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Vom Mut, das Glück wiederzufinden Zweimal hat Anna ihr Herz verloren: einmal an Max, doch die Ehe ging vor fünf Jahren übel in die Brüche. Und dann war da Jan … die unvergessene Liebe eines Jugendsommers. Schon lange fragt sie sich, was aus ihm geworden ist. Als sie erfährt, dass er auf Amrum wohnt, beschließt die sonst so vernünftige Anna spontan, mit ihrem VW-Bus gen Küste zu fahren. Doch dann meldet sich ihre Mutter, zu der sie seit 18 Jahren keinen Kontakt mehr hatte, mit schlimmen Nachrichten und einer großen Bitte. Am Ende sitzen nicht nur Anna und ihre Mutter zusammen im Auto, sondern auch ihre beiden Töchter – und Max … Ein Buch wie eine perfekt gepackte Strandtasche: berührendes Familiendrama, wunderschöne Liebesgeschichte und Road Novel.
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Seitenzahl: 399
Katharina Herzog
Roman
Vom Mut, das Glück wiederzufinden
Zweimal hat Anna ihr Herz verloren: einmal an Max, doch die Ehe ging vor fünf Jahren übel in die Brüche. Und dann war da Jan … die unvergessene Liebe eines Jugendsommers. Schon lange fragt sie sich, was aus ihm geworden ist. Als sie erfährt, dass er auf Amrum wohnt, beschließt die sonst so vernünftige Anna spontan, mit ihrem VW-Bus gen Küste zu fahren. Doch dann meldet sich ihre Mutter, zu der sie seit 18 Jahren keinen Kontakt mehr hatte, mit schlimmen Nachrichten und einer großen Bitte. Am Ende sitzen nicht nur Anna und ihre Mutter zusammen im Auto, sondern auch ihre beiden Töchter – und Max …
Ein Buch wie eine perfekt gepackte Strandtasche: berührendes Familiendrama, wunderschöne Liebesgeschichte und Road Novel.
Katharina Herzog ist die deutsche Autorin für Liebesromane mit Fernweh-Garantie. Sie liebt es, ihre Leser an Sehnsuchtsorte wie Amrum, die Amalfiküste, Juist und New York zu entführen und diese Schauplätze auch selbst zu bereisen. Mit ihren Romanen «Immer wieder im Sommer», «Zwischen dir und mir das Meer» und «Der Wind nimmt uns mit» schrieb sie sich nicht nur in die Herzen ihrer Leser, sondern eroberte auch die Bestsellerlisten. Katharina Herzog lebt mit ihrer Familie, Pferd und Hund bei München und plant schon ihre nächste Reise.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2017
Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Auf der Schwelle des Hauses» entnommen aus:
Günter Kunert, Erinnerungen an einen Planeten
Copyright © by Carl Hanser Verlag, München
Covergestaltung AMMA Kommunikationsdesign, Stuttgart
Coverabbildung Umschlagabbildungen: shutterstock.com; iStockphoto.com
ISBN 978-3-644-40029-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meinen Opa
Ich hoffe, es geht dir gut, da, wo du jetzt bist!
Günter Kunert
Auf der Schwelle des Hauses
In den Dünen sitzen. Nichts sehen
Als Sonne. Nichts fühlen als
Wärme. Nichts hören
Als Brandung. Zwischen zwei
Herzschlägen glauben: Nun
Ist Frieden.
Prolog
Hannes müsste längst da sein. Jeden Morgen zwischen halb zehn und zehn braust er auf den Hof und bremst dort so rasant ab, als säße er in einem Rennwagen und nicht in einem VW-Caddy. Doch als ich am diesigen Horizont nach dem gelben Postauto Ausschau halte, ist immer noch nichts zu sehen. Dabei ist es gleich halb elf.
Aus dem Stall hinter mir dringt das ungeduldige Schnauben der Pferde. Normalerweise führe ich sie immer schon um kurz nach zehn hinaus. Heute jedoch wage ich es nicht, weil ich befürchte, dass Hannes genau dann, wenn ich mit ihnen den Berg hinauf zur Koppel laufe, vorfährt und die Post in meinen Briefkasten quetscht. Hektisch, wie er es immer tut. Heutzutage hat niemand mehr Zeit. Auch mir läuft sie davon.
Ich stecke die Hand in die Tasche meines blauen Arbeitsoveralls und taste nach dem Brief, um mich zu vergewissern, dass er noch da ist – in den letzten Monaten sind mir zu viele Dinge abhandengekommen –, und ich bin erleichtert, als meine Finger an die harte Kante des Briefumschlags stoßen.
Schneewittchen schlägt mit ihren Hufen gegen die Wand ihrer Box. Obwohl sie mittlerweile eine alte Dame ist, hat sie nichts von ihrem aufbrausenden Temperament verloren. Ich streiche ihr über das struppige weiße Fell, das sich vor wenigen Jahren noch so weich und glatt unter meinen Händen angefühlt hat.
«Gleich darfst du raus, Mädchen», beruhige ich sie.
Schneewittchens Sohn Justus drängt seinen Kopf zwischen uns. Der fünfzehnjährige Wallach ist der letzte von Schneewittchens Nachkommen – und der einzige, den ich behalten habe. Judika, Jasmina, Judex, Julia. Die Namen seiner Geschwister weiß ich immer noch. Genau wie den ihres Vaters. Jericho. Der preisgekrönte Prämienhengst gehörte dem Tierarzt. Vor zwölf Jahren hat man ihn nach einer Kolik einschläfern lassen.
Ich weiß auch, dass Hannes, der jetzt endlich mit dem gelben Post-Caddy auf den Hof rast, mit vier Jahren einen ganzen Tag und eine Nacht neben seiner toten Mutter verbracht hat, bevor die beiden gefunden wurden. Josefine hatte eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt.
Seltsam, dass mir so lange zurückliegende Ereignisse noch so klar vor Augen stehen, während ich mich vor ein paar Tagen noch nicht einmal mehr daran erinnern konnte, was das rote Licht sollte, das auf einmal an dem schwarzen Kasten am Straßenrand aufleuchtete.
Der Name des schwarzen Kastens war Ampel, und das rote Licht bedeutete, dass ich anhalten musste. Das fiel mir allerdings erst wieder ein, nachdem sich die Stoßstange meines alten Fiats schon in den Kotflügel eines silbergrauen Mercedes gebohrt hatte, der gerade auf die Hauptstraße einbog.
«Tach», begrüßt mich Hannes und tippt sich an die Krempe seines Lederhuts. «Soll ich dir heute Nachmittag im Stall helfen?»
Seit ich die Milchwirtschaft aufgegeben habe und nur noch Schneewittchen, Justus, mein Hund Hendrik und die Hühner auf dem Hof leben, gibt es eigentlich nicht mehr genug Arbeit für zwei, doch ich weiß, dass Hannes gerne Zeit mit den Tieren und mir verbringt und dass er sich freut, wenn er mal von zu Hause rauskommt.
«Für heute bin ich schon fast fertig, aber du kannst morgen kommen, wenn du möchtest.»
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, und er nickt. «Diesmal habe ich leider nur einen Werbeprospekt für dich. Von Lidl. Die Kartoffeln sind im Angebot.» Im Gegensatz zu seinem rasanten Fahrstil redet er normalerweise langsam. So, als müsse er die Worte in seinem Gehirn erst ordnen, bevor er sie seinem Mund entweichen lässt. Gerade purzeln seine Sätze aber überraschend schnell aus ihm heraus. Vermutlich hat er diese Information heute Morgen schon mehreren Leuten gegeben.
«Na, da du sonst immer nur Rechnungen anschleppst, ist das doch mal eine nette Abwechslung.» Ich lache laut, wie es meine Art ist. «Kannst du den für mich mitnehmen?» Ich reiche ihm den Brief. «Mein Auto ist kaputt», fühle ich mich verpflichtet hinzuzufügen.
Ungeniert richtet Hannes seine blauen Augen auf das Adressfeld. «Oh, München. Da gibt es das Oktoberfest … und … und den», er überlegt, «Englischen Garten.» Er sieht mich beifallheischend an.
Im Dorf heißt es, dass Hannes vom Tod seiner Mutter etwas zurückbehalten hat.
«Genau.» Ich zwinge mich dazu, ihm anerkennend zuzunicken. Früher hat mich Hannes mit seiner langsamen Art zu reden in den Wahnsinn getrieben. Heute weiß ich, welch übergroße Anstrengung die Suche nach Worten bedeuten kann.
«Wer ist diese Anna?», fragt er nach einem erneuten langen Blick auf die Adresse.
«Meine Tochter.»
«Du hast eine Tochter?»
«Du kennst sie nicht. Sie ist weggegangen, als du noch ganz klein warst.»
«Warum?»
Ich antworte nicht, sondern schließe einen Moment die Augen, um die Erinnerungen zurückzudrängen, von denen mein Hausarzt allerdings meint, dass ich sie unbedingt aufschreiben müsse, bevor sie mir endgültig entgleiten.
Dann nicke ich dem Jungen noch einmal zu und gehe zu den Pferden.
«Guten Morgen, Nelly!» Anna zog den Rollladen einen Spalt auf und ließ die Sonne ins Zimmer ihrer Tochter.
«Ich mag nicht aufstehen.» Nelly zerrte die Bettdecke über ihren Kopf.
«Nur noch ein Mal. Dann hast du vierzehn Tage Pfingstferien.»
«Zum Glück», ertönte es dumpf aus den Daunen. «Kommt Papa uns heute Nachmittag abholen?»
«Nein, ich fahre euch zu ihm.» Anna setzte sich zu ihrer Tochter ans Bett. Unter der Decke hörte sie ein leises Schnurren. Anna schlug sie zurück und blickte in zwei grüne Augen, die sie ohne jedes Schuldbewusstsein anschauten.
«Herr Karlsson!» Sie hob den roten Kater hoch und hielt ihn vor sich. «Du weißt doch genau, dass du hier nichts zu suchen hast.»
«Sein Schuhkarton ist kaputtgegangen, und er konnte nicht schlafen.» Nelly setzte sich auf. Eine Strähne hatte sich aus ihrem langen blonden Zopf gelöst. Sie strich sie sich aus dem Gesicht und zeigte auf den Pappkarton auf der Fensterbank. Er war an der Seite eingerissen. Das passierte ständig. Herr Karlsson war nämlich viel zu dick für die klitzekleinen Kartons, in die er sich mit Vorliebe quetschte. Er war schon ziemlich neurotisch, dieser Kater. Genau wie Nelly. Annas Blick schwenkte zu dem Poster, das über dem Bett ihrer Tochter hing. Jamie Oliver war darauf abgebildet, wie er in einer großen Pfanne rührte. Welches achtjährige Mädchen kochte schließlich lieber komplizierte Menüs, anstatt mit anderen Kindern zu spielen? Nelly war schon ein ungewöhnliches Mädchen. Sophie dagegen, Nellys vierzehnjährige Schwester, verhielt sich so wie jeder Teenager in ihrem Alter. Leider.
Anna setzte den Kater auf den Boden, stand auf und ging hinaus.
«Sophie!» Sie klopfte an die Tür ihrer älteren Tochter. «Aufstehen!»
Erst nach dem dritten Klopfen ertönte der vertraute Grunzlaut, das Zeichen, dass Sophie sie gehört hatte. Neben Türenschlagen war er derzeit Sophies einzige Kommunikationsform.
Anna spürte, wie Herr Karlsson sich nachdrücklich an ihre Beine presste, und ging in die Küche, um sein Futter zu holen. Als sie den Schrank öffnete, fielen ihr ein paar Plastikdosen entgegen.
Wieder mal vollgestopft bis an den Rand. Genervt warf Anna die Dosen wieder hinein. Gleich heute Nachmittag, wenn sie die Mädchen bei ihrem Exmann abgesetzt hätte, würde sie damit anfangen, die Wohnung aufzuräumen. Vielleicht sollte sie ihren Urlaub auch dazu nutzen, ein paar Wände neu zu streichen? Ein bisschen Farbe könnten sie gut vertragen. Genau wie ihr Leben.
Sogar Frau Kurz, ihre 75-jährige Nachbarin, hatte ein aufregenderes Privatleben als sie. Und das schon seit dem Tag vor fünf Jahren, als Anna diese SMS auf Max’ Handy gefunden hatte. Das böse F-Wort war darin vorgekommen, und die Nachricht hatte leider nicht von ihr gestammt. Lange Zeit hatte sie sich eingeredet, dass ihr das überhaupt nichts ausmachte. Die Jahre mit Max waren schließlich turbulent genug gewesen. Doch in der letzten Zeit konnte sie ihre Sehnsucht immer weniger verdrängen. Vielleicht hielt die Zukunft doch noch ein bisschen mehr für sie bereit als Kinder, Arbeit und die Gilmore Girls?
Nelly erschien und setzte sich an den Frühstückstisch.
«Bekomme ich auch einen Kakao, Mama?», fragte sie und hielt Anna ihre gelbe Lieblingstasse mit den Schmetterlingen hin.
Anna nickte und betrachtete voller Zuneigung ihre jüngere Tochter, die herzhaft in ihre Honigsemmel biss. Sie sah ganz anders aus als sie selbst, die brünett und grünäugig war. Ebenso wie Sophie hatte Nelly die blonden Haare und die blaugrauen Augen ihres Vater geerbt, und sie würde mit ihren langen Locken und den roten Wangen wie ein pummliger Weihnachtsengel aussehen, wären da nicht die großen, weit auseinanderstehenden Vorderzähne. Anna wusste, dass Nelly sich damit furchtbar hässlich fand. Doch der Kieferorthopäde hatte gesagt, es sei noch zu früh für eine Behandlung.
Wo blieb denn Sophie? Gerade als Anna nach ihr rufen wollte, schlurfte auch sie in die Küche, aber anstatt sich zu Nelly zu setzen, nahm sie lediglich einen Apfel aus dem Obstkorb. Ihre glattgeföhnten Haare trug sie im Mittelscheitel, und sie fielen ihr weit über den Rücken. Die Sommersprossen auf ihrer Nase hatte sie wieder mal mit einer dicken Schicht Make-up kaschiert, und trotz der kühlen Temperaturen heute Morgen trug sie nur Hot Pants und ein enges Shirt. Wie so oft in der letzten Zeit verströmte sie einen penetranten Duft nach Haarspray, Vanilledeo und Parfüm. Statt eines Rucksacks trug sie eine Handtasche über der Schulter, die nicht so aussah, als ob sich besonders viele Bücher und Hefte darin befänden. Anna verkniff sich einen entsprechenden Kommentar.
«Nimm dir doch noch etwas.» Sie hielt Sophie den Korb mit den Semmeln hin. Zur Feier des letzten Schultages war sie extra beim Bäcker gewesen.
«Keinen Hunger. Wir müssen los.» Sophie stupste Nelly in die Seite, die gehorsam den letzten Bissen ihrer Semmel mit einem großen Schluck Kakao herunterspülte.
Anna hatte Widerstand erwartet, doch die Tatsache, dass heute der letzte Schultag vor den Pfingstferien war, motivierte Nelly anscheinend, das Haus ohne ihr übliches Murren und Jammern zu verlassen. Woher kam nur ihre plötzliche Abneigung gegen die Schule? Bis vor ein paar Wochen war Nelly wirklich gerne zum Unterricht gegangen. Aber wenn Anna bei ihr nachhakte, wich sie ihr immer aus. Stattdessen kam sie nachts manchmal wieder zu ihr ins Bett, weil sie schlecht träumte.
Während Nelly sich die Zähne putzte und Sophie mit dem Handy in der Hand an ihrer Zimmertür stand und tippte, klingelte es an der Tür. Frau Kurz. In ihren Sandaletten, dem engen weißen Rock und der roten Bluse, die genau den gleichen Farbton wie ihre Lippen und Zehennägel hatte, sah sie nicht älter als Mitte sechzig aus und weitaus spektakulärer als Anna, die ungeschminkt war und eine Caprihose, T-Shirt und Flipflops trug.
«Dieser Postbote», seufzte Frau Kurz, «er hat gestern schon wieder einen Ihrer Briefe bei mir in den Briefkasten geworfen.»
Hoffentlich nicht schon wieder eine Rechnung! Annas Budget war in diesem Monat schon ziemlich ausgereizt. Die Ausgaben für Nellys Klassenfahrt, der kaputte Anlasser des VW-Busses und Sophies neue Turnschuhe … Die mussten natürlich wieder einmal unbedingt von einer ganz bestimmten, horrend teuren Marke sein. Natürlich bezahlte Max für die Mädels Unterhalt, aber große Reichtümer konnte man mit einer Wohnung mitten in München und einem Job als Zimmermädchen trotzdem nicht anhäufen, und manchmal musste Anna ziemlich knapsen, um überhaupt über die Runden zu kommen.
Doch der Brief sah nicht aus wie eine Rechnung. Der Umschlag war cremefarben, nicht weiß, und Adresse und Absender waren nicht gedruckt, sondern von Hand geschrieben.
Anna bedankte sich und ging mit dem Brief ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich auf einen Stuhl und starrte auf die geraden, steilen Buchstaben, die sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und doch unter Tausenden wiedererkannt hätte. Mit klopfendem Herzen riss sie den Umschlag auf, zog einen Bogen heraus und las:
Liebe Anna,
ich muss mit dir sprechen.
Bitte ruf mich an!
Deine Mutter
Warme Luft wehte von draußen herein und blähte die zitronenfarbenen Chiffon-Gardinen vor der Balkontür. Vor dem Straßencafé schräg gegenüber saßen ein paar Männer und unterhielten sich. Anna hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde, dann das Aufheulen eines Motors. Zu Hause auf dem Hof war es selbst tagsüber meist still gewesen. Er lag zu weit weg von der Straße, als dass Motorengeräusche hätten in ihr Zimmer dringen können. Wenn in dieser Gegend überhaupt jemals ein Auto unterwegs war. Und wenn sie aus dem Fenster geschaut hatte, wurde ihr Blick von keiner Hausfassade begrenzt, sondern sie konnte unendlich weit über Hügelkuppen und Wälder hinweg in den Himmel schauen.
Viel zu viele lange weggeschlossene Erinnerungen stiegen in Anna auf. Was war wohl aus Schneewittchen und den anderen Pferden geworden? Gab es den Gnadenhof noch? Und ob ihre Mutter wohl hin und wieder noch an Jan dachte? Jan, der Junge, der vor neunzehn Jahren einen magischen Sommer lang seine Sozialstunden bei ihnen auf dem Hof abgeleistet hatte.
Jahrelang hatte Anna vergeblich das Internet nach ihm durchforstet, bevor sie vor ein paar Wochen beim Friseur zufällig auf diesen Artikel über ein Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche gestoßen war. Die etwa zehn- bis vierzehnjährigen Mädchen und Jungen auf dem Foto hatten sie nicht besonders interessiert, aber ihr Betreuer, der groß und breitschultrig mit dunklen Haaren und noch dunkleren Augen neben ihnen stand, hatte ihren Blick angezogen. Jan.
Sie hatte den Artikel heimlich herausgerissen und bewahrte ihn seitdem gut versteckt in einem Stapel Zeitschriften auf. Jetzt zog sie ihn heraus und faltete ihn auseinander. Seiner Frau zuliebe, einer Lungenfachärztin, sei Jan vor dreizehn Jahren von Hamburg nach Amrum gezogen. Er habe dort eine Stelle als Sozialpädagoge im Heim Dünenblick angenommen und sei, auch nachdem seine Ehe geschieden worden war, auf der Insel geblieben. Anna musste den Artikel nicht noch einmal lesen, sie wusste, was darin stand. Das Scheitern ihrer eigenen Ehe hatte sie wenig euphorisch gestimmt, aber bei diesem Artikel konnte sie nicht verhindern, dass sich ein warmes Gefühl in ihr ausbreitete, als sie das Wort «Scheidung» las. Anna betrachtete das Foto von Jan und seinen Schützlingen. Er hatte sich verändert. Er war muskulöser als früher, sein Gesicht wirkte kantiger, und an seinen Schläfen zeigte sich das erste Grau. Über die Jahre hatten sich in seinen Augenwinkeln Fältchen gebildet. Trotzdem hatte sie ihn sofort wiedererkannt. Sie strich sanft mit dem Zeigefinger über das Foto und spürte ein sehnsuchtsvolles Ziehen im Magen. Es wäre schön, ihn einmal wiederzusehen.
«Pfiad di, Mama!», hörte sie Nelly aus dem Flur rufen. «Wir gehen jetzt.»
«Viel Spaß, ihr Süßen.» Anna zwang sich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren.
Mit zittrigen Fingern ließ sie den Brief sinken. Warum wollte ihre Mutter ausgerechnet jetzt mit ihr sprechen? Nach all den Jahren.
Viel Spaß! Klar! In der Schule! Sophie schnaubte empört. Mom war immer so naiv. Zum Glück musste sie ihre Mutter nur noch bis heute Nachmittag ertragen, dann würden Nelly und sie endlich nach Starnberg fahren, damit sie die Ferien bei Dad verbringen konnten.
Dad war nämlich total cool, und am liebsten wäre Sophie ganz zu ihm gezogen. Anders als Mom redete er nicht mit ihr wie mit einem kleinen Kind, sondern wie mit einer Erwachsenen. Seine Holzhütte direkt am Ufer des Starnberger Sees hatte einen eigenen Bootssteg, und manchmal ließ er sie und Nelly auf seinem Motorrad mitfahren, immer abwechselnd. Als Pilot kam er viel herum, und er hatte ständig neue Freundinnen. Okay, Letzteres war nicht besonders cool, aber zumindest war er anständig genug, sie nicht bei sich schlafen zu lassen, wenn Nelly und Sophie bei ihm übernachteten.
Mit langen Schritten lief sie hinter ihrer Schwester her zur Trambahn. Nellys Pferdeschulranzen wippte beim Gehen auf und ab. Die anderen Mädchen aus der dritten Klasse trugen längst Rucksäcke. Aber die waren ja auch alle mindestens ein Jahr älter als Nelly. Ihre kleine Schwester war ja so ein unglaubliches Wunderkind, und deshalb hatte sie die zweite Klasse übersprungen.
Kurz bevor sie die Haltestelle erreichten, verlangsamte Sophie ihre Schritte und ließ Nelly weiter vorausgehen. Sie war nicht scharf darauf, von den Leuten in der Schule mit ihrer nerdigen Schwester zusammen gesehen zu werden.
Jessie stand bereits unter dem großen Ahornbaum auf dem Schulhof, wie jeden Tag, und wartete auf sie.
«Morgen!» Als Jessie ihr zuwinkte, wurde Sophies Stimmung noch schlechter. Wenn sie wegen Englisch und Mathe durchfiel, und so sah es im Moment aus, würden Jessie und sie im nächsten Schuljahr nicht mehr zusammen in eine Klasse gehen. Und das wäre eine Katastrophe! Sophie war so froh, eine Freundin wie sie zu haben. Auf ihrer Schule gab es Streber, es gab die coolen Leute – und es gab Jessie und sie. Ohne Jessie hätte sie sich nirgendwo zugehörig gefühlt, denn sie passte in keine Schublade.
Jessie und sie gehörten nicht zu denjenigen, die in der Pause alleine oder zu zweit herumstanden und die Nasen in ihre Bücher steckten. Sie gehörten jedoch auch nicht zu denen, die sich ein wenig außerhalb des Schulgeländes, aber dennoch für alle gut sichtbar, zusammenrotteten und rauchten (weil sie schon achtzehn waren). Oder zu denen, die sich in irgendwelche versteckten Ecken verdrückten, wenn sie glaubten, dass die Lehrer gerade nicht hinsahen (weil sie noch nicht achtzehn waren). Auch wenn zumindest Sophie sich alle Mühe gab, genau diesen Eindruck zu erwecken.
Yannick verschwand, den Mopedhelm unter dem Arm und die Hände tief in den Taschen seiner Baggy Pants vergraben, hinter einer Hauswand.
«Ich will vor der Schule noch eine rauchen.» Sophie kramte in ihrem Rucksack nach der Schachtel Zigaretten, die sie seit ein paar Wochen immer bei sich trug.
Jessie rümpfte die Nase. «Ich weiß nicht, was du an dem Zeug so toll findest», sagte sie, folgte Sophie jedoch bereitwillig.
Sie stellten sich ein paar Meter entfernt von den anderen hin, und Sophie zündete sich eine Zigarette an. Sie inhalierte den Rauch tief und konnte nur mit Mühe den aufkommenden Hustenreiz unterdrücken. Sie schielte unter ihrem Pony durch zu Yannick. Er ließ sich von einem Mädchen aus der Parallelklasse Feuer geben, und sie spürte einen fiesen Stich in ihrer Herzgegend. Trotz all ihrer Bemühungen hatte er sie noch nie groß beachtet. Dabei schwärmte sie für ihn, seit er Anfang des Schuljahres in ihre Klasse gekommen war. Weil er die neunte wiederholen musste.
«Meinst du, wir sollten auch unter die YouTuber gehen?», fragte Jessie.
«Warum das denn?»
«Na, deswegen.» Jessie deutete mit einem Kopfnicken auf Emma. In einem knallroten Schlauchkleid und Schuhen mit übertrieben hohen Absätzen präsentierte sie ihren Anhängerinnen gerade eine stattliche Kollektion von Lippenstiften. Einen nach dem anderen zauberte sie aus ihrer Handtasche. Bücher und Hefte nahm sie grundsätzlich nicht mit zum Unterricht. Und das, obwohl ihre Noten genauso schlecht waren wie die von Sophie. Aber Emma ließen die Lehrer natürlich in Ruhe. Man konnte ja jemandem, der 350000 Abonnenten hatte und im Monat eine vierstellige Summe verdiente, kaum erzählen, dass es für sein weiteres berufliches Leben unerlässlich war, Flächensätze am rechtwinkligen Dreieck zu beherrschen!
«Wäre es nicht toll, wenn wir auch von einer Drogeriekette gesponsert werden würden und dort alles umsonst bekämen?» Jessie blickte immer noch neidisch zu Emma hinüber.
«Was willst du machen, Frisurentipps geben?» Sophie zupfte an einer von Jessies dunkelblonden Dreadlocks.
«Nein, ich würde mich auf Henna-Tattoos spezialisieren. Meine Recherche hat ergeben, dass YouTube in dieser Sparte noch Kapazitäten frei hat.» Sie musterte ihre rechte Hand, die mit einem aufwendigen Muster verziert war.
«Ich dachte, das Zeug gibt es nur in Eine-Welt-Läden.»
«Ja, und?»
«Warum sollte dich dann bitte eine Drogeriekette sponsern?»
«Stimmt.» Jessie zog die Nase kraus. «Ich werde in den nächsten zwei Wochen mal darüber nachdenken. Zeit genug habe ich ja.» Sie verdrehte die Augen. Sophie wusste, dass sie und ihr Bruder in den Pfingstferien zu Haus bleiben würden, weil ihre Eltern arbeiten mussten.
«Ich mache ja auch nichts besonders Spannendes», versuchte sie, Jessie zu trösten. «Ich fahre nur mit meiner kleinen Schwester zu meinem Vater.» Sie bemühte sich um einen abfälligen Tonfall.
«Na ja, aber du kannst immerhin den ganzen Tag am Starnberger See herumliegen. Ich werde mich mit unserem Balkon begnügen müssen, wenn ich überhaupt etwas Farbe bekommen will. Und alleine macht das einfach nicht so viel Spaß.»
«Setz dich in die S-Bahn und komm zu uns. Du kannst ein paar Tage bei uns bleiben.»
«Hat denn dein Vater nichts dagegen?»
«Nö. Im Gegensatz zu meiner Mutter ist er total entspannt.»
«Oh ja! Dein Dad ist der Hammer.» Jessies rundes Gesicht nahm einen entzückten Ausdruck an. «Voll der DILF.»
«DILF?» Sophie runzelte die Stirn, doch im nächsten Moment schwante ihr, dass diese Abkürzung das Gegenstück zu MILF (Mother I’d love to fuck) war. «Bäh. Du bist ja pervers. Weißt du, wie alt mein Vater ist? Der wird übernächstes Jahr vierzig.»
Jessie kicherte. «Reg dich ab, das war ein Scherz. Obwohl ich schon finde, dass er heiß ist. Er sieht ein bisschen aus wie Ryan Gosling, ist dir das noch nicht aufgefallen? Aber vermutlich wäre ich eh nicht sein Fall.»
Nein. Sophie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Vermutlich nicht. Dad stand zwar auf jung, aber pädophil veranlagt war er nicht. Und mit ihren Dreadlocks, dem langen schwarzen Shirt, den Leggings und den Blümchen-Doc-Martens würde Jessie auch in zehn Jahren nicht in sein Beuteschema fallen.
Der Gong läutete, und Sophie drückte erleichtert ihre Zigarette aus. Sie zog ein Bonbon aus der Hosentasche und ärgerte sich, dass sie im Gegensatz zu Emma und ihren Anhängerinnen vergessen hatte, Deo einzustecken. Yannick ging mit seinen Freunden an ihr vorbei. Sophie warf ihre langen blonden Haare zurück, mit einer lässigen Bewegung, wie sie hoffte. Dann folgte sie ihm und seinen Freunden.
Dadrüben war Nelly. Der Schulhof des Geschwister-Scholl-Gymnasiums und Nellys Grundschule grenzten direkt aneinander. Wie so oft, seitdem sie die Klasse gewechselt hatte, saß ihre Schwester allein auf einer Bank. Gerade versuchte sie umständlich, ihr Deutschbuch in den Ranzen zu stopfen. Als sie bemerkte, dass Sophie und Jessie auf sie zukamen, lächelte sie die beiden an.
Sophie sah, wie Marco seinen Freund Yannick in die Seite stieß. Dann zeigte er seine Vorderzähne und versuchte, einen Hasen zu imitieren. Yannick lachte laut auf, und Nellys Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
Sophie wandte sich ab.
«Was für ein Arschloch dieser Typ doch ist», hörte sie Jessie zischen. «Er soll Nelly endlich in Ruhe lassen.»
Sophie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Obwohl sie der gleichen Meinung war, tat sie so, als hätte sie ihre Freundin nicht gehört. Wieso war Nelly nur ein solcher Freak? Warum konnte sie nicht ein bisschen cooler sein? Oder zumindest normaler? Einfach so wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter … Sophie senkte den Blick und versuchte, ihre Schwester zu ignorieren, die hilfesuchend zu Jessie und ihr hinübersah, bevor sie mit hängenden Schultern ins Schulgebäude schlich.
Das Hotel Gustav lag in der Münchner Leopoldstraße. Anna war überrascht, einen Parkplatz direkt vor der schmalen Eingangstür zu finden. Sie stellte den Wagen ab und stieg aus. Der rote VW-Bus mit dem cremefarbenen Dach war als Stadtauto viel zu groß, außerdem war er ständig kaputt. Max hatte ihn vor siebzehn Jahren restauriert und ihr geschenkt, damit sie trotz ihres geringen Budgets die Welt bereisen konnten. Kurz darauf war sie schwanger geworden. Obwohl er ihr als Oldtimer mit Sicherheit eine stattliche Summe eingebracht hätte, hatte Anna ihn auch nach der Trennung von Max behalten. Sie schaffte es einfach nicht, sich von ihm zu trennen.
In dem Kämmerchen, wo sich ihre Arbeitsuniform und der Putzwagen befanden, las Anna den Brief erneut. Es war unmöglich, aus den wenigen Worten etwas zu deuten. Doch Anna kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht nur aus Sehnsucht nach all der Zeit bei ihr meldete. Von Gefühlen hatte sie sich noch nie leiten lassen. Außer an dem Tag, an dem sie Jan rausgeschmissen und damit Anna nach ihrem Vater den zweiten Menschen weggenommen hatte, der ihr wirklich etwas bedeutete.
Anna zog ihr Handy aus der Tasche. Bevor sie einen Rückzieher machen konnte, wählte sie die Nummer, die sie immer noch auswendig konnte. Das Freizeichen erklang, und sie hielt die Luft an. Es ertönte noch einmal, zweimal, dreimal. Erst nach dem zwanzigsten Freizeichen legte Anna in einer diffusen Mischung aus Bedauern und Erleichterung wieder auf. Frieda war nicht da. Und natürlich besaß sie keinen Anrufbeantworter. Vermutlich stand im Flur immer noch das grüne Wählscheiben-Telefon. Ihre Mutter hatte sich noch nie leichtfertig von Dingen getrennt. Bei Menschen sah die Sache leider anders aus.
Anna ging den Flur entlang zum Aufzug und fuhr in den ersten Stock hinauf, um dort mit den Zimmern anzufangen. Sie fühlte sich benommen und rieb sich die Schläfen.
«Ist etwas nicht in Ordnung?»
Der Chef stand vor ihr. Obwohl Herr Grünwald schon auf die achtzig zuging, konnte er sich nicht von dem Hotel trennen, das bereits seine Eltern geführt hatten. Mit seinen vergissmeinnichtblauen Augen schaute er sie besorgt an. Seine grüne Trachtenweste schmiegte sich beängstigend eng an seinen runden Bauch, und sie war falsch geknöpft. Sein weißer Bart war lang und voll. Irgendjemand hatte Anna erzählt, vor ein paar Jahren sei ihm während eines Einkaufsbummels die Stelle eines Kaufhausweihnachtsmannes angeboten worden.
«Nein, nein.» Anna schüttelte den Kopf. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich noch nicht umgezogen hatte und dass der Putzwagen noch immer in dem Kämmerchen stand. «Ich … ich …» Wie um Himmels willen sollte sie begründen, dass sie ohne Uniform mit geschlossenen Augen an der Wand neben dem Aufzug lehnte?
«Sie sollten in den Frühstücksraum gehen und etwas essen. Sie sehen blass aus», sagte Grünwald und tätschelte ihr den Arm.
Er hielt sie für einen Gast! Das tat er häufig, wenn er sie in ihren normalen Kleidern antraf und seine Brille nicht aufhatte. Ihren Namen konnte er sich auch nicht merken.
Anna eilte zurück zur Putzkammer. Dort tauschte sie ihre Jeansjacke gegen ihren weiß-grün gestreiften Arbeitskittel. Sie stieg ein zweites Mal in den Aufzug und schob ihren Putzwagen in das erste Zimmer. Hier hatte sich ein nettes älteres Ehepaar aus dem Saarland einquartiert, um die bayerische Landeshauptstadt zu erkunden.
Anna ging einmal mit dem Staubsauger durch, danach musste sie lediglich kurz über die Ablagen im Bad wischen, den Müllbeutel wechseln und die Minibar auffüllen. Alles war penibel aufgeräumt. Sogar die Betten waren bereits gemacht, und das so akkurat, dass Anna es beim besten Willen nicht ordentlicher gekonnt hätte.
Das nächste Zimmer war das genaue Gegenteil. Hier wohnte der junge Mann mit den langen dunklen Haaren und dem wachsweißen Gesicht, der aussah, als würde er einer satanistischen Bewegung angehören.
Die Tür war nur angelehnt.
«Zimmerservice!»
Statt einer Antwort hörte Anna durch den Türspalt jemanden brummen.
«Soll ich später wiederkommen?»
Einige Augenblicke herrschte Stille, dann sah sie den jungen Mann in Boxershorts und einem langen schwarzen T-Shirt ins Bad schlurfen. Beim Anblick seiner blassen, knochigen Beine musste sie an ein Skelett denken. «Nö, mach ruhig!», murmelte er und zog die Badezimmertür hinter sich ins Schloss.
Wie auch in den letzten Tagen war es stockdunkel im Zimmer. Und stickig. Anna schob die altmodischen beige-orange-schwarz gestreiften Vorhänge zurück und trat auf den Balkon. Sie stützte sich auf die Brüstung und atmete erst einmal tief durch.
«Huhu, Doris!» Unten auf der Straße stieg ihr Chef, der mittlerweile seine Brille aufhatte, gerade in seinen Audi ein und winkte ihr zu. Anna winkte zurück. Nicht weit von ihm entfernt standen eng umschlungen ein Junge und ein Mädchen, beide etwas älter als Sophie.
Aus dem Bad drang ein röchelndes, verschleimtes Husten. Anna schloss für ein paar Momente die Augen. Sie ließ sich das Gesicht von der Sonne wärmen und versuchte, den Gedanken an den Brief in ihrer Hosentasche zu verdrängen. Das helle, unbeschwerte Lachen des Mädchens drang zu ihr herauf. Sie nahm den Geruch von Abgasen wahr und auf einmal noch einen anderen: den von Sonnencreme. Und Meer. Anna wandte überrascht den Kopf und öffnete die Augen wieder.
Ein älterer Mann stand im Unterhemd auf dem Balkon des Nachbarhauses. Er hielt eine gelbe Tube in der Hand und cremte sich die haarigen, braun gebrannten Arme ein. Als er merkte, dass Anna ihn beobachtete, nickte er ihr freundlich zu.
Anna trat vom Geländer zurück. Nun aber endlich wieder an die Arbeit! Bevor sie sich umwandte, warf sie noch einen raschen Blick nach unten. Der Junge hatte sich hinter das Mädchen auf die Vespa gesetzt. Es war genauso eine, wie Anna sie früher gefahren war. Er schlang die Arme um ihre Taille, und schon brausten die beiden die Leopoldstraße hinunter in Richtung Innenstadt. Die Haare des Mädchens flatterten im Wind, und Anna spürte plötzlich, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Jan und sie mussten ganz ähnlich ausgesehen haben, wenn sie auf ihrer alten Vespa ins Tal hinuntergefahren waren, um die Kühe heimzutreiben.
Komisch, dass sich alle bedeutsamen Ereignisse ihres Lebens immer im Sommer abgespielt hatten. Der Tod ihres Vaters, die Geburt von Sophie und später auch die von Nelly. Max’ Seitensprung, Jan … Auch als sie von zu Hause weggegangen war, war es Sommer gewesen.
Die Badezimmertür wurde geöffnet.
«Kannst jetzt da drin weitermachen», nuschelte der Mann in Schwarz und ging an ihr vorbei auf den Balkon. Er zündete sich eine Zigarette an, und der Geruch von Sonnencreme wurde von beißendem Tabakgestank verdrängt.
Anna blinzelte die Tränen weg, und auf einmal wurde ihr klar, dass sie eine Wahl hatte: Wenn sie die Mädels heute Nachmittag bei ihrem Vater in Starnberg abgesetzt hätte, könnte sie die Wohnung aufräumen und die Wände streichen. Oder sie konnte darauf vertrauen, dass auch dieser Sommer seine Pläne mit ihr hatte, und zu ihrer Mutter fahren, um sich anzuhören, was sie ihr zu sagen hatte, und danach weiter – ans Meer.
«Ich heb ab, nichts hält mich am Boden», sang Andreas Bourani. Sophie hatte Kopfhörer auf und musste sich zurückhalten, um nicht laut mit einzustimmen. Sie saß schon eine ganze Weile hier auf dem Bordstein und wartete auf Mom. Obwohl es schon ein paar Stunden her war, spürte sie immer noch ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, wenn sie an die Szene dachte, die sich heute Morgen in der Schule abgespielt hatte. Yannick hatte sie angesprochen. Yannick! Sie! Also war seine Coolness ihr gegenüber doch nur gespielt gewesen. Wenn sie daran dachte, konnte sie gar nicht mehr aufhören zu grinsen. Dabei war die Situation, die zu ihrem Gespräch geführt hatte, todpeinlich gewesen.
Weil es der letzte Schultag war, hatte die Klassenlehrerin beschlossen, ausnahmsweise mal kein Mathe zu machen. An sich eine hervorragende Idee, wäre die Alternative dazu nicht gewesen, die Schüler wie Erstklässler in einem Stuhlkreis um sich zu scharen und sie von ihren Ferienplänen berichten zu lassen. Zu allem Unglück war Sophie auch noch die Erste, die aufgerufen wurde. Sie war darüber so erschrocken, dass ihr auf die Schnelle nichts Spannendes einfiel, also war sie bei der Wahrheit geblieben. Doch die war anscheinend gar nicht so unspektakulär! Obwohl sie mit keiner Shoppingtour in New York aufwarten konnte, wie Emma, und auch mit keiner Jeeptour durch Island, wie Yannick, war er am Ende der Stunde zu ihr gekommen.
«Dein Vater scheint ja ein cooler Typ zu sein», hatte er gesagt und sich einen Stuhl herangezogen.
Weil Sophies Herz raste wie wild und ihre Kehle wie zugeschnürt war, hatte sie nur genickt.
«Ich will auch Pilot werden. Ich würde mich gerne mal mit ihm unterhalten. Wegen der Aufnahmeprüfung und so.»
«Klar. Warum nicht?» Sophie hatte nur cool mit den Schultern gezuckt, ihre zitternden Hände hatte sie sich schnell zwischen die Beine geklemmt. Jessie schnaubte hinter ihrem Rücken abfällig.
Obwohl Handys auf dem Schulgelände strengstens verboten waren, zog Yannick sein iPhone aus der Tasche. «Gib mir doch mal die Adresse von deinem Dad und deine Nummer. Bist du Anfang der Woche schon da? Dann komme ich mal vorbei, bevor ich mit meinen Eltern nach Island fliege.»
Sophie hatte drei Anläufe gebraucht, bis sie ihm alles richtig diktiert hatte …
Und nun saß sie hier und konnte sich überhaupt nicht mehr einkriegen vor Freude. Krass! Jessie wollte sie in Starnberg besuchen. Und Yannick auch! Die Ferien würden absolut hammermäßig werden. Sie musste es nur irgendwie schaffen, Nelly von ihm fernzuhalten. Er brauchte es schließlich nicht zu wissen, dass Sophie mit ihr verwandt war.
Da war Mom ja endlich. Sie ging zum VW-Bus und stellte eine rote Reisetasche neben Nellys Prinzessin-Lillifee-Koffer und Sophies Trekkingrucksack in den Kofferraum.
«Warum hast du denn auch eine Tasche dabei?», fragte Nelly.
«Es gibt eine kleine Planänderung.»
Sophie hob misstrauisch den Kopf. «Und welche?»
Anna machte eine ungeduldige Handbewegung, die bedeutete, dass sie einsteigen sollten. «Ich fahre auch ein paar Tage weg.»
«Wohin denn?», fragte Nelly.
Sophie merkte, dass Mom kurz zögerte.
«Ich werde Oma besuchen», sagte sie.
«Du fliegst nach Mallorca?»
Dads Eltern lebten seit ihrer Pensionierung auf einer Finca im Norden der Insel.
«Nein. Ich fahre zu meiner eigenen Mama.»
«Zu Oma Frieda?» Nellys Augen wurden groß. «Ich will mit.»
Sag ja, flehte Sophie stumm. Das wäre die perfekte Lösung für alles! Doch Mom schüttelte den Kopf.
«Das geht nicht, Schätzchen.»
Ach, Mist!
«Aber du hast erzählt, dass Oma Pferde hat. Und Kühe. Und einen Hund, der Hermann heißt.» Nellys Unterlippe zitterte.
«Ich glaube nicht, dass die noch leben. Es ist alles schon so lange her. Aber das nächste Mal nehm ich dich mit.» Anna strich Nelly über die dicken Backen. «Versprochen. Aber diese Ferien musst du mit Sophie bei Papa bleiben. Er wäre bestimmt furchtbar traurig, wenn ihr nicht kommt. Er freut sich doch so auf euch.»
Sophie verdrehte die Augen. Mom redete mit ihnen wie mit Kindergartenkindern. Und woher wollte sie überhaupt wissen, ob Dad traurig darüber wäre, wenn Nelly nicht mit zu ihm käme? Immer tat sie so, als wären Dad und sie die besten Freunde – dabei redete sie überhaupt nicht mit ihm.
Sophie wandte den Kopf in Nellys Richtung, neugierig auf ihre Reaktion. Wie kam ihre Schwester damit klar, dass Mom sie nicht mit zu ihrer Mutter nehmen würde? Leider war Nelly nicht der Typ, der darauf pochte, seinen Willen zu bekommen.
«Und wer kümmert sich um Herrn Karlsson?», fragte sie nur.
«Frau Kurz kommt morgens und abends rüber, um ihn zu füttern und um mit ihm zu spielen», sagte Mom, und damit gab Nelly sich zufrieden.
Eine halbe Stunde später bog Mom hinter dem Ortskern von Starnberg auf eine Straße ab, die direkt am Seeufer entlangführte. Wasser sah man trotzdem nicht, denn hier reihte sich, gut abgeschirmt von hohen Hecken, eine protzige Villa an die andere. Erst am Ortsausgang wurden die Häuser spärlicher, und man konnte ab und zu einen Blick auf das Blaugrün des Sees und einige Bootssegel erhaschen.
Dads Holzhütte lag ein Stück außerhalb des Ortes auf einem riesigen Grundstück. Ursprünglich war geplant gewesen, dass er darauf ein Haus baute. Die Genehmigung dafür hatte er bereits eingeholt, aber nun fand er, für ihn allein sei die Holzhütte vollkommen ausreichend.
Nelly fand es hier total cool. Es gab Eichhörnchen, die an den Bäumen hoch- und runterflitzten, und nach dem Aufstehen konnten Sophie und sie direkt in den See springen. Außerdem freute sie sich darauf, bald Äpfel und Kirschen zu ernten – sie hatte sich schon ein paar Rezepte dazu rausgesucht.
Es war schon okay hier.
Die Einzige, die dem Ganzen überhaupt nichts abgewinnen konnte, war natürlich Mom.
«Ist es in der Hütte nicht viel zu kalt nachts?», fragte sie, als sie den Bus in der Auffahrt parkte.
«Dad wohnt das ganze Jahr über hier. Und jetzt haben wir Juni.» Sophie verzog das Gesicht. Mom würde sie vermutlich sogar noch in der Wüste fragen, ob ihr nicht kalt sei und ob sie sich nicht lieber ein Handtuch um die Schultern legen wolle.
Sophie ging los. Hinter sich hörte sie das Knirschen der Rollen von Nellys Prinzessin-Lillifee-Koffer, also folgten ihr die anderen. Über den Holzsteg gelangte sie zur Hütte und öffnete die Tür.
«Dad! Bist du da?»
Niemand antwortete.
Moms Miene war reglos. Trotzdem wusste Sophie ganz genau, was sie jetzt dachte: Das ist ja mal wieder typisch! Sie fühlte sich verpflichtet, ihren Vater zu verteidigen: «Er kann nicht weit sein. Der Ford Mustang und das Motorrad stehen in der Garage. Vielleicht sitzt er vorne auf der Terrasse.» Sophie ging auf der schmalen Holzveranda um die Hütte herum. Nelly folgte ihr.
Von der Veranda aus blickten sie auf einen Steg, neben dem ein paar Kinder im Wasser planschten, während ihre Mütter auf Badetüchern im kiesigen Sand saßen und sich unterhielten. Draußen im See schwamm eine Frau mit halblangen grauen Haaren. Ansonsten war niemand zu sehen.
Sophie kehrte zur Eingangstür zurück, wo Mom mit verschränkten Armen auf sie wartete. «Du kannst fahren. Er wird schon gleich kommen.»
«Und euch hier allein lassen …» Sie schüttelte den Kopf.
«Ich bin kein Kind mehr.»
«Nelly schon.»
«Ich bin acht», protestierte ihre Schwester mit geschürzten Lippen. «Aber allein hierbleiben will ich trotzdem nicht», fügte sie deutlich weniger selbstbewusst hinzu.
Genervt schulterte Sophie ihren Rucksack und trat ein. Die Hütte hatte drei Räume. Es gab ein Wohnzimmer, das gleichzeitig auch Küche und Esszimmer war und in dem Nelly und sie auf der ausklappbaren Couch schliefen. Es gab Dads Schlafzimmer. Und es gab ein winziges Bad. Alles ziemlich eng, aber sie waren sowieso meistens draußen. Sophie steuerte direkt auf das Wohnzimmer zu. Sie stieß die Tür auf und rümpfte die Nase. Überall lag Zeug herum, und die Kochnische war so zugestellt mit schmutzigem Geschirr, leeren Bierflaschen und Pizzakartons, dass man Spülbecken und Wasserhahn allenfalls noch erahnen konnte. Mom nervte sie zwar mit ihrem ständigen «Räum deinen Kram auf!», doch in so einem Chaos würde noch nicht einmal sie sich wohl fühlen.
«Vielleicht hat er verschlafen», sagte Nelly kleinlaut.
«Bestimmt», sagte Mom. Ihre Stimme klang angespannt.
Sophie griff nach Nellys Hand und ging mit ihr die wenigen Meter durch den Flur zum Schlafzimmer. Die Tür war nur angelehnt. Sie drückte sie auf und blickte auf ein zerwühltes Bett. Zwei Personen lagen darin. Eine davon war Dad, die andere hatte glatte blonde Haare. Ihr Kopf lag auf seiner Brust, und beide waren nackt. Zumindest die Körperteile, die nicht von einem Laken bedeckt waren. Auf dem Boden lagen überall Kleider verstreut, Red-Bull-Dosen, eine leere Wodkaflasche und … Waren das Kondome? Wie eklig war das denn? Sophie spürte einen Knoten im Magen. Sie wollte schon kehrtmachen, da hörte sie einen erstickten Laut in ihrem Rücken. Mom hatte das Gleiche gesehen wie sie. Und Nelly. Ihre Schwester klammerte sich so sehr an ihrer Hand fest, dass es weh tat.
«Kommt, wir gehen», hörte sie Mom leise sagen.
Sophie erwartete, dass Nelly anfing zu quengeln, weil sie sich auf den Urlaub bei Dad gefreut hatte, doch sie folgte ihr, ohne zu murren. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Natürlich wusste sie, dass Dad kein Heiliger war, aber sie hatte ihn immer verteidigt. Nun hatte er den Bogen überspannt. Sophie wollte gerade die Tür hinter sich zuziehen, als Dad sich auf einmal aufrichtete. Er tastete nach seiner Brille, und seine Augen wurden groß. «Sophie!» Dann fiel sein Blick auf die Frau, die neben ihm lag, und die nun den Kopf hob und verschlafen blinzelte. «Ach, scheiße!», brach es aus ihm heraus, und Sophie nickte.
Ja. Das konnte man so sagen.
«Wartet!»
Anna hatte Nelly gerade in den Bus geschoben und war auf den Fahrersitz geklettert, als Max aus der Hütte gerannt kam. Seine dunkelblonden Haare waren zerzaust, und die Brille saß schief auf seiner Nase.
«Es tut mir leid. Ich habe verschlafen.» Schwer atmend blieb er vor dem heruntergekurbelten Autofenster stehen.
«Ach! Dein Auftritt war gar nicht inszeniert?!» Anna wandte sich ab. Sie war nie ein gewalttätiger Mensch gewesen, doch in diesem Augenblick, als er so vor ihr stand – barfuß, unrasiert und nur mit einer Boxershorts bekleidet, und sie genau wusste, dass er erst vor kurzem Sex gehabt hatte –, fühlte sie einen so gewaltigen Hass in sich aufsteigen, dass sie am liebsten die leere Wodkaflasche neben seinem Bett geholt und sie ihm über den Kopf gezogen hätte. Um ihm weh zu tun. Genauso, wie er ihr ein paar Jahre zuvor weh getan hatte. Aber sie konnte ihm ja noch nicht einmal sagen, was für ein verfluchter Scheißkerl er war, weil Nelly und Sophie mit im Bus saßen und jedes Wort mitbekamen. Verdammt! Er hatte doch gewusst, dass sie ihm heute Nachmittag die Mädchen vorbeibringen würde.
Die blonde Frau erschien im Türrahmen. Wobei die Bezeichnung Frau ihrem Alter kaum gerecht wurde. Mit kurzen Shorts, Top und High Heels bekleidet, stolperte sie jetzt mit ihrer großen Tasche in der Hand wenig elegant den unebenen Weg entlang.
«Ich muss los. Bringst du mich zur S-Bahn?», wandte sie sich kaugummikauend an Max, als sie am Bus angekommen war.
«Mach ruhig. Wir wollten sowieso gerade los.» Anna steckte den Autoschlüssel ins Zündschloss.
Max legte seine Hand auf den Türgriff. «Bitte bleib!»
Die Augen der jungen Frau flackerten, als sie zwischen Anna und Max hin- und herblickte. «Eigentlich kann ich auch zu Fuß gehen», sagte sie. «Bis demnächst!» Sie nickte Max noch einmal zu und stöckelte in Richtung Straße.
Ein paar Augenblicke sprach niemand ein Wort. Max sah sie abwartend an, aber Anna hielt den Blick stur auf das Lenkrad gerichtet. Dieser Arsch! Er hatte ihre ganzen Pläne zunichtegemacht.
«Bitte lass die Mädels hier», sagte Max leise. «Sophie und Nelly können ein bisschen im See schwimmen. In der Zeit räume ich drinnen auf … Und heute Abend grillen wir.»
Einen Moment lang war Anna versucht nachzugeben. Es würde alles um so vieles einfacher machen. Doch der Anblick der Blondine, die gerade um die Ecke verschwand, hielt sie davon ab. «Nein. Nelly und Sophie ist der Appetit auf Würstchen für heute bestimmt vergangen.» Sie ließ ihren Blick bedeutungsvoll zu seiner Körpermitte schweifen. «Wir fahren jetzt. In den nächsten Ferien starten wir einen neuen Versuch. Vielleicht bist du dann ja angezogen …»
«Ach bitte, Mama!», flehte Nelly. «Ich möchte so gerne schwimmen. Und Stockbrot essen. So wie beim letzten Mal, als Sophie und ich hier waren.» Sie kletterte aus dem Bus und stellte sich dicht neben Max, seine Hand nahm sie jedoch nicht.
Gott! Das hier war die Hölle. Anna drehte sich zu ihrer älteren Tochter um, die mit Ohrhörern und verschlossener Miene auf der Rückbank saß.
«Sophie!»
Nur widerwillig zog Sophie den Stöpsel aus ihrem rechten Ohr.
«Nelly will bei Papa bleiben. Was ist mit dir?»
Sie zuckte mit den Achseln. «Mir egal.»
«Egal gibt es nicht. Nur ja oder nein.»
«Ich kann schon bleiben», sagte Sophie mürrisch.
«Gut, bis morgen früh. Nicht länger. Dann hole ich euch ab … und wir fahren alle zusammen zu Oma», stieß sie hervor, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
«Juhu!», jubelte Nelly. Es klang ein bisschen gedämpfter als sonst, doch ihr kleines Gesicht strahlte. «Ich war noch nie bei Oma Frieda. Früher hatte sie Pferde, Kühe und einen Hund, Papa. Vielleicht gibt es ja immer noch ein paar Tiere dort.»
«Du willst zu deiner Mutter?», fragte Max überrascht.
«Ich fahre auf gar keinen Fall mit. Du spinnst wohl. Was soll ich denn da?» Sophie verschränkte die langen dünnen Arme vor der Brust und blickte sie trotzig an.
Anna spürte, wie sie zunehmend die Geduld verlor. Ihr lag schon eine scharfe Bemerkung auf der Zunge, als Max ihr zuvorkam. «Jetzt geht ihr erst einmal schwimmen.» Er holte Nellys Koffer und Sophies Rucksack wieder aus dem Kofferraum. «Und eure Mutter und ich trinken in der Zeit einen Kaffee.»
Resigniert stieg Anna aus dem Bus. Meinetwegen. Einen Kaffee. Aber dann war sie weg.
Die Sonne war hinter ein paar hellen Schäfchenwolken verschwunden, als Anna wenige Minuten später auf der schmalen Holzterrasse saß und auf den See hinausblickte. Ein Segelboot kreuzte ihr Blickfeld. Nelly stand in ihrem roten Badeanzug auf dem Steg, und Sophie versuchte, ihr beizubringen, wie man einen Kopfsprung machte. Ein relativ hoffnungsloses Unterfangen, doch in Bezug auf ihre kleine Schwester konnte Sophie bisweilen sehr geduldig sein.
Max kam mit zwei dampfenden Tassen aus der Hütte und setzte sich neben Anna auf einen der Klappstühle.
«Schön, dass du da bist. Wir haben uns eine ganze Weile nicht mehr gesehen.» Er schlug entspannt ein Bein über das andere. Neben ihm stapelten sich leere Pizzakartons auf der Veranda, und Anna musste sich sehr zurückhalten, um nicht einen davon zu ergreifen und ihm über den Kopf zu ziehen. Am liebsten hätte sie seine coole Gelassenheit aus ihm herausgeprügelt. Für ihn war die Szene in seinem Schlafzimmer vielleicht bereits abgehakt, aber für sie nicht. Und jetzt, wo Sophie und Nelly nicht da waren, hatte sie nicht mehr die geringste Lust, ihren Abscheu ihm gegenüber zu verbergen.
«Was war das für eine Aktion, Max?» Ihr Ton war scharf. «Du wusstest genau, dass ich dir heute Nachmittag die Mädels vorbeibringe. Wolltest du mir beweisen, was für ein toller Kerl du bist?»
«Muss ich das denn nach all der Zeit noch?» Er lächelte dieses charmante Lächeln, auf das in der Schule alle Mädchen so abgefahren waren. Schon als sie noch Kinder waren, hatte er es damit immer geschafft, ihr die schönsten Murmeln abzuluchsen. Doch als er sah, wie ihre Miene sich noch mehr verfinsterte, hob er beschwichtigend die Hände. «Ich weiß, dass ich Mist gebaut habe. Aber das war alles nicht geplant. Ich bin gestern Abend in München ausgegangen. Und … es ist spät geworden. Da habe ich nicht daran gedacht, mir den Wecker zu stellen. Die Wohnung sieht normalerweise auch nicht so aus. Ich … ich hatte einfach in der letzten Zeit viel um die Ohren. Es tut mir total leid, dass ihr das alles gesehen habt.»