerechnet, dass sie die Geschichte des unverkäuflichen Brautkleides in ihrem Schaufenster erzählt. Und somit auch die Geschichte von ihr und Ray, der ihr vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat und der nun nach Swinton gekommen ist, weil er die stillgelegte Whisky-Destillerie wiedereröffnen will. Ann muss sich der Vergangenheit stellen, wenn ihr Traum vom Glück wahr werden soll.

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Katharina Herzog

Das kleine Bücherdorf: Sommerzauber

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine verloren geglaubte Liebe. Ein Kleid mit einer tragischen Geschichte. Und ein Happy End, für das es allen Mut braucht …

 

Vintage-Mode und Bücher – das sind die zwei großen Leidenschaften im Leben von Ann Webster. In ihrer Boutique verkauft sie nicht nur wunderschöne Secondhandcouture, jedem Kleidungsstück liegt auch die Geschichte seiner früheren Besitzerinnen bei. Nur einem nicht: Dem traumhaften Brautkleid im Schaufenster – das nicht zum Verkauf steht. Warum, darüber schweigt Ann. Und das ist nicht ihr einziges Geheimnis: Ann schreibt heimlich (und äußerst erfolgreich) unter Pseudonym historische Liebesromane! Als ein großer Verlag auf sie aufmerksam wird, ist sie überglücklich. Doch die Lektorin möchte ausgerechnet, dass sie die Geschichte des unverkäuflichen Brautkleides erzählt. Und somit auch die Geschichte von ihr und Ray, der ihr vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat – und der nun nach Swinton gekommen ist, weil er hier ein Hotel eröffnen will. Ann muss sich der Vergangenheit stellen, wenn ihr Traum vom Glück wahr werden soll …

Vita

Katharina Herzog ist die deutsche Autorin für Liebesromane mit Fernweh-Garantie. Sie liebt es, ihre Leser:innen an Sehnsuchtsorte wie Amrum, die Amalfiküste, Juist und New York zu entführen und diese Schauplätze auch selbst zu bereisen. Mit ihren Romanen schrieb sie sich nicht nur in die Herzen ihrer Leser:innen, sondern eroberte auch die Bestsellerlisten. «Sommerzauber» ist nach «Winterglitzern», «Frühlingsfunkeln» und «Herbstleuchten» der vierte Band einer Serie um das schottische Bücherdorf Swinton-on-Sea, die bezaubernde Liebesgeschichten mit einem einzigartigen Schauplatz verbindet.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Anne Fröhlich

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Sabina Wieners

ISBN 978-3-644-01373-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Schönheit beginnt in dem Moment, in dem du beschließt, du selbst zu sein.»

Coco Chanel

Für meine Leserinnen und Leser

Danke, dass Ihr mein Bücherdorf und seine Bewohner so sehr liebt.

Prolog

Die Truhe war aus massivem Eichenholz und mit kunstvollen Schnitzereien versehen. Ihre Bronzebeschläge und das schmiedeeiserne Schloss leuchteten im Licht der Morgensonne.

«Ist sie nicht eine Schönheit?» Eine ältere Frau trat auf Ann zu. Sie war in einen altmodischen geblümten Mantel gehüllt, und ihre Augen sahen durch die Gläser ihrer riesigen runden Brille unnatürlich groß aus, was ihr etwas Insektenhaftes verlieh.

«Ja, ein echtes Schmuckstück!», bestätigte Ann. An dem Flohmarktstand gab es eine Menge hübscher Dinge: Eine schwarz lackierte Schreibmaschine mit vergilbten Tasten stand inmitten von Stapeln gelblicher Schreibpapiere und Tintenfässern, goldene und silberne Taschenuhren lagen sorgfältig drapiert auf einem burgunderroten Samtkissen, außerdem gab es antike Bücher, eine Keramikvase mit floralem Motiv, Kästen voller Silberbesteck, eine alte Geige … Doch nichts faszinierte Ann so sehr wie diese Truhe. Sie beugte sich hinunter, um das Wappen auf der Vorderseite zu betrachten. In seiner Mitte bäumte sich ein Tier auf, das wie eine Mischung aus Pferd und Ziegenbock aussah.

«Ist etwas drin in der Truhe?»

«Spinnen und Mäuse!», antwortete die Frau prompt.

Anns Hand, die bereits auf dem Deckel lag, zuckte zurück.

«Jetzt vertreib deine Kundschaft nicht, Pru!», rief der hünenhafte Mann vom Blumenstand nebenan. Sein Gesicht wurde fast vollständig von einem struppigen roten Vollbart bedeckt, aber an den Falten, die sich um seine hellblauen Augen bildeten, sah Ann, dass er lächelte.

Die Frau namens Pru verzog ebenfalls ihre pink geschminkten Lippen. «Keine Sorge, Ernie! Ich bin mir sicher, diese Lady lässt sich nicht von Nagetieren und Krabbelviechern beeindrucken. Schauen Sie rein, dann wissen Sie, was drin ist!» Ihr Blick glitt über Anns petrolfarbenes Vintage-Kleid, unter dem sie einen Petticoat trug, damit es sich noch mehr bauschte. Der schmale Gürtel um ihre Taille und die Mary-Jane-Schuhe vervollständigten ihren auffälligen Look. «Ich könnte mir vorstellen, dass Ihnen gefällt, was Sie sehen.»

Das klang vielversprechend! Ann blickte zu Ray hinüber, der in der Schlange vor der schräg gegenüberliegenden Holzbude stand, in der ein Paar mittleren Alters Pies verkaufte. Sie verströmten einen köstlichen Duft.

Als ob Ray ihren Blick gespürt hätte, drehte er den Kopf in ihre Richtung und winkte ihr mit diesem umwerfenden Lächeln zu, bei dem Ann auch zwei Jahre nach ihrer ersten Begegnung noch jedes Mal Schmetterlinge im Bauch spürte. Sie winkte zurück.

«Ist das Ihr Herzblatt?», fragte Pru unumwunden.

Ann nickte.

«Ein gut aussehender Mann.»

Ja, das stimmte! Und in drei Monaten schon würde er ihr Mann sein. Ann schaute auf ihren Verlobungsring, den sie am linken Ringfinger trug, ein zartes Band aus poliertem Gold, mit einem großen Diamanten in der Mitte, umgeben von einem funkelnden Kranz aus Diamantsplittern.

Der Ring hatte Rays Großmutter gehört, und Ann war sich nicht sicher, ob seine Eltern wussten, dass er ihr dieses Familienerbstück geschenkt hatte. Den Besitzern des altehrwürdigen Traditionshotels Fitzpatrick’s in Belfast wäre eine standesgemäße Schwiegertochter nämlich lieber gewesen als ein Mädchen, das auf einer Farm auf der Isle of Man aufgewachsen war. Bríd und Cormac legten sehr viel Wert auf ihre Außenwirkung. Dass sie nicht glücklich mit der Wahl ihres Sohnes waren, sagten sie Ann natürlich nicht ins Gesicht, aber sie konnte ihre missbilligenden Blicke spüren, und vor allem Bríd konnte sich einen spitzen Kommentar über ihre Herkunft gelegentlich nicht verkneifen.

Ann seufzte leise. Sosehr sie Ray liebte, sie hätte sich wirklich andere Schwiegereltern gewünscht.

Da Ray noch eine Zeit lang in der Schlange stehen und auf seine Fleischpastete warten musste, konnte Ann in Ruhe in der Truhe stöbern. Ray machte sich nichts aus alten Dingen. Bei ihm musste alles neu sein. Sie hatte ihn nur wegen der Essensbuden dazu bewegen können, mit ihr über den Flohmarkt in Cartmel zu schlendern, wo er in dem Zwei-Sterne-Restaurant L’Enclume eine Ausbildung zum Sommelier machte.

Ann öffnete den Deckel der Truhe, und der Geruch von Holz, Staub und altem Stoff stieg ihr in die Nase.

«Wie hübsch!», entfuhr es ihr, als sie einen schimmernden taubenblauen Stoff darin sah.

Ann zog ihn heraus, und ein bodenlanges Kleid mit einer schmal gegürteten Taille und einem weiten, gerafften Rock kam zum Vorschein. Es stammte ziemlich sicher aus den Fünfzigerjahren, erkannte sie. Nach Kriegsende war eine Zeit lang die Sehnsucht nach Luxus groß gewesen, und die Frauen schielten nach Hollywood auf Leinwandikonen wie Joan Crawford, Rita Hayworth und Katharine Hepburn, um sich modische Anregung zu holen.

Ann hatte gehofft, dass sich Kleidung in der Truhe befand, aber mit einem solchen Schatz hatte sie nicht gerechnet. Aber das war noch nicht alles! Unter dem Kleid lag ein Pullover aus weicher burgunderroter Wolle mit dezentem Zopfmuster, der ebenfalls aus dieser Zeit stammen musste. Als angehende Modejournalistin konnte Ann das recht gut einschätzen. Ein hochgeschlossener Kragen und leicht ausgestellte Ärmel verliehen dem Pullover genau die Vintage-Note, die Ann so liebte.

Sie kniete sich vor die Truhe und wühlte weiter darin. Die ehemalige Besitzerin dieser Stücke hatte augenscheinlich einen guten Geschmack gehabt. Auch der Rock aus leichtem pistaziengrünen Stoff mit dazu passender Kurzarmbluse, der Strickcardigan aus grauem Kaschmir und der elegante Hosenanzug im klassischen Glencheck-Muster, dessen Jacke mit einer zierlichen Brosche zusammengehalten wurde, waren geschmackvoll und von erlesener Qualität.

Wie die Frau, die diese eleganten Kleider getragen hatte, wohl gewesen war? Ann stellte sie sich mit blonden, perfekt hochgesteckten Locken und einem dezenten Lächeln auf den Lippen vor. Den pistaziengrünen Rock und die Kurzarmbluse hatte sie sicher zur Teatime mit Freunden getragen, den burgunderroten Pullover und den Cardigan, wenn sie ihren täglichen Aufgaben nachging, das bodenlange Kleid zu festlichen Abendveranstaltungen und den Hosenanzug bei geschäftlichen Anlässen. Vielleicht war sie Anwältin gewesen.

Ann nahm das letzte Kleidungsstück aus der Truhe. Es war in cremefarbenes Seidenpapier eingeschlagen, das Ann vorsichtig auseinanderfaltete. «Das ist ja ein Brautkleid!»

«Ja.» Pru beugte sich zu ihr hinunter. «Valentino persönlich soll es entworfen haben», raunte sie ihr ins Ohr. «Als er noch ein ganz junger Mann war, und zwar für keine Geringere als Jackie Kennedy. Damals hatte er sein Modehaus noch nicht, sondern war in einem Pariser Atelier angestellt.» Sie richtete sich wieder auf. «Letztlich hat Jackie sich aber für ein Modell der Designerin Ann Lowe entschieden. Vielleicht kennen Sie es von Fotos: ein protziges Stück. Fünfzig Meter Seidentaft hat es allein für die Herstellung des Rocks gebraucht, und der war mit unzähligen Stickereien verziert. Ich mag es lieber zeitlos elegant als opulent.» Pru hielt das Brautkleid an der Schulterpartie hoch, damit Ann es betrachten konnte. «Auch wenn es seine besten Tage schon hinter sich hat, erkennt man doch, was für ein erlesenes Stück Couture das ist, nicht wahr?»

Ann nickte. Das Brautkleid war aus zartem elfenbeinfarbenen Seidenstoff gefertigt und in einem schlichten klassischen Schnitt gehalten, der die Silhouette seiner Trägerin perfekt betonen würde. Das ärmellose Oberteil hatte eine tief ausgeschnittene Rückenpartie, die mit feinem Spitzenbesatz eingefasst war.

Ann sah aber auch, was Pru damit meinte, als sie sagte, das Kleid habe seine besten Tage hinter sich: Der Rocksaum war im hinteren Bereich verfärbt und an einigen Stellen eingerissen, so als wäre er von seiner Trägerin über feuchte Erde geschleift worden. Am Ausschnitt waren Make-up-Flecken zu erkennen – und noch etwas anderes, das aussah wie Wasserflecken. Waren das etwa Tränen? Ann betrachtete den Stoff genauer.

«Ertappt!»

Ann zuckte zusammen und drehte sich um. Camy, die ebenfalls im L’Enclume arbeitete, hatte ihr auf den Rücken getippt. Wie Ray stammte die junge Frau mit den halblangen goldblonden Locken aus einer reichen Hoteliersfamilie. «Ich hätte nicht gedacht, dass du auf einem Flohmarkt nach einem Brautkleid suchen würdest.» Camy krauste ihre hübsche Stupsnase.

Ray hat ihr also von seinem Antrag erzählt, dachte Ann.

«Es ist nicht irgendein Brautkleid», stellte Pru klar. «Valentino hat es entworfen.»

«Für Jackie Kennedy», fügte Ann hinzu. Auch sie verspürte auf einmal das Bedürfnis, das Kleid vor Camy zu verteidigen.

Irgendwie rührte sie die Geschichte von Valentino als jungem Angestellten eines Pariser Modemachers. Sicher hatte er die Hochzeitsrobe für die angehende First Lady voller Euphorie und Hoffnung entworfen – und dann war seine Kreation verschmäht worden. Dabei war dieses Kleid wirklich viel schöner als jenes, für das Jackie Kennedy sich letztlich entschieden hatte.

Camy zuckte mit den Achseln. «Nun ist es aber schmutzig und kaputt!»

Das stimmte allerdings. Ann ließ den weichen, luxuriösen Stoff durch ihre Finger gleiten und betrachtete noch einmal den braunen zerrissenen Saum und die gräulichen Wasserflecken auf dem Oberteil. Welche Geschichte das Brautkleid wohl zu erzählen hatte?

Vor ihr stieg das Bild einer blonden Frau auf, die tränenüberströmt durch den Regen lief, während der Saum ihres Kleides über den schlammigen Boden streifte. Dann wurde dieses traurige Bild von einem anderen überlagert: Ann sah sich selbst, wie sie in dem Kleid am Arm ihres Vaters die Lisburn Cathedral betrat, in der Ray und sie heiraten würden.

Sie fühlte die bewundernden Blicke der Anwesenden und hörte ihr Raunen, während sie den Mittelgang entlang auf Ray zuschritt. Umwerfend gut aussehend stand er in einem perfekt sitzenden schwarzen Dreiteiler mit silberfarbener Krawatte und weißem Einstecktuch am Altar. Seine dunklen Augen waren wie gebannt auf sie gerichtet, und er sah sie mit einem Ausdruck so inniger Liebe an, dass sie innerlich glühte.

«Erde an Ann, Erde an Ann!»

Ann schreckte aus ihrem Tagtraum hoch, und anstatt Rays schmalem Gesicht sah sie das runde, püppchenhafte von Camy vor sich.

«Du bist wohl gerade gedanklich etwas abgedriftet, was?» Camy grinste breit und zeigte ihre kleinen, regelmäßigen Zähne.

«Ja, ich habe über etwas nachgedacht», gab Ann zu, dann wandte sie sich an Pru. «Wie viel verlangen Sie für die Truhe und die Kleider?», fragte sie.

Kapitel 1

Platz eins! Das konnte doch nicht sein. Ann lud die Seite neu, aber die Zahl blieb unverändert. Eins!

Langsam atmete Ann aus. Es war wirklich wahr! Verführung und Verlobung, der zweite Band ihrer Zauber der Liebe-Reihe, führte tatsächlich die Amazon-Charts an. Und das nur achtzehn Stunden, nachdem sie das E-Book hochgeladen hatte. Heute Morgen um sieben, als sie das erste Mal nachgeschaut hatte, hatte es noch auf Platz zwölf gestanden – und schon dieser Rang hatte sie euphorisch gestimmt. Ihr bestes Ergebnis war bisher Platz 27 gewesen. Das hatte sie mit dem Vorgängerband Herzgeflüster und Heiratspläne erreicht und sich bereits damit am Ziel ihrer Autorinnenträume geglaubt.

www.waterstones.com tippte Ann ein – und schnappte nach Luft. Auch in diesem Onlineshop stand das E-Book auf Platz eins! Genau wie bei Book Depository, Foyles, WHSmith …

Ann biss sich auf die Unterlippe, denn sie konnte jetzt unmöglich anfangen zu schreien. Obwohl ihr genau danach zumute war! Gerade hatte eine Kundin das Vintage & Couture betreten.

Die Frau trug ein klassisches Chanelkostüm aus Tweed und Lederpumps mit niedrigem Absatz, deren Spitze eine dezente Schleife zierte. Ihr von grauen Strähnen durchzogenes Haar hatte sie in einer eleganten Hochsteckfrisur zusammengefasst. An ihrer schwarzen Handtasche baumelte ein goldenes D wie Dior.

Seit vor einem Monat ein Artikel über Anns Secondhandboutique im Style Magazine erschienen war, fanden nicht nur ihre Stammkunden, sondern auch zunehmend Leute von außerhalb den Weg in die Alte Molkerei, das kleine Einkaufszentrum ein wenig außerhalb von Swinton-on-Sea, wo sich das Vintage & Couture befand. Es war verrückt! Bis vor Kurzem war Swinton vor allem dafür berühmt gewesen, dass das Dorf bei knapp über tausend Einwohnern über mehr als zehn Buchläden verfügte und jeden Herbst ein internationales Bücherfestival ausrichtete. Jetzt kamen die Leute auch für ihre Kleider, und das zum Teil sogar von richtig weit her.

«Kann ich Ihnen behilflich sein?», fragte Ann die Kundin freundlich, obwohl sie viel lieber ins Lager gelaufen wäre, um dort ihr Smartphone herauszuholen und ihrer Freundin Shona von ihrem unglaublichen Erfolg zu erzählen.

«Nein danke! Ich schaue mich erst einmal ein wenig um.» Die Frau steuerte die Kleiderstange mit Blusen und Pullovern an, und Ann wandte sich wieder ihrem Laptop zu.

An ihrer Platzierung hatte sich inzwischen nichts geändert. Es schien also wirklich wahr zu sein! Ann hatte nicht halluziniert. Verführung und Verlobung war das meistverkaufte E-Book des Vereinigten Königreichs. Danke, Bridgerton!, schickte Ann ein stummes Stoßgebet in den Himmel. Danke, Julia Quinn!

Vor ein paar Jahren hatte sie die achtteilige Reihe um die sieben Geschwister der Familie Bridgerton in einem grauen, feuchten Januar innerhalb kürzester Zeit verschlungen. Immer wenn Colin, ihr Ex-Mann, in seine Arztpraxis gegangen war und Isla zur Schule, dann hatte sie sich erst einmal mit einem Tee in ihren Lieblingssessel gekuschelt und mit Benedict, Colin, Daphne, Eloise, Francesca, Gregory und ihrer jüngsten Schwester Hyazinth geliebt, gelacht und gelitten, bevor der Haushalt an die Reihe kam. Und dann, nachdem sie den letzten Satz des letzten Bandes Hochzeitsglocken für Lady Lucy gelesen hatte, war da auf einmal nichts mehr gewesen, auf das sie sich jeden Morgen hatte freuen können. Nur noch Leere – und ein Tag, der sich öde, grau und endlos vor ihr auszubreiten schien.

Ann konnte im Nachhinein gar nicht mehr so genau sagen, was der Auslöser gewesen war. Irgendwann war er einfach da gewesen, dieser Impuls, diese innere Leere doch einfach mit einer eigenen Liebesgeschichte zu füllen. Und da Ann eine Frau der Tat war und nicht lange zauderte, hatte sie sich umgehend in Colins Arbeitszimmer an den Computer gesetzt und damit angefangen.

Die siebzehnjährige Prudence spielte in ihrer Romanze die Hauptfigur. Ihre bösartige Tante möchte sie dazu zwingen, ihren unsympathischen Cousin Dudley zu heiraten, deshalb flieht die junge Frau in die Highlands – und trifft dort den charmanten Lord Hazlewood, der ebenfalls einer arrangierten Ehe entgehen will …

Die Handlung war natürlich hanebüchen und Die Lady und der Lord auch kein Kassenschlager geworden. Aber die Geschichte hatte es ihr ermöglicht, ihrem langweiligen Alltag als Ehefrau des Dorfarztes von Swinton und Mutter einer halbwüchsigen Tochter, die sich zunehmend abnabelte, täglich für ein paar Stunden zu entfliehen. Also schrieb Ann weiter, und mit jedem Buch wurde sie süchtiger nach diesen kleinen Auszeiten, die ihr die Möglichkeit gaben, die Gefühle und Leidenschaften auszuleben, die in ihrem Alltag auf der Strecke blieben.

Da die Kundin immer noch beschäftigt war – gerade inspizierte sie ein schlicht geschnittenes Polka-Dots-Kleid –, nahm Ann ihr Mobiltelefon in die Hand, machte einen Screenshot von der Seite mit ihrer Platzierung und schickte ihn Shona. Ihre Freundin war die Einzige, die wusste, dass sie unter dem Pseudonym Poppy Delacroix E-Books veröffentlichte. In Schottlands Nationaler Buchstadt, wo elektronische Bücher als Werk des Teufels galten, konnte Ann ihren Zweitberuf unmöglich öffentlich machen, wenn sie weiterhin hier wohnen bleiben wollte. Im Reading Fox, dem größten und ältesten Buchladen im Dorf, hing sogar ein zerschossener E-Book-Reader an der Wand, gewissermaßen als Mahnmal. Patricia, die verstorbene Vorbesitzerin, hatte das Gerät mit einer Schrotflinte durchlöchert, aus Wut auf den Onlineshop, dessen Namen im Dorf nicht genannt werden durfte.

Nicht einmal Colin hatte sie von ihrer zweiten Identität als Liebesromanautorin erzählt. Dafür, dass seine Ehefrau in ihrer Freizeit erotisch angehauchte Historienschmonzetten mit den Titeln Das Herz des Highlanders, Die Leidenschaft des Clanführers oder Der Fluch der schottischen Rosen schrieb, hätte er nämlich nur wenig Verständnis gehabt, vermutete Ann.

«Entschuldigen Sie bitte!», riss die Kundin sie aus ihren Gedanken.

Ann trat hinter dem Ladentisch hervor.

«Die Briefe, die an einigen Ihrer Kleider hängen, faszinieren mich.» Die Frau hob den hoch, der an einer dünnen Schnur um den Hals der Schaufensterpuppe mit dem Polka-Dots-Kleid hing. «Haben Sie sich die Geschichten ausgedacht, oder sind Sie wirklich so gut informiert über das Leben der Vorbesitzerinnen?»

«Teils, teils», antwortete Ann. «Bei den Stücken, die mir Verwandte von ehemaligen Trägerinnen verkauft haben, halte ich mich an die Biografie. Bei den Stücken, die ich auf Onlineplattformen, in Auktionshäusern, in Antiquitätenläden und auf Märkten finde, gestatte ich mir künstlerische Freiheit. Interessieren Sie sich für ein bestimmtes Modell?»

«Ja.» Die Frau wandte sich dem Schaufenster zu. «Ich interessiere mich für das Brautkleid.»

Ann verkniff es sich, die Augenbrauen hochzuziehen. Die silbergrauen Strähnen, die sich durch die sorgfältig hochgesteckten Haare der Frau zogen, ließen vermuten, dass sie deutlich älter war als die Kundinnen, die sich sonst nach dem Kleid erkundigten.

«Hat ein so außergewöhnliches Stück denn keine Geschichte?», fragte die Frau.

«Doch, und zwar eine sehr schillernde. Angeblich hat Valentino es in den Fünfzigerjahren entworfen und genäht, und zwar für Jackie Kennedy! Aber dann hat sie sich für das Modell einer amerikanischen Designerin entschieden, Ann Lowe.»

«Wieso haben Sie diese Geschichte denn nicht auch aufgeschrieben und an das Brautkleid gehängt?»

«Weil es nicht verkäuflich ist.» Ann wand sich unter dem Blick der Kundin. Ihr Interesse bereitete ihr zunehmend Unbehagen. Wieso musste sie sich gerade für das Valentino-Kleid interessieren? Aus dem Alter, in dem man in jungfräulichem Weiß heiratete, war sie – genau wie Ann – doch wirklich raus. «Ich habe es nur zur Dekoration ausgestellt. Ein so exquisites Kleidungsstück wie dieses ist viel zu schade, um in meinem Schrank zu verstauben.»

«Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Es ist wirklich ein Blickfang.» Zu ihrer Erleichterung – und Überraschung! – hakte die Frau nicht weiter nach, sondern ging zu einer anderen Schaufensterpuppe, die neben dem Ständer mit der Oberbekleidung positioniert war. Zu einer cremefarbenen Bluse mit schwarzer Samtschleife trug sie eine schmale Hose und die dazu passende taillierte Jacke. Die Kundin tippte auf den Briefumschlag, der um den Hals der Puppe hing. «Hat dieser Hosenanzug wirklich einer Frauenrechtlerin namens Eugenie Hart gehört?», fragte sie.

Ann nickte, erleichtert, sich wieder auf sicherem Terrain zu befinden. «Ihre Enkelin hat ihn mir verkauft. Allerdings kann ich für die Geschichte, dass Mrs Hart den Anzug bei einer Londoner Demonstration für Frauenrechte in den Dreißigerjahren getragen hat, nicht garantieren. Manchmal erlauben sich auch die Anbieterinnen und Anbieter ein wenig künstlerische Freiheit, um mich davon zu überzeugen, ihre Kleidung zu kaufen.»

Die Frau lachte auf. «Ich nehme ihn trotzdem. Jedenfalls, wenn ich hineinpasse.»

Das tat sie, wie sich bei der Anprobe herausstellte, und ohne mit der Wimper zu zucken, zahlte sie die 350 Pfund, die das Set kostete. Harriet Winslow stand auf ihrer Kreditkarte.

«Ich werde ganz sicher wiederkommen», sagte Harriet Winslow zum Abschied, und obwohl ihr Tonfall überhaupt nichts Drohendes hatte, konnte Ann das unbehagliche Gefühl nicht abschütteln, dass es nicht nur ihre Vintage-Haute-Couture war, die diese neugierige Frau in ihren Laden geführt hatte.

Beunruhigt schaute Ann ihr nach, als sie, die Papiertasche mit ihren Errungenschaften fröhlich schwenkend, die Boutique verließ. Dann wandte sie sich noch einmal dem Brautkleid zu und betrachtete es nachdenklich.

Denn außer der Tatsache, dass sie Poppy Delacroix war, gab es noch ein weiteres Geheimnis in Anns Leben, das auf gar keinen Fall ans Licht kommen durfte: dass sie das Brautkleid, für das Harriet Winslow sich so interessiert hatte, vor vielen Jahren selbst vor dem Traualtar hatte tragen wollen. Und dass es zu dieser Hochzeit nie gekommen war.

Kapitel 2

«Herzlichen Glückwunsch, Frau Bestsellerautorin!», wurde Ann von Shona begrüßt.

«Pssst!» Ann blickte sich erschrocken im Café um. Seit Shona nicht mehr nur Cupcakes und Kuchen anbot, sondern auch gegrillte Sandwiches und Pies, war das Sweet Little Things auch um die Mittagszeit immer gut besucht.

Ihre Freundin lachte. «Keine Sorge, es hat sich niemand hinter dem Tresen versteckt, um uns zu belauschen.» Sie stellte eine Tasse unter ihre vollautomatische Kaffeemaschine, um sie mit einem Café au Lait auffüllen zu lassen. «Bist du gekommen, um mit mir anzustoßen? Der Sekt steht kalt, aber ein bisschen musst du dich noch gedulden. Du siehst ja, was hier los ist.»

«Das können wir gerne irgendwann nachholen. Ich bin mit Colin zum Lunch verabredet.» Ann zog ihren Trenchcoat aus und hängte ihn an die Garderobe. Es hatte genieselt, als sie das Vintage & Couture verlassen hatte, und für Juni war es außerdem ganz schön kühl. «Er will mit mir über Islas Hochzeit sprechen.»

«Wann ist die noch mal?»

«Am 19. August. Es musste unbedingt dieses Datum sein, denn das ist Alecs und Islas Jahrestag. Allerdings weiß meine Tochter weder, wo sie heiraten will, noch hat sie ein Kleid für die Hochzeit. Nichts ist ihr gut genug.» Ann verdrehte die Augen. «Am Ende wird sie noch in Jeans und T-Shirt bei Colin im Garten heiraten müssen.»

Shona lachte erneut auf. «Immerhin hat sie jemanden, der ihr eine Hochzeitstorte backt», sagte sie und tippte sich grinsend auf die Brust.

«Stimmt. Ich fürchte nur, das sind die einzigen beiden Punkte, die Isla auf ihrer To-do-Liste abhaken kann», entgegnete Ann trocken. «Wenn sie überhaupt eine führt.» Sie nahm eine Speisekarte vom Tresen, legte sie dann jedoch wieder weg. «Bitte bring mir nur ein stilles Wasser. Mit dem Essen warte ich auf Colin.»

Ann ging zu dem Tisch gleich neben der Eingangstür, setzte sich und schaute auf ihre Armbanduhr. Es war schon fast zwölf. Langsam könnte sich ihr Ex also ruhig blicken lassen.

Doch von Colin war nichts zu sehen. Stattdessen sah Ann durch das Fenster, dass sich Nancy Butcher dem Sweet Little Things näherte. Obwohl Nancy schon lange das Rentenalter erreicht hatte, führte sie immer noch das Postbüro und den Schreibwarenladen von Swinton. Der viele Klatsch, den sie dort zu hören bekam – und den sie unverzüglich weiterverbreitete –, hielt sie offensichtlich jung.

Auch heute hatte Nancy Neuigkeiten zu verkünden.

«Er ist wieder da!», trompetete sie, kaum dass sie die Tür des Cafés aufgestoßen hatte.

«Wer?», fragte Shona, die hinter dem Tresen stand und Anns Wasserglas füllte.

Mit ihren typischen kleinen Schritten trippelte Nancy in den Gastraum. «Na, der Ire! Der Chef von Anns Tochter.»

Der Ire! Anns Kehle wurde eng. Seit ihre Tochter Ray im letzten Herbst zum Book Festival in Swinton mitgebracht hatte, hatte sie sich vor diesem Augenblick gefürchtet. Davor, diesem Mann wiederzubegegnen. Denn Raymond Fitzpatrick war nicht nur Islas Chef. Er war auch der Mann, der ihr als junger Frau das Herz gebrochen hatte.

Fast wäre Ann in Ohnmacht gefallen, als er bei der Eröffnungsveranstaltung des Festivals direkt auf sie zugesteuert war. Beziehungsweise auf Isla. Natürlich hatte ihre Tochter hin und wieder von ihm erzählt, aber Ann hätte doch nie gedacht, dass Islas Chef Ray, Whiskydestillerie-Besitzer aus Edinburgh, derselbe Ray war, der mit seinen Eltern vor fünfundzwanzig Jahren das First-Class-Hotel Fitzpatrick’s in Belfast geführt hatte! Isla hatte nie seinen Nachnamen erwähnt.

Ann atmete gegen den Druck in ihrem Brustkorb an. In den ersten Wochen nach dem Festival war sie nur mit Kopfbedeckung und Sonnenbrille aus dem Haus gegangen, so groß war ihre Angst gewesen, ihm über den Weg zu laufen. Danach war es ihr die meiste Zeit gelungen zu verdrängen, dass Isla ausgerechnet im Betrieb von Anns Ex-Verlobtem eine Stelle als Social-Media-Managerin angenommen hatte. Und auch, dass Ray sich nach dem Besuch des Festivals in das alte Herrenhaus Swinton Manor verliebt hatte und daraus ein Luxushotel machen würde. Bisher war er nie selbst vor Ort gewesen, um die Renovierung zu beaufsichtigen.

«Wo hast du Islas Chef denn gesehen?», fragte sie und merkte selbst, dass ihre Stimme brüchig klang.

«Das habe ich gar nicht. Rosie hat gesehen, wie er seinen Wagen vor dem Craft geparkt hat und hineingegangen ist. Dort übernachtet er nämlich.» Nancy trippelte zu Anns Tisch hinüber. «Warst du in der letzten Zeit eigentlich mal oben bei Swinton Manor?», fragte sie, während sie sich auf die Lehne von Anns Stuhl stützte.

Ann schüttelte den Kopf. Für den Fall, dass Ray doch einmal persönlich in Swinton auftauchen würde, hatte sie seit dem Herbst immer einen Bogen um das Anwesen gemacht.

«Dort hat sich ganz schön was getan», schwärmte Nancy. «Die Fassade ist gestrichen, und alle Fensterläden sind repariert worden. Außerdem war ein ganzes Gärtnerteam mit den Außenanlagen beschäftigt. Richtig schick sieht es wieder aus, unser Herrenhaus!»

Ich hätte die Wiederbegegnung mit Ray einfach auf dem Book Festival hinter mich bringen sollen, dachte Ann. Ach, du bist Islas Chef? Das ist ja eine Überraschung! Aber anstatt einfach stehen zu bleiben, Ray zu begrüßen und ihrer Tochter zu erzählen, dass sie sich von früher kannten, war sie davongerannt wie ein Reh vor dem Jäger und hatte sich auf der Toilette eingeschlossen.

Vielleicht hätte Ray sie nach all den Jahren auch gar nicht erkannt. Ann jedoch hatte sofort gewusst, wer sich da seinen Weg durch die Menge bahnte. In schwachen Momenten hatte sie gelegentlich das Internet nach ihm durchsucht, und Google hatte ein paar wenige Treffer und Bilder ausgespuckt. Aber selbst, wenn sie das nicht getan hätte, hätte sie ihn erkannt, denn er hatte sich kaum verändert. Seine Haltung war selbstsicher wie eh und je gewesen, sein honigfarbenes Haar immer noch voll und nur an den Schläfen ganz leicht angegraut.

«Möchtest du auch etwas trinken, Nancy?» Shona war mit dem Wasser zu ihnen an den Tisch getreten.

Nancy schüttelte den Kopf. «Meine Mittagspause ist fast um. Ich bin nur schnell vorbeigekommen, um euch diese Nachricht zu überbringen.» Ihre Augen glitzerten. Sie liebte nichts mehr als Klatsch und Tratsch. Ann seufzte innerlich, als ihr das neue Buch und die Bestsellerplatzierung wieder einfielen. Nancy durfte niemals davon erfahren …

 

Nachdem Nancy sich verabschiedet hatte und Shona die Bestellung der beiden Frauen am Nebentisch aufnahm, war Colin immer noch nicht aufgetaucht. Schon zehn nach zwölf! Und eine Nachricht hatte er ihr auch nicht geschrieben, stellte Ann mit einem Blick auf ihr Handy fest. Das war wieder einmal typisch!

Da Ann nun sowieso schon ihr Smartphone in der Hand hielt, beschloss sie, die Wartezeit zu überbrücken, indem sie ihre Poppy-Delacroix-E-Mails checkte. Vielleicht hatte ihr schon eine Leserin oder ein Leser geschrieben.

Oh! Zum zweiten Mal an diesem Tag riss Ann überrascht die Augen auf. Sie hatte nicht nur eine neue Nachricht bekommen, sondern gleich zwanzig!

Leider befand sich auch eine Interviewanfrage von The Sun darunter. Ann unterdrückte ein Stöhnen. Die Klatschzeitschrift war garantiert nicht an ihren Geschichten interessiert, sondern nur daran, wer sich hinter dem Pseudonym Poppy Delacroix verbarg. Sie scrollte weiter durch ihre E-Mails. Eine gewisse Bee Abbington hatte ihr geschrieben. Ann runzelte die Stirn. War das etwa die Bee Abbington? Bee Abbington schrieb ebenfalls historische Liebesromane, die in Schottland spielten. Ihr Buch Feuer der verlorenen Seelen war kurz vor Anns Roman erschienen und auch sofort auf Platz eins gelandet. So wie alle ihre Bücher. Und das nicht nur als E-Book, sondern auch als Taschenbuch! Da Bee Abbington ihre Romane nicht selbst verlegte, sondern über MacLeod & Dunlop, lagen sie immer stapelweise auf den Tischen der Buchhandlungen, und Ann beneidete sie glühend darum. Ihre Bücher gab es zwar auch als Taschenbücher, doch die waren nur im On-Demand-Druck über das Internet zu kaufen.

Im letzten Herbst war die Bee Abbington sogar als Stargästin auf das Book Festival eingeladen worden, hatte jedoch kurzfristig abgesagt. Aus familiären Gründen … Kurz darauf war herausgekommen, dass ihr Mann sich von ihr getrennt hatte, weil Bees Affäre zu ihrem Personal Trainer aufgeflogen war.

Neugierig öffnete Ann die Mail.

Liebste Poppy,

meinen herzlichsten Glückwunsch zu deinem neuesten Buch – und zu Platz eins in den E-Book-Charts! Es ist mir eine Freude, dich in der Riege der Bestsellerautor:innen begrüßen zu dürfen!

Ich bewundere es sehr, wie du es immer wieder schaffst, die Herzen der Leser:innen zu erobern, und ich kann nicht anders, als mich vor deinem Talent zu verneigen. Du hast mit deiner Zauber der Liebe-Reihe wirklich etwas Besonderes geschaffen.

Wir beide, als Verfasserinnen von Geschichten, die die Menschen bewegen, haben sicherlich viel gemeinsam. Wie wäre es, wenn wir uns mal zu einer Tasse Tee treffen? Ich kann mir vorstellen, dass wir uns über so viele Dinge austauschen könnten – von den Herausforderungen, die unser Beruf mit sich bringt, bis hin zu den Geschichten, die uns inspirieren.

 

Ich freue mich auf deine Antwort!

Herzlichst

Deine Bee

 

PS: Vielleicht klappt es jetzt auch mit einem Verlagsvertrag. Wäre es nicht wundervoll, wenn unsere Bücher in den Buchhandlungen nebeneinanderlägen?

Verrückt! Ann war nicht davon ausgegangen, dass Bee Abbington überhaupt wusste, dass es sie gab – und nun gratulierte die bekannte Autorin ihr nicht nur zu ihrem Bucherfolg, sondern wollte sich sogar mit ihr treffen! Eigentlich sollte sie sich wohl geschmeichelt fühlen, aber ihr missfiel der gönnerhafte Ton der Nachricht. Es ist mir eine Freude, dich in der Riege der Bestsellerautor:innen begrüßen zu dürfen! Ann verdrehte die Augen. Außerdem war ihr der Seitenhieb auf sie als Selfpublisherin nicht entgangen, den Bee in ihrem PS hatte folgen lassen. Sicher wurmte es sie, dass Ann sie von ihrer Poleposition in den E-Book-Charts verdrängt hatte. Und dann diese Arroganz, selbstverständlich davon auszugehen, dass sie sich mit ihr verabreden wollte! Ann schürzte die Lippen. Da Bee sich offensichtlich über sie und ihre Bücher informiert hatte, musste sie doch wissen, dass Poppy Delacroix ein geschlossenes Pseudonym war.

Am liebsten hätte Ann die E-Mail einfach gelöscht, genau wie die Anfrage der Sun, aber das war unprofessionell. Die Interviewanfrage lehnte sie höflich ab, und bei Bee bedankte sie sich mit ein paar kurzen, nichtssagenden Zeilen. Auf ein mögliches Treffen ging sie nicht ein.

Ihr Smartphone gab einen Signalton ab. Colin hatte sich nun doch dazu herabgelassen und ihr geschrieben.

Müssen Treffen verschieben. Notfall!

Notfall … Ann konnte das Wort nicht mehr hören – und lesen. Colins ganzes berufliches Leben war ein einziger Notfall. Notfälle hatten in den letzten zwanzig Jahren dafür gesorgt, dass Verabredungen geplatzt, Kurzurlaube abgesagt und Essen kalt geworden waren. Selbst bei Islas Taufe war Colin wegen eines Notfalls zu spät gekommen.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Inzwischen war es halb eins. Hätte Colin nicht früher absagen können? Sie kippte ihr Wasser in einem Zug hinunter – der Appetit auf ein Mittagessen war ihr vergangen – und wollte gerade aufstehen, als sie am Nachbartisch etwas hörte, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Eine der beiden jungen Frauen hatte etwas über Poppy Delacroix gesagt!

«Hast du dir das neue Buch auch schon heruntergeladen?», fragte die Frau im auberginefarbenen Yoga-Zweiteiler ihre Begleiterin und nippte an ihrem Latte macchiato. Ann hatte sie schon mal gesehen und meinte, sich daran zu erinnern, dass sie Meghan hieß und vor Kurzem erst mit ihrem Mann und der kleinen Tochter in eines der ziemlich charmelosen Reihenhäuser im Neubaugebiet gezogen war.

«Nein, ich wusste gar nicht, dass es schon erschienen ist», sagte ihre Begleiterin, die etwas kleiner und molliger war und ebenfalls einen Yoga-Anzug trug. «Wie schön!» Die junge Frau strahlte. «Ich kaufe es gleich auf dem Heimweg. Dann habe ich etwas, worauf ich mich heute Abend freuen kann.»

Ann spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Natürlich bekam sie oft Nachrichten von Leserinnen – gelegentlich auch von Männern –, die ihr mitteilten, wie sehr ihnen ihre Geschichten gefielen, aber es so unmittelbar zu hören, war noch einmal etwas anderes. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte sich zu erkennen gegeben. Bei der Vorstellung, was die Frauen dann für Gesichter machen würden, entschlüpfte ihr ein Kichern, und die Yoga-Frau aus Swinton warf ihr einen irritierten Seitenblick zu.

«Ich habe die beiden ersten Reihen schon geliebt, und der erste Band der Zauber der Liebe-Reihe war genauso toll», fuhr ihre Begleitung fort. «Vor allem die Sexszenen.» Sie tat, als müsste sie sich mit der Hand Luft zufächeln.

«Jamie freut sich auch immer, wenn ein neues Buch von ihr herauskommt», sagte Meghan augenzwinkernd.

Die beiden lachten, und Ann unterdrückte ein Grinsen. Bestimmt dachten die beiden, dass es im Schlafzimmer von Poppy Delacroix genauso leidenschaftlich zuging wie in denen ihrer Protagonisten. Wenn die wüssten!

Kapitel 3

«Du willst schon zahlen?», fragte Shona, als Ann bei ihr an der Kasse erschien.

«Ja. Colin hat mich mal wieder versetzt.» Sie seufzte. «Ein Notfall …»

«Bestimmt ist er bei Dorothy.» Shona ließ die Münzen, die Ann ihr reichte, in die Kasse fallen. «Evelyn hat mir gerade geschrieben, dass sie noch nicht weiß, ob sie heute Abend zum Buchclub kommen kann. Dorothy ist aus dem Rollstuhl gefallen, als sie sich einen Tee machen wollte.»

«Oh! Hat sie sich schlimm verletzt?», fragte Ann besorgt.

«Das wusste Evelyn noch nicht. Sie hat gehört, wie Dorothy aufgeschrien hat, und als sie ins Erdgeschoss kam, lag ihre Mutter schon bewusstlos und inmitten von Scherben auf dem Boden. Sie ist bei ihrem Sturz mit dem Kopf gegen den Schrank geknallt, deshalb hat sie eine Platzwunde. Sie war aber gleich wieder bei Bewusstsein. Evelyn hat trotzdem den Krankenwagen gerufen, um sie in Newton Stewart gründlich durchchecken zu lassen. Was Dorothy gar nicht passt. Sie zetert die ganze Zeit, sagt Evelyn, deshalb kann es ihr so schlecht nicht gehen.» Shona grinste.

Ann atmete auf. Mit ihren inzwischen 98 Jahren war Dorothy die mit Abstand älteste Einwohnerin von Swinton und ein echtes Unikat. Sie rauchte wie ein Schlot und trank schon zum Frühstück ihr erstes Glas Sherry. Schon seit sicher zehn Jahren zwang sie jedes Jahr alle Freunde und Verwandten, zu ihrer Geburtstagsfeier zu kommen, indem sie versicherte, dass es wahrscheinlich ihre letzte sei.

In der letzten Zeit gab ihre Gesundheit tatsächlich öfter Grund zur Besorgnis. Dorothy wirkte zunehmend gebrechlich, und auf dem letzten Frühlingsfest hatte sie, die sonst immer als Letzte nach Hause gegangen war, als eine der Ersten das Fest bereits um halb zwölf verlassen.

Ann verspürte den Anflug eines schlechten Gewissens, weil sie gerade so unfreundlich über Colins ständige Notfälle gedacht hatte. Schließlich wusste sie doch, dass hinter diesen Notfällen zum Teil schlimme persönliche Schicksale steckten.