Das Leben als Roman - Alen Menetyan - E-Book

Das Leben als Roman E-Book

Alen Menetyan

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Beschreibung

Der weltrenommierte Starautor Alen Menetyan präsentiert uns eine Geschichte bei dem ein pubertierender junger Erwachsener mit seinen inneren Konflikten und den alltäglichen Herausforderungen auskommen muss. Wie kommt er daraus heraus? Welche Lösungen findet er? Aus seiner Verzweiflung entsteht Grossartiges!

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Alen Menetyan

Das Leben als Roman

Entwicklungsroman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Einführung

1

2

3

4

5

6

7

8

Impressum neobooks

Einführung

Widmung: An meine Herzensgenossin

Herzlichen Dank an meinen Überarbeiter Daniel Heuberger.

Vielen herzlichen Dank an meine Top-Designerin Madeleine Frey für die Buchgestaltung.

War…?

Sehr wohlmeinende Leser- und innen

Sie haben sich für ein Buch entschieden. Es gibt schier viel mehr Möglichkeiten, als Sie sich jemals hätten vorstellen können, aus einem Sammelsurium aus verstaubten Papieren, etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Der Prozess der Buchfindung, der hier mehr oder weniger bewusst abspielt, hängt von vielen Faktoren ab, die an Vielfalt nicht zu überbieten sind. Wir können sie, grob gesagt, in zwei Hauptgruppen unterteilen, nämlich von einer Kraft, die von unserem inneren Motor bestimmt wird und von einem Bann, der von der Umwelt und Umgebung beeinflusst wird. Die Gründe, welche uns dazu verleitet haben, sind tiefgründiger als wir es jemals nur im Geringsten hätten erahnen können. Trotzdem haben Sie plausible Ausreden für ihre Wahl. Sie haben sich für dieses Werk entschieden, um sich darin trostlos vertiefen zu können. Somit haben Sie den Mut, eine neue Welt zu betreten, die Sie in aller Ruhe erkunden können. Entsprechende Erwartungen haben Sie, aber ich versichere Ihnen, dass ich diese nicht im Geringsten erfüllen werde, denn meine einzige Aufgabe als Schriftsteller besteht darin, Ihnen mit einigen paar wenigen Worten einen Teilaspekt der möglichen Wahrheit zu zeigen, ohne dass ich Ihnen zu lästig werde.

Der störende Teil jedoch dieser Papiersammlung ist und bleibt der steife Erzähler. Sie werden sich garantiert langweilen, denn hier hat der Schilderer nichts als Tatsachen zu berichten. Nicht mehr und nicht weniger. Also seien Sie sich im Klaren, was auf Sie zukommen wird, und legen Sie dieses Buch weg, damit Sie nicht einschlafen bevor Sie ein einziges Kapitel gelesen haben. Ich auf jeden Fall bin hemmungslos eingeschlafen und habe den Erzähler somit zutiefst gekränkt. Schrauben Sie ihre hohen Erwartungen zurück, damit Sie vom armen Erzähler nicht enttäuscht werden und er nicht von Ihnen.

Ich habe alles, was ich über Max sammeln konnte, ordentlich sortiert, aufbewahrt, damit der Erzähler Ihnen alles eins zu eins sauber berichten kann. Es ist eine sonderliche Geschichte, wie so vieles Unbekannte in unserem Leben. Aber immer sind es die besonders winzigen Ereignisse, die unsere bescheidenen, gewohnten Rituale radikal verändern können. So ergeht es auch Max. Schaut man zurück, kann man kaum noch glauben, was hier vor sich gegangen ist. Es scheint ein Mysterium zu sein, was für unbedeutende Umstände unser Leben grundlegend verändern können. Ich habe mit ihm gelitten, mit ihm gefreut und ein ziemlich intimes Verhältnis zu ihm aufgebaut. Trotzdem blieb er mir ein unergründliches Rätsel. Wie auch immer wird der Erzähler sich bemühen, ihn besser fassbar zu machen, hoffe ich zumindest.

Nach alldem stellt sich die Frage, warum Sie sich für dieses Buch entschieden haben. Glauben Sie mir, dass ich Ihnen diese Frage teilweise beantworten kann. In unserer Welt voller Hast und aufrichtiger Heuchelei gibt es nichts Besseres, als in einem geduldigen Buch zu lesen, insofern das Bewusstsein für so etwas wie freie Zeit überhaupt vorhanden ist. Die Tatsache, dass Sie sich ganz entschieden haben sich von einem sonderlichen Buch mit einem trockenen Erzähler unterhalten zu lassen, zeugt von Ihrer puren Leselust, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Neugier. Wir dürfen jedoch nicht ausser Acht lassen, dass sich einige bis zu einem gewissen Grade langweilen, bis der erstbeste Gegenstand in ihre Hände gefallen ist, denn Sie wissen nichts Besseres mit ihrer wertvollen Zeit anzufangen und dadurch wird sie erst recht wertlos. Wie wäre es jetzt in einem Buch zu lesen, fragen Sie sich, nachdem ihre Augen hoffnungslos durch ihr Wohnzimmer über alle angesammelten Gegenstände hindurchgestreift sind. Ihnen wird hauchvoll bewusst, dass Sie ja nie gelernt haben den Moment des freien Selbstseins sinnvoll zu benutzen. Das einzige, was Sie können, ist hart zu arbeiten, oder zumindest so zu tun als ob. Oder Sie sind einsam, ihre Freunde haben keine Zeit, weil sie gestresst am arbeiten sind. Es ist eine traurige Feststellung, dass die Freizeit verplant wird, sodass wir am Schluss überall nur noch Arbeit sehen und nichts mehr nach Lust und Laune unternehmen können. Um dieser Lage Herr zu werden, fliehen wir in die Ferien, was leider nur zu erhöhten Stresswerten führt und die Arbeit allerspätestens wieder mit der physischen Anwesenheit in unser unmittelbares Sichtfeld gerät. Aus Depression oder hoffnungsloser Verzweiflung glotzen wir in eine Blechkiste, in der sowieso nichts läuft, als ein paar trockene Schwämme und nervige Krebse, die uns unter Wasser ihre mickrigen Probleme glaubhaft machen wollen. Ausserdem dient diese Kiste als hervorragender Kaugummiersatz, denn sie möchten keine Kaubonbons auf ihrem heiligen Boden antreffen. Also ist das Sinnvollste, was Sie tun können, Sie haben ja gar keine andere Wahl, als sich in diese seltsame Geschichte zu vertiefen. Ich versichere Ihnen, dass Sie Max trotzdem nicht verstehen werden und er wird Sie nicht kapieren.

Sie fragen sich bestimmt, warum ich überhaupt diese Fragen stelle. Max hat die Beobachtung gemacht, dass wir Menschen einfach so verleben, ohne gross darüber nachzudenken. Unsere Taten lassen wir offensichtlich, so wie es Max meint, durch berechenbare Gründe rechtfertigen, obwohl wir sie unbewusst durch vernunftwidrige Neigungen heraus ausführen. Also bedeutet das, dass wir wegen unserem unbewussten Willen und aus verborgenen Bedürfnissen heraus handeln, ohne gross zu hinterfragen, wozu wir überhaupt uns bemühen, irgendetwas Bestimmtes höchstwahrscheinlich Triviales zu erreichen. So führen wir ein ganz bequemes, heiteres Leben, das von Abwesenheit von Freude und Glück, was das auch immer sein mag, geprägt ist. Um uns gerade bewusst zu werden, wozu wir das alles tun, was es auch immer ist und worum es gut sein soll, sei dahingestellt, sind wir verpflichtet alle unsere z. T. als wichtig oder natürlich empfundene Taten immer zu hinterfragen, sodass wir uns als Mensch bewusstwerden. Unsere Verantwortung gegenüber der Welt ist gross. Wir können uns keine Dummheiten leisten. Wir neigen unseren Einfluss geringer zu schätzen, als sie in Wahrheit ist. Dies ist gerade das Problem unserer Gegenwart. Die Summe der verschiedenen Handlungen formt die Umwelt, auch wenn sie von uns als zu klein eingestuft werden. Durch die kritische Hinterfragung können wir unsere Zeit sinnvoller und geschickter einsetzen, anstatt sie mit unergründlichen Vergnügungen und Betäubung zu verschwenden. Dies sind einige Gedanken von Max. Wie er darauf kommt als junger Bursche, wird Ihnen hoffentlich der Erzähler ausführlich erklären, falls er selbst nicht schon eingeschlafen ist.

Wenn Sie dieses Buch aus purem Interesse lesen, ohne irgendwelche faulen Hintergedanken und hohen Erwartungen, dann werden Sie Zeuge einer verrückten, belanglosen Geschichte. Sie sind dazu da, um Max sich verwirklichen zu lassen und ihn auf seinem beschwerlichen Weg zu unterstützen. Wir Menschen leben, um uns weiter entwickeln zu können. Es ist schade, wenn wir stehen bleiben würden. Letzteres ist zwar sicher angenehmer, aber dafür garantiert langweilig. Wir sind geboren, um die Welt zu bewegen, zu formen und sie so zu pflegen, wie sie es tatsächlich verdient ohne diese willkürlichen Beschränkungen, die nur dazu dienen unser Gewissen vorübergehend zu besänftigen. Sie betreten mit diesem Werk ein Stück Neuland. Treten Sie ein!

Der fiktional implizierte Autor

1

Mittwochvormittag, die grauen massigen Wolken nisten sich, wie schwer verdaubare und stark verschmutzte Pudelhaare, in die Stimmung der Menschen ein. Sie bilden zwei verschiedene Schichten vor dem Jura. Die Farbe der Ansammlung von sehr feinen Wassertropfen, die näher an der Gesteinserhebung weilt, scheint immer dunkler zu werden, als ob ein Lebewesen sein Atmen angehalten und die daraus erfolgte Färbung sich in die Nimbostratus Wolke übertragen hätte. Die nachfolgende Wolke lässt keine Hoffnung auf Besserung zu. Man erwartet das Schlimmste und ist dementsprechend ausgerüstet. Selbst das Gemüt ist nicht wenig antriebslos, weshalb die Personen lustlos ihren Arbeiten nachgehen.

Einige putzen das Gebäude, die sauberen Toiletten ebenfalls, andere sind im Lehrerzimmer und trinken, währenddessen das Jammern ihrer Berufskollegen vernehmend, ihren überlebensnotwendigen Kaffee. Derjenige, der nicht dort anwesend ist, beaufsichtigt herumkreisend die Schülerinnen und Schüler auf dem Pausenplatz. Da der Pausenhof nicht rund, sondern mehr rechteckig ist, sind es keine Kreise, die er zurücklegt. Sein Weg wird vielmehr von den einzelnen Gras- und Bauminseln festgelegt, wodurch er eine trapezförmige Strecke zurücklegt. In der rechten Hand hat er eine Zigarette, die schon halb fertig geraucht ist, in der linken eine leere Zigarettenschachtel. Die wievielte es ist, ist uns nicht bekannt, aber wir wissen, dass er Richtung Abfallkorb peilt, damit er sich von dieser Kartonschachtel vorbildlich entledigen kann, was seinen Schülerinnen und Schülern nicht einmal auffallen wird. Sie würden es bemerken, wenn er die Schachtel mit grosser Freude auf dem gepflegten Gras, das trotzdem wild wirkt, weil es von den Kindern mehrfach betreten wird und das grüne Zeug dadurch in die feuchte Erde eingedrückt wird, obwohl diese Grünoasen mit Terrassierband abgesperrt sind, werfen würde. Natürlich hätte man seine Ausgefallenheit sofort mit grandioser Sensation registriert. Unterwegs schaut er gegen den Himmel, dabei hebt er seine zusammengepressten Lippen wie ein Hase auf, daraufhin folgt seine Nase mit. Mit dieser Mimik sieht er aus wie ein Ameisenbär. Seine Nasenlöcher mit dem üppigen Nasenhaarwuchs nehmen eine überdimensionale Grösse an, als ob er ein Kolibri durch sein Atemorgan einsaugen würde. Er nimmt einen weiteren Zug, steht still und wendet den Blick seinem Arbeitsort zu.

Das Schulhaus macht unter der Blumenkohlanstauung des Himmels einen einsamen und traurigen Eindruck, obwohl es unter den Sonnenstrahlen ein Ort der Freude ist. Von oben gesehen sieht es T-förmig aus, wobei der untere Teil drei Mal kürzer ist, als der waagrechte Strich, sodass es sich eins zu drei verhält. Aber dafür wird der untere viel kürzere Abschnitt, der eben durch diese Raffung wie eine Nase erscheint, mit der Ausrichtung gegen den Jura belohnt, obwohl erstens keine Fenster, die garantiert die Nasenlöcher dargestellt hätten, in dieser Richtung vorhanden sind und zweitens wäre die Sicht vom gegenüberliegenden Gemeindehaus und dem danebenstehenden Grundschulhaus verdeckt. Dieser Teil dient als Aula, wo Chor- und private Musiklektionen stattfinden und somit nur aus einem grossen Geschoss besteht. Der Ziegelsteinaufbau, welche die Nasenflügel bilden, ist sowohl von innen als auch von aussen ersichtlich und charakteristisch für die Aula, die etwa Hundertzwanzig Personen aufnehmen kann, wodurch mit der Zeit verschiedene Moleküle die Riechzellen reizen. Im waagrechten Abschnitt sind Schulzimmer vorhanden, die sich über drei Stockwerke verteilen, wobei die Letzte, die modernste und hellste ist und erst 1996 gebaut wurde. Die Toiletten sind dort die saubersten und am besten gestalteten des ganzen Dorfes und zum Unwissen der Lehrer ein beliebter Treffpunkt von Schülerinnen, vielleicht des angenehmen Duftes wegen.

Er widmet sich wieder den tobenden Schülerinnen und Schülern. Denn neben diesem Schulhaus, welches nur von Oberstufenschülerinnen und -schülern besucht wird, gibt es ein kleineres Gebäude, das auf den ersten Blick nicht als Schulhaus, in dem viele Kinder zuerst das Schreiben und Rechnen lernen, erkannt werden kann, weil es mehr wie eine Bürounterkunft aussieht mit den dunkelroten Backsteinen und Ziegeln neben dem Gemeindehaus. Man muss besonders aufmerksam sein, weil in diesem Alter Streitereien zumindest bei den Knaben zur Tagesordnung gehören. Viele halten einen solchen Anlass, der früher oder später in sozialen Plattformen hemmungslos gezeigt wird, mit dem mobilen Telefon fest. Um solche Taten zu verhindern, wäre unmittelbar gegenüber dem Unterstufenschulhaus über dem Pausenhof eine Kirche anzutreffen. Diese dient aber mehr der Uhrzeitorientierung als einem Ort der Wertevermittlung. So bilden die Oberstufenschule im Stampfschulhaus, die Grundschule im Roteziegelschulhaus, der Kindergarten, die Kirche, das Gemeindehaus und der Gemeindesaal, der früher auch als Turnhalle gedient hat, aber durch die grüne Turnhalle ersetzt worden ist, die neben der Kirche platziert ist, einen Kreis um den Pausenhof. So hat man das Gefühl im Zentrum des Dorfes zu sein, da es tagsüber tatsächlich der lebendigste Teil ist, ausser der Hauptstrasse, die nur von Autos belebt wird. Mittlerweile hat er sich schon eine weitere Zigarette angezündet. Neben sich vernimmt der Aufsichtslehrer bekannte Stimmen aus seiner Klasse.

Vor dem Gemeindehaus haben sich Max, Midori und Annemarie um einen hüfthohen Wegbeleuchter, der für sie als runder Minitisch dient, versammelt. Sie bilden zusammen ein stumpfwinkliges Dreieck, wobei Midori im grössten Winkel ist und ihr Körper gegen den Kindergarten zugerichtet ist. Max und Annemarie jedoch stehen sich gegenüber und man sieht, dass die zwei heftig am debattieren sind. Immer wieder baumeln die zwei blauen Schnüre des Kordelzuges von Max‘ Regenjacke, die ihm viel zu klein ist, mit den Befestigungskugeln wild umher. Midori spielt zu diesem Zeitpunkt die objektive Moderatorin, die aufgrund ihrer Zurückhaltung einen professionellen Eindruck gegen aussen macht. Sie nennen dieses Spiel, bei dem es um gute Argumentation und Überzeugungskraft geht, Kolosseum. Das Pendant zur Arena, die ab und zu im Fernsehen zu sehen ist. Gerade sie haben sich möglicherweise durch diese verbalen Kämpfe ein Vergnügen eingeführt, um die Pausen schmackhafter werden zu lassen, wodurch sich gelegentlich Schaulustige um die Redner versammeln. Einige sogar bringen sich in die Debatte ein, wenn sie glauben, einen ungeheuerlichen Drang des Mitteilens zu verspüren. Heute haben die Hauptdarsteller zumindest das Gefühl, unbeobachtet diskutieren zu können. Max nimmt einen erneuten Anlauf.

„Wir haben gesagt, dass Liebesbriefe heutzutage nicht ernst genommen werden könnten. Wir haben gesagt, dass solche Briefe als altmodisch gelten und wir haben gesagt, dass wir das Schreiben verlernen werden, weil durch die technischen Geräte manuelle Fertigkeiten unnützlich, sogar überflüssig werden. Und man stelle sich vor, dass jemand einen Brief gerade wegen der unsauberen Handschrift gar nicht lesen kann, was dann? Das wäre ja oberpeinlich für den Verfasser. Also ist man auf der sicheren Seite, wenn man es jemandem direkt sagt, was zwar mehr Mut erfordert, aber garantiert authentischer ist, oder per SMS …“

Annemarie, die ihren Kopf und ihren ausgestreckten Zeigefinger demonstrativ gegen ihn schwenkt, unterbricht. Max ist sofort ihr abgekauter Fingernagel aufgefallen. Anders hat er ihre durchscheinende Keratinplatte noch nie gesehen.

„Da kann ich wieder nicht zustimmen. Ich denke, die Überflutung heutiger Medien durch diverse elektronische Geräte, lässt einen Liebesbrief als etwas Persönliches erscheinen. Ich, als Frau Bundesrätin, habe noch nie einen Liebesbrief bekommen. Wie gerne hätte ich so etwas in meinen Händen! Ich warte heute noch darauf. Jede Frau würde sich geschmeichelt fühlen, einen solchen Brief zu bekommen. Es ist ein Urwunsch jedes weiblichen Wesens, mindestens einmal im Leben schriftlich beglückt zu werden. SMS oder Plauderecken sind Mode, doch langweilig und machen einen unseriösen Eindruck. Die Seltenheit eines solchen Stück Papiers macht es umso begehrlicher für Frauen. Man fühlt sich verehrt und begehrt ohne …“

Midori, die schon lange nichts mehr gesagt hat, möchte ihren Senf beigeben. Vielmehr aber, um die Diskussion wieder auf einen Punkt zu fokussieren.

„Ich kann mich hier sehr gut anschliessen. Das Thema hingegen ist nicht geschlechtsabhängig. Wir haben etwas den roten Punkt verloren, deshalb bin ich dafür, dass wir jetzt differenzierter sprechen und uns darauf konzentrieren, unter welchen Umständen man einen Liebesbrief schreiben soll und unter welchen lieber nicht. Denn bis jetzt haben wir nur eine trübe Brühe erschaffen...“

So wie es aussieht, nehmen sie die Rolle anderer Persönlichkeiten ein. Dies lässt die Diskussion umso spannender werden und alles lässiger durchdebattieren. Eine fremde Haut fühlt sich angenehmer an. Anscheinend geht es um Liebesbriefe in unserer Zeit, die sowieso niemanden zu interessieren scheint. Jedenfalls hat der Lehrer genug, denn die Pause geht seinem traurigen Ende zu. Dies umso mehr, weil er immer öfter einen Blick auf die Kirchenuhr wirft, obwohl er selber eine Armbanduhr besitzt, die aus grünem Plastikband und einem flachen silbrigen Gehäuse mit einem schwarzen Ziffernblatt besteht. In der Hand hält er immer noch die leere Zigarettenschachtel. Bevor er überhaupt seinen Zielort erreichen kann, sieht er, dass auf dem Boden ein Füllfederhalter liegt. Er nimmt den letzten Zug und betrachtet dieses Objekt aufmerksam für einen Bruchteil eines Augenblicks. Der Deckel ist verchromt, wobei das Ende und der Blattfestiger glänzender sind als matt. Der Rest des Stiftes ist weinrot und verjüngt sich gegen hinten. Er weiss, dass das ein Pelikan-Füllfederhalter für Linkshänder ist und einer seiner Schüler damit schreibt. Diese Marke ist in seiner Schule weit verbreitet, falls überhaupt noch mit Tinte geschrieben wird. Zumindest seine Schüler müssen damit herumkritzeln. Er bewundert dieses Schreibgerät in Stiftform. Seine Augen zielen ins Leere. Er erinnert sich an die vergangene Zeit, wo er selbst noch schrieb, ohne diese handschriftvernichtenden Kugelschreiber, die jetzt wie die Pest die gute alte Feder verdrängen. Die Tinte fliesst durch die Kapillarwirkung von einem Tintenspeicher zur Spitze der Metallfeder, wo er dann vom Papier aufgesaugt wird. Was für eine Erfindung! Ferner erinnert er sich, dass in seinem Schulzimmer noch ein Kalligraphiebuch vorhanden ist, dass er, falls er sich noch richtig besinnt, schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hervorgeholt hat, um seine schlechter werdende, wenn nicht schon unleserliche Handschrift ein bisschen zu pflegen. Er glaubt, dass es einer seiner ehemaligen Schüler gewesen ist, der ihm dieses Buch vor etwa 30 Jahren geschenkt hat. Er fühlt, wie er damals verletzt worden war, aber gute Miene zum bösen Spielgemacht hatte. Sein herzhaftes Lächeln täuscht niemanden. Er ist sich bewusst, dass seine Handschrift nicht mehr schön ist, aber er ist nach wie vor überzeugt, dass sie früher sehr leserlich und gepflegt gewesen sein soll, denn er ist seiner heutigen Frau mit einem Liebesbrief nähergekommen. Er hebt den Stift auf, dessen Oberfläche durch den feuchten Schmutz des Bodens verunreinigt worden ist.

„Ich möchte mich unbedingt noch präzisieren, bevor wir differenzierter sprechen. Ich denke, dass es sich für Frauen nicht geziemt, Liebesbriefe zu schreiben, obwohl sie eher bereit wären, solche Schriftstücke zu verfassen. Ich, als Bundesrätin, bin der Meinung, dass die Männer vermehrt Briefe an Frauen schreiben sollten. Jede Frau hat das Recht ein solches Kompliment zu …“

Da verliert Annemarie die Aufmerksamkeit von Max. Er sieht, dass sein Lehrer einen Füller, der seinem gleicht, gefunden hat. Er vermisst ihn seit der zweiten Lektion, denn nach der kleinen Pause hat er ihn nach mehrmaligen Suchen nicht mehr gefunden. Umso grösser ist seine Freude, den Füller wiederzusehen. Er entfernt sich wortlos von der Debatte. Die Teilnehmerinnen wundern sich über seinen jähen Abgang. Annemarie und Midori sind so vertieft in ihrem Gespräch gewesen, dass sie aussehen, als ob sie aus einem tiefen Schlaf erwachen würden. Annemarie verzieht verärgert ihr Gesicht. Sie hat sich so Mühe gegeben für die Argumentation, dass sie jetzt den Aufwand zu bereuen scheint. Plötzlich sieht der Lehrer einen seiner Schüler vor sich. Er starrt ihn an. Seine schwarzen, quasi unfrisiert wirkenden Haare, wobei auf seinem rechten Hinterkopf immer ein Büschel aufrecht bleibt und seine goldrunde Brille machen ihn einzigartig unverwechselbar. Seine Armbanduhr ist auf dem rechten Handgelenk zu sehen. So ist der Aufsichtsperson sofort klar, mit wem er es zu tun hat. Es ist einer seiner besten Schüler in seinem letzten Schuljahr, den er in seinem letzten Arbeitsjahr hat. Doch hat er seine Makel, wie alle anderen auch.