Das Licht eines Jahres - Kathrin Sohst - E-Book

Das Licht eines Jahres E-Book

Kathrin Sohst

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Beschreibung

Von der Kraft des Jetzt und der Liebe zum Leben Es sind die ersten Stunden des neuen Jahres, als die 42-jährige Mina die tanzenden Schneeflocken vor ihrem Fenster beobachtet. Nachdem ihre Tochter ausgezogen ist, könnte sie die freie Zeit genießen und mehr für sich tun. Stattdessen fühlt sie sich einsam und weiß nicht, was sie will. Ihr Bauchgefühl schweigt. Und dann stirbt auch noch ihre geliebte Großmutter Aruna. Was wie ein Ende scheint, wird auf wundervolle Weise zu einem Neubeginn, als ein geheimnisvoller Brief bei ihr eintrudelt, der nur von ihrer Oma sein kann. Für Mina beginnt eine transformative Reise, ein Jahr, das sie für immer verändert – erfüllt von den Farben des Lichts, der Kraft der Natur und der Weisheit der inneren Stimme. Mit zauberhaften Illustrationen von Hanna Zeckau – zum Verschenken und  Sich-selbst-Schenken. Berührend, poetisch und kraftvoll erzählt Kathrin Sohst die Geschichte einer Frau Mitte vierzig und schenkt damit den Inspirationals eine neue Stimme. Für Leser:innen von Tessa Randau und John Strelecky. Es gibt Bücher, die die Kraft haben, Leben zu verändern – dieses ist eines!

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers

Illustratorin: Hanna Zeckau

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Tanzende Sterne

Licht im Dunkeln

Zauberwesen

Familienbande

Morgenrot

Frühlingsboten

Der Ruf des Waldes

Buchengrün

Villa Sonnenschein

Sommerwaldzeit

Bekenntnisse

Tiefblau

Herbstleuchten

Erdfarben

Briefgeheimnis

Winterruhe

Seelengold

Deine Zeit unter Bäumen

Eine Einladung und kleine Anleitung zum Waldbaden

Verbinde dich mit d(ein)er Natur

In den Wald eintauchen, ruhig werden, regenerieren und bewusst sein

In der Natur entspannen – achtsam und mit allen Sinnen

Was du zum Waldbaden benötigst

Sicherheit im Wald

1. Wetter

2. Wildschweine

3. Zecken und Mücken

4. Giftpflanzen und Pilze

5. Trockenbruch und alte Bäume

Wie Waldbaden wirkt

Zehn Elemente fürs Waldbaden

1. Schlendern – mach mal langsam

2. Pausen machen und verweilen

3. Alle Sinne weit öffnen und genießen

4. Staunen und die Schönheit der Natur entdecken

5. Achtsamkeit: im Hier und Jetzt sein

6. Meditation: still werden und zur Ruhe kommen

7. Atmen und die frische, saubere Luft genießen

8. Sanfte Bewegungen: den Körper entspannen

9. Augenentspannung: die Kraft der Farbe Grün

10. Solozeit: Bäumen begegnen und einen Kraftplatz finden

Das Herz öffnen

Worte des Dankes

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Lilli Mariluna,

Lena Sophie und Rebecca Viktoria

Tanzende Sterne

Es war Neujahr. Minas Blick wanderte über den Rand ihres Lieblingsteebechers hinweg aus dem Fenster nach draußen. Dort schwebten ungewöhnlich viele Schneeflocken im Licht der Laternen sanft zu Boden. Von Zeit zu Zeit pustete ein leichter Wind durch die Straßen der Stadt. Dann tanzten die weißen Kristalle wie kleine Sterne fröhlich und beschwingt hin und her, nur um wenig später ruhig und gelassen ihren Weg Richtung Boden fortzusetzen. Mina seufzte leise. Wie gerne würde sie es den tanzenden Schneeflocken gleichtun und genauso mühelos vom durchgetakteten Treiben ihres Alltags loslassen.

Die Vorstellung, sich der Strömung des Moments hinzugeben und sich überraschen zu lassen, wo sie landen würde, ließ sie innehalten. Wie würde dann der nächste Schritt auf ihrem Weg aussehen? Und wohin würde er sie führen?

Eine neue Richtung wollte Mina ihrem Leben schon lange geben. Und doch hatte sie bisher immer dem Gefühl nachgegeben, dass dafür der passende Zeitpunkt noch nicht gekommen war.

Wenn sie ehrlich war, mangelte es ihr schlichtweg an Gelegenheiten, sich über neue Perspektiven Gedanken zu machen oder überhaupt herauszufinden, was sie wollte. Es gab schließlich immer mehr als genug zu tun. Seit sie vor zwei Jahren in der Firma eine Führungsposition angenommen hatte, sowieso. Sich für sich selbst Zeit zu nehmen, kam ihr wie ein Luxus vor. Ein Luxus, den ihr Alltag nicht zuließ. So entspannt wie heute – dem ersten Abend des neuen Jahres – hatte sie bisher nur selten an ihrem Lieblingsplatz in ihrer Wohnung gesessen, um den Blick schweifen zu lassen und nach innen zu lauschen.

Jetzt lag eine Woche Urlaub vor ihr, und sie war allein in ihrer Wohnung. Minas Tochter Lilli hatte sich im letzten Sommer nach dem Abitur spontan für ein freiwilliges Jahr auf einem ökologischen Hof entschieden, statt, wie lange geplant, zu studieren und zu Hause wohnen zu bleiben.

Mina war Mitte zwanzig gewesen, als sie mit Lilli während ihres Studiums schwanger geworden war. Sie hatte ihre Tochter größtenteils allein großgezogen, und nun war Lilli plötzlich aus dem Haus, und Mina immer noch dabei zu realisieren, dass ihre Tochter flügge geworden war. Jeden Tag fand sie sich ein Stück besser in ihrem neuen Alltag ohne Lilli zurecht. Trotzdem fehlte sie ihr.

Sollte es sich nicht gut anfühlen, nach so vielen Jahren wieder Zeit nur für sich zu haben? Bei ihren Freundinnen, die in der gleichen Situation waren, klang es immer unglaublich befreiend und beflügelnd, wenn die Kinder auszogen und wieder Raum für neue Pläne und Ziele entstand. Doch die frischen Ideen, die Mina erwartet hatte, blieben bei ihr bisher aus. Stattdessen spürte sie oft eine bedrückende Leere und Traurigkeit darüber, dass die Wohnung ohne Lilli so still war.

Als Mina bewusst wurde, dass sie ihre Gedanken und Gefühle in den letzten Monaten fast immer mit Arbeit überdeckt hatte, begann sich in ihrem Inneren zart und noch ganz unbemerkt etwas zu verändern.

Sie lehnte sich in die Kissen zurück, die auf der breiten Fensterbank verteilt waren. Minas Oma Aruna hatte ihr die fünf bunten, samtigen Kissen zum Geburtstag geschenkt. Um sich vor der Kälte am Fenster zu schützen, hatte Mina sich zusätzlich in ihre kuschelige rote Wolldecke gehüllt. Sie trank einen Schluck Tee. Es war die Spezialmischung ihrer Tante Rike: Zitrone, Apfel, Hibiskus, Lavendel und ein Hauch von Minze. Von seinem Duft inspiriert, flogen Minas Gedanken zu den Sommern ihrer Kindheit, die sie auf dem Hof ihrer Familie, dem Lindenhof, verbracht hatte, den Rike und ihre Oma noch heute miteinander bewirtschafteten.

Mina schloss die Augen und sah alles ganz lebendig vor sich. Ihre Ahnen hatten nicht nur eine Linde gepflanzt, sondern den ganzen Hof mit Linden eingerahmt. Die großen, schönen Bäume mit den lichten, herzförmigen Blättern trugen die Geschichte der Familie in sich, strahlten Geborgenheit und Harmonie aus und machten den Hof zu einem besonderen Ort, der die Menschen magisch anzog. Jeder, der einmal auf dem Lindenhof gewesen war, kehrte gerne zurück. Ob in den Hofladen, als Gast in die kleinen, urigen Ferienwohnungen oder einfach nur, um vorbeizuspazieren und sich mit Aruna oder Rike zu unterhalten, die sich immer Zeit für ein Gespräch nahmen.

Während Mina durch ihre inneren Bilder streifte, wurde ihr klar, dass sie viel zu lange nicht dort gewesen war. Wann hatte sie sich zuletzt in die liebevollen Umarmungen ihrer Tante und ihrer Oma geschmiegt? Wann den Blick über die weiten Felder und das angrenzende Wäldchen genossen und so lange still auf ihrem großen Lieblingsstein gesessen, bis die Sonne untergegangen war? Oder in der Mittagssonne des Sommers saftig-süße Erdbeeren geerntet, um sich diese anschließend gemeinsam mit Rike und Aruna im Schatten der großen Linden mit Eis und Sahne schmecken zu lassen? Wieso gelang es ihr nicht, sich regelmäßig eine Auszeit zu gönnen und die Menschen zu besuchen, mit denen sie sich so verbunden fühlte?

Plötzlich verspürte Mina einen Ruck. Heute ist Neujahr! Es ist Zeit, etwas zu verändern! Wenn nicht jetzt, wann dann? Sie öffnete die Augen. Die Vehemenz dieses Impulses erschreckte sie fast. Es war wie ein innerer Ruf, der sie aus ihren Träumen weckte und in eine neue Wirklichkeit stupsen wollte.

Augenblicklich begann ihr Verstand, zu analysieren und nach Antworten zu suchen, die ihr zumindest das Gefühl geben würden, alles unter Kontrolle zu haben. Doch all diese ordnenden Gedanken schenkten ihr keine Leichtigkeit – im Gegenteil. Es wurde schwer in ihr. Sie hielt inne und dachte: Auf alten Wegen wird wohl kaum Neues in mein Leben finden. Was für eine klare, erleichternde Erkenntnis. Mina seufzte leise auf.

Diesen plötzlichen Ruf nach Veränderung eben hatte Mina jedenfalls nicht herbeigedacht. Obwohl ihr ihre sachliche Art im Alltag oft weiterhalf, stellte sie nun fest, dass sie kaum noch Übung darin hatte, in sich hineinzufühlen und wahrzunehmen, wonach sie sich wirklich sehnte. Bis auf diesen einen überraschend kräftigen Stupser schien ihr Bauchgefühl schon seit Langem Winterschlaf zu halten.

Und so hüllte sich auch jetzt ihre innere Stimme direkt wieder in Schweigen. Stattdessen wurde ihr Kopf munter und erzeugte eine Frage nach der anderen: Sollte sie sich ein neues Hobby suchen? Oder war sie dafür zu alt? Gab es etwas, das sie immer schon mal tun oder wieder aufleben lassen wollte? Oder war es eine gute Idee, erst mal neue Kontakte in der Gegend zu knüpfen? Ob sie sich das trauen würde? Könnte sie in einen Verein eintreten oder ehrenamtlich arbeiten? Es war viel, was Mina durch den Kopf ging. Und mit jeder Idee wurde sie unsicherer.

Stopp! Erst einmal tief durchatmen!

Sie öffnete kurz das Fenster. Die frische Winterbrise wirkte sofort und fror die Fragen in ihr für einen kurzen Moment einfach ein. So war es besser.

Als ihre Gedanken langsam wieder auftauten und es in ihr wieder lauter wurde, beschloss Mina, nun doch erst einmal das zu tun, was sie immer tat, wenn sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte: eine To-do-Liste schreiben. Vielleicht war es im ersten Schritt einfacher, auf ihr gewohntes Ritual zu vertrauen und sich zu notieren, was alles erledigt werden musste, bevor sie sich Zeit nahm, über ihre Zukunft und die schönen Dinge nachzusinnen, die sie in ihr Leben einladen wollte.

Was das sein würde, konnte sie ja immer noch herausfinden. Außerdem waren in der letzten Zeit genügend Dinge liegen geblieben. Mina holte sich Stift und Zettel und fing eifrig an, sich Notizen zu machen: Keller aufräumen und ausmisten, Steuern machen, Fotoalbum für Lilli basteln, Wohnungsannoncen durchgehen und endlich ins Grüne ziehen, vielleicht bei einer Dating-App anmelden, Versicherungen abklären, TÜV-Termin fürs Auto vereinbaren, das alte Küchenbuffet abschleifen und unbedingt Aruna und Rike besuchen.

Beim letzten Punkt auf der Liste horchte Mina auf. Wer hätte das gedacht? Hatte sie diesen vielleicht ihrem Bauchgefühl zu verdanken? Erwachte es etwa langsam aus dem Winterschlaf?

Mina ließ ihren Blick wieder nach draußen wandern und folgte dem Tanz der Schneesterne im Wind. Sie hielt fest: Die Sache mit der Wohnung würde sicherlich etwas dauern, und ob eine Dating-App das Richtige für sie war, bezweifelte sie trotz der Ermutigungen ihrer Freundinnen noch immer. Aber wie schön wäre es, mal wieder ihre Oma und ihre Tante zu besuchen! Allein der Gedanke reichte aus, um das duftende Heu zu riechen und das verschmitzte, braun gebrannte Gesicht ihrer Oma mit den vielen Lachfalten im rosa-orangefarbenen Sonnenuntergang vor sich zu sehen. Eine Träne kullerte Mina über die Wange. Ob sie der Neujahrstag so gefühlsduselig machte? Oder hatte es mit Lilli zu tun?

Sie wischte die Träne ab und unterstrich den Punkt Aruna und Rike besuchen dick auf ihrer Liste.

Vielleicht sollte ich es mit einer To-do-Liste für meine Herzenswünsche versuchen und mir künftig mehr Raum für die schönen Dinge des Lebens nehmen, überlegte Mina. Das könnte funktionieren. Sie müsste dann nur dafür sorgen, dass ihre »Herzliste« nicht in irgendeiner Schublade verschwand, weil andere Aufgaben eben doch dringender waren und Vorrang hatten. Mina gähnte und warf einen Blick auf die Uhr. Es war tatsächlich spät geworden. Das überraschte sie. So lange war ihr die Zeit gar nicht vorgekommen, und irgendwie hatte sie das Gefühl, kurz in einer anderen Welt gewesen zu sein.

Die Straße lag nun still und in das sanfte Weiß der Schneedecke getaucht da. Mittlerweile hatten die Flocken ihr Tänzeln aufgegeben. Wieder öffnete Mina das Fenster und sog die kalte, frische Luft in ihre Lungen. Ihr fiel auf, dass die Welt ganz anders klang als sonst und alle Geräusche durch den Schnee gedämpft waren. Die weiße Pracht reflektierte die Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern und Vorgärten. Das Licht der Straßenlaternen wirkte durch das helle Leuchten der Schneedecke angenehmer als sonst. Es war eine wohlige Stimmung, die sich sowohl draußen als auch in Minas Herz ausbreitete.

Das ist nun doch noch ein guter Start in das Jahr geworden, dachte sie zufrieden und machte das Fenster wieder zu. Sie war erleichtert, dass zumindest der letzte Punkt auf ihrer Liste sie mit Energie erfüllte. Gleich morgen würde sie Lilli anrufen und ihr von ihrem Plan erzählen, Oma Aruna und Tante Rike zu besuchen. Ihre Tochter würde sich freuen. Schon oft hatte sie Mina gesagt, dass sie nicht so viel arbeiten und mehr für sich tun solle.

Als Mina wenig später etwas erschöpft, aber innerlich ruhig ins Bett ging, fiel sie sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Licht im Dunkeln

Am nächsten Morgen fühlte Mina sich so wach wie lange nicht mehr. Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre warmen Hausschuhe, zog ihre Lieblingsstrickjacke über und ging zum Esstisch, wo ihre To-do-Liste von gestern Abend lag. Beim Blick aus dem Fenster sah sie, dass der weiße Zauber über Nacht zu einem tristen grauen Schneematsch geworden war. Typisch, dachte sie. Das Leben in der Stadt ratterte unaufhaltsam weiter. Auf den Straßen lärmten Räumfahrzeuge und Autos und erinnerten Mina daran, dass viele Menschen heute schon wieder arbeiten mussten. Wie gut, dass sie noch freihatte. So konnte sie den Neujahrsabend noch einmal Revue passieren lassen und in den nächsten Tagen ihre To-dos umsetzen.

Danach würde sie sich die Zeit nehmen, ihrem Bauchgefühl wieder näherzukommen, herausfinden, was sie sich von Herzen wünschte, und ihre neue Liste beginnen.

Als sie zum Handy griff, um Lilli anzurufen, stellte sie erstaunt fest, dass ihre Tante Rike, die immer wie eine zweite Mutter für sie gewesen war, mehrfach versucht hatte, sie zu erreichen. Das war ungewöhnlich.

 

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch drückte Mina auf Rikes Nummer, Lilli würde sie danach anrufen.

Ihre Tante nahm sofort ab.

»Hallo, Mina, wie gut, dass du endlich zurückrufst.«

»Hallo, Rike, ich wünsche dir ein frohes neues Jahr! Entschuldige, dass ich nicht rangegangen bin. Ich habe mir gestern Abend etwas Zeit für mich genommen und vergessen, mein Handy wieder auf Laut zu stellen. Seid ihr gut ins neue Jahr gestartet? Ist alles in Ordnung bei euch?«, fragte sie atemlos.

Am anderen Ende der Leitung war es etwas zu lange still.

»Was ist los, Rike? Warum sagst du nichts?«

»Mina …« Rikes Stimme zitterte, dann holte sie tief Luft und atmete seufzend wieder aus.

Mina sank auf einen Stuhl.

»Mina, heute Morgen ist deine Großmutter gestorben. Aruna hat sich nach dem Frühstück noch einmal hingelegt, weil es ihr nicht so gut ging. Als ich dann nach ihr geschaut habe, weil ich plötzlich unruhig wurde, schlug ihr Herz schon nicht mehr.«

Mina bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Ihr Herz schmerzte so sehr, dass sie es kaum ertragen konnte.

»Mina? Sag doch was. Bist du noch dran?«

»Ja, ich … bin noch dran«, sagte Mina so leise, dass sie sich selbst kaum hören konnte.

»Ach, Mina-Liebes, Aruna war alt«, hörte sie ihre Tante wie durch einen dunklen Schleier sagen, »es war an der Zeit für sie zu gehen. Sie war noch sehr klar, aber körperlich hat man ihr angemerkt, dass sie es nicht mehr leicht hatte. Und nun ist sie für immer eingeschlafen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht wirkt friedlich, so, als wäre sie im Guten gegangen.«

Rikes Worte klangen gefasst, aber Mina wusste, dass es auch für ihre Tante nicht einfach war, die Familienälteste gehen zu lassen.

Mina schaute aus dem Fenster in den grauen Schneematsch.

»Ich komme zu euch!«, sagte sie dann entschlossen.

»Hier liegt ziemlich viel Schnee, Mina. Möchtest du wirklich kommen? Ich weiß nicht, ob die Straßen schon geräumt sind.«

»Ich versuche es, Rike. Ich möchte mich von Oma verabschieden und sie noch einmal sehen. Sie ist doch noch bei dir, oder?«

»Ja, sie wird erst morgen früh abgeholt. Nur die Bestatterin kommt heute, damit wir alles besprechen können.«

»Okay, dann mache ich mich jetzt auf den Weg.«

»Pass gut auf dich auf, Liebes!«

»Ja, mache ich. Bis später, Rike.«

Mina legte auf und starrte ins Leere. Das Jahr hatte doch so gut angefangen – und jetzt? So hatte sie sich ihren Besuch auf dem Lindenhof nicht vorgestellt. Mina erwischte sich dabei, dass sie einen Moment lang fast wütend auf ihre Oma war. Sie konnte doch nicht einfach so gehen! Doch dann wurde ihr bewusst, dass ihre Wut nicht Aruna, sondern sich selbst galt. Warum bloß war sie so lange nicht auf dem Lindenhof gewesen?

Mina zwang sich aufzustehen, zog sich an, schob sich eine Scheibe Brot in den Mund, trank ein Glas Wasser und schrieb Lilli rasch eine Nachricht, ohne ihr vom Tod ihrer Urgroßmutter zu erzählen. Das würde sie später persönlich am Telefon tun. Erst einmal musste sie sich selbst verabschieden und realisieren, was passiert war.

 

Früher wäre Mina bei einem solchen Wetter zu Hause geblieben oder hätte einen vernünftigeren Weg gefunden, sich von ihrer Oma zu verabschieden. Heute war alles anders: Getrieben von ihrer Trauer, fuhr sie einfach los.

Während der Fahrt raste ein Sturm aus Gedanken und Gefühlen durch ihren Körper, und sie musste mehrmals anhalten, um sich wieder zu konzentrieren. Mina vermisste ihre Oma schon jetzt. Aruna hatte ihr in jungen Jahren immer Halt gegeben und sie inspiriert. Und nun war sie für immer gegangen. Mina würde sie nicht mehr in ihre Arme schließen und sich auch nicht mehr von ihr umarmen lassen können. Sie kämpfte mit Schuldgefühlen, weil sie Aruna so lange nicht besucht hatte, und sie wusste nicht, wie sie diesen Verlust jemals verarbeiten sollte. Nie wieder würde sie mit ihr sprechen und Zeit mit ihr verbringen können. Ihre Erinnerungen waren das Einzige, was ihr von ihrer Oma blieb.

Ungläubig stellte Mina fest, dass sie bis zum heutigen Tage nicht realisiert hatte, dass ihre Oma irgendwann einmal nicht mehr da sein könnte. Diesen Gedanken hatte sie nie zugelassen. Und jetzt war es zu spät.

 

Wie sie es bei den winterlichen Straßenverhältnissen geschafft hatte, wohlbehalten anzukommen, konnte Mina sich später nicht mehr erklären. Sie musste mehr als einen Schutzengel um sich gehabt haben. Als sie endlich ihr Auto auf dem weiten Platz vor dem Lindenhof parkte, stand Rike bereits in der Eingangstür des schönen alten Bauernhauses. Vor der Kälte mit einer dicken, selbst gestrickten Wolljacke geschützt, kam ihre Tante ihr im Schnee entgegen. Sie wirkte erleichtert.

»Hallo, Liebes!«

»Hallo, Rike.«