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»Suche dich nicht außerhalb deiner selbst!« In seinem berühmten Essay »Selbstvertrauen« empfahl Ralph Waldo Emerson, sich selbst als Quelle wahrer Freiheit und Sinngebung zu begreifen. Der Mensch müsse nur die schöpferische Auseinandersetzung mit sich suchen und sein Leben in einfacher Art und Weise gestalten. Der amerikanische Philosoph dachte schon vor knapp zweihundert Jahren über das rechte Leben im Einklang mit sich und der Natur nach. Seine luziden Einsichten inspirieren heute vielleicht mehr denn je zu ganz persönlichen Antworten.
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Seitenzahl: 254
Ralph Waldo Emerson
Essays für ein gutes Leben
Übersetzt von Gustav Fabricius, Karl Federn, Adolph Holtermann und Thora Weigand
Anaconda
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der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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ISBN 978-3-641-31142-1V001
www.anacondaverlag.de
Natur
Selbstvertrauen
Kreise
Der Dichter
Erfahrung
Quellenverzeichnis
Unser Zeitalter ist retrospektiv. Man baut den Vätern Grabmäler. Man schreibt Biografien, Geschichte, Kritiken. Die Geschlechter der Vorzeit schauten Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht, wir schauten ihn durch ihre Augen. Warum sollten wir uns nicht gleichfalls eines ursprünglichen Verhältnisses zum Weltall erfreuen? Warum muss unsere Poesie und Philosophie überliefert sein statt intuitiv; warum unsere Religion eine Geschichte der Alten statt einer Offenbarung, die wir empfingen! Eingeschlossen, wie wir sind für ein Weilchen im Busen der Natur, deren Lebensströme um uns herum und durch uns hindurchfließen und uns durch die Kräfte, die sie gewähren, zu naturgemäßer Tätigkeit einladen, warum tappen wir an den dürren Gebeinen der Vergangenheit herum und vermummen die lebendige Generation mit der verblichenen Garderobe der Vorzeit? Auch heute scheint die Sonne. Die Wolle und der Flachs auf den Feldern sind nicht alle geworden. Es gibt neue Länder, neue Menschen, neue Gedanken. Fordern wir denn unsere eigenen Werke und Gesetze und unsere eigene Gottesverehrung. Wir haben ohne Zweifel keine Fragen zu stellen, die unbeantwortbar sind. Wir müssen der Vollkommenheit der Schöpfung so weit vertrauen, dass wir nicht zweifeln an der Möglichkeit, für jede Art von Wissbegierde, die der Stand der Dinge in uns erweckte, vom Stand der Dinge auch eine Befriedigung erhalten zu können. Die Lage, in der ein Mensch sich befindet, ist eine Antwort in Hieroglyphen auf solche Fragen, die er zu stellen geneigt ist. Erst ist es Handlung und Leben, dann lernt er es als Wahrheit kennen. In gleicher Weise beschreibt die Natur bereits in ihren Formen und Tendenzen ihre eigene Absicht. Wenden wir uns daher an die große Erscheinung, die uns so friedlich umleuchtet. Fragen wir, zu welchem Zweck die Natur da ist.
Alle Wissenschaft hat ein Ziel, nämlich eine Theorie der Natur zu finden. Wir besitzen Theorien von Rassen und Funktionen, aber kaum auch nur eine Annäherung zu einer Idee der Schöpfung. Wir sind jetzt so fern von dem Weg zur Wahrheit, dass die Lehrer der Religion disputieren und sich einander hassen und dass Männer von spekulativer Richtung für ungesund und frivol gehalten werden. Allein dem gesunden Urteil gilt die abstrakteste Wahrheit als die praktischste. Allemal, wenn eine wahre Theorie zutage kommt, wird sie ihren Beweis in sich selbst tragen. Ihre Probe besteht in der Erklärung, die sie für alle Phänomene gibt. Gegenwärtig gelten viele derselben nicht bloß für unerklärt, sondern auch für unerklärlich, wie: Sprache, Schlaf, Träume, Tiere, Geschlecht. Philosophisch betrachtet besteht das Universum aus Natur und Seele. Genau genommen muss daher alles, was von uns getrennt ist, alles, was die Philosophie als das Nicht-Ich bezeichnet, nämlich Natur und Kunst sowohl wie alle anderen Menschen und mein eigener Körper, sich unter diesen Namen reihen: natur. Bei der Aufzählung der Naturwerte und ihrer Addition werde ich das Wort in beiderlei Bedeutung gebrauchen, nämlich in seinem gewöhnlichen und in seinem philosophischen Sinne. Bei Untersuchungen so allgemeiner Art wie die unsrige ist diese Ungenauigkeit nicht von großem Belang; eine Konfusion der Gedanken wird nicht statthaben. Das Wort Natur im gewöhnlichen Sinn bezieht sich auf Essenzen, die der Mensch nicht verändert hat, wie: Raum, die Luft, der Fluss, das Blatt. Unter Kunst verstehen wir die Mischung seines Willens mit eben diesen Dingen, wie z. B. in einem Haus, einem Kanal, einer Statue, einem Gemälde. Allein die Operationen des Menschen sind, im Ganzen genommen, so unbedeutend – ein bisschen Schnitzwerk und Backwerk, Flickerei und Tünche –, dass sie bei einem so großartigen Eindruck, als der menschliche Geist von der Welt empfängt, das Resultat nicht ändern.
Einsamkeit verlangt, dass wir uns nicht bloß aus der Gesellschaft der Menschen, sondern auch aus unserem Zimmer entfernen. Solange ich lese und schreibe, bin ich nicht einsam, selbst wenn niemand bei mir ist. Wer einsam sein will, der schaue die Sterne an. Die Strahlen, die von jenen himmlischen Welten kommen, werden eine Scheidewand bilden zwischen ihm und gemeinen Dingen. Man möchte sagen, die Atmosphäre sei darum durchsichtig geschaffen, damit der Mensch im Anblick jener Himmelskörper die ewige Gegenwart des Erhabenen genieße. Wie groß sie sind, schaut man sie von der Straße einer Stadt aus! Sollten die Sterne alle tausend Jahre nur eine Nacht hindurch leuchten, wie würden die Menschen glauben und anbeten und von Geschlecht zu Geschlecht das Andenken an die Stadt Gottes bewahren, die ihnen gezeigt wurde. Aber jede Nacht kommen diese Prediger der Schönheit und erleuchten das Weltall mit ihrem mahnenden Lächeln.
Die Sterne erwecken eine gewisse Ehrfurcht, weil sie, obgleich immer gegenwärtig, stets unerreichbar sind; aber alle Naturgegenstände machen einen ganz ähnlichen Eindruck, wenn sich der Geist für ihren Einfluss offen hält. Die Natur hat niemals das Aussehen des Kleinlichen. Auch der weiseste Mensch erzwingt nicht ihr ganzes Geheimnis oder durchschaut ihre ganze Vollkommenheit so sehr, dass er seine Lernbegierde verliert. Dem Weisen wurde die Natur nie zu einem Spielzeug. Die Blumen, Tiere, Berge strahlen alle Weisheit seiner besten Stunden in eben dem Maß zurück, wie sie einst die Einfalt seiner Kindheit ergötzten.
Wenn wir in dieser Weise von der Natur reden, so tragen wir ein deutliches, aber höchst poetisches Gefühl in uns, nämlich die Ganzheit des Eindrucks, den die mannigfaltigen Gegenstände der Natur auf uns machen. Es ist dies, was das Stück Holz des Holzhackers von dem Baum des Dichters unterscheidet. Die reizende Landschaft, die ich diesen Morgen sah, besteht ohne Zweifel aus einigen zwanzig oder dreißig Farmen. Dies Feld gehört dem Miller, jenes dem Locke und das Gehölz dort dem Manning; aber keinem von ihnen gehört die Landschaft. Es gibt ein Eigentum am Horizont, das niemandem gehört, ausgenommen wessen Auge alle Teile zu einem Ganzen vereinen kann, und das ist der Dichter. Es ist dies der beste Teil von den Farmen jener Männer, aber hierauf geben ihnen ihre Landkontrakte kein Anrecht.
Es gibt, aufrichtig gestanden, unter den Erwachsenen wenige, welche die Natur sehen können. Die meisten Menschen sehen die Sonne nicht, wenigstens ist ihr Sehen ein höchst oberflächliches. Das Auge des Mannes wird von der Sonne bloß erhellt, aber dem Kind scheint sie ins Auge und ins Herz hinein. Ein Freund der Natur ist derjenige, dessen innere und äußere Sinne sich noch in treuer Übereinstimmung miteinander befinden, der den Geist seiner Kindheit selbst im Mannesalter bewahrte. Sein Verkehr mit Himmel und Erde macht einen Teil seiner täglichen Nahrung aus. Im Angesicht der Natur durchfließt den Menschen unerachtet seiner wirklichen Schmerzen ein wildes Entzücken. Die Natur sagt, er ist mein Geschöpf und er soll fröhlich mit mir sein, trotz seines impertinenten Grams. Nicht die Sonne oder der Sommer allein, sondern jede Stunde und jede Jahreszeit zahlt ihren Freudentribut; denn jede Stunde und jeder Wechsel entspricht einem verschiedenen Gemütszustand und berechtigt diesen, von der Ruhe und Stille des Mittags bis zur schreckenvollsten Mitternacht. Die Natur ist ein Rahmen, der sich gleich gut für ein Lustspiel und für ein Trauerspiel eignet. Bei guter Gesundheit ist die Luft ein Labsal von unglaublicher Güte. Über ein kahles Gemeindestück wandernd, durch Schneepfützen, in der Dämmerung und unter bedecktem Himmel, bin ich, ohne an ein besonders glückliches Ereignis zu denken, vollkommen fröhlich und heiter gewesen. Fast fürchte ich zu denken, wie fröhlich ich bin. Im Wald wirft der Mensch ebenfalls seine Jahre ab wie die Schlange ihre Haut und ist, in welcher Lebensperiode er sich auch befinden mag, stets ein Kind. Im Wald ist ewige Jugend. In diesen Pflanzungen Gottes herrscht Schicklichkeit und heilige Unschuld, ein immerwährendes Fest ist zugerichtet, und es sieht der Gast nicht, wie er dessen müde werden könnte, und lebte er tausend Jahre. Im Wald kehren wir zur Vernunft zurück und zum Glauben. Dort fühle ich, dass mir nichts im Leben widerfahren kann – keine Schande, kein Unglück –, was die Natur (solange ich meine Augen behalte) nicht wiedergutmachen könnte. Unter freiem Himmel stehend – mein Haupt von der heiteren Luft umspült und aufblickend in den unendlichen Raum –, schwindet alle kleinliche Selbstsucht. Ich werde zu einem durchsichtigen Augapfel. Ich bin nichts. Ich sehe alles. Die Ströme der Weltseele zirkulieren durch mich hindurch. Ich bin ein Teil oder ein Teilchen Gottes. Der Name des nächsten Freundes klingt dann fremd und zufällig. Das Brüder-Sein, Bekannte-Sein, Herr oder Diener, ist dann Nebensache und Störung. Ich liebe eine unbegrenzte, unsterbliche Schönheit. In der Wildnis finde ich etwas Lieberes und Verwandteres als in Städten und Dörfern. In der stillen Landschaft und besonders in der fernen Linie des Horizonts schaut der Mensch ein Etwas, das ebenso schön ist als seine eigene Natur.
Die größte Freude, welche die Felder und Wälder gewähren, ist die Vermutung von einer zwischen Mensch und Pflanze statthabenden geheimen Beziehung. Ich bin nicht allein und unbegrüßt. Die Pflanzen nicken mir zu und ich ihnen. Das Schwanken der Äste im Sturm ist mir neu und alt; es überrascht mich, und doch ist es mir nicht unbekannt; es wirkt auf mich wie ein höherer Gedanke oder eine bessere Regung, die mich überkam, als ich schon glaubte, mein Denken und Tun sei recht und gerecht.
Und doch ist es sicher, dass die Kraft, diese Freude zu erzeugen, nicht in der Natur, sondern im Menschen liegt oder in einer Harmonie zwischen Mensch und Natur. Wir sollten diese Freuden mit großer Mäßigung genießen; denn die Natur ist nicht immer im Festtagsputz. Dieselbe Landschaft, die gestern Wohlgeruch atmete und glitzerte, als wär’s zur Belustigung der Nymphen, ist heute mit Schwermut überzogen. Die Natur trägt stets die Farben des Geistes. Für einen Menschen, der in Not und Elend ist, hat selbst die Wärme seines Kaminfeuers etwas Trauriges. Ferner, wer eben einen teuren Freund durch den Tod verlor, fühlt eine gewisse Verachtung für die Landschaft. Der Himmelsbogen ist weniger herrlich in dem Maße, als er sich über weniger Wert in der Bevölkerung herabsenkt.
Jeder, der die End-Ursache der Welt zum Gegenstand seiner Betrachtung macht, wird eine Menge von Nutzen unterscheiden, die sich seinem Resultat als Teile einfügen. Alle lassen sich in eine der folgenden Klassen bringen: Gebrauchsnutzen, Schönheit, Sprache und Fachgebiet. Unter den allgemeinen Namen Gebrauchsnutzen rechne ich alle jene Vorteile, die unsere Sinne der Natur verdanken. Es ist dies natürlich eine temporäre und mittelbare Wohltat und nicht die letzte, wie diejenige, welche die Seele von der Natur empfängt. Und doch, obgleich keine hohe, ist es eine in ihrer Art vollkommene Wohltat und der einzige Nutzen der Natur, den alle Menschen empfangen. Das Elend des Menschen erscheint als kindischer Mutwille, wenn wir innewerden, welch ein beständiger und verschwenderischer Vorrat für seinen Unterhalt vorhanden und wie sehr auf diesem grünen Erdball, der ihn durch die himmlischen Räume trägt, auch für seine Freude gesorgt wurde. Welche Engel erfanden diese prächtigen Zierden, diese reichen und angenehmen Einrichtungen: über uns diesen Ozean von Luft, unter uns diesen Ozean von Wasser und diese Veste von Land in der Mitte? Diesen Sternenhimmel, dies tropfende Wolkenzelt, diesen gestreiften Mantel von Klimaten, dieses vierfache Jahr? Tiere, Feuer, Wasser, Steine und Getreide dienen dem Menschen. Das Feld ist zugleich sein Fußboden, seine Werkstätte, sein Spielplatz, sein Garten und sein Bett.
»Mehr Diener warten des Menschen,
Als er beachtet und merkt.«*
*George Herbert, »Man«
Die Natur ist im Dienst des Menschen nicht bloß das Material, sondern auch der Prozess und das Resultat. Alle Teile arbeiten sich zum Nutzen des Menschen unaufhörlich einander in die Hände. Der Wind sät die Saat; unter den Strahlen der Sonne verdunstet die See; der Wind bläst den Dunst nach dem Feld; das Eis auf der anderen Seite des Planeten verdichtet auf dieser den Regen; der Regen ernährt die Pflanze; die Pflanze ernährt das Tier, und auf diese Weise ernährt der endlose Kreislauf der göttlichen Liebe den Menschen.
Die nützlichen Künste sind nur Nachbildungen oder vom Menschen erfundene neue Kombinationen dieser natürlichen Wohltäter. Er wartet nicht länger auf günstige Winde, sondern verwirklicht durch Dampf die Fabel vom Äolus-Schlauch und trägt die zweiunddreißig Winde bei sich im Kessel des Dampfschiffes. Um Reibung zu vermindern, belegt er den Weg mit Schienen, steigt in einen Wagen und, wie ein Adler oder eine Schwalbe durch die Luft, so schießt er mit einer Schiffsladung von Menschen, Tieren und Waren im Rücken von Stadt zu Stadt durchs Land. Wie hat sich der Anblick der Welt durch die Anhäufung solcher Hilfsmittel von Noahs Zeit bis auf Napoleon verändert! Man baut Städte, Schiffe, Kanäle, Brücken usw. und jeder Arme und jeder Privatmann hat den Nutzen davon. Er geht auf die Post und das Menschengeschlecht besorgt seine Briefe; er geht zum Buchhändler und das Menschengeschlecht liest und schreibt für ihn über alles, was sich ereignet; er geht nach dem Gerichtshaus und Nationen verhelfen ihm zu seinem Recht; er baut sich ein Haus an der Straße und das Menschengeschlecht kommt jeden Morgen, schaufelt den Schnee fort und macht ihm einen Fußweg. Allein es bedarf zur Beleuchtung dieser Klasse von Nutzen keiner weiteren Aufzählung von Einzelheiten. Der Katalog ist endlos und die Beispiele liegen so sehr auf der Hand, dass ich sie der Reflexion des Lesers überlassen darf; nur die allgemeine Bemerkung füge ich hinzu, dass dieser käufliche Gewinn auf ein anderes und ferneres Gut hinzielt. Der Mensch erhält seine Nahrung, nicht damit er seine Nahrung erhalte, sondern auf dass er arbeite.
Ein edleres Bedürfnis des Menschen findet Befriedigung in der Natur, nämlich seine Schönheitsliebe.
Die alten Griechen nannten die Welt kosmos, Schönheit. Eine solche ist die Beschaffenheit aller Dinge oder das Gestalt gebende Vermögen des menschlichen Auges, dass elementare Formen wie der Himmel, der Berg, der Baum, das Tier uns an und für sich ergötzen – eine Freude, die aus dem Umriss, der Farbe, Bewegung und Gliederung der Dinge hervorgeht. Dies haben wir, wie es scheint, teilweise dem Auge selbst zu verdanken. Das Auge ist der beste Künstler. Der Bau des Auges und die Gesetze des Lichts erzeugen durch ihre gegenseitige Wirkung aufeinander die Perspektive, die jede Masse von Gegenständen, sei sie welcher Art sie wolle, zu einem wohlkolorierten, schattierten und kugelförmigen Ganzen gestaltet, sodass, wo die Gegenstände an sich nichts Anziehendes haben, die Landschaft, die sie bilden, demungeachtet rund und symmetrisch ist. Und wie das Auge das Anordnen am besten versteht, so das Licht das Malen. Nichts ist so widerwärtig, dass es ein hinreichend starkes Licht nicht schön machte, und durch den Reiz, den das Licht auf die Sinne ausübt, sowie durch eine Art Unendlichkeit, die es mit Zeit und Raum gemein hat, erhält alle Materie ein munteres Aussehen. Selbst die Leiche hat ihre eigentümliche Schönheit. Aber außer dieser allgemeinen Anmut, die sich über die ganze Natur ergießt, haben fast alle Formen in ihrer Einzelheit etwas Angenehmes fürs Auge, wie unsere endlosen Anlehnungen von einigen derselben beweisen, z. B. die Eichel, die Traube, der Tannenzapfen, die Weizenähre, das Ei, die Flügel und Gestalt der meisten Vögel, die Klaue des Löwen, die Schlange, der Schmetterling, Seemuscheln, Flammen, Wolken, Knospen, Blätter und die Gestalt vieler Bäume, z. B. der Palme.
Größerer Klarheit halber betrachten wir die Idee der Schönheit unter einem dreifachen Gesichtspunkt.
1. Der bloße Anblick natürlicher Formen ist eine Freude. Der Mensch bedarf des Einflusses der Formen und Tätigkeiten der Natur so sehr, dass selbst in ihren niedrigsten Funktionen die Natur stets etwas Angenehmes und Schönes zu haben scheint. Auf einen Körper oder Geist, der sich unter dem Druck einer schädlichen Arbeit oder Gesellschaft befand, übt die Natur eine heilkräftige Wirkung aus und stellt die verlorene Elastizität wieder her. Der Kaufmann, der Jurist verlässt den Straßenlärm und sein Gewerbe, sieht den Himmel an und den Wald und ist wieder Mensch. In der ewigen Ruhe des Waldes kommt er wieder zu sich selbst. Die Gesundheit des Auges scheint einen Horizont zu fordern. Wir sind nie müde, solange wir weit genug sehen können.
Aber zu anderen Zeiten befriedigt die Natur unsere Seele ohne alle Beimischung von wohltätigem Einfluss auf den Körper ganz und allein durch ihren Liebreiz. Von dem meinem Haus gegenüberliegenden Hügel aus habe ich den Anblick des grauenden Morgens vom ersten Anbruch des Tages bis zum Aufgang der Sonne mit Regungen verfolgt, daran ein Engel teilhaben könnte. Die langen, schlanken Wolkenstreifen schwimmen wie Fische in dem hochroten Lichtmeer. Von der Erde aus, als dem Ufer, blicke ich hinaus auf jenes schweigende Meer. Es scheint, als hätte ich teil an seinen raschen Verwandlungen; die Zauberwirkung erreicht auch mich, ich dehne mich aus und vereine mich mit dem Morgenwind. Mit wie wenigen und gewöhnlichen Mitteln die Natur uns vergöttert! Gib mir Gesundheit und einen Tag, und den Pomp der Könige mache ich lächerlich. Die Morgendämmerung ist mein Assyrien, der Untergang der Sonne und der Aufgang des Mondes mein Paphos und meine undenkbaren Feenreiche; der helle Mittag soll mein England der Sinne und des Verstandes sein, die Nacht mein Deutschland der mystischen Philosophie und Träume.
Nicht weniger herrlich, nur dass wir des Nachmittags weniger empfänglich sind, war gestern Abend der Liebreiz, den mir ein Januar-Sonnenuntergang gewährte. Die Wolken des Westens teilten sich und teilten sich wieder in rosenfarbene Schäfchen, mit einer Farbenmodulation von unsagbarer Sanftheit, und die Luft hatte so viel Leben und Süßigkeit, dass es einem leidtat, ins Haus zu kommen. Was war’s, das die Natur sagen wollte? Lag kein Sinn in der lebenden Ruhe des Tales hinter der Mühle – eine Ruhe, die Homer und Shakespeare mir in Worten nicht wiedergeben könnten? Die blattlosen Bäume werden im Untergang der Sonne zu Flammensäulen, mit dem blauen Osten als Hintergrund; und die Sterne der toten Blumenkelche sowie jeder verwelkte und bereifte Stamm und Stängel liefern ihren Beitrag zu der stummen Musik.
Die Bewohner der Städte glauben, dass die Landschaft auf dem Lande nur die eine Hälfte des Jahres hindurch etwas Angenehmes habe. Ich aber finde Gefallen an der Beobachtung der reizenden und anmutigen Landschaften, die der Winter uns bietet, und glaube, dass selbige ebenso stark auf uns wirken wie die munteren Einflüsse des Sommers. Für das aufmerksame Auge hat jeder Moment des Jahres seine besondere Schönheit, es schaut auf ein und demselben Feld zu jeder Stunde ein Gemälde, das es nie zuvor gesehen und nie wiedersehen wird. Jeden Augenblick verändert sich droben der Himmel, und die Ebenen hier unten strahlen seine Herrlichkeit oder seine Düsternis wider. Das Stadium des auf den umliegenden Farmen wachsenden Getreides gibt der Erde von Woche zu Woche einen anderen Ausdruck. Die Reihenfolge der eingeborenen Pflanzen auf den Weiden und an den Seiten des Weges, welche die schweigende Uhr darstellen, nach welcher die Zeit dem Sommer seine Stunden zumisst, werden dem scharfen Beobachter sogar die Tageszeiten wahrnehmbar machen. Die Klassen der Vögel und Insekten folgen einander wie die Pflanzen pünktlich und zu rechter Zeit, und das Jahr hat Raum für alle. An den Strombetten ist die Verschiedenheit größer. Im Juli blüht die blaue Pontederia oder das Hechtkraut an den seichten Stellen unseres freundlichen Stromes in großer Fülle und wimmelt von gelben, flatternden Schmetterlingen. Die Kunst kann mit einem solchen Gepränge von Purpur und Gold nicht wetteifern. Ja, der Fluss ist in beständiger Gala und rühmt sich jeden Monat eines neuen Schmuckes.
Allein diese Schönheit der Natur, die man als Schönheit schaut und fühlt, ist ihr geringster Teil. Der prunkende Tag, der Morgentau, der Regenbogen, Berge, blühende Obstgärten, Sterne, Mondschein, die Schatten im stillen Gewässer und dergleichen, jagt man zu begierig danach, werden zu bloßen Schaugeprängen und haben uns zum Besten durch ihren Mangel an Realität. Geh aus dem Haus, um den Mond zu sehen, und siehe, es ist nur Flitterstaat, was du siehst! Du hast so nicht deine Freude daran, wie wenn du im Mondschein einen notwendigen Weg zu machen hattest. Die Schönheit, die an den gelben Nachmittagen eines Oktobers erglänzt, wer konnte sie jemals packen? Gehe hin und suche sie, und sie ist fort: Es ist nur Luftspiegelung, wenn du aus den Fenstern des Fleißes schaust.
2. Zu vollkommener Schönheit gehört notwendig die Gegenwart eines höheren und zwar geistigen Elements. Die hohe und göttliche Schönheit, die wir ohne Schöngeisterei lieben können, ist jene, die mit dem menschlichen Willen in Verbindung steht und sich nie davon lostrennt. Schönheit ist der Stempel, den Gott der Tugend aufsetzt. Jede natürliche Handlung ist anmutig. Jede heldenhafte Tat ist zugleich auch schicklich und umhüllt den Platz und die Beistehenden mit Glanz. Große Handlungen lehren uns, dass das Weltall das Eigentum eines jeden darin befindlichen Individuums ist. Jedes vernünftige Wesen besitzt die ganze Natur als Mitgift und Landgut. Sie ist sein, wenn er will. Er mag darauf verzichten; er mag in einen Winkel kriechen und sein Königtum niederlegen, wie die meisten es tun, aber seine natürliche Beschaffenheit berechtigt ihn zum Besitz der Welt. Im Verhältnis zu der Gedanken- und Willenskraft, die er besitzt, nimmt er die Welt in sich hinein. »Alle jene Dinge, um derentwillen die Menschen pflügen, bauen oder zur See gehen, gehorchen der Tugend«, sagte ein alter Geschichtsschreiber. »Wind und Wellen«, sagte Gibbon, »sind immer auf der Seite des geschicktesten Seemanns.« Ebenso die Sonne und der Mond und alle Sterne des Himmels. Wenn eine edle Tat geschehen – sei’s zufällig an einem Ort von großer natürlicher Schönheit: wenn Leonidas und seine 300 Märtyrer einen Tag zum Sterben gebrauchen, und Sonne und Mond kommen nacheinander und werfen einen Blick auf sie im Engpass der Thermopylen; wenn Arnold Winkelried in den Hochalpen unter den Schatten des Gletschers einen Haufen österreichischer Speere sich in die Brust bohrt, um für seine Kameraden die Linie zu brechen; sind nicht diese Helden berechtigt, der Schönheit der Tat die Schönheit des Schauplatzes hinzuzufügen? Wenn die Bark des Kolumbus sich der Küste Amerikas nähert – vor ihm das Ufer besetzt von Wilden, die aus ihren von Rohr gebauten Hütten hervoreilen, hinter ihm die See und ringsum die purpurfarbenen Berge des indischen Archipels –, können wir den Mann absondern von dem lebenden Gemälde? Dient nicht die neue Welt mit ihren Palmenhainen und Savannen der Gestalt des Kolumbus als geziemende Drapierung? Immer stiehlt sich natürliche Schönheit herein wie die Luft und umhüllt große Taten. Als Sir Harry Vane, auf einem Schlitten sitzend, den Tower-Hügel hinaufgeschleppt wurde, um als Verfechter des englischen Rechts den Tod zu erleiden, rief einer aus der Menge ihm zu: »Nie saßest du auf einem so herrlichen Sitz.« Karl II. wollte die Bürger Londons einschüchtern und befahl, dass man den Patrioten Lord Russell auf seinem Weg zum Schafott in einer offenen Kutsche durch die Hauptstraßen der Stadt fahre. »Aber«, um mich der einfachen Erzählung seines Biografen zu bedienen, »die Leute glaubten, sie sähen Freiheit und Tugend an seiner Seite sitzen.« An Privatplätzen, in schmutziger Umgebung, scheint’s, als zöge ein Akt der Wahrheit oder des Heroismus sofort den Himmel als seinen Tempel und die Sonne als seine Kerze heran. Die Natur streckt ihre Arme aus, um den Menschen zu umarmen, nur müssen seine Gedanken von gleicher Größe sein. Gern folgt sie seinen Schritten mit der Rose und dem Veilchen und biegt die Linien ihrer Hoheit und Anmut zur Verzierung ihres geliebten Kindes. Nur müssen seine Gedanken gleicher Ausdehnung fähig sein, und der Rahmen wird dem Gemälde schon passen. Ein tugendhafter Mensch lebt mit ihren Werken im Einklang und bildet die Zentralfigur der sichtbaren Sphäre. Homer, Pindar, Sokrates, Phokion vereinigen sich füglich in unserem Gedächtnis mit der ganzen Geografie und dem Klima Griechenlands. Der sichtbare Himmel und die Erde leiden mit Jesus mit. Und im gewöhnlichen Leben, wer nur immer einen Menschen von kraftvollem Charakter und glücklichem Genius geschaut, wird bemerkt haben, wie leicht er alle Dinge mit sich fortzog – die Personen, die Meinungen und den Tag; und die Natur wurde die Handmagd des Menschen.
3. Es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, unter dem sich die Schönheit der Welt betrachten lässt, nämlich insofern sie ein Gegenstand des Verstandes wird. Außer der Beziehung zur Tugend haben alle Dinge eine Beziehung zum Verstand. Der Verstand erforscht die absolute Ordnung der Dinge, wie sie im Geist Gottes dastehen, frei von den Färbungen des Gefühls. Die intellektuellen und aktiven Kräfte scheinen im Menschen aufeinander zu folgen, und die ungeteilte Tätigkeit der ersteren erzeugt die ungeteilte Tätigkeit der letzteren. Es herrscht eine gewisse Feindseligkeit zwischen beiden, aber sie gleichen den abwechselnden Perioden des Essens und Arbeitens bei Tieren: Das eine ist eine Vorbereitung auf das andere, und das eine wird dem anderen sicherlich folgen. Daher bleibt die Schönheit, die in Bezug auf die Handlungen, wie wir gesehen haben, ungesucht kommt, und kommt, eben weil sie ungesucht ist, für die Wahrnehmung und das Streben des Verstandes, und dann wiederum für die handelnde Kraft. Nichts Göttliches stirbt. Alles Gute ist für immer zeugend. Die Schönheit der Natur erhält im menschlichen Geist eine neue Gestalt, nicht um unfruchtbarer Betrachtungen, sondern um neuer Schöpfungen willen.
Alle Menschen empfangen vom Anblick der Welt einen gewissen Eindruck; einige sogar werden entzückt. Diese Art Schönheitsliebe ist Geschmack. Andere besitzen dieselbe Liebe in so hohem Maß, dass sie, nicht zufrieden mit bloßer Bewunderung, ihre Liebe durch neue Gestalten zu verkörpern suchen. Die Erschaffung der Schönheit ist Kunst.
Die Erzeugung eines Kunstwerks wirft ein Licht auf das Geheimnis der Menschheit. Ein Kunstwerk ist ein Abriss, eine Verkörperung der Welt. Es ist das Resultat oder der Ausdruck der Natur im Kleinen. Denn obgleich die Werke der Natur unzählig sind und alle verschieden, so ist doch das Resultat oder der Ausdruck derselben nur einer. Die Natur ist ein Meer von Gestalten, von Grund auf einander ähnlich und sogar gleich. Ein Blatt, ein Sonnenstrahl, eine Landschaft, der Ozean machen einen analogen Eindruck auf den Geist. Was sie alle miteinander gemein haben – jene Vollkommenheit und Harmonie –, ist Schönheit. Der Maßstab der Schönheit ist deshalb der ganze Umkreis natürlicher Formen – die Totalität der Natur, was die Italiener in ihrer Definition der Schönheit mit den Worten »il piu nell’ uno« (das viele im einen) ausdrücken. Nichts ist völlig schön allein; alles ist schön im Ganzen. Ein einzelner Gegenstand ist nur insofern schön, als er auf diese universale Anmut hinweist. Der Dichter, der Maler, der Bildhauer, der Musiker, der Architekt suchen ein jeder diese Strahlen der Welt auf einen Punkt zu konzentrieren und ihre Liebe zur Schönheit zu befriedigen, die sie zu produzieren reizte, ein jeder in seinem besonderen Werk. Folglich ist Kunst eine durch den Schmelztiegel des Menschen hindurchgegangene Natur. In der Kunst arbeitet die Natur mittels des von der Schönheit ihrer ersten Werke erfüllten menschlichen Willens.
Die Welt existiert also für die Seele, um das Verlangen nach Schönheit zu befriedigen. Dieses Element in seiner äußersten Ausdehnung nenne ich das Endziel. Man kann nicht fragen, warum die Seele Schönheit sucht; es gibt keinen Grund dafür. Schönheit im weitesten und tiefsten Sinne ist ein Ausdruck für das Universum. Gott ist das All-Schöne. Wahrheit, Güte, Schönheit sind nur verschiedene Gesichter von ein und demselben All. Die Schönheit in der Natur ist indessen nicht Endzweck. Sie ist der Herold einer inneren und ewigen Schönheit und nicht an sich schon ein solides und befriedigendes Gut. Sie muss deshalb als ein Teil dastehen, nicht aber bereits als der letzte und höchste Ausdruck der End-Ursache der Natur.
Ein dritter Nutzen, den die Natur dem Menschen bietet, ist der der Sprache. Die Natur ist das Vehikel des Gedankens, und zwar in einem einfachen, zweifachen und dreifachen Grad.
1. Worte sind Zeichen für Naturtatsachen.
2. Besondere Naturtatsachen sind Symbole für besondere geistige Tatsachen.
3. Die Natur ist das Symbol des Geistes.
1. Worte sind Zeichen für Naturtatsachen. Der Nutzen der Naturgeschichte besteht in der Hilfe, die sie gewährt für die Geschichte des Übernatürlichen. Der Nutzen der äußeren Schöpfung liegt in der Sprache, die sie uns verleiht für die Zustände und Wechsel der inneren Schöpfung. Jedes Wort, das man gebraucht, um eine moralische oder intellektuelle Tatsache auszudrücken, erweist sich, wenn man’s auf seine Wurzel zurückführt, als der Ausdruck für eine materielle Erscheinung. Right (Recht) bedeutet ursprünglich straight (gerade), wrong (unrecht, verkehrt) bedeutet twisted (krumm). Spirit (Geist) bedeutet ursprünglich wind (Wind); transgression (Verstoß) das Übertreten einer Linie; supercilious (hochmütig) das Heben der Augenbraue. Wir sagen das Herz, um Gefühl auszudrücken; der Kopf, um Gedanken zu bezeichnen; und Gedanken und Gefühl sind ihrerseits Wörter, die von sinnlichen Dingen hergenommen wurden und jetzt auf geistige Dinge angewandt werden. Den Prozess, mittels dessen diese Umwandlung vor sich ging, können wir nur selten verfolgen, da die Zeit, in der die Sprache sich bildete, zu fern liegt; aber dieselbe Tendenz lässt sich täglich bei Kindern beobachten. Kinder und Wilde gebrauchen nur Nomina oder Ding-Namen, die sie beständig in Verben verwandeln und auf analoge geistige Handlungen anwenden.
2. Allein dieser Ursprung aller Wörter, die einen geistigen Sinn tragen – eine in der Sprachgeschichte so hervorstechende Tatsache –, ist das Geringste von dem, was wir der Natur verdanken. Nicht Wörter bloß sind emblematisch, sondern auch Dinge sind emblematisch. Jede Naturtatsache ist das Symbol einer geistigen Tatsache. Jede Naturerscheinung entspricht irgendeinem Geisteszustand, und dieser Geisteszustand lässt sich nur dadurch beschreiben, dass man jene Naturerscheinung als Bild dafür gebraucht. Ein wütender Mensch ist ein Löwe; ein listiger Mensch ist ein Fuchs; ein standhafter Mensch ist ein Fels; ein gelehrter Mensch ist eine Fackel. Ein Lamm ist Unschuld; eine Schlange ist Hinterlist; Blumen sind für uns der Ausdruck von Zuneigung. Licht und Dunkelheit sind unsere gebräuchlichen Ausdrücke für Kenntnis und Unwissenheit, und Wärme für Liebe. Sichtbare Entfernung hinter uns und vor uns ist unser jeweiliges Bild für Gedächtnis und Hoffnung.