Das letzte Sternenschiff - Poul Anderson - E-Book

Das letzte Sternenschiff E-Book

Poul Anderson

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Beschreibung

Unter einer neuen Sonne

Um dem totalitären System der überbevölkerten Erde zu entkommen, bricht eine Gruppe Siedler mit einem gewaltigen Schiff zum Planeten Rustum auf, der die Sonne Epsilon Eridani umkreist. Dort herrschen erdähnliche Bedingungen, aber der Luftdruck ist so hoch, dass Menschen nur auf Berggipfeln und Hochplateaus überleben können. Jahre, ehe die Kolonisten Rustum erreichen, erhalten sie einen Funkspruch von der Erde: Sie können zurückkehren, die neue Regierung garantiert Freiheit. Den Menschen auf dem Sternenschiff bleiben nur Stunden, um sich zu entscheiden, dann ist es für eine Rückkehr zur Erde zu spät. Ihre Entscheidung wird das Schicksal der Menschheit bestimmen …

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POUL ANDERSON

DAS LETZTE STERNENSCHIFF

Roman

Das Buch

Um dem totalitären System der überbevölkerten Erde zu entkommen, bricht eine Gruppe Siedler mit einem gewaltigen Schiff zum Planeten Rustum auf, der die Sonne Epsilon Eridani umkreist. Dort herrschen erdähnliche Bedingungen, aber der Luftdruck ist so hoch, dass Menschen nur auf Berggipfeln und Hochplateaus überleben können. Jahre, ehe die Kolonisten Rustum erreichen, erhalten sie einen Funkspruch von der Erde: Sie können zurückkehren, die neue Regierung garantiert Freiheit. Den Menschen auf dem Sternenschiff bleiben nur Stunden, um sich zu entscheiden, dann ist es für eine Rückkehr zur Erde zu spät. Ihre Entscheidung wird das Schicksal der Menschheit bestimmen …

Der Autor

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Titel der Originalausgabe

ORBIT UNLIMITED

Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1961 by Almat Publishing Corp.

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Covergestaltung: Das Illustrat

1

Svoboda war ungefähr sechzig Jahre alt; genau wusste er es nicht. Bei den armen Leuten wurden solche Dinge selten beachtet, und seine früheste Erinnerung war, dass er an einem kalten Regentag weinend unter einer Hochbahnbrücke saß und die Züge über sich dahindonnern hörte. Nicht viel später starb seine Mutter, und jemand, der sich als sein Vater ausgab, es aber wahrscheinlich nicht war, verkaufte ihn an Inky, der ihn und andere Jungen zu Taschendieben ausbildete.

Sechzig war ein hohes Alter für einen Mann aus den unteren Schichten, ob er sein Leben im Lärm und Schmutz der Elendsviertel zubrachte, oder in Bergwerkstollen herumkroch, oder im Bauch eines Planktonfischers die Maschinen wartete. Für einen Bürger der oberen Schichten war einer mit sechzig ein Mann mittleren Alters. Svoboda, der die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in dieser Kategorie verbracht hatte, sah uralt aus, konnte aber auf weitere zwei Dekaden hoffen.

Wenn man es Hoffnung nennen wollte, dachte er.

Sein linker Fuß schmerzte wieder. Er war verkrüppelt und steckte in einem orthopädischen Spezialschuh. Mit ungefähr zwölf Jahren war er mit einem silbernen Leuchter aus dem Besitz eines reichen Kaufmanns namens Hargrave über dessen Gartenmauer gestiegen. Hargrave, dem der Leuchter offenbar wichtiger gewesen war als das Leben eines Zwölfjährigen, hatte mit einer Pistole auf ihn geschossen, und ein Explosivgeschoss hatte Svobodas Fuß zerschmettert. Er war irgendwie entkommen, aber es war ein grausamer Schlag für einen Jungen gewesen, der zu Inkys vielversprechenden Lehrlingen gehört hatte und danach seinen Beruf – einen der wenigen, die einem Jungen aus den Slums offenstanden – nicht mehr ausüben konnte. Immerhin hatte Inky ein Herz und schickte ihn zu einem Hehler in die Lehre, der ihn zwang, Lesen und Schreiben zu lernen und ihn so auf die lange Straße nach oben brachte. Dreißig Jahre später, als Svoboda Bevollmächtigter für Astronautik und außerweltliche Fragen war, hatte ein bekannter Mediziner ihm eine Fußprothese empfohlen.

»Ich kann Ihnen eine machen, die selbst Sie kaum von dem echten Fuß unterscheiden können«, erbot er sich.

»Zweifellos«, sagte Svoboda. »Einige von meinen älteren Kollegen wackeln mit Herzprothesen und künstlichen Mägen herum. Ich bin sicher, dass der Fortschritt der Wissenschaft uns bald eine Gehirnprothese bescheren wird, die kaum von dem echten Ding zu unterscheiden ist.« Er zuckte mit den mageren Schultern. »Nein. Ich bin zu beschäftigt. Vielleicht später einmal.«

Das Beschäftigtsein bestand für ihn darin, aus dem astronautischen Ressort auszubrechen, einer berüchtigten Sackgasse, in die nervöse Vorgesetzte und eifersüchtige Kollegen ihn manövriert hatten. Und nachdem ihm das gelungen war, hatten ihn sofort andere Probleme beschäftigt. Die Zeitreichte nie hin. Man musste sich mächtig anstrengen, nur um zu bleiben, wo man war.

Aber der Fuß schmerzte häufig. Er blieb stehen, um den Schmerz abklingen zu lassen.

»Fühlen Sie sich nicht gut?«, erkundigte sich Ikeyasu besorgt.

Svoboda sah ihn an und lächelte. Seine beiden anderen Leibwächter waren ohne Persönlichkeit, verschwiegen und wachsam, auswechselbare Durchschnittsgestalten. Im Gegensatz zu ihnen ging Ikeyasu unbewaffnet; er war ein Karatekämpfer.

Ikeyasu bot ihm seinen Arm, und sein Schützling stützte sich darauf. Der Kontrast war lächerlich. Svoboda war knapp hundertfünfzig Zentimeter groß, mit einem glänzenden, haarlosen Schädel und einem aus Runzeln bestehenden Gesicht. Seine kindlich schmächtige Gestalt steckte in einem uniformähnlich geschnittenen dunkelblauen Anzug mit hochgeschlossenem Kragen, und von seinen Schultern fiel ein feuerroter Umhang. Wogegen der einen Meter achtzig große Japaner unauffälliges Grau trug und schulterlange Haare hatte.

Svoboda fummelte mit gelbfleckigen Fingern nach einer Zigarette. Er stand auf dem Dachlandeplatz seines Amtsgebäudes, hoch über der Stadt. Unten war nichts von den Parkanlagen zu sehen, mit denen die meisten seiner hochgestellten Kollegen ihre Verwaltungspaläste zu umgeben pflegten. Sein Ministerium erhob sich inmitten der verfallenden, grauen, gesichtslosen Vorstadt, die seine Heimat war. Soweit er durch den Dunst sehen konnte, erstreckte sich das Häusermeer, aber im Osten, jenseits der Hafenanlagen und Docks, lag die blaugraue Weite des offenen Atlantiks.

Die Schatten des Abends senkten sich über die Stadt. Lichter schimmerten herauf. Svoboda zündete seine Zigarette an. Der Blick seiner Augen wanderte an der kleinen Maschine vorbei, die ihn von seinem Haus hierher gebracht hatte, und blieb an der Venus hängen, deren heller Lichtschein den dunkelnden Westhimmel beherrschte. Er seufzte und zeigte hinauf. »Wissen Sie«, sagte er zu Ikeyasu, »ich bin beinahe froh, dass die Kolonie dort aufgegeben worden ist. Nicht allein, weil sie sich nicht bezahlt gemacht hat und wir uns heutzutage keine Verschwendung erlauben können. Noch aus einem anderen Grund.«

»Und welcher ist es?« Ikeyasu fühlte, dass der Kommissar reden wollte; sie waren seit vielen Jahren zusammen.

»Weil es jetzt wenigstens einen Ort gibt, wo man von der Menschheit verschont ist.«

»Venus ist nicht gut, Chef. Wenn Sie keine Menschen sehen wollen, können Sie zu den Sternen reisen und einen Ort finden, wo Sie keinen Schutzanzug brauchen.«

»Aber neun Jahre im Tiefschlaf bis zum nächsten Stern! Ein bisschen extrem für einen Erholungsurlaub.«

»Ja, Chef.«

»Und dann sind die Planeten, die man findet, genauso schlimm wie Venus … oder man hat Glück, und sie sind wie die Erde, aber nicht genug wie die Erde, und man hält es nicht aus, weil es einem das Herz bricht. Aber gehen wir. Es wird Zeit.«

Svoboda stützte sich auf seinen Stock und humpelte schnell über die Dachterrasse zu einer Rolltreppe, die ihn zwei Etagen tiefer in einen Korridor brachte. Hier waren seine Arbeitsräume und die seines persönlichen Stabes. Am Ende des Korridors war der Raum für Telekonferenzen. Ikeyasu begleitete ihn hinein, während die beiden anderen Leibwächter im Gang zurückblieben. Svoboda humpelte zu seinem Sessel und ließ sich von Ikeyasu Kontrollpult und Schreibtisch zurechtrücken. Die meisten seiner Kollegen, die ihn aus den im Halbrund angeordneten Bildschirmen anblickten, hatten ihre Berater und Referenten mitgebracht. Svoboda war allein zur Kabinettssitzung erschienen, wie es seine Gewohnheit war.

Premier Selim nickte und blickte in die Runde. Hinter seinem Bild war ein Fenster, durch das Palmen zu sehen waren.

»Fangen wir an«, sagte er. »Wir wollen uns nicht mit Formalitäten aufhalten. Bevor wir uns mit den Themen der Tagesordnung befassen, möchte ich die Frage stellen, ob noch andere dringliche Punkte zur Erörterung gebracht werden sollen?«

Rathjen, der gegenwärtige Kommissar für Astronautik, meldete sich schüchtern zu Wort. »Meine Herren, ich möchte nochmals die Frage der zusätzlichen Etatmittel für die Instandhaltung der Raumschiffe aufwerfen. Wir haben mehrere durchaus einwandfreie Raumfahrzeuge, die mit einem Aufwand von nur wenigen Millionen voll betriebsbereit gemacht werden könnten. Wenn wir uns jetzt nicht zur Bewilligung dieses kleinen Zusatzetats entschließen, werden die wertvollen Schiffe in ein paar Jahren nur noch Schrottwert haben, und der Verlust wäre ungleich höher. Und dann das Problem der astronautischen Akademien – es ist eng mit dem ersteren verknüpft. Die Qualität des Nachwuchses hat einen beklagenswerten Tiefstand erreicht, weil es kaum noch qualifizierte junge Menschen gibt, die sich für diese Laufbahn entscheiden. Ich meine, dass hier eine großangelegte Propagandakampagne an den übrigen Hochschulen vonnöten wäre, um das Interesse wiederzubeleben. Vielleicht lässt sich gemeinsam mit dem Ressort meines verehrten Kollegen Svoboda, dessen Zuständigkeitsbereich für Erziehung und soziale Fragen hier berührt wird, ein Förderungsprogramm ausarbeiten …«

»Bitte«, unterbrach Premier Selim geduldig. »Ein anderes Mal.«

»Eine Bemerkung dazu könnte nicht schaden«, sagte Svoboda. Er wartete die zustimmende Geste des Premiers ab, dann blickte er von Bildschirm zu Bildschirm. »Unser geschätzter Kollege hier, Kommissar Novikov, könnte Ihnen eine Anzahl guter Gründe für den Verfall der Astronautik nennen: mit jedem Tag mehr Menschen und weniger Rohstoffe. Wir können uns interstellare Entdeckungsreisen ebenso wenig leisten wie das verschwenderische System unkontrollierter Privatwirtschaft. Als wir vor zwanzig Jahren anfingen, die nötigen sozialen Reformen durchzusetzen, führte das zu dem bekannten Aufstand des nordamerikanischen Bürgertums.« Er lachte. »Wir müssen uns das zu Herzen nehmen und nicht leichtfertig das astronautische Ressort zur Revolte verleiten. Es ist einfacher, für weitere zehn oder zwanzig Jahre ein paar Raumschiffe zu betreiben, als Barrikaden aus Aktenordnern zu stürmen, die von verzweifelten Bürokraten bemannt sind. Aber Sie, Kollege Rathjen, dürfen nicht von uns erwarten, dass wir uns für eine Erweiterung oder auch nur für die Instandhaltung Ihrer ohnehin zu großen Flotte einsetzen.«

»Aber … Kollege Svoboda!«, keuchte Rathjen.

Selim räusperte sich. »Wir alle kennen den Humor unseres Kollegen Svoboda, aber ich denke, dass wir jetzt zur Sache kommen sollten. Herr Svoboda hat in meinem Auftrag eine Studie über das Problem der Konstitutionalisten ausgearbeitet, die jetzt vorliegt. Ich schlage vor, Kollege Svoboda, dass Sie die Grundzüge Ihrer Studie in diesem Kreis vortragen, um eine Beschlussfassung zu erleichtern.«

Die zwanzig Gesichter richteten ihre erwartungsvollen Blicke auf Svoboda, der sein Gesicht in Zigarettenrauch hüllte. »Vielleicht sind Sie nicht alle mit dem vorliegenden Problem vertraut. Ich habe meine Studie über die Konstitutionalistenfrage Premier Selim, Innenkommissar Chandra und dem Kommandanten von Nordamerika zugeleitet. Dass diese Frage uns heute überhaupt beschäftigt, liegt daran, dass die Konstitutionalisten keine homogene politische Gruppe sind. Wären sie es, könnten wir ihre Exponenten morgen zusammenfangen. Sie sind nicht einmal formell organisiert, und unter ihnen gibt es viele Meinungsverschiedenheiten. Ihr gemeinsamer Nenner, das Banner, um das sie sich scharen, ist das Privateigentum. Das war in der alten amerikanischen Verfassung eines der größten Heiligtümer, und daher nennen diese Leute sich Konstitutionalisten. Sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den mittleren und oberen Schichten des Bürgertums, das in Angst um seinen Besitz und seine Privilegien lebt.«

»Ich lasse ihre Wortführer seit Monaten beobachten«, sagte Innenkommissar Chandra. »Glauben Sie nicht, mein Ressort wäre untätig geblieben. Ich weiß, dass viele von ihnen schon an der Revolte vor zwanzig Jahren teilnahmen oder Väter haben, die damals eine Rolle spielten. Aber sie sind nicht gefährlich. Sie mögen murren und aufbegehren, aber als Klasse geht es ihnen noch zu gut, als dass sie ihren Wohlstand in einer weiteren nutzlosen Erhebung aufs Spiel setzen würden.« Er zuckte die Schultern. »Wären sie nicht seit jeher gewohnt, ihre Interessen auf Kosten anderer Bevölkerungsgruppen durchzusetzen, müssten sie einsehen, dass die Zeiten sich geändert haben, seit ihre Vorfahren den schrankenlosen Egoismus zur obersten Tugend machten. Heute leben in Nordamerika fünfhundert Millionen Menschen, die zu achtzig Prozent Analphabeten sind.«

»Aus welchen Sprachgruppen kommen diese Konstitutionalisten?«, fragte Dilolo, der Kommissar für Landwirtschaft.

»Es sind vorwiegend Nordamerikaner«, sagte Svoboda. »Ich meine die alteingesessenen, nicht die orientalischen Einwanderer der jüngeren Vergangenheit. Aber ihre Doktrin findet sich in mehr oder weniger abgewandelter Form im Bürgertum aller Rassen. Ich glaube, wenn man einen Test veranstaltete, würde man zu dem Ergebnis kommen, dass mindestens die Hälfte jener Kreise, die man gemeinhin dem Mittelstand zurechnet, im Grunde mit den Doktrinen der Konstitutionalisten übereinstimmt. Dazu gehören – und das macht die Sache so schwierig – ihrer Herkunft nach sehr viele Wissenschaftler und Techniker. Natürlich sehen sich die meisten von ihnen nicht bewusst als Konstitutionalisten, aber in ihrer Denkart sind sie es.«

»Mit anderen Worten«, sagte Chandra, »wir haben es hier mit Überresten der alten konservativen und liberalen Ideologien zu tun. Ich habe auch meine Nachforschungen angestellt. Und ich fand, dass der Konstitutionalismus keine Gefahr ist. Spießbürger, die in der Mehrung ihres Besitzes ihren einzigen Lebenszweck erblicken, sind keine Revolutionäre.«

»Und doch«, sagte Svoboda, »ist dieser Konstitutionalismus verbreiteter und stärker, als es nach der geringen Zahl seiner offenen Verfechter den Anschein hat. Wir – das heißt die Regierung und ihr Verwaltungsapparat – haben die Macht, das ist richtig. Aber was von der Mittelklasse der Erde übriggeblieben ist, hat den Einfluss! Die Massen wiederum orientieren sich nicht an uns oder an den Bürokraten der Verwaltungen. Ihre Vorbilder sind die Bürger der unteren Mittelklasse – Händler, kleine Kaufleute, Handwerker und so weiter. Diese wiederum blicken zu den Angehörigen der mittleren und der oberen Mittelklasse auf. Wir können die künstliche Bewässerung von Marokko anordnen und durchführen lassen; aber erst, wenn wir zustimmende Gutachten von einigen hochbezahlten Experten aus der oberen Mittelklasse eingeholt haben!

Das Problem des Konstitutionalismus ist, dass schon sehr wenige bewusste Verfechter genügen, um dieser Mittelklasse ihre immer noch beträchtliche potentielle Macht zu vergegenwärtigen und für ein dieser Macht entsprechendes Mitspracherecht in der Regierung zu agitieren. Ich brauche wohl niemandem von Ihnen zu sagen, welche Folgen ein solches Mitspracherecht für unsere Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und eine gleichmäßigere Verteilung des Sozialprodukts haben würde.«

Eine Pause folgte. Svoboda zündete sich eine neue Zigarette an. Er fühlte die Luft in seiner Kehle pfeifen. Alle Mediziner der Erde zusammen konnten nicht wiedergutmachen, was er seinen Lungen und Bronchien antat.

Selim sagte: »Es handelt sich hier nicht um eine unmittelbare Bedrohung für uns persönlich. Aber ich pflichte dem Kommissar für soziale Fragen darin bei, dass ein Fortbestehen des Konstitutionalismus auf lange Sicht eine Gefahr ist, die nicht unterschätzt werden darf. Wenn wir für uns in Anspruch nehmen, die Weichen für die Zukunft der Menschheit zu stellen, dann müssen wir uns ernsthaft mit dieser Sache auseinandersetzen.«

»Sie denken doch nicht daran, die Konstitutionalisten en masse in Umerziehungslager zu stecken?«, fragte Larkin besorgt. Er war Kommissar für die Meeresbesiedlung. »Ich weiß, wie viele Techniker in Schlüsselpositionen – ich meine, die Folgen für die meisten unterseeischen Städte auf der Erde wären katastrophal!«

»Sehen Sie, verehrte Kollegen?« Svoboda schüttelte lächelnd seinen kahlen Schädel. »Nein, nein. So einfältig bin ich natürlich nicht, meine Freunde. Ich beabsichtige die konstitutionalistische Ideologie und Bewegung zu unterminieren. Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Programm gewaltsamer Unterdrückung zu forcieren.«

»Meiner Ansicht nach«, wendete Chandra ein, »ist das Ganze eine Frage einer geschickten, breit angelegten Propagandakampagne gegen diese Freibeuterideologie …«

»Sehr richtig!«, fiel Svoboda ein. »Auch das ist geplant. Aber nicht nur Propaganda. Ich möchte die Privatschulen schließen. In den bürgerlichen Kreisen dieser Konstitutionalisten ist es seit jeher üblich, die Kinder in Privatschulen zu schicken, um sie in der eigenen Ideologie zu erziehen, mit dem Erfolg, dass diese Schulen Brutstätten des Konstitutionalismus geworden sind. Das will ich abstellen. Die Erwachsenen brauchen uns nicht zu kümmern. Sollen sie weiterhin denken, was sie wollen. Die nächste Generation ist es, die wir gewinnen wollen. Mein Plan ist radikal und erfordert die Bereitstellung großer Summen aus öffentlichen Mitteln. Deshalb ist es nötig, dass wir in diesem Kreis darüber beschließen. Ich möchte das alte und bewährte System der kostenlosen allgemeinen Schulpflicht wieder einführen.«

Nachdem sich das überraschte Gemurmel gelegt hatte, fuhr Svoboda fort: »Natürlich denke ich an einige Abänderungen, zum Beispiel an einen Aufnahmetest psychologischer Art, um hoffnungslose Fälle auszusondern. Aber was ich will, ist ein Regierungsdekret, dass die gesamte neunjährige Grundschulausbildung von der Regierung finanziert wird und im Lehrplan den vorgeschriebenen Anforderungen nachkommen muss. Das heißt, unseren Anforderungen. Die Berufsschulen, Kunstakademien, Universitäten und Priesterseminare lasse ich einstweilen in Ruhe. Das sind nützliche oder harmlose Institutionen, deren Lehrbetrieb später einmal programmiert werden kann. Aber die nach konstitutionalistischen Prinzipien ausgerichteten Privatschulen werden geschlossen. Es wird sich herausstellen, dass ihr Niveau beklagenswert niedrig ist, und ich werde ihre Lehrer an die Luft setzen und gute, loyale Kräfte an ihre Plätze stellen.«

»Es wird Ärger geben«, warnte Dilolo.

»Ja. Aber nicht allzu viel. Natürlich werden die Eltern der bisherigen Privatschüler Einwendungen machen. Aber was können sie sagen? Nimmt der Staat ihnen nicht großzügig die Bürde der Ausbildungskosten ab? Sorgt er nicht dafür, dass ihre Kinder nach neuzeitlichen Gesichtspunkten unterrichtet und auf die Welt von morgen vorbereitet werden? Wenn sie ihnen zusätzlich ihre komischen Überzeugungen eintrichtern wollen, nun, das können sie abends und an den Sonntagen tun, wenn es ihnen Spaß macht.«

»Großartig!«, sagte Chandra lachend. »Das wird ihnen nicht viel einbringen!«

»Genau«, stimmte Svoboda zu. »Überzeugungen müssen gelebt werden. Man erwirbt sie nicht in einer Stunde am Abend von einem müden Vater, der einem Vorträge hält, während man lieber draußen Ball spielen möchte. Die nicht vom Konstitutionalismus angekränkelten Klassenkameraden werden sich über einen lustig machen. Zugleich werden die Eltern schwerlich in der Lage sein, bei der breiten Masse Unterstützung zu finden. Solche Regierungsmaßnahmen sind nicht von der Art, die zu Revolutionen führt. Im Gegenteil, sie werden die Regierung populär machen! Wir werden den Konstitutionalismus fast buchstäblich in seiner Wiege vernichten.«

»Sie haben noch nicht bewiesen, dass er die Anstrengungen und Ausgaben dieser Vernichtungsaktion wert ist«, sagte Novikov.

Svoboda seufzte. »Ich werde Sie alle mit den detaillierten Tatsachen meiner Analyse vertraut machen«, antwortete er. »Ich werde Ihnen beweisen, dass der Konstitutionalismus die Saat sozialer Reaktion in sich trägt; des radikalen Rückschritts. Wollen Sie die Atomkriege wiederhaben? Oder auch nur eine Bourgeoisie, die stark genug ist, um ein Mitspracherecht in der Regierung zu erzwingen? Das klingt weniger dramatisch, aber ich versichere Ihnen, die Folgen würden nicht viel anders sein. Nun, um meine Behauptungen zu beweisen, will ich Ihnen die wichtigsten Teile meiner Analyse zu Gehör bringen …«

2

Die Adresse, die Theron Wolfe angegeben hatte, erwies sich als die fünfzigste Etage eines Hochhauses in einer Gegend, der man früher einmal die Bezeichnung vornehm gegeben hätte. Joshua Coffin konnte sich erinnern, wie es hier vor fast einem Jahrhundert ausgesehen hatte: Das Hochhaus einsam zwischen Bäumen und Gärten, und nur im Osten die graugelbliche Dunstwolke der Stadt. Aber nun hatte der unersättliche Moloch es mit den hässlichen Plastikschalen moderner Wohnbauten eingekreist. Noch eine Generation – aber so lange würde das Haus nicht mehr stehen.

»Wie dem auch sei«, sagte Wolfe, »ich habe hier schon mein ganzes Leben gewohnt und eine sentimentale Anhänglichkeit entwickelt.«

»Wie bitte?«, fragte Coffin verdutzt.

»Für einen Raumfahrer ist das vielleicht nicht so einfach zu verstehen«, sagte Wolfe lächelnd, während er über seinen Bart strich. »Sie haben sich eine nomadisierende Lebensweise angewöhnt. Für mich wäre es schwierig, heutzutage eine vergleichbare Wohnung zu finden. Sie müssen sich klarmachen, dass die Bevölkerung der Erde sich seit Ihrer Abreise verdoppelt hat.«

»Ich weiß«, sagte Coffin.

»Aber kommen Sie herein.« Wolfe nahm seinen Arm und führte ihn von der Terrasse. Sie betraten einen archaischen Wohnraum mit breiten Fenstern, soliden Möbeln, die aus echtem Holz zu sein schienen, Bücherregalen mit Mikrofilmkassetten und richtigen Bänden und ein paar altersrissigen Ölgemälden. Die Frau des Kaufmanns, rundlich und ältlich, begrüßte den Gast und kehrte in die Küche zurück. Sie kochte tatsächlich ihr eigenes Essen? Coffin fühlte sich auf eine irrationale Weise gerührt.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Wolfe mit einer Handbewegung zu einem abgenutzten, hässlichen Stuhl. »Ein antikes Stück, aber höchst bequem. Es sei denn, Sie ziehen die moderne Sitzweise mit gekreuzten Beinen auf einem Kissen vor.«

Coffin dankte höflich und folgte der Aufforderung. Das Sitzpolster knisterte unter seinem Gewicht.

»Zigarette? Zigarre?«

»Nein, danke. In meinem Beruf gewöhnt man sich das Rauchen ab. Auf einer interstellaren Reise …« Er brach ab. »Verzeihen Sie. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten aus dem Leben eines Raumfahrers langweilen.«

»Oh, ich bitte Sie darum. Das ist der Grund, warum ich Sie eingeladen habe, nachdem ich Ihren Vortrag hörte.« Wolfe nahm einen Zigarillo aus dem Kasten. »Trinken Sie ein Gläschen mit mir?«

Coffin akzeptierte ein kleines Glas trockenen Sherry. Echten spanischen Sherry, wie ihm ein Blick auf das Flaschenetikett sagte. Zweifellos enorm kostspielig. In einer Weise war es ein Jammer, das teure Getränk an seinen wenig differenzierenden Geschmack zu verschwenden. Er schaute Wolfe an. Der Kaufmann war groß, dick, hatte einen gepflegten grauen Spitzbart und wirkte für seine Jahre bemerkenswert lebhaft. Er setzte sich, schlürfte, seufzte »Ahh!« und zündete seinen Zigarillo an, um dann seinerseits Coffin zu mustern. »Es ist wirklich schade, dass so wenige Leute zu Ihrem Vortrag kamen«, sagte er. »Es war höchst interessant.«

»Ich bin kein guter Redner«, sagte Coffin wahrheitsgemäß.

»Aber der Gegenstand Ihres Vortrags. Man stelle sich vor, ein Planet von Epsilon Eridani, wo Menschen leben können!«

Coffin fühlte Verärgerung aufkommen, und bevor er sich bremsen konnte, sagte er: »Sie müssen der Tausendste sein, der erklärt, ich sei bei Epsilon Eridani gewesen. Zu Ihrer Information: Dieser Stern wurde bereits vor Dekaden besucht und hat keine Planeten, die für uns Menschen von irgendeinem Nutzen sein könnten. Der Stern, den die ›Ranger‹ besuchte, heißt e Eridani. Ich dachte, Sie hätten meinen Vortrag gehört.«

»Ein Versehen von mir. Tut mir leid. Astronautik ist ein Thema, das heutzutage selten diskutiert wird.« Wolfe sagte es höflich, aber ohne Zerknirschung.

Coffin bekam plötzlich heiße Wangen und senkte den Kopf. »Nein. Ich bitte Sie um Entschuldigung. Ich war unachtsam und unhöflich.«

»Nicht der Rede wert«, sagte Wolfe. »Ich glaube, ich kann Ihre nervliche Anspannung verstehen. Wie lange waren Sie jetzt unterwegs? Siebenundachtzig Jahre, von denen Sie fünf in wachem Zustand verbrachten. Es war der Höhepunkt Ihrer Karriere, eine Erfahrung, wie sie nur wenigen Männern zuteil wird. Dann kamen Sie zurück. Ihr Heim existierte nicht mehr, Ihre Angehörigen und Verwandten waren tot oder in alle Winde verstreut, Ihre Mitmenschen und die Verhältnisse hatten sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Und das Schlimmste, kaum einer interessiert sich für das Ergebnis Ihrer Reise. Sie bieten ihnen eine neue Welt – den bewohnbaren Planeten, von dessen Entdeckung die Menschheit seit zwei Jahrhunderten interstellarer Raumfahrt träumt – und sie gähnen.«

Coffin saß eine Weile still und drehte das langstielige Sherryglas zwischen den Fingern. Er war ein hagerer Mann mit einem schmalen, kantigen Gesicht, über dem das Haar eben zu ergrauen begann. Er trug noch immer die alte anliegende Uniform mit den scharfen Bügelfalten und den Goldknöpfen, die selbst in den alles andere als modisch orientierten Raumfahrerkreisen hoffnungslos veraltet war.

»Ja«, sagte er schließlich, nach Worten suchend. »Ich erwartete eine … eine andere Welt vorzufinden, natürlich. Aber irgendwie erwartete ich nicht, dass sie in dieser Form anders sein würde. Wir, meine Gefährten und ich – und jeder andere interstellare Raumfahrer –, wir wussten, dass wir eine besondere Lebensweise gewählt hatten. Wir waren auf alles Mögliche gefasst. Immerhin erwarteten wir, unter die Fittiche der Astronautischen Gesellschaft zurückzukehren, der Heimat der Raumfahrer innerhalb der Nationen, sozusagen. Aber die Gesellschaft ist so zusammengeschrumpft …«

Wolfe nickte. »Die meisten Leute haben es noch nicht begriffen, Kapitän«, sagte er, »aber die Raumfahrt liegt im Sterben.«

»Warum?«, murmelte Coffin. »Was haben wir getan, dass dies über uns kommen musste?«

»Wir haben unsere Bodenschätze und Rohstoffquellen mit der gleichen Hingabe ausgebeutet, mit der wir uns vermehrt haben. Nun ist der Augenblick gekommen, den einige unbequeme Mahner schon lange vorausgesagt hatten. Entdeckungsreisen in den Raum werden zu kostspielig.«

»Aber – es gibt Ersatzstoffe – neue Legierungen. Aluminium muss immer noch reichlich vorhanden sein. Und dann die thermonukleare Energie …«

»Gewiss«, sagte Wolfe. »Aber damit ist es nicht getan. Theoretisch können wir Kernenergie in unbegrenzter Menge erzeugen. Aber es gibt so wenig damit anzufangen. Leichtmetalle und Plastikmaterialien sind für dies und jenes gut, aber dann braucht man Stahl. Maschinen brauchen Öl. Nun, auch magere Erze lassen sich aufbereiten, Öl lässt sich synthetisieren, und so weiter. Aber nur unter ständig steigenden Kosten. Und was produziert wird, muss von Jahr zu Jahr dünner verteilt werden: mehr Menschen. Natürlich wird die gesamte Warenproduktion längst staatlich kontrolliert. Luxusgüter werden überhaupt nicht mehr erzeugt. Die Weltregierung bemüht sich verzweifelt, allen ein gerade noch auskömmliches Leben zu ermöglichen, aber das führt zwangsläufig zu einer unaufhaltsamen Nivellierung nach unten, zu verbreiteter Unzufriedenheit im Mittelstand, der sich nun, nachdem die großen Vermögen liquidiert sind, in die Rolle des unfreiwilligen Blutspenders für eine kranke Welt gedrängt sieht.«

Coffin schüttelte nachdenklich den Kopf. »Aber sieht die Regierung denn nicht, dass die Raumfahrt den einzigen Ausweg aus der wirtschaftlichen Falle bietet? Wenn die Erde erschöpft ist, haben wir eine ganze Galaxis von Planeten mit unermesslichen Bodenschätzen.«

»Das hilft der Erde nicht viel«, sagte Wolfe. »Machen Sie sich das Problem klar, Erz über eine Distanz von neun Reisejahren vom nächsten Sternsystem heranzuschaffen, mit einem Massenverhältnis von neun zu eins, das heißt einer Tonne Ladung auf neun Tonnen Eigengewicht des Transportmittels. Oder betrachten wir es anders herum: Wie viel Schiffsraum wäre nach Ihrer Meinung nötig, um die Bevölkerung rascher zu Ihrem Planeten zu transportieren, als sie hier auf der Erde durch den Geburtenüberschuss ersetzt wird? Sie schütteln den Kopf – sehen Sie? Selbst wenn Rustum ein Paradies wäre – und Sie geben selber zu, dass der Planet vom menschlichen Gesichtspunkt aus ernste Nachteile hat –, könnten nicht viele Tausende von Menschen auf gut Glück hinreisen, um dort zu leben.«

»Aber die Tradition würde am Leben erhalten«, argumentierte Coffin. »Allein das Wissen, dass es eine Kolonie gibt, einen Ort, wo man hingehen könnte, wenn man das Leben hier unerträglich fände – wäre das nicht wertvoll?«