Das Labyrinth des Fauns - Cornelia Funke - E-Book
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Das Labyrinth des Fauns E-Book

Cornelia Funke

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Beschreibung

Der neue Roman von Cornelia Funke - poetisch, sprachgewaltig, monumental. Inspiriert von Guillermo del Toros grandiosem oscarprämierten Meisterwerk »Pans Labyrinth« schafft Bestsellerautorin Cornelia Funke eine Welt, wie nur Literatur es kann. Spanien, 1944: Ofelia zieht mit ihrer Mutter in die Berge, wo ihr neuer Stiefvater stationiert ist. Für den grausamen Hauptmann ist der dichte Wald lediglich ein Versteck für untergetauchte Widerstandskämpfer. Für Ofelia wird er eine Zufluchtsstätte vor dem unbarmherzigen Stiefvater: ein Königreich voller verzauberter Orte und magischer Wesen. Ein geheimnisvoller Faun stellt dem Mädchen drei Aufgaben. Besteht sie diese, ist sie die lang gesuchte Prinzessin des Reiches. Immer tiefer wird Ofelia in eine phantastische Welt hineingezogen, die wundervoll ist und grausam zugleich. Kann Unschuld über das Böse siegen? Ein Roman, der zeigt, welche Magie entstehen kann, wenn zwei Meister der Imagination zusammentreffen: kraftvoll und wunderschön geschrieben von Erfolgsautorin Cornelia Funke – ein literarisches Gesamtkunstwerk, das Herzen und Verstand verändert.

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Seitenzahl: 282

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Cornelia Funke | Guillermo del Toro

Das Labyrinth des Fauns

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Tobias Schnettler

Mit Bildern von Allen Williams

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]PrologDer Wald und die FeeAll die Gestalten des BösenNur eine MausEine Rose auf einem dunklen BergVäter und SöhneGeschichte: Das Versprechen des BildhauersIns LabyrinthMesserzähneEine PrinzessinMilch und MedizinGeschichte: Das LabyrinthDer BaumDie Geschöpfe des WaldesDer KröterichDie Frau des SchneidersGeschichte: Die Mühle, die ihren Teich verlorBehaltet den SchlüsselBlutEin SchlafliedBruder und SchwesterGeschichte: Der UhrenmacherDie zweite PrüfungEine Höhle im WaldDer Bleiche MannKeine andere WahlGeschichte: Die Rasierklinge und das MesserDie Königreiche des Todes und der LiebeDie einzig ehrenvolle Art zu sterbenSchlechte Nachrichten, gute NachrichtenTartaGeschichte: Der BuchbinderBloß zwei TraubenGebrochenEs gibt keine MagieEine andere Art von MannGeschichte: Als der Faun sich verliebteTu ihr nicht wehEs ist wahrscheinlich nicht wichtigDer Kater und die MausBloß eine FrauGeschichte: Der Schneider, der mit der Gevatterin Tod feilschteEine allerletzte ChanceDer verwundete WolfSchwester und BruderGeschichte: Das Echo eines MordesDie letzte PrüfungDer Name seines VatersGeschichte: Der Junge, der entkamDie Rückkehr der PrinzessinEpilog: Kleine Spuren

Für Alfonso Fuentes und seine Männer, die mein Haus, meine Erinnerungen, meine Notizbücher und meine Esel vor dem Woolsey-Feuer bewahrten.

C.F.

Und für K, die mein Herz erweckte.

G.D.T.

Prolog

Vor langer, langer Zeit, so heißt es, lebte in einem unterirdischen Reich, in dem es weder Lügen noch Schmerz gab, eine Prinzessin, die von der Welt der Menschen träumte. Prinzessin Moanna träumte von einem strahlend blauen Himmel und einem endlosen Meer aus Wolken; sie träumte von der Sonne und dem Gras und dem Geschmack des Regens …

Eines Tages entkam die Prinzessin ihren Wächtern und gelangte in unsere Welt. Schon bald löschte die Sonne all ihre Erinnerungen, und sie vergaß, wer sie gewesen und woher sie gekommen war. Sie wanderte umher, litt Kälte, Krankheit und Schmerz. Und schließlich starb sie.

Ihr Vater, der König, hörte nie auf, nach ihr zu suchen. Er wusste, dass ihre Seele unsterblich war, und hoffte, sie würde eines Tages zu ihm zurückkehren.

In einem anderen Körper, einer anderen Zeit. Vielleicht an einem anderen Ort.

Er würde warten.

Bis zu seinem letzten Atemzug.

Bis ans Ende der Zeit.

Der Wald und die Fee

Es war einmal ein Wald, im Norden Spaniens, so alt, dass er Geschichten erzählen konnte, die längst vergangen und von den Menschen vergessen waren. Die Bäume ankerten so tief in der moosbedeckten Erde, dass sie die Gebeine der Toten mit ihren Wurzeln umfassten, während sie die Äste nach den Sternen streckten.

So vieles ist verloren, murmelten die Blätter, als drei schwarze Autos die unbefestigte Straße entlangkamen, die durch den Farn und das Moos führte.

Alles Verlorene kann wiedergefunden werden, wisperten die Bäume.

Es war 1944, und das Mädchen, das neben ihrer hochschwangeren Mutter in einem der Autos saß, verstand nicht, was die Bäume flüsterten. Ihr Name war Ofelia, und obwohl sie erst dreizehn Jahre alt war, wusste sie alles über Verlust und den Schmerz, den er bereitete. Ihr Vater war nur ein Jahr zuvor gestorben, und Ofelia vermisste ihn so sehr, dass ihr Herz sich zuweilen wie eine leere Schatulle anfühlte, die nichts außer dem Widerhall ihres Schmerzes enthielt. Ofelia fragte sich oft, ob ihre Mutter genauso empfand, doch sie konnte die Antwort in ihrem blassen Gesicht nicht finden.

»Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Kohle«, hatte ihr Vater immer gesagt, wenn er ihre Mutter ansah, die Stimme voller Zärtlichkeit. »Du siehst ihr so ähnlich, Ofelia.« Verloren.

Sie fuhren schon seit Stunden, weiter und immer weiter fort von allem, was Ofelia vertraut war, tiefer und tiefer hinein in diesen nicht enden wollenden Wald, um den Mann zu treffen, den ihre Mutter als Ofelias neuen Vater erwählt hatte. Ofelia nannte ihn den Wolf, und sie wollte nicht an ihn denken. Doch selbst die Bäume schienen seinen Namen zu wispern.

Das einzige Stück Zuhause, das Ofelia hatte mitnehmen können, waren ein paar ihrer Bücher. Sie umfasste das Buch auf ihrem Schoß und streichelte den Umschlag. Als sie es aufschlug, leuchteten die Seiten hell vor dem Schatten des Waldes, und die Worte darauf spendeten Trost und Schutz. Die Buchstaben waren wie Spuren im Schnee einer weiten, weißen Landschaft, die kein Schmerz je berührt hatte und die nicht von Erinnerungen geplagt war, die zu finster waren, um sie zu bewahren, zu süß, um sie loszulassen.

»Wieso hast du diese ganzen Bücher mitgebracht, Ofelia? Wir fahren doch aufs Land!« Die Autofahrt hatte das Gesicht ihrer Mutter noch blasser gemacht. Die Fahrt und das Kind in ihrem Leib. Sie nahm Ofelia das Buch aus der Hand, und die tröstenden Worte verstummten.

»Du bist zu alt für Märchen, Ofelia! Du musst anfangen, dich mit der Welt zu beschäftigen.«

Die Stimme ihrer Mutter klang wie eine zersprungene Glocke. Ofelia konnte sich nicht erinnern, dass sie je so geklungen hatte, als ihr Vater noch lebte.

»Oh, wir werden zu spät kommen!«, seufzte sie und drückte sich ihr Taschentuch an die Lippen. »Das wird ihm nicht gefallen.«

Ihm …

Ihre Mutter stöhnte laut auf, und Ofelia beugte sich vor und griff nach der Schulter des Fahrers.

»Halt!«, rief sie. »Halten Sie an. Sehen Sie nicht, dass es meiner Mutter nicht gutgeht?«

Der Fahrer grunzte und hielt den Wagen an. Wölfe – das waren sie, diese Soldaten, die sie begleiteten. Menschenfressende Wölfe. Ihre Mutter sagte, Märchen hätten mit der Welt nichts zu tun, doch Ofelia wusste es besser. Märchen hatten sie alles über die Welt gelehrt.

Sie stieg aus dem Auto, während ihre Mutter zum Straßenrand stolperte und sich in die Farnwedel übergab. Der Farn umgab die Bäume so dicht wie ein Ozean aus gefiederten Wedeln, und die graurindigen Stämme schienen dem Himmel aus einer versunkenen Welt entgegenzuwachsen.

Die beiden anderen Fahrzeuge hielten ebenfalls an, und der Wald schwärmte von grauen Uniformen. Die Bäume mochten sie nicht. Ofelia spürte das. Serrano, der diensthabende Offizier, kam, um nach ihrer Mutter zu sehen. Er war ein großer, massiger Mann, der immer zu laut sprach und seine Uniform wie ein Theaterkostüm trug. Ihre Mutter bat ihn mit ihrer zerborstenen Stimme um Wasser, und Ofelia ging ein Stück die unbefestigte Straße entlang.

Wasser, raunten die Bäume. Erde. Sonne.

Die Farnwedel strichen wie grüne Finger über Ofelias Kleid, und sie senkte den Blick, als sie auf einen Stein trat. Der Stein war grau wie die Uniformen der Soldaten und lag mitten auf der Straße, als hätte ihn jemand dort verloren. Hinter Ofelia übergab ihre Mutter sich erneut. Wieso macht es Frauen krank, wenn sie Kinder zur Welt bringen?

Ofelia bückte sich und schloss die Finger um den Stein. Die Zeit hatte ihn mit Moos überzogen, doch als Ofelia das Moos abrieb, sah sie, dass er flach und glatt war und dass jemand ein Auge hineingemeißelt hatte.

Ein menschliches Auge.

Ofelia blickte sich um.

Alles, was sie entdecken konnte, waren drei verwitterte Säulen, beinahe unsichtbar inmitten des hohen Farns. Den grauen Stein, aus dem sie gehauen waren, überzogen fremdartige, konzentrische Muster, und von der mittleren Säule starrte ein uraltes, verwittertes Gesicht in den Wald hinein. Ofelia konnte nicht widerstehen. Sie verließ die Straße und ging darauf zu, obwohl ihre Schuhe schon nach wenigen Schritten vom Tau durchnässt waren und Disteln an ihrem Kleid hafteten.

Dem Gesicht fehlte ein Auge. Wie ein Puzzle, dem ein Teil fehlte – darauf wartend, dass jemand es löste.

Ofelia schloss die Finger fester um den Augenstein und trat näher an die Säule heran.

Unterhalb der Nase, die mit geraden Linien in den grauen Stein gemeißelt war, gab ein offener Mund verwitterte Zähne frei. Ofelia stolperte zurück, als sich zwischen den Zähnen eine geflügelte Kreatur regte, dünn wie ein Zweig, die die langen, zitternden Fühler auf sie richtete. Insektenbeine tasteten sich aus dem Mund heraus, und das Geschöpf, größer als Ofelias Hand, hastete die Säule hinauf. Sobald es oben ankam, hob es die spindeldürren Vorderbeine und fing an zu gestikulieren. Das brachte Ofelia zum Lächeln. Es schien so lange her, dass sie zuletzt gelächelt hatte. Ihre Lippen waren es nicht mehr gewohnt.

»Wer bist du?«, flüsterte sie.

Die Kreatur winkte noch einmal mit den Vorderbeinen und stieß ein paar melodische Klicklaute aus. Vielleicht war es eine Grille. Sahen Grillen so aus? Oder war es eine Libelle? Ofelia war nicht sicher. Sie war in der Stadt aufgewachsen, zwischen Mauern aus Steinen, die weder Augen noch Gesichter hatten. Oder offene Münder.

»Ofelia!«

Das Geschöpf breitete die Flügel aus. Ofelia sah ihm nach, als es davonflog. Ihre Mutter stand wenige Schritte entfernt auf der Straße, Serrano neben sich.

»Sieh dir deine Schuhe an!«, tadelte sie mit dem leicht resignierten Tonfall, den ihre Stimme inzwischen so oft annahm.

Ofelia blickte auf ihre Schuhe. Sie waren bedeckt mit Schlamm, doch sie spürte das Lächeln noch auf ihren Lippen.

»Ich glaube, ich habe eine Fee gesehen!«, sagte sie. Ja. Die geflügelte Kreatur musste eine Fee gewesen sein. Ganz sicher.

Doch ihre Mutter hörte nicht zu. Ihr Name war Carmen Cardoso, sie war zweiunddreißig Jahre alt und bereits verwitwet, und sie hatte vergessen, wie es sich anfühlte, etwas anzusehen, ohne es zu verabscheuen oder Angst davor zu haben. Alles, was sie sah, war eine Welt, die ihr nahm, was sie liebte, und es zwischen den Zähnen zu Staub zermahlte. Und weil Carmen Cardoso ihre Tochter liebte, sie so sehr liebte, hatte sie wieder geheiratet. Diese Welt wurde von Männern regiert – ihr Kind verstand das noch nicht –, und nur ein Mann konnte sie beide beschützen. Es war Ofelias Mutter nicht bewusst, dass sie ebenfalls an Märchen glaubte. Carmen Cardoso glaubte an das gefährlichste aller Märchen: An das, in dem der Prinz kommen und sie retten würde.

Die geflügelte Kreatur, die im klaffenden Mund der Säule auf Ofelia gewartet hatte, wusste all das. Sie wusste von vielen Dingen, doch eine Fee war sie nicht – zumindest nicht in dem Sinne, wie wir sie uns gerne vorstellen. Nur ihr Meister kannte ihren wahren Namen, denn in dem magischen Königreich, aus dem sie stammte, gewann man Macht über die, deren wahren Namen man kannte.

Ofelia und ihre Mutter stiegen ins Auto und setzten ihre Reise fort. Die geflügelte Kreatur beobachtete sie vom Ast einer Tanne aus. Sie hatte schon lange auf dieses Mädchen gewartet: Das Mädchen, das so viel verloren hatte und noch so viel mehr verlieren musste, um das zu finden, was ihr rechtmäßig gehörte. Es würde nicht einfach sein, ihr zu helfen, aber das war der Auftrag, den ihr Meister ihr gegeben hatte, und er konnte recht unleidlich werden, wenn man seinen Anweisungen nicht folgte. O ja, sehr unleidlich.

Die Autos fuhren tiefer und tiefer in den Wald hinein, mit dem Mädchen und der Mutter und dem ungeborenen Kind. Und das Geschöpf, das Ofelia eine Fee genannt hatte, breitete seine Insektenflügel aus, faltete die sechs dünnen Beine zusammen und folgte dem Konvoi.

All die Gestalten des Bösen

Das Böse nimmt selten sofort eine feste Form an. Oft ist es zuerst nicht mehr als ein Flüstern. Ein Blick. Ein Verrat. Doch dann wächst es und schlägt Wurzeln, noch immer unsichtbar, unbemerkt. Nur Märchen geben dem Bösen eine konkrete Gestalt. Die bösen Wölfe, die finsteren Könige, die Dämonen und Teufel …

Ofelia wusste, dass der Mann, den sie bald »Vater« würde nennen müssen, böse war. Er hatte das Lächeln des Zyklopen Ojáncanu, und in seinen dunklen Augen nistete die Grausamkeit der Monster Cuegle und Nuberu, Ungeheuer, denen sie in ihren Märchenbüchern begegnet war. Doch ihre Mutter erkannte seine wahre Gestalt nicht. Viele Menschen werden blind, wenn sie älter werden, und vielleicht sah Carmen Cardoso das wölfische Lächeln nicht, weil Capitán Vidal gutaussehend und immerzu makellos gekleidet war in seiner Gala-Uniform, den schwarzen Handschuhen und stets blankgeputzten Stiefeln. Vielleicht verwechselte Ofelias Mutter seinen Blutdurst mit Macht und seine Brutalität mit Stärke, weil sie sich so sehr danach sehnte, beschützt zu werden.

 

Capitán Vidal blickte auf seine Taschenuhr. Das Glas hatte einen Sprung, doch die Zeiger darunter zeigten noch immer die korrekte Zeit an, und sie sagten ihm, dass der Konvoi verspätet war.

»Fünfzehn Minuten«, murmelte Vidal, der, wie alle Monster – wie der Tod, Santa Muerte –, immer pünktlich war.

 

Ja, sie waren, wie Carmen befürchtet hatte, verspätet, als sie die alte Mühle erreichten, die Vidal als sein Hauptquartier gewählt hatte. Vidal hasste den Wald, der die Mühle umgab. Er hasste alles, was keine perfekte Ordnung einhielt, und die Bäume boten den Männern, die zu jagen sie gekommen waren, allzu bereitwillig Deckung. Diese Männer bekämpften die Dunkelheit, der Vidal diente und die er bewunderte, und er war in den alten Wald gekommen, um diese Männer zu brechen. O ja, Ofelias neuer Vater liebte es, denen die Knochen zu brechen, die er für schwach hielt, ihr Blut zu vergießen und neue Ordnung in ihre elende, schmutzige Welt zu bringen.

Er begrüßte den Konvoi. Lächelnd.

Doch Ofelia sah die Verachtung in seinen Augen, als er sie auf dem staubigen Hof willkommen hieß, wo einst die Bauern der benachbarten Dörfer ihr Korn abgeladen hatten. Ihre Mutter jedoch lächelte zurück und erlaubte dem Wolf, ihren Bauch zu berühren, der von seinem Kind groß und rund war. Selbst, als er sie anwies, sich in einen Rollstuhl zu setzen, gehorchte sie, wie eine zerbrochene Puppe. Ofelia beobachtete das alles vom Rücksitz des Autos aus. Die Aussicht, dem Wolf die Hand zu geben, wie ihre Mutter es verlangt hatte, ließ sie schaudern. Doch schließlich stieg sie aus, um ihre Mutter nicht mit ihm allein zu lassen, ihre Bücher gegen die Brust gepresst wie einen Schild aus Papier und Worten.

»Ofelia.« Der Wolf zermalmte ihren Namen zwischen seinen schmalen Lippen zu etwas, das so zerbrochen war wie ihre Mutter, und starrte auf ihre ausgestreckte linke Hand.

»Die andere Hand, Ofelia«, sagte er sanft.

Er trug schwarze Lederhandschuhe, die knarzten, als sein Griff sich wie die Falle eines Wilddiebs um Ofelias Hand schloss. Dann drehte er ihr den Rücken zu, als hätte er sie schon jetzt wieder vergessen.

»Mercedes!«, rief er einer Frau zu, die den Soldaten dabei half, die Autos zu entladen. »Hol ihr Gepäck!«

Mercedes war schlank und blass. Sie hatte rabenschwarzes Haar und dunkle, feuchte Augen. Ofelia fand, dass sie wie eine Prinzessin aussah, die vorgab, eine Bauerntochter zu sein. Oder vielleicht wie eine Zauberin, auch wenn Ofelia nicht genau sagen konnte, von welcher Art, ob gut oder böse.

Mercedes und die Männer trugen die Koffer ihrer Mutter zu der Mühle. Das Gebäude erschien Ofelia verloren und traurig, als ob es sich danach sehnte, wieder frisches Korn zu mahlen. Stattdessen war es überrannt von Soldaten, die wie Heuschrecken um seine verwitterten Steinmauern schwärmten. Ihre Zelte und Lastwagen waren überall und nahmen den weitläufigen Hof in Beschlag, der von Ställen, einer Scheune und der Mühle selbst umgeben war.

Graue Uniformen, ein trauriges altes Haus und ein Wald voller Schatten … Ofelia wünschte sich so sehr zurück nach Hause, dass sie kaum atmen konnte. Doch ohne ihren Vater gab es kein Zuhause. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, als sie plötzlich einige Meter entfernt, zwischen Stapeln von Säcken zwei Flügel entdeckte, in denen sich das Sonnenlicht brach, als bestünden sie aus papierdünnem Glas.

Es war die Fee.

Ofelia vergaß ihre Traurigkeit und lief ihr nach, als sie geradewegs auf die Bäume hinter der Mühle zuflog. Das kleine Geschöpf war so schnell, dass Ofelia schon bald über ihre eigenen Füße stolperte und ihre Bücher fallen ließ. Doch als sie sie aufsammelte und den Schmutz von den Buchdeckeln wischte, sah sie, dass die Fee sich an die Rinde eines nahen Baumes klammerte und auf sie wartete.

 

Sie wartete. O ja. Schließlich musste sie sichergehen, dass das Mädchen ihr folgte. Aber was war das? Sie blieb schon wieder stehen!

 

Ofelia starrte auf den gewaltigen Torbogen, der zwischen den Bäumen aufgetaucht war und den Durchgang zwischen zwei uralten Mauern überspannte. Ein gehörnter Kopf starrte mit leeren Augen und offenem Mund von dem Bogen herab, als wollte er die Welt verschlingen. Der Blick dieser Augen schien alles verschwinden zu lassen: die Mühle, die Soldaten, den Wolf, sogar Ofelias Mutter. Tritt ein!, schienen die verfallenden Mauern zu sagen. Ofelia machte unterhalb des Kopfes verwitterte Buchstaben aus, aber sie wusste nicht, was sie bedeuteten.

In consiliis nostris fatum nostrum est, stand dort.

»In unseren Entscheidungen bestimmt sich unser Schicksal.«

Die Fee war verschwunden, und als Ofelia durch den Torbogen trat, warf er einen kalten Schatten auf ihre Haut. Kehr um!, warnte etwas in ihr. Doch sie tat es nicht. Manchmal ist es gut, zu gehorchen, manchmal nicht. Ofelia war sich nicht sicher, ob sie überhaupt eine Wahl hatte. Ihre Füße gingen von ganz allein weiter. Der Gang, der sich hinter dem Torbogen auftat, verengte sich schon nach wenigen Schritten, und bald konnte Ofelia beide Wände zugleich berühren, wenn sie die Arme ausstreckte. Sie strich mit den Händen über die verwitterten Steine, während sie weiterging. Sie waren so kalt, obwohl es ein heißer Tag war. Noch ein paar Schritte und ein weiterer Gang tat sich vor ihr auf, der erst nach links und dann nach rechts führte. Zu einer weiteren Abzweigung.

»Es ist ein Labyrinth.«

Ofelia fuhr herum.

Mercedes stand hinter ihr. Der Schal um ihre Schultern sah aus, als hätte sie ihn aus wollenen Blättern gewoben. Falls sie eine Zauberin war, dann war sie eine schöne, nicht alt und verwittert, wie sie in Ofelias Büchern meistens aussahen. Doch die Märchen hatten Ofelia auch gelehrt, dass Zauberinnen oft nicht ihr wahres Gesicht zeigten.

»Es sind nichts als alte Steine«, sagte Mercedes. »Sehr alte Steine. Diese Mauern stehen hier schon seit Ewigkeiten – sie wurden lange vor der Mühle gebaut. Du solltest nicht hierherkommen. Du könntest dich verlaufen. Das ist schon passiert. Irgendwann erzähl ich dir die Geschichte, wenn du sie hören willst.«

»Mercedes! Der Capitán braucht dich!«, drang die harsche Stimme eines Soldaten zu ihnen.

»Ich komme!«, rief Mercedes zurück.

Sie lächelte Ofelia zu. Ihr Lächeln war voller Geheimnisse, doch Ofelia mochte sie. Sie mochte sie sehr.

»Du hast es gehört. Dein Vater braucht mich.« Mercedes wandte sich um und ging zurück zu dem Torbogen.

»Er ist nicht mein Vater!«, rief Ofelia ihr nach.

Mercedes verlangsamte ihren Schritt.

Ofelia holte sie ein, und sie gingen gemeinsam unter dem Bogen hindurch und ließen die kalten Steine und das behornte Gesicht mit den leeren Augen hinter sich.

»Mein Vater war ein Schneider«, sagte Ofelia. »Er ist im Krieg umgekommen.«

Da waren die Tränen wieder. Sie kamen immer, wenn Ofelia über ihn sprach. Sie konnte nichts dagegen tun.

»Er hat mein Kleid gemacht, und die Bluse, die meine Mutter anhat. Er hat die schönsten Kleider genäht. Schöner als die, die die Prinzessinnen in meinen Büchern tragen! Capitán Vidal ist nicht mein Vater!«

»Das hast du sehr deutlich gemacht«, sagte Mercedes sanft, während sie Ofelia den Arm um die Schultern schlang. »Aber jetzt komm. Ich bring dich zu deiner Mutter. Sie sucht bestimmt schon nach dir.«

Ihr Arm fühlte sich warm an. Und stark.

»Ist meine Mutter nicht schön?«, fragte Ofelia. »Nur das Baby macht sie krank. Hast du einen Bruder?«

»Ja«, antwortete Mercedes. »Du wirst sehen, du wirst deinen kleinen Bruder liebhaben. Sehr sogar. Du kannst gar nichts dagegen tun.«

Sie lächelte erneut, aber Ofelia sah die Traurigkeit in ihren Augen. Mercedes schien auch zu wissen, wie es war, etwas zu verlieren.

Auf dem steinernen Torbogen saß die Fee und beobachtete, wie die beiden zur Mühle zurückgingen: die Frau und das Mädchen, Frühling und Sommer, nebeneinander.

Das Mädchen würde wiederkommen.

Dafür würde die Fee sorgen.

Sehr bald.

Sobald ihr Meister es wünschte.

Nur eine Maus

Ja, Mercedes hatte einen Bruder. Pedro war einer der Männer, die sich im Wald versteckten, ein Maqui, wie sie sich selbst nannten, ein Widerstandskämpfer, der sich vor genau den Soldaten versteckte, für die Mercedes kochte und putzte.

Capitán Vidal plante gerade mit seinen Offizieren die Jagd auf diese Männer, als Mercedes ihm Brot, Käse und Wein brachte, wie er es bestellt hatte. In einer anderen Zeit hatte der Tisch, auf dem sie ihre Landkarte ausgebreitet hatten, dazu gedient, dem Müller und seiner Familie die Mahlzeiten zu servieren. Jetzt servierte der Tisch nur noch den Tod. Den Tod und die Furcht.

Die Flammen, die im Kamin tanzten, malten Schatten von Messern und Gewehren auf die weiß getünchten Wände und auf die Gesichter, die über die Karte gebeugt wurden. Mercedes stellte ihr Tablett ab und warf unauffällig einen Blick auf die Armeestellungen, die auf der Karte markiert waren.

»Die Guerillas bleiben im Wald, weil es schwierig ist, sie dort zu finden.« Vidals Stimme war so ausdruckslos wie sein Gesicht. »Das Pack kennt das Gelände viel besser als wir. Deshalb werden wir die Zugänge zum Wald blockieren. Hier. Und hier.« Er stieß seinen schwarz behandschuhten Finger wie einen Torpedo auf die Karte herab.

Pass gut auf, Mercedes. Und erzähl deinem Bruder, was sie vorhaben, sonst ist er in einer Woche tot.

»Verpflegung, Medikamente, das alles lagern wir hier. Genau hier.« Vidal wies auf den Punkt, der die Mühle markierte. »Wir müssen sie dazu zwingen, die Hügel zu verlassen. Auf die Art kommen sie zu uns.«

Hier, Mercedes. Sie werden alles hier lagern!

Sie ließ sich Zeit, während sie das Essen auf den Tisch stellte, froh, dass sie für ihre Augen unsichtbar war, bloß ein Dienstmädchen, ein Teil der Einrichtung, wie die Stühle und das Feuerholz.

»Wir richten drei neue Kommandoposten ein. Hier, hier und hier.«

Vidal stellte Bronzemarker auf. Mercedes ließ seine behandschuhten Finger nicht aus den Augen. Genau das war sie: die Augen und Ohren der Kaninchen, die sie jagten, so still und unsichtbar wie eine Maus.

»Mercedes!«

Sie vergaß für einen Augenblick zu atmen, als der schwarze Handschuh sich um ihre Schulter schloss.

Vidals Augen waren schmal vor Misstrauen. Er ist immer misstrauisch, Mercedes, beruhigte sie ihr rasendes Herz. Er sah es gern, wenn sein Blick ein Gesicht mit Furcht erfüllte, doch sie hatte dieses Spiel oft genug mitgespielt, um sich nicht zu verraten. Nur eine Maus. Unsichtbar. Es würde ihren Tod bedeuten, falls er sie je für eine Katze oder eine Füchsin hielt.

»Sag Dr. Ferreiro, er soll herunterkommen.«

»Ja, Señor.«

Sie senkte den Kopf, um sich klein zu machen. Die meisten Männer mochten es nicht, wenn eine Frau groß war. Vidal war keine Ausnahme.

Drei Kommandoposten. Und Verpflegung und Medikamente hier in der Mühle gelagert.

Das konnte sich als sehr nützlich erweisen.

Eine Rose auf einem dunklen Berg

Dr. Ferreiro war ein guter Mann, eine sanfte Seele. Das war Ofelia augenblicklich klar, als sie das Zimmer ihrer Mutter betrat. Man spürt Güte ebenso deutlich wie Grausamkeit. Sie verbreitet Licht und Wärme, und der Arzt schien von beidem erfüllt.

»Das wird Ihnen helfen zu schlafen«, sagte er zu ihrer Mutter, während er ein paar bernsteinfarbene Tropfen in ein Glas Wasser mischte.

Ihre Mutter hatte nicht widersprochen, als Dr. Ferreiro ihr empfohlen hatte, für einige Tage im Bett zu bleiben. Es war ein riesiges Holzbett, mit genügend Platz für sie und Ofelia. Ihrer Mutter ging es alles andere als gut, seit sie an diesen elendigen Ort gekommen waren. Ihre Stirn war schweißnass, und der Schmerz zog feine Falten in ihr schönes Gesicht. Ofelia machte sich Sorgen, doch es tröstete sie, den ruhigen Händen des Arztes bei der Zubereitung der Arznei zuzusehen.

»Nur zwei Tropfen«, sagte er und reichte Ofelia die kleine braune Flasche, damit sie sie verschloss. »Du wirst sehen, das wird ihr helfen.«

Ihre Mutter konnte das Wasser kaum schlucken, ohne zu würgen.

»Sie müssen es ganz austrinken«, wies Dr. Ferreiro sie sanft an. »Sehr gut.«

Seine Stimme war so warm wie die Decken auf dem Bett, und Ofelia fragte sich, warum ihre Mutter sich nicht in einen Mann wie Dr. Ferreiro verliebt hatte. Er erinnerte sie an ihren toten Vater. Nur ein kleines bisschen.

Ofelia hatte sich gerade auf die Bettkante gesetzt, als Mercedes das Zimmer betrat.

»Er will Sie unten sehen«, sagte sie zu Ferreiro.

Er. Niemand sprach seinen Namen aus. Vidal. Er klang wie ein Stein, den man durch eine Fensterscheibe warf, jeder Buchstabe ein Stück gesplittertes Glas. Capitán. So nannten ihn die meisten. Doch Ofelia fand immer noch, dass Wolf viel besser zu ihm passte.

»Sie können mich jederzeit rufen«, sagte der Arzt zu ihrer Mutter, während er seine Tasche zuklappte. »Auch nachts. Sie oder Ihre junge Krankenschwester«, fügte er mit einem Lächeln für Ofelia hinzu.

Dann folgte er Mercedes aus dem Zimmer, und Ofelia war zum ersten Mal mit ihrer Mutter allein in diesem alten Haus, das nach kalten Wintern und der Traurigkeit von Menschen roch, die vor langer Zeit hier gelebt hatten. Sie war gern mit ihrer Mutter allein. Schon immer – doch dann war der Wolf gekommen.

Ihre Mutter zog sie an sich.

»Meine kleine Krankenschwester.« Sie schob eine Hand unter Ofelias Arm und lächelte sie müde, aber glücklich an. »Mach die Tür zu und das Licht aus, Cariño.«

Ofelia fürchtete den Gedanken, in diesem fremden Raum zu schlafen, obwohl ihre Mutter bei ihr sein würde, doch sie tat, was sie ihr aufgetragen hatte. Sie griff gerade nach der Türklinke, als sie Dr. Ferreiro mit Mercedes auf dem Treppenabsatz stehen sah. Sie bemerkten sie nicht, und Ofelia wollte nicht lauschen, doch sie konnte nicht verhindern, zuzuhören. Zuhören … das ist es ja, was man als Kind tut. Um die Geheimnisse der Erwachsenen zu erfahren, und so zu lernen, ihre Welt zu verstehen – und sie zu überleben.

»Sie müssen uns helfen, Doktor!«, flüsterte Mercedes. »Ich bring Sie zu ihm, damit Sie sich die Wunde ansehen können. Sie verheilt nicht. Sein Bein wird immer schlimmer.«

»Das ist alles, was ich auftreiben konnte«, sagte der Arzt leise und reichte Mercedes ein kleines, in Packpapier eingeschlagenes Paket. »Es tut mir leid.«

Mercedes nahm das Paket entgegen, doch die Verzweiflung in ihrem Gesicht machte Ofelia Angst. Mercedes schien so stark, wie jemand, der sie beschützen konnte in diesem Haus, das von Einsamkeit und den Geistern der Vergangenheit erfüllt war.

»Der Capitán erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer.« Mercedes’ Gestalt straffte sich, und sie blickte Ferreiro nicht nach, als er die Treppe hinabstieg. Seine Schritte waren schwer, als hätte er ein schlechtes Gewissen, Mercedes in ihrer Verzweiflung zurückzulassen.

Ofelia konnte sich nicht rühren.

Geheimnisse. Sie vertiefen die Dunkelheit der Welt, doch sie wecken auch den Wunsch in uns, mehr zu erfahren …

Ofelia stand immer noch an der offenen Tür, als Mercedes sich umdrehte. Ihre Augen weiteten sich vor Angst, sobald sie Ofelia bemerkte, und sie verbarg hastig das Paket unter ihrem Schal, während Ofelia ihre Füße endlich wieder gehorchten. Sie machte einen Schritt zurück und verschloss die Tür, wünschend, dass Mercedes einfach vergessen würde, dass sie sie gesehen hatte.

»Ofelia! Komm her!«, rief ihre Mutter vom Bett her.

Das Feuer spendete wenigstens etwas Licht in dem dunklen Raum, zusammen mit zwei flackernden Kerzen auf dem Kaminsims. Ofelia kroch ins Bett und schlang die Arme um ihre Mutter.

Nur sie beide. War das nicht genug gewesen? Doch ihr kleiner Bruder regte sich bereits im Bauch ihrer Mutter. Was, wenn er wie sein Vater war? Verschwinde!, dachte Ofelia. Lass uns allein. Wir brauchen dich nicht. Sie hat mich, und ich kümmere mich um sie.

»Himmel, deine Füße … die sind ja kalt wie Eis!«, sagte ihre Mutter.

Ihr Körper fühlte sich so warm an. Vielleicht etwas zu warm, doch der Arzt schien nicht allzu besorgt wegen des Fiebers.

Um sie herum stöhnte und knarrte die Mühle. Das alte Haus wollte sie nicht beherbergen. Es wollte den Müller zurück. Oder vielleicht wünschte es sich, allein mit dem Wald zu sein, bis die Baumwurzeln durch die Wände brachen und Blätter das Dach zudeckten und Mauern und Balken schließlich wieder eins mit dem Wald wurden.

»Hast du Angst?«, flüsterte ihre Mutter.

»Ein bisschen«, wisperte Ofelia zurück.

Ein weiteres Stöhnen kam von den alten Mauern, und die Balken über ihnen seufzten, als krümmten sie sich voll Schmerz unter der Last des Daches. Ofelia schmiegte sich enger an ihre Mutter und spürte ihre Küsse auf ihrem Haar, das so schwarz war wie ihr eigenes.

»Es ist nichts, Cariño. Es ist nur der Wind. Die Nächte sind sehr anders hier. In der Stadt hört man Autos, die Straßenbahn. Hier sind die Häuser so viel älter. Sie knarren …«

Ja, das taten sie. Diesmal lauschten sie beide.

»Es klingt, als würden die Wände sprechen, oder?« Ihre Mutter hatte Ofelia nicht mehr so zärtlich im Arm gehalten, seit sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. »Morgen. Morgen habe ich eine Überraschung für dich.«

»Eine Überraschung?« Ofelia blickte ihrer Mutter in das blasse Gesicht.

»Ja.«

Ofelia fühlte sich so sicher in ihren Armen. Zum ersten Mal seit … seit wann? Seit dem Tod ihres Vaters. Seit ihre Mutter den Wolf getroffen hatte.

»Ist es ein Buch?«, fragte sie. Ihr Vater hatte ihr oft Bücher geschenkt. Manchmal hatte er sogar Umschläge für sie geschneidert. »Leinen. Nichts schützt den Bund besser, Ofelia«, hatte er immer gesagt. »Sie machen die Einbände heutzutage aus so billigen Stoffen. Das hier ist besser.« Ofelia vermisste ihn so sehr. Manchmal fühlte ihr Herz sich an, als ob es blutete und nicht heilen konnte, bis sie ihn wiedersah.

»Ein Buch?« Ihre Mutter lachte leise. »Nein! Kein Buch! Etwas viel Besseres!«

Ofelia erinnerte sie nicht daran, dass es für sie kein besseres Geschenk als ein Buch gab. Ihre Mutter würde das nie verstehen. Sie machte Bücher nicht wie Ofelia zu ihrer Zuflucht oder erlaubte ihnen, sie in eine andere Welt zu bringen. Sie konnte nur diese Welt sehen, und auch das, dachte Ofelia, nur manchmal. Die Traurigkeit ihrer Mutter kam zu Teilen daher, dass sie nur das für Wirklichkeit hielt, was sie unmittelbar umgab und betraf. Bücher hätten ihr so viel mehr erzählen können, über diese Welt und über ferne Orte, über Tiere und Pflanzen, über die Sterne! Sie konnten Fenster und Türen sein, Flügel aus Papier, die einem halfen, davonzufliegen. Vielleicht hatte ihre Mutter einfach vergessen, wie man flog. Oder sie hatte es nie gelernt.

Carmen hatte die Augen geschlossen. Ofelia fragte sich, ob sie wenigstens im Traum mehr als nur diese Welt sah, während sie ihre Wange an die Brust ihrer Mutter drückte. So nah, ihre Körper zu einem verschmolzen, wie damals, als sie sie noch in ihrem Leib getragen hatte. Ofelia konnte die Gezeiten ihres Atems hören, das leise Pochen ihres Herzens, so regelmäßig wie ein Metronom, das gegen die Knochen schlug.

»Wieso musstest du wieder heiraten?«, flüsterte Ofelia.

Noch während die Worte ihr über die Lippen kamen, hoffte sie, dass ihre Mutter bereits schlief. Doch dann kam die Antwort –

»Ich war zu lange allein, mein Schatz«, sagte ihre Mutter, den Blick auf die Decke über ihnen gerichtet. Der weiße Putz war rissig und voller Spinnweben.

»Aber ich war doch bei dir!«, sagte Ofelia. »Du warst nicht allein. Ich war immer bei dir.«

Ihre Mutter starrte noch immer zur Decke hinauf. Sie schien plötzlich so weit fort. »Wenn du älter bist, wirst du verstehen. Es war auch für mich nicht leicht, als dein Vater –«

Sie atmete scharf ein und presste die Hand auf den schwangeren Leib. »Dein Bruder tritt wieder um sich.«

Die Hand ihrer Mutter fühlte sich so heiß an, als Ofelia danach fasste. Ja, sie konnte ihren Bruder auch spüren. Und nein, er würde nicht verschwinden. Er wollte herauskommen.

»Erzähl ihm eine von deinen Geschichten!« Ihre Mutter rang nach Atem. »Das wird ihn sicher beruhigen.«

Ofelia zögerte, ihre Geschichten mit ihm zu teilen, doch schließlich setzte sie sich auf. Unter dem weißen Laken sah der Körper ihrer Mutter aus wie ein mit Schnee bedeckter Berg, in dessen tiefster Höhle ihr Bruder schlief. Ofelia legte ihren Kopf auf die Wölbung der Decke und streichelte die Stelle, wo ihr Bruder sich bewegte, tief unter der Haut ihrer Mutter.

»Bruder!«, flüsterte sie. »Mein Bruder.«

Ihre Mutter hatte ihm noch keinen Namen gegeben. Er würde bald einen brauchen, um für diese Welt bereit zu sein.

»Vor vielen, vielen Jahren … in einem traurigen, weit entfernten Land …«, Ofelia sprach mit sanfter, leiser Stimme, doch sie war sicher, dass er sie hören konnte, »… gab es einen riesigen Berg aus schwarzem Feuerstein …«

 

Hinter der Mühle, in dem Wald, der so dunkel und still war wie die Nacht, breitete das Geschöpf, das Ofelia eine Fee nannte, die Flügel aus und folgte dem Klang ihrer Stimme. Als bildeten Ofelias Worte eine Spur aus Brotkrumen, die durch die Nacht führte.

 

»Und oben auf diesem Berg«, fuhr Ofelia fort, »erblühte an jedem Morgen eine Blume. Die Leute sagten, dass wer immer sie pflückte, unsterblich sein würde. Doch niemand wagte es, sich ihr zu nähern, weil ihre Dornen mit Gift gefüllt waren.«

 

O ja, es gibt viele solcher Rosen, dachte die Fee, als sie auf das Fenster zuflog, hinter dem das Mädchen ihre Geschichte erzählte. Als sie ins Zimmer schlüpfte, mit Flügelschlägen so leise wie Ofelias Stimme, sah sie sie: das Mädchen und ihre Mutter, einander im Arm haltend, um sich vor der Dunkelheit zu schützen, die die Nacht draußen über die Welt breitete. Doch die Dunkelheit im Innern des Hauses war viel furchteinflößender, und das Mädchen wusste, dass sie von dem Mann kam, der sie und ihre Mutter hergebracht hatte.