Zart im Nehmen - Kathrin Sohst - E-Book

Zart im Nehmen E-Book

Kathrin Sohst

4,9

Beschreibung

Stark durchs Leben gehen trotz Sensibilität – das wünschen sich viele hochsensible Menschen und erleben ihre hohe Wahrnehmung dennoch immer wieder als Last. Wie der Frust immer weniger Raum einnimmt und das sensible Leben zur Lust werden kann, darum geht es in dem Buch. Etwa 20 Prozent der Menschen haben eine höhere Wahrnehmungsfähigkeit als andere. Sie nehmen Reize und Informationen qualitativ und quantitativ intensiver wahr und verarbeiten diese tiefer. Die Hochsensibilitätsforschung ist noch jung. Doch je leistungsorientierter und schneller unsere Gesellschaft wird, desto bedeutsamer wird das Thema. Was ist dran an dem Phänomen Hochsensibilität? Was bedeutet es, besonders sensibel zu sein? Welche Stärken haben Menschen mit einer hohen Sensibilität? Und wie sehen sie die Welt? Kathrin Sohst ist selbst hochsensibel. Sie schreibt nicht, wie viele andere Autoren, aus psychologischer Sicht, sondern aus ihrer Erfahrung heraus. Die selbstständige Texterin und Fotografin bewegt sich in der Welt der Wirtschaft und hat ihren eigenen Weg gefunden, ihr Leben und ihre Arbeit zu gestalten. Sie ermutigt den Leser, seine hohe Sensibilität als Chance zu entdecken. Ihre Botschaft: Erkenne deine hohe Sensibilität, steh zu ihr, sorge gut für dich und lebe deine Stärken. Alltagstaugliche Strategien und zahlreiche Berichte hochsensibler Menschen machen das Buch zu einem inspirierenden Ratgeber für zarte Menschen.

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Inhaltsverzeichnis
Buch-Gedanken
Zart-Start: Hochsensible Botschaften
1. Infopoint Hochsensibilität: Wie zarte Menschen sind
Bin ich hochsensibel?
Herausforderungen: Die Entwicklungsfelder der Zarten
Stärken: Hochsensible Potenziale
2. Erfahrungsberichte und Perspektiven: Was hochsensible Menschen erleben
Zart-starke Geschichten: hochsensibel – echt – authentisch
Sinne
Gesundheit
Arbeit und Beruf(ung)
Beziehungen und Familie
Freizeit und Konsum
Sinn und Übersinnliches
3. Strategien und Impulse: Was die Zarten stark macht
Stärke – (nur) eine Frage der Haltung?
Vertrauen – (auch) in die eigene Intuition
Zulassen – dem Leben ein Lächeln schenken
Vergeben – der Weg in die Freiheit
Wachsen – raus aus der Komfortzone
Fokussieren – Qualität statt Quantität
Starkmacher – in Verbindung mit der Kraft
Hochsensible Lebenskunst: Wie zart-starke Macher ticken
Leuchtfeuer: Das Zart-stark-Manifest
Acht zart-starke Thesen
Inspiration Tierwelt
Wirtschaft und Bewusstseinswandel
Wissenschaft und Wahrheit
Die Weisheit in uns
Anhang
Danke!
Quellenverzeichnis
Informationen und Empfehlungen zur Hochsensibilität
Über die Autorin
Impressum

Buch-Gedanken

Was Sie in den Händen halten, ist ein Buch für Zarte und Harte. Sensibel und provokant, emotional und sachlich. Es möchte Sie informieren, inspirieren und motivieren. Es will Mut machen, neue Wege zu gehen. Es fordert dazu auf, sich selbst und andere anzunehmen – ganz gleich, ob zart oder hart im Nehmen. Das Thema: Hochsensibilität + Stärke.

Dieses Buch ist kein psychologisches Arbeitsbuch, sondern ein inspirierender Cocktail aus sachlichen Informationen und authentischen Geschichten, es ist eine Sammlung von praktischen Starkmachern und ein emotionales Nachschlagewerk für den Alltag. Ein Buch, das Sie auf dem Weg in ein hochsensibel-starkes Leben begleiten, praktische Impulse geben und neue Perspektiven aufzeigen möchte. Sie können das Buch von vorn nach hinten lesen, kreuz und quer, rauf und runter oder einfach intuitiv den Bauch entscheiden lassen, was gerade dran ist. Wie Sie vorgehen, hängt auch davon ab, wo Sie gerade stehen. Dazu drei exemplarische Anregungen:

Szenario 1: Sie haben tausend Fragezeichen im Kopf und sind gerade dabei, Ihre hohe Sensibilität zu entdecken? Im ersten Teil des Buches gibt es komprimierte Informationen zum Thema Hochsensibilität.

Szenario 2: Sie kennen das Phänomen Hochsensibilität bereits und fragen sich, wie andere den Alltag erleben und mit ihrer Zartheit umgehen? Dann empfehle ich den zweiten Teil des Buches. Dort finden Sie viele authentische Geschichten aus dem Alltag, in denen hochsensible Menschen erzählen, wie es ihnen in bestimmten Situationen ergangen ist, wie sie damit umgegangen sind und was sie daraus gelernt haben. Wenn Sie hochsensibel sind, erleben Sie nicht nur viel, sondern auch vieles sehr intensiv. Nehmen Sie sich den Raum, zu verarbeiten, was verarbeitet werden möchte. Warum? Ganz einfach: Sie machen damit den Weg frei, sich selbst und andere so anzunehmen, wie sie sind. Lust statt Frust ist schließlich besser als der ständige Kampf mit den Realitäten des Lebens. Doch auch wenn Sie nicht mehr mit der Welt hadern, bleibt die hohe Wahrnehmung mit all ihren Herausforderungen.

Szenario 3: Haben Sie die »Erkenntnis Hochsensibilität« bereits hinter sich und schon das eine oder andere reflektiert? Dann kommt der dritte Teil ins Spiel. Hier geht es um Ressourcen, Strategien und alles, was hochsensible Menschen stark macht. Starten Sie durch, und erlauben Sie sich, all das in Ihren Alltag zu integrieren, was Ihnen guttut. Damit Sie sensibel und kraftvoll zugleich leben können und Ihre Ziele erreichen, statt ihnen hinterherzulaufen.

In diesem Buch stecken Liebe, Sensibilität, Empathie und Reflexion – und ganz viel Mut, die Dinge auch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Schwarz-Weiß-Bilder aus meinem Fundus als Fotografin begleiten die Worte – die Motive sind mal ruhig und entspannend, mal inspirierend oder provokativ. Dieses Buch ist nicht der Feder einer Psychologin entsprungen und ersetzt weder eine Therapie noch ein Coaching. Wenn Sie sich in einer Lage befinden, in der Sie spüren, dass Sie allein nicht zurechtkommen, dann empfehle ich Ihnen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich schreibe als hochsensibler Mensch und Botschafterin für Hochsensibilität. Mir ist wichtig, Ihnen Mut zu machen, authentisch zu leben, offen mit sich selbst und anderen umzugehen und Verantwortung für sich selbst und Ihr Wohlbefinden zu übernehmen. Es geht mir darum, Wissen und Erfahrungen zu teilen und Sie zu inspirieren, die gesellschaftlichen Konventionen kritisch zu hinterfragen. Ich möchte das Phänomen Hochsensibilität bekannt machen, um sowohl den Zarten als auch den Harten Perspektiven für einen starken Umgang mit der hohen Sensibilität zu öffnen. Wer mehr über die Frau wissen möchte, die das Buch geschrieben hat, der wird zwischen den Zeilen lesen, dass dieses Buch auch ein sehr persönliches ist. Doch anders als persönlich kann ich ohnehin nicht. Bei mir geht’s nicht ohne Nähe, Authentizität und Emotionen. Und wie ist es bei Ihnen?

Zart-Start: Hochsensible Botschaften

Sensibilität und Stärke? Das klingt nach Gegensätzen: wie Feuer und Wasser, süß und salzig oder hell und dunkel. Wie also soll das zusammengehen? Und wer gibt schon gerne zu, zart im Nehmen zu sein, wo es doch als erstrebenswert gilt, 24 Stunden am Tag verfügbar und leistungsfähig zu sein? Schwäche zeigen? Keine gute Idee. Zugegeben: Sensibel sein ist nicht gerade sexy. Oder doch? Dünnhäutigkeit gilt als unprofessionell. Und zu viele Emotionen stören, erst recht im Job. Das Leben ist kein Ponyhof. Nur die Harten kommen in den Garten. Schlafen kannst du, wenn du tot bist. Aha, so ist das also. Sonst kämen die Harten wohl auch nicht auf die Idee, Wortgeschütze wie diese abzufeuern:

• Nimm dir nicht alles so zu Herzen.

• Nun stell dich nicht so an!

• Du bist viel zu sensibel.

• Nun erzähl doch nicht so einen Quatsch!

• Mit dir ist es echt schwierig.

• Leg dir ein dickeres Fell zu.

• Lass doch mal locker.

• So ein Tüddelkram!

• Reiß dich mal zusammen.

• Du musst dich anpassen.

• Musst du immer gleich heulen?

• Nimm das doch nicht gleich so ernst.

• Ein Indianer kennt keinen Schmerz.

• Entspann dich wieder!

• Du musst mal realistischer sein.

• Spielverderber!

• Das bildest du dir nur ein.

• Warum bist du bloß so?

• Woher willst du das denn wissen?

• Du siehst Gespenster!

• Sei doch nicht so eine Mimose!

Haben Sie den einen oder anderen Satz schon mal irgendwo gehört? Oder zu jemandem gesagt? Ich kenne einige davon sehr gut – weil ich sie oft selbst gehört habe. Andere habe ich in meinen Interviews mit sensiblen oder hochsensiblen Menschen erst kennengelernt. Worte sind mächtig und in meinem Fall hatten sie tatsächlich die Wirkung von Waffen. Sie haben Wunden hinterlassen. Wenn wir solche Sätze schon in der Kindheit regelmäßig zu hören bekommen, dann machen diese Sätze etwas mit uns. Und sensible Kinder spüren, dass ihre Bedürfnisse sich von denen anderer Kinder unterscheiden.

Es ist Fasching im Kindergarten. Artur klammert sich an den Rockzipfel seiner Lieblingserzieherin. Er braucht Halt, denn heute ist alles anders. Es ist laut, alle sind aufgeregt und wuseln herum. Als dann einer der schönen roten Luftballons platzt, bekommt der kleine Junge mit den großen, wachen Augen einen Riesenschreck und fängt an zu weinen. Sein kleines Kinderleben ist gerade mächtig aus den Fugen geraten. Er versteht einfach nicht, warum die anderen Kinder Fasching so toll finden. Er wäre jetzt lieber zu Hause.

Diese Geschichte schildert eine klassische Situation, wie sie hochsensible Kinder immer wieder erleben. Wenn wir älter werden, kommen verständnislose Reaktionen und »Wortgeschütze« der anderen dazu. Und irgendwann gesellt sich zu dem Gefühl, anders zu sein, noch ein fieser Halunke – ein Kerl namens »Selbstzweifel«.

Viele hochsensible Menschen haben das Gefühl, mit ihrer Wahrnehmung allein dazustehen, denn die meisten anderen scheinen besser klarzukommen. Und dann nimmt die Entwicklung ihren Lauf: Das Selbstwertgefühl fängt an zu bröckeln. Und es mag auch dann nicht so recht wachsen, wenn wir uns in Schule, Studium und Beruf Ziele gesteckt und diese – meistens auf Umwegen – erreicht haben. Und schon gar nicht, wenn wir mal wieder das Gefühl haben, gescheitert zu sein. Und selbst wenn die Anerkennung der anderen da ist, bleibt ein fader Beigeschmack. Ich kann mir gut vorstellen, dass Menschen, die uns im Laufe unseres Lebens begegnet sind, überrascht wären, wenn sie wüssten, wie es manchmal in uns aussieht. Denn nach außen mögen hochsensible Menschen vielleicht manchmal etwas vorsichtig und zurückhaltend wirken, aber sie können dennoch selbstbewusst daherkommen. Viele haben gute Manieren und sind starke und interessante Gesprächspartner in der Eins-zu-eins-Situation oder in kleinen Teams. Sie sind strebsam, einfühlsam und sehr gute Zuhörer. Immer korrekt im Verhalten anderen gegenüber: bloß nicht unangenehm auffallen, Harmonie um jeden Preis aufrechterhalten und erst recht keinen Streit anzetteln. Aber auch das Gegenteil kommt vor: Dann können hochsensible Menschen auch sehr unangenehm auffallen. So mag in manchem angespannten, lauten oder sogar aggressiven Menschen ein ganz sensibler, zarter Kern liegen, der durch dauerhafte Überreizung unsichtbar wird.

Auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen liegen unzählige Situationen, die die Andersartigkeit von zarten Menschen skizzieren. In der Grundschule im ewigen Kampf mit einem ekeligen Klassenkameraden, der es liebt, andere zu ärgern. Als Teenager enttäuscht und gehänselt von den Klassenkameraden. Die Schutzmauer, die der eine oder andere hochsensible Mensch um sich herum gebaut hat, wird häufig »Arroganz« genannt. Und weil wir so empathisch sind und uns gerne mit Menschen umgeben, die respektvoll mit uns umgehen, machen wir uns neben ein paar wenigen guten Freunden unsere Lehrer zu Verbündeten. Unbewusst, versteht sich. Mit erwachsenen Menschen kann man nämlich – im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen – »normal« reden. Wie die Mitschüler mit den Lehrern umgehen, empfinden wir (meistens) als gruselig. Das sind doch schließlich auch Menschen und keine Monster. Im schlimmsten Fall kann es sogar dazu führen, dass die anderen Schüler beginnen, uns regelrecht zu mobben: kein Gruß auf dem Flur, leises Kichern bei jedem Fehler oder der Titel »Streber des Jahrgangs« in der Abizeitung – entsprechender Unbeliebtheitsfaktor inklusive. Die Frage nach dem Warum beantwortet sich meist erst viel später. Dann wird klar: Aufgrund einer hohen Empathie mit den Lehrern gut auszukommen, muss aus Sicht der anderen einfach so aussehen wie »Schleimen par excellence«.

Ein anderes Thema sind Partys und Discos, also laute Musik, Alkohol oder sogar Drogen. Einerseits ist die Partyzeit eine, in der wir lernen können, mit intensiven Reizen besser umzugehen, einfach mal zu feiern, uns zu zeigen und zu entdecken, dass wir keine Drogen brauchen, um uns in Trance zu tanzen, was eine ganze Menge Vorteile hat. Andererseits raubt es uns viel Kraft, bei der Partylaune unserer Freunde mitzuhalten. Wieder die Frage: Warum fehlt mir die Energie, während die anderen Spaß haben? Und warum mag ich andere Sachen als die meisten meiner Altersgenossen?

Und da schießt schon das nächste Thema wie ein Pilz aus dem Boden: Beziehungen – für hochsensible Menschen ein schwieriges Terrain. Es gibt immer Menschen, die fasziniert von uns sind. Denn viele zarte Menschen sind sehr empathisch und haben das Zeug dazu, jeden Wunsch des Partners zu erspüren, manchmal sogar schon, bevor er ihn sich selbst bewusst machen und formulieren kann. Menschen mögen es, wahrgenommen und verstanden zu werden. Doch es gibt da etwas, was viele Menschen nicht mögen: Mit der hohen Verbindlichkeit und der Tiefe unserer Emotionen und Gedanken können wir unseren Herzbuben oder unsere Herzdame schon mal überfordern. Wir geben uns ganz hinein in die Welt des anderen. Und vergessen dabei häufig sogar uns selbst. In Beziehungen, in denen es beide ernst meinen, können sich die Dinge langsam einschwingen. Wer kommuniziert, gewinnt. In den Sturm- und Drangzeiten des Lebens, in denen »lockere« Affären und Liebschaften eine Rolle spielen, kann der Hang zur Intensität allerdings sehr kräftezehrend sein und Energie rauben für die anderen wichtigen Dinge im Leben – zum Beispiel für Ausbildung, Studium oder den Job, und das sind wichtige Genossen, wenn es um die Sicherung der Existenz geht.

Und schon sind wir beim nächsten Thema: Kennen Sie Situationen, in denen Sie hoch motiviert einen neuen Job antreten, Ihre Kompetenzen voll abrufen und Ihr Umfeld mit Ihren Fähigkeiten begeistern? Bis auf einmal der Bruch kommt? Plötzlich werden Sie häufiger krank und beginnen Fehler zu machen. Warum? Die Liste der möglichen Faktoren ist lang: Großraumbüro, keine selbstbestimmten Pausen, Zeitdruck, der Umgangston, die Frage nach dem Sinn von Zielen oder Aufgaben, der eigene Perfektionismus, mangelnde Wertschätzung, Kollegen, die uns in ihrer Art stark fordern. Und im Hintergrund wirbelt auch noch das Privatleben mit all seinen Herausforderungen.

Was ist da los? Warum können viele hochsensible Menschen auf solche oder ähnliche Geschichten zurückblicken? Ganz einfach: Das Thema Hochsensibilität war lange Zeit weder bekannt noch benannt. Heute haben wir die Chance, das zu ändern. Es gibt einen Namen für das Phänomen der hohen Wahrnehmung und Empfindungstiefe. Elaine N. Aron, die Mutter der aktuellen Hochsensibilitätsforschung, veröffentlichte in den 1990er-Jahren ihr Buch »The Highly Sensitive Person – How to Thrive When the World Overwhelms You«. Im deutschsprachigen Raum machte meines Wissens Georg Parlow 2003 mit seinem Buch »Zart besaitet« den Anfang. Als mich die Taschenbuchausgabe mit dem zartgrünen Cover in der Buchhandlung angezwinkert hat und ich darin zu lesen begann, veränderte sich mein Leben. Heute weiß ich, dass es vielen Hochsensiblen so geht, die zum ersten Mal von dem Phänomen hören.

Die »Erkenntnis Hochsensibilität« markiert wahrscheinlich für jeden einen Wendepunkt.

Viele erkennen sich sofort wieder und fühlen sich abgeholt. Wobei das den Frauen wesentlich leichter fallen dürfte als den Männern. Sensible Männer? Wohin soll das denn führen? Fakt ist allerdings, dass es Hochsensible gleichermaßen unter Frauen und Männern gibt.

Obwohl die Forschung zum Thema Hochsensibilität noch jung ist: Die Resonanz derer, die hochsensibel sind, zeigt, dass Elaine Aron wertvolle Arbeit geleistet hat. Wer sich als hochsensibel erkennt, ist meist im ersten Moment sehr erleichtert. Denn diese Erkenntnis bedeutet: Ich bin nicht allein! Es gibt noch andere Menschen, die so oder ähnlich ticken wie ich. Im zweiten Schritt können eine ganze Menge Fragen, Zweifel und unangenehme Gefühle hochkommen. Zumindest war es bei mir und anderen, mit denen ich gesprochen habe, so. Da möchte plötzlich vieles verarbeitet und verstanden werden. Bei mir hatte Weiterentwicklung immer etwas damit zu tun, dort hinzuschauen, wo es wehtut, und mir von meinen Gefühlen erzählen zu lassen, wo der Schuh drückt. Sich das eigene Leid anzuschauen, scheint aus Sicht des Glücksforschers Ed Diener ein gutes Rezept zu sein. Denn glückliche Menschen verdrängen ihr Leid nicht, sie schauen hin: »Der Weg zum Glück führt nicht um das Leid herum, sondern durch das Leid hindurch.« Tun wir das nicht, laufen wir Gefahr, immer wieder die äußeren Umstände für unser Unglück verantwortlich zu machen.

Für hochsensible Menschen scheint das alles noch wichtiger zu sein als für diejenigen, die eine normale Sensibilität an den Tag legen. Ganz gleich, ob es darum geht, Erlebnisse aus der Vergangenheit zu verarbeiten, oder ob es einfach an der Zeit ist, sich mit den Menschen zu konfrontieren, die uns mit ihrem Wesen oder ihrer Einstellung stark gefordert haben. Wir müssen lernen, was wir nie gelernt und immer vermieden haben: den Umgang mit Konflikten. Und auch wenn Konflikte für die Zarten eine Herausforderung bleiben: Es lohnt, sich ihnen zu stellen und sie auszutragen. Denn ganzheitlich betrachtet ist es die größere Herausforderung, Konflikte zu vermeiden. Dann droht die Konfliktlawine täglich an jeder Ecke – was für ein Stress!

Eleanor Roosevelt, Menschenrechtsaktivistin, Diplomatin und Ehefrau des US-Präsidenten Roosevelt, bringt es auf den Punkt: »Man gewinnt Kraft, Mut und Vertrauen durch jede Erfahrung, die einen zwingt, anzuhalten und der Gefahr ins Gesicht zu sehen. Man muss eben auch Dinge tun, von denen man glaubt, ihnen nicht gewachsen zu sein.«

Sich mit der eigenen Hochsensibilität auseinanderzusetzen bedeutet auch, hinzuschauen, welche sensiblen Herausforderungen uns möglicherweise in unserer Entwicklung blockieren. Erst dann können wir die Ärmel hochkrempeln und unsere Herausforderungen angehen. Es wird einfacher, sich mit sich selbst und anderen Menschen zu konfrontieren. Entscheidend ist die Haltung: »Ich bin okay, du bist okay.«

Und noch etwas gilt es zu begreifen auf dem Weg zu einer sensiblen Stärke: »Egal, was du machst, und egal, wie du etwas machst – es wird immer Menschen geben, die dich kritisieren. Also mach genau das, was du willst, und sei du selbst.« Dieser Satz, der aus einem Interview mit Dr. Karin Uphoff, Unternehmerin und Gründerin des Netzwerkes heartleaders, stammt, ist leichter gesagt als getan. Denn (die meisten) Menschen sind soziale Wesen und wollen dazugehören. Solange wir nicht benennen und reflektieren können, was unsere Andersartigkeit ausmacht, liegt es auf der Hand, dass wir uns am Mainstream orientieren und versuchen mitzuhalten auf den normalen Wegen, die für Hochsensible oft ungeeignet sind. Überforderung und Situationen, in denen wir uns von anderen vor den Kopf gestoßen fühlen, häufen sich.

Doch Achtung! Die Welt dreht sich nicht nur um die sensiblen Wesen dieser Welt: Mit Sicherheit gibt es auch eine ganze Menge Menschen, die sich durch unsere Eigenarten vor den Kopf gestoßen fühlen. Chefs, die sich wundern, warum erst so ein hohes Engagement mit tollen Ergebnissen da ist und plötzlich dann ein gelber Schein nach dem anderen eingereicht wird oder sogar die Kündigung auf dem Tisch liegt. Menschen, denen wir zu nahe treten, ohne es überhaupt zu merken. Freunde, von denen wir uns wortlos abwenden, weil wir nicht in der Lage sind, in einen Konflikt zu gehen, und weil wir negative Emotionen vermeiden wollen. Wir sind Meister darin, Situationen zu umschiffen, die uns Schmerzen bereiten können …

Es ist eine Sache, zu wissen, dass Sie zart im Nehmen sind. Die andere genauso wichtige Erkenntnis ist diese hier: Diejenigen, die hart im Nehmen sind, haben eine »normal« ausgeprägte Sensibilität. Wir können von den Harten nicht erwarten, dass sie wissen, wie es ist, mehr zu riechen und zu schmecken, mehr wahrzunehmen und intensiver zu fühlen. Sie haben nicht erlebt, wie schnell der normale Alltag völlige Überreizung auslösen kann, obwohl sich eben alles noch ganz toll angefühlt hat. Menschen mit durchschnittlicher Sensibilität sind einfach, wie sie sind – keine blöden A…löcher, nicht grob und auch nicht rücksichtslos. Sie wissen nur nicht, wie es ist, zart zu sein. Genauso wenig, wie wir wissen, was es bedeutet, mit einer weniger ausgeprägten Wahrnehmung durchs Leben zu gehen. Hart sein ist genauso okay wie zart sein.

Klar gehört eine große Portion Mut dazu, zur eigenen Sensibilität zu stehen. Und doch lohnt es sich. Der erste Schritt, um den Zyklus aus guten Zeiten und immer wiederkehrenden Phasen, in denen Überreizung, Stress oder sogar Krankheit dominieren, zu durchbrechen, ist das Wissen darüber, (hoch-)sensibel zu sein. Gewürzt mit etwas Reflexion, Trauer, Wut, dem Wunsch, etwas zu ändern, und einer Prise lebensbejahendem Optimismus, reift in einigen Wochen, Monaten oder Jahren – je nach Jahrgang und Herkunft – ein wunderbarer Tropfen guten Selbstwertgefühls. Und weil das Leben immer auch Ereignisse bereithält, die jedes noch so taffe Sensibelchen in alte Muster zurückdrängen, entsteht irgendwann der Wunsch nach nachhaltiger sensibler Stärke. Für sich selbst, die Kinder und den Partner, für den Beruf und die Freunde und für alles andere, was das Leben ausmacht.

Anpassung und Selbstverleumdung machen dauerhaft keinen Sinn. Denn dann geben wir weder uns selbst die Chance, uns besser zu verstehen, noch denen, die nicht wissen, wie es ist, so sensibel zu sein. Lasst uns aufhören, uns zu verstecken. Und lasst uns anfangen, uns so zu zeigen, wie wir sind. Und zwar nicht mit dem Fokus auf unseren Herausforderungen, sondern indem wir unsere Stärken entdecken und sie auf der Bühne des Lebens präsentieren. Wie das gehen kann und was dabei hilft – darauf möchte ich mit diesem Buch konkrete Antworten aus dem Alltag von hochsensiblen Persönlichkeiten geben. Von hochsensiblen Menschen, die sich entschieden haben, den Fokus auf die Schönheit und die Stärke zu legen, die das Leben für hochsensible Persönlichkeiten zu bieten hat.

Ich möchte Ihnen Mut machen und in Ihnen die Lust auf Veränderung wecken. Schenken Sie den schönen Seiten Ihrer hohen Wahrnehmung mehr Raum. Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken, und achten Sie auf das, was Sie stark macht. Und zwar auch dann, wenn das Leben Ihnen wieder eine Situation vor die Füße wirft, die Sie kurzfristig und völlig überraschend aus der Stärke herauskatapultiert. Für mich steht jedenfalls fest: Der Glaube daran, dass meine hohe Sensibilität gut ist, wie sie ist, tut mir gut. Genauso wie der Mut, immer wieder nach neuen Wegen zu suchen, wie ich gut mit mir umgehen kann. Und das fühlt sich mit zwei kleinen Kindern und in der Selbstständigkeit nicht immer an wie ein luftig-leichter Sommerspaziergang. Ziele erreiche ich dann, wenn ich ehrlich mit mir selbst bin, mich annehme und darauf achte, was ich brauche, um stark zu sein und stark zu bleiben.

Das Ziel dieses Buches ist es, dass Sie genau die Informationen, Geschichten und Starkmacher finden, die Ihnen den Weg frei machen in ein starkes Leben als hochsensible Persönlichkeit. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen, Entdecken und Starksein und freue mich auf Ihr Feedback!

1. Infopoint Hochsensibilität: Wie zarte Menschen sind

Bin ich hochsensibel?

Hochsensibilität – was ist das eigentlich? Bin ich hochsensibel? Was bedeutet es, hochsensibel zu sein? Wie kann ich damit umgehen? Gibt es die »Diagnose« Hochsensibilität? Wie beeinflusst Hochsensibilität unser Leben? Gibt es Menschen in meinem Umfeld, die sensibler sind als andere? Fragen über Fragen, deren Antworten von großer Bedeutung sind. Denn erst wenn Sie wissen, dass es das Phänomen Hochsensibilität gibt, können Sie herausfinden, wo Sie selbst und die Menschen in Ihrem Umfeld auf der Sensibilitätsskala stehen. Das ist ein erster Schritt in ein sensibel-starkes Leben, ob im Umgang mit sich selbst oder für ein gutes Miteinander in Partnerschaft, Familie, Wirtschaft und Gesellschaft.

Auch wenn die Forschung zum Thema Hochsensibilität noch jung ist, steht fest: Das Phänomen der höheren Wahrnehmung einiger Menschen geht alle etwas an. Denn wenn wir wertschätzend und potenzialorientiert miteinander umgehen wollen, dann braucht es ein Bewusstsein für unsere Sensibilitäten, und zwar ganz gleich, ob wir zart oder hart im Nehmen sind.

Sind wir nicht alle auf unsere Art sensibel?

Ein Blick in den Duden verrät, dass der Begriff »Sensibilität« für die Empfindlichkeit eines Menschen steht. Da stellt sich schnell die Frage: Können wir es uns leisten, »empfindlich« zu sein – in einer Gesellschaft, in der Disziplin und Leistung im üblichen Sinne das Überleben sichern und mangelnde Leistungsfähigkeit mit Scheitern und sozialem Abstieg gleichgesetzt wird? Die Antwort scheint eindeutig: Sensibilität passt einfach nicht in diese Welt. Oder doch? Lassen Sie uns dem Thema Leichtigkeit und Vertrauen einhauchen und es von einer anderen Seite betrachten: Die Mediziner meinen mit »Sensibilität« die Reiz- und Schmerzempfindlichkeit des Organismus und bestimmter Teile des Nervensystems. Wikipedia weist darauf hin, dass man unter »Sensibilität« in der Physiologie und Wahrnehmungspsychologie den sogenannten fünften Sinn versteht, also den, der das Fühlen mit der Haut ermöglicht. Es handelt sich bei der Sensibilität somit um eine Fähigkeit, die uns durch alle Zeitalter hindurch das Überleben gesichert hat. Ohne sie wäre die Spezies Mensch schon längst ausgestorben.

Es macht daher absolut Sinn, sich seine Sensibilität(en) zu erhalten und sich Zeit zu nehmen, regelmäßig in sich hineinzufühlen.

Was verletzt mich? Wo schmerzt es? Warum bin ich gereizt? Denn wenn wir ehrlich sind, dann sind wir alle mehr oder weniger sensibel und manche von uns eben ganz normal hochsensibel.

Wenn Sie, so wie ich, zu dieser Gruppe von hochsensiblen Menschen gehören oder mit sehr feinfühligen Menschen zu tun haben, dann gibt es keine andere Chance, als hinzuschauen und sich mit den vorhandenen Wahrnehmungen auseinanderzusetzen. Denn je weniger unsere sensiblen Seiten Gehör finden, desto lauter schreien sie wild durch die Gegend. Die typischen Zeichen kennen wir alle: Dauerstress, Müdigkeit, Erschöpfungszustände, Schlafstörungen, psychische Erkrankungen und Burn-outs geistern seit Jahren nicht nur durch die Medien, sondern auch durch unseren Bekanntenkreis. Oder können Sie sogar selbst ein Lied davon singen, wie es sich anfühlt, wenn Körper und Seele ihren Dienst verweigern? Die Studien der Krankenkassen zeigen jedes Jahr aufs Neue, dass immer mehr Menschen den vielerorts sensibilitätsfeindlichen Anforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind. Und das gilt nicht nur für hochsensible Menschen, sondern auch für durchschnittlich sensible. Es ist Zeit, uns unseren zarten Seiten zu widmen und unserer Gesundheit endlich mehr Raum zu geben.

Das Phänomen Hochsensibilität

Die bisherigen Definitionen gehen auf die Psychotherapeutin und Universitätsprofessorin Dr. Elaine N. Aron, die Pionierin auf dem Gebiet der Hochsensibilitätsforschung, zurück. Sie hat herausgefunden, dass hochsensible Menschen mit einem Nervensystem geboren werden, das es ihnen ermöglicht, innere wie äußere Reize intensiver wahrzunehmen und zu verarbeiten als andere. Es handelt sich um einen erblichen und veränderlichen Wesenszug, der bei 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung angelegt ist. Bei der Verteilung gibt es keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Frauen und Männer sind zu gleichen Teilen hochsensibel.

Eine eindeutige neurowissenschaftliche Definition existiert bisher nicht. Da es sich bei Hochsensibilität nicht um eine Krankheit, sondern um einen Wesenszug handelt, werden Sie beim Arzt oder Psychologen keine »Diagnose« Hochsensibilität erhalten. Übrigens war Aron nicht die Erste, die dem Phänomen einer höheren Sensibilität begegnet ist. Der russische Wissenschaftler Iwan Pawlow machte weit vor Aron ein Experiment mit akustischen Reizen. Er wollte austesten, wann die Testpersonen an die Schmerzgrenze kommen. Auch er stellte statt der für psychologische Phänomene üblichen Normalverteilung fest, dass für 15 bis 20 Prozent der Testpersonen weit früher als für die anderen die Schmerzgrenze erreicht war.

Hochsensibilität: Begriffe und Definition

Forscher und Autoren sind sich bisher bei der Begriffswahl nicht einig: Ob Hochsensibilität, Hypersensibilität, Hochsensitivität oder Überempfindlichkeit – all diese Begriffe schwirren umher, werden zum Teil synonym verwendet, zum Teil aber zur Differenzierung. Der Begriff »Hochsensibilität« ist am weitesten verbreitet und darunter findet sich auch der Wikipedia-Eintrag zum Thema. In den Medien taucht häufiger der Begriff »Hypersensibilität« auf, der ohne Zweifel einen Hauch von aufmerksamkeitsfördernder Sensation in sich trägt. Der Begriff »Hochsensitivität« steht für das Phänomen, weil die amerikanische Psychologin Elaine Aron, die Mutter der aktuellen Hochsensibilitätsforschung, die englischen Begriffe »sensory-processing sensitivity« (sensorische Verarbeitungssensitivität) und »highly sensitive person« geprägt hat. Die Übersetzung von »sensitivity« ist im Deutschen nicht eindeutig; hier bieten sich sowohl »Sensibilität« als auch »Sensitivität« an. Es gibt auch Autoren und Coaches, die über Hochsensibilität sprechen, wenn sie eine »hohe Begabung« der Sinne meinen, und über Hochsensitivität, um alle außersinnlichen Wahrnehmungen zu beschreiben, also das, was in spirituellen Kreisen Hellfühligkeit, Hellhörigkeit und Hellsichtigkeit genannt wird.

Obwohl das Wort »Hochsensibilität« bei manchen eher Ablehnung hervorrufen mag – vor allem Männer nehmen den Begriff »Hochsensitivität« eher an –, habe ich mich entschieden, in diesem Buch von Hochsensibilität zu sprechen. Und das hat zwei ganz einfache Gründe: Erstens ist es der meistgenutzte Begriff, der auch in der Online-Enzyklopädie Wikipedia sowie von Hochsensibilitätsvereinigungen verwendet wird, und zweitens habe ich mich einfach an ihn gewöhnt. Doch viel wichtiger als die Wahl des Ausdrucks ist mir, mich darauf zu fokussieren, Ihnen einen praxisorientierten Überblick über das Phänomen der hohen Wahrnehmung zu geben. Darüber hinaus werde ich die Abkürzungen »HSP« und »HS« verwenden. Sie stehen für die Begriffe »hochsensible Persönlichkeit/ Person« bzw. »high sensitive person« und »Hochsensibilität«.

Wie sensibel bin ich?

Seit ich 2008 zum ersten Mal auf das Phänomen Hochsensibilität aufmerksam geworden bin, hat sich viel getan. Das Phänomen Hochsensibilität wird bekannter – und das ist gut so. Und doch schauen mich viele Menschen neugierig und mit einem großen Fragezeichen auf der Stirn an, wenn ich sage: »Ich bin Botschafterin für Hochsensibilität.« Meist kommt sofort die Nachfrage: »Hochsensibilität? Was genau ist das?« Oft sind es die Zarten, die neugierig nachfragen, weil sie sich von dem Wort magisch angezogen fühlen und schon lange nach Antworten suchen. Doch auch immer mehr Menschen, die nicht hochsensibel sind, öffnen sich für das Thema. Ein gutes Zeichen, denn es reicht nicht, wenn nur HSP über sich und das Thema informiert sind. Auch für Personalbeauftragte, Unternehmer, Führungskräfte, Psychologen, Ärzte, Heilpraktiker, Lehrer, Erzieher, Pädagogen, Coaches, Trainer und Co. hat das Phänomen eine hohe Bedeutung. Es geht um Wertschätzung, Stärkenorientierung, Ressourcen, Recruiting und Gesundheit – Themen, deren Relevanz in Wirtschaft und Gesellschaft täglich steigt.

Wie ich auf das Thema Hochsensibilität gestoßen bin? Mir ist das bereits erwähnte Buch »Zart besaitet« von Georg Parlow in die Hände gefallen. Als ich anfing zu lesen, war ich erstaunt. Denn da schrieb jemand offensichtlich über mich und öffnete mir damit die Augen für mich selbst. Das Buch gab mir Antworten, die ich lange herbeigesehnt hatte – ein Wendepunkt in meinem Leben. Endlich gab es eine Erklärung für mein »Anderssein«. Und noch wichtiger war diese Erkenntnis: »Ich bin nicht allein! Es gibt noch mehr Menschen, die so sind wie ich.« Dieser Gedanke tat einfach gut. Zumal 15 bis 20 Prozent Hochsensible eine beeindruckend große Minderheit sind. Wer dazu zählt, dessen Realität kann sich von einer Minute auf die andere massiv ändern. Nämlich dann, wenn das Thema Hochsensibilität auf den Tisch kommt. »Normal« Sensible fühlen sich im Gegensatz dazu oft überhaupt nicht angesprochen.

Michael Jack, der Präsident des Informations- und Forschungsverbunds Hochsensibilität e.V., nennt den Moment der Erkenntnis »Gebirgsketteneffekt«. Es fällt einem nicht nur ein Stein vom Herzen, sondern ein ganzes Gebirge kommt in Bewegung: Der Nebel lichtet sich, plötzlich zeigen sich Pfade, wo sonst nur karge Wildnis zu sehen war. Der Nachbargipfel erstrahlt im neuen Licht und die dahinterliegenden Gebirgsketten formieren sich neu. Hier und da geht eine Lawine ins Tal. Es poltert gewaltig und die gesamte Landschaft verändert sich. Erleichterung, Neuordnung, Neugier …

Das ist die Zeit, in der die hochsensiblen Entdecker sich auf ihr digitales Surfbrett schwingen und sich auf die Suche nach dem passenden Test machen. Der Wunsch, sich selbst besser einordnen zu können, ist groß. Wer seit seiner Kindheit das Gefühl hat, anders zu ticken als andere, der trägt eine Sehnsucht in sich. Die Sehnsucht, mit sich und der Welt ins Reine zu kommen. Dabei können Strukturen sehr hilfreich sein. Schubladen und Kategorien weisen uns den Weg durch den Informationsdschungel des Alltags und helfen dabei, uns in der Fülle des Lebens zurechtzufinden. Hochsensibilität ist eine von diesen Kategorien. Eine, die vieles (er)klären kann. Es geht um Zugehörigkeit und das Gefühl, nicht allein so anders zu sein. Da interessiert es kaum, dass die Testlandschaft im Bereich Hochsensibilität bisher wissenschaftlich (noch) nicht anerkannt ist.

Selbsttest

Sie möchten wissen, ob Sie auch hochsensibel sind? Dann testen Sie sich. Der Test »Wie sensibel bin ich?« ist inspiriert von Erfahrungen und basiert auf dem Wissen, das ich im Laufe der Zeit gesammelt habe. Es sind 30 Aussagen, die Sie ankreuzen, wenn Sie der Aussage zustimmen.

Auswertung

Die Aussagen weisen alle auf Aspekte der Hochsensibilität hin. Je mehr Aussagen Sie angekreuzt haben, desto intensiver ist das ein Hinweis darauf, dass Sie zu den 15 bis 20 Prozent der hochsensiblen Menschen gehören, die qualitativ und quantitativ mehr Reize und Informationen wahrnehmen und diese intensiver verarbeiten als die meisten anderen Menschen.

Jede einzelne Aussage berührt einen sensiblen Bereich in Ihrem Leben, der Sie beeinflusst. Selbst dann, wenn Sie nur eine Aussage als zutreffend eingeordnet haben, kann das bedeuten, dass Sie in diesem Punkt hochsensibel sind. Schenken Sie diesem Punkt Aufmerksamkeit. Schauen Sie hin. Worauf weist Sie Ihre hohe Sensibilität hin? Was können Sie tun, damit Sie Ihrem sensiblen Punkt gerecht werden? Reflektieren Sie, inwieweit Ihre Wahrnehmung Sie in diesem Bereich entweder herausfordert oder reich beschenkt.

Wichtig ist: Ganz gleich, wie sensibel Sie sind und an welchen Punkten – es macht keinen Sinn, so zu tun, als wären Sie es nicht. Denn dann lehnen Sie einen Teil von sich selbst ab, die Reizintensität nimmt zu und Ihr Stresslevel steigt. Da ist es besser hinzuschauen, damit Sie gesund und leistungsfähig bleiben und sich mit sich selbst wohlfühlen können.

Der Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität empfiehlt, sich selbst eine Weile zu beobachten, wenn ein Test auf Hochsensibilität hinweist: Welche Wirkung hat der Gedanke, hochsensibel zu sein, auf mich? Gab es mit dem Testergebnis einen Aha-Effekt? Finde ich in dem Konzept Hochsensibilität Erklärungen für Besonderheiten in meinem Leben? Möchte ich mehr über die Hochsensibilität wissen? Helfen mir der Test und das Wissen über Hochsensibilität, mich selbst besser zu verstehen und anzunehmen? Kommt mein Leben im positiven Sinne in Bewegung? Bekomme ich ein besseres Gespür dafür, wo meine Herausforderungen und Stärken liegen? Nehme ich schneller wahr, wenn mich Situationen überfordern und ich eine Pause brauche?

Einen weiteren Hinweis auf Hochsensibilität geben die vielen Eigenschaftswörter, die sich in der Literatur zu dem Thema finden: feinfühlig, zartbesaitet, einfühlsam, hochwahrnehmend, vielfühlend, feinsinnig, dünnhäutig, warmherzig, weich, empathisch, reizempfindlich, sinnesstark und jetzt auch »zart im Nehmen«. Wenn Sie sich in dieser Begriffswolke wiederfinden, dann kann das ebenfalls auf eine hohe Sensibilität hinweisen.

Onlinetests und Infoportale im Überblick
www.zartbesaitet.net

Der Test auf der Internetseite des Vereins zur Förderung und Pflege der Belange hochsensibler Menschen war parallel zu dem Buch des Autors Georg Parlow mein Einstieg in die Welt der Hochsensibilität. Der Test ist differenziert und fordert präzise Antworten.

www.hochsensibel.org

Der Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e.V. unter der Leitung von Michael Jack bietet einen guten und sorgfältig recherchierten Überblick über die »hochsensible Szene« in Deutschland.

www.hsperson.com

Hierbei handelt es sich um die englischsprachige Seite der HSP-Forscherin Elaine Aron. Dort finden sich auch unterschiedliche Tests zum Thema.

Frauen sind sensibel – Männer auch

Hochsensibilität ist, wie bereits erwähnt, kein geschlechtsspezifisches Phänomen. Allerdings sind Empfindsamkeit, Emotionalität und Empathie Eigenschaften, die in unserer Gesellschaft immer noch eher den Frauen zugesprochen werden. Für Frauen mag es daher einfacher sein, sich mit dem Thema Hochsensibilität auseinanderzusetzen und sich der eigenen hohen Wahrnehmung und Empfindsamkeit positiv zu nähern.

Aber hochsensible Männer? Wo kommen wir denn dahin? Auch wenn das Männerbild derzeit stark im Wandel ist und sich immer mehr Männer in neue Rollen vorwagen, sind in unserer Gesellschaft in den entscheidenden Positionen nach wie vor viele Männer, die mit dem »Mannsein« harte Arbeit, Macht, Durchsetzungsvermögen, Leistungsfähigkeit, finanziellen Erfolg und Sachlichkeit bis hin zur Selbstaufgabe verbinden.

Was? Das ist nicht Ihr Ding? Weichei! Und dann haben Sie auch noch Familie? Wie unverantwortlich! Doch machen wir uns nichts vor. Die meisten von Ihnen wissen sehr genau, was Sie täglich leisten und dass Sie weder ein Versager sind noch unverantwortlich handeln. Das »alte« Männerbild der letzten Jahrzehnte hat mit allem, was Sie sind, fühlen, erspüren und wahrnehmen, einfach gar nichts zu tun. Sie haben andere Werte – und das ist gut so!

An alle (hochsensiblen) Männer da draußen: Nehmen Sie Ihre Wahrnehmung, Ihre Gefühle und Ihre sensible, andere Männlichkeit an. Die Wirtschaft ist auf der Suche nach neuen Lösungen, und zwar nicht nur für Arbeitszeit- und Anwesenheitsmodelle. Es gibt immer flexiblere Ansätze. Die unternehmerischen Herausforderungen unserer Zeit brauchen Querdenker, Starkfühler, Sanftmacher und Feintuner. Es ist eine gute Zeit, um neue Werte in diese Welt zu setzen und dem Wahnsinn der »Höher-schneller-besser-billiger-Methode« und dem Irrglauben, dass dauerhaftes Wachstum die Lösung für die Probleme der Menschheit sei, ein Ende zu setzen, und zwar bevor es zu spät ist. Ein Neuanfang. Für alle. Auch für die Frauen.

Denn auch Frauen müssen die »Ein-Indianer-kennt-keinen-Schmerz«-Erwartungshaltung gegenüber den Männern erst einmal abstreifen. Denn im Grunde wollen (vor allem hochsensible) Frauen keine Haudrauf-Machos, die alles besser wissen und sie mit ihren Projekten, Ideen und dem Gefühl dafür, was die Welt jetzt braucht, nicht ernst nehmen. Frauen sind bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen, und wünschen sich berufliche Entfaltung. Doch spätestens wenn Kinder ins Spiel kommen, sind wir auf Hilfe und starke Netzwerke angewiesen. Ob der Partner verstärkt mit anpackt oder Großeltern, Freunde und Nachbarn uns unter die Arme greifen – ohne Unterstützung wird es enorm anstrengend. Wer hochsensible Kinder hat, weiß nur zu gut, dass es sehr schwierig sein kann, eine passende externe Betreuungsmöglichkeit zu finden. Und die meisten Eltern hochsensibler Kinder können ein Lied davon singen, wie wichtig neben der Betreuung die familiäre Gemeinschaft, Geborgenheit, Ruhe und körperliche Nähe sind. Wenn es sein muss, machen die Kids auch zehn Stunden Betreuung am Tag mit. Ja, Vereinbarkeit von Karriere und Kindern geht. Und dennoch stellt sich immer die Frage, ob und inwieweit es den Menschen damit gut geht. Es ist für viele Frauen schwieriger, Kinder und Karriere (oder auch einfach nur: »Arbeit«) unter einen Hut zu bekommen, als sie sich eingestehen wollen. Für hochsensible Frauen gilt das erst recht: Nach sechs Monaten von heute auf morgen Schluss mit dem Stillen, Vollzeit zurück ins Großraumbüro und das wahrscheinlich ebenfalls hochsensible Kind problemlos in der Krippe abgeben? Hochsensible Frauen mit hochsensiblen Kindern, die solche Modelle dauerhaft erfolgreich und vor allem körperlich und psychisch gesund leben, sind wahrscheinlich eine seltene Ausnahme. Ob nun hochsensibel oder nicht, letztendlich braucht es immer individuelle Lösungen. Jede Familie ist anders und jeder Lebensabschnitt ist anders. Machen wir uns auf den Weg, flexible Lösungen zu finden, und nehmen wir uns die Freiheit, unsere Entscheidungen und Wege je nach Situation neu zu überdenken und anzupassen – unabhängig davon, ob uns die Nachbarn schräg anschauen oder die Verwandtschaft meint, dass sie viel besser wüsste, was gut für uns ist, als wir selbst.

Männer und Frauen sind gerade dabei, ihre Rollen neu zu definieren. Und das ist vor allem für hochsensible Männer eine Riesenchance. Alle, mit denen ich gesprochen habe, leben seit ihrer Kindheit mit der Diskrepanz zwischen Erwartungen, die Familie und Gesellschaft an sie stellen, und ihrem sensiblen Temperament. Jeder hat seinen ganz eigenen Weg gefunden, mit dem männlichen Gerangel um die Macht umzugehen und sich dort mehr oder weniger gut zurechtzufinden. Ein Kampf – jeden Tag. Ein Kampf, der gerade den »soften« Kerlen eine große innere Kraft verliehen hat. Eine Kraft, die sich jetzt entfalten darf, ohne Leistungsdruck in Beruf, Bett und Beziehungen.

Merkmale hochsensibler Menschen

Was genau bedeutet es, hochsensibel zu sein? Durch welche Eigenschaften zeichnen Hochsensible sich aus? Da die Hochsensibilität ein relativ junges Forschungsfeld ist, gibt es bisher wenig eindeutige psychologische Definitionen; und es besteht – wissenschaftlich betrachtet – noch Unklarheit darüber, welche Eigenschaften und Verhaltensweisen zur Hochsensibilität gehören und welche unabhängig davon sind. So ist Empathie natürlich nicht nur hochsensiblen Menschen eigen, dennoch lässt sich beobachten, dass gerade die Empathie bei vielen hochsensiblen Menschen stark ausgeprägt ist.

Brigitte Küster, Autorin und Leiterin des Institutes für Hochsensibilität in der Schweiz, nennt drei deutliche Unterscheidungskriterien, die allen HSP eigen sind:

• schmale Komfortzone

• schnelle Überreizbarkeit bzw. Überstimulation

• langes Nachhallen von Reizen und Informationen

Damit hochsensible Menschen sich wohlfühlen, müssen wesentlich mehr Bedingungen erfüllt sein als bei Nicht-Hochsensiblen. In der Reizarmut lauert die Langeweile; und wenn wir uns ins normale Leben stürzen, droht die Überreizung.

Stark durchs Leben gehen trotz Sensibilität – das wünschen sich viele hochsensible Menschen und erleben ihre intensive Wahrnehmung dennoch immer wieder als Last. Je besser HSP wissen, wie sie selbst ticken, desto besser können sie sich und andere verstehen. Und aus dem Frust mit der Wahrnehmung kann immer häufiger lustvolles Leben werden.

Die Merkmale, die mit Hochsensibilität in Verbindung gebracht werden, bringen auf der einen Seite Gutes mit sich, erzeugen auf der anderen Seite aber auch Stress.

Fehlt uns die Grundlage für die Reflexion unserer besonderen Situation, bleibt uns meist nur der passive Frust. Stellen Sie sich vor, Sie haben Ihre Sinne gerade mit einem klassischen Konzert verwöhnt und steigen dann in die U- oder S-Bahn: Eine Gruppe von Jugendlichen pöbelt angetrunken durch die Gegend, es stinkt nach Alkohol. Aus den Kopfhörern ihres Nebenmannes dröhnen die Bässe. Und eine Frau, deren Kleid eine Farbe hat, die Sie dazu zwingt, in eine andere Richtung zu schauen, telefoniert so laut mit ihrem Freund, dass Sie intime Details aus der Beziehung erfahren, die Sie sich lieber erspart hätten. Spätestens nach fünf Minuten ist der erfüllende Effekt des Konzertes verflogen. Stress macht sich breit. Wenn wir wissen, wo unsere Herausforderungen liegen, dann wüssten wir, dass wir bei solchen Anlässen lieber das Auto nehmen, auch wenn sich das mit dem Umweltbewusstsein beißt, das für zart-bewusste Menschen oft eine große Rolle spielt. Doch in diesem Fall kann es absolut Sinn machen, die eigene Nachhaltigkeit in den Fokus zu stellen und gut für sich zu sorgen.

Sinnesstarke Menschen

Über unsere Sinnesorgane erleben wir die Welt um uns herum: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Spüren und unser sechster Sinn – all das kann unser Leben zu einem rauschenden Fest der Sinne machen, das uns tief berührt und ein feines Gefühl von Glück durch unsere Zellen fließen lässt.

Wie wir sehen

☺ Typisch sind ein gutes Verständnis für Farben, Formen, Harmonie, ein ausgeprägter Sinn für Schönheit und Ästhetik, ein genauer Blick für Details.

☺ Unordnung, Dreck, »falsche« Farben und Formen und zu grelles Licht können schnell zu Überreizung führen und die Konzentration stören.

Wie wir hören

☺ Gute Musik, schöne Klänge + Co. sind ein erfüllendes und stark emotionales Erlebnis.

☺ Häufig haben HSP ein gutes, einige sogar ein absolut ausgeprägtes Gehör, ein gutes Rhythmusempfinden, eine hohe Musikalität und ein feines Sprachverständnis.

☹ Hintergrundgeräusche können die Konzentration stören, auch wenn sie leise sind. Laute Musik und wiederkehrende Geräusche führen schnell zu einer Überreizung.

Wie wir riechen und schmecken

☺ Angenehme Gerüche sind ein berauschendes Erlebnis.

☺ Gutes Essen ist Genuss pur und ein Feuerwerk des Geschmacks.

☹ Gerüche, Geschmacksempfindungen oder bestimmte Konsistenzen können schnell als unangenehm wahrgenommen werden und sorgen für Ekel und Abneigung.

Wie wir spüren, tasten und unseren Körper wahrnehmen

☺ Schon zarte Berührungen sprechen unsere feinen Sinne an und die Körperwahrnehmung ist bewusst und differenziert.

☺ Kunstfertigkeit, Koordination, Raumorientierung, Feinmotorik und Bewegungsintelligenz sind ausgeprägt.

☹ Das Schmerz-, Hitze- und Kälteempfinden ist höher ausgeprägt. Hunger, Durst und Müdigkeit beeinträchtigen schneller das Wohlbefinden.

☹ Kratzige und enge Kleidung sorgt für Stress.

Wie wir »mehr« wahrnehmen

☺ Wir können gut zuhören, haben ein gutes Bauchgefühl und spüren intuitiv, was richtig ist. Logische Verknüpfungen entstehen wie von selbst.

☺ Die hohe Intuition bzw. der sechste Sinn macht es möglich, Dinge wahrzunehmen, die anderen verborgen bleiben. Nonverbale Signale erfassen wir intuitiv.

☹ Es ist ein Lernprozess, der eigenen intuitiven Wahrnehmung zu vertrauen und anderen gegenüber damit »sensibel« umzugehen.

Wie die Übersicht zeigt, haben hochsensible Sinne allerdings auch die Macht, von einem Moment auf den anderen den Ab-nach-Hause-ins-Bett-unter-die-Decke-und-Licht-aus-Reflex in uns auszulösen oder uns vor andere Herausforderungen zu stellen. So gibt es in unserem Umfeld oft Menschen, die uns glücklich machen und zugleich aber stark fordern, weil sie Angewohnheiten oder Wesenszüge haben, die unsere zarten Sinne schnell überfordern. Neue Chancen im Job können uns bereichern und dennoch dazu führen, dass wir abends spätestens um 21 Uhr ins Bett gehen, damit wir am nächsten Morgen wieder fit sind und weiterhin Spaß an der Entwicklung und Kraft für unsere Ziele haben. Oder wir reisen endlich ins Land unserer Träume und stellen im Urlaub fest, dass die neuen Eindrücke uns zwar faszinieren, aber die wirklich entspannten Momente rar sind. Am Ende des Urlaubs sind wir dann reich an intensiven, unverarbeiteten Erlebnissen, aber von Erholung kann keine Rede sein. Eine hohe sensorische Wahrnehmung kann also sowohl puren, tiefen Genuss als auch tiefsten Ekel, Zerstreuung oder Überforderung hervorrufen. Wenn Sie feine und differenzierte Sinneswahrnehmungen haben, dann kennen Sie das. Es gibt spontane Glücksmomente, weil gerade unverhofft ein Vogel mitten im Lärm der Stadt ein schönes Lied trällert. Die hohe Wahrnehmung kann aber auch dafür sorgen, dass Sie beim Einsteigen in die S-Bahn spontan Ekel oder sogar ein Brechreiz überkommt, weil dort ein Obdachloser sitzt, der vorübergehend das S-Bahn-Abteil zu seinem Zufluchtsort vor Hunger und Kälte gemacht hat und nicht über die Möglichkeit zur ausreichenden Körperhygiene verfügt. Wir können noch so sehr versuchen, unsere Sinneswahrnehmung zu kontrollieren: Der unangenehme, alles durchdringende Geruch sorgt bei den meisten Geruchssensiblen innerhalb von Sekunden zu einer Überreizung. Diese Geschichte verdeutlicht, wie schnell HSP im Alltag in Situationen geraten können, die Stress auslösen.

Wenn Sie sich häufig in einem Umfeld aufhalten, in dem Sie schnell überreizt sind, kann das langfristig zu Stresserkrankungen führen. Spüren Sie Ihre Krafträuber auf und reduzieren Sie Ihren Stress. Machen Sie sich bewusst, welche Ihrer Sinne besonders sensibel sind. In welchen Situationen achten Sie bereits auf sich? Und unter welchen Umständen neigen Sie dazu, sich anzupassen? Welche Sinneseindrücke tun Ihnen gut? Welche Erlebnisse stressen Sie? Gibt es Tage, an denen Sie erschöpfter sind als sonst? Und wenn ja: Was erleben Sie an diesen Tagen? Wenn Sie sich selbst gut kennen und wissen, was Ihnen guttut und was nicht, haben Sie die Chance, Ihren Alltag zu verändern und entspannter zu leben.

Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen

Feine Antennen sorgen nicht nur dafür, dass HSP intensiver wahrnehmen können. Sie haben insgesamt auch mehr Reize zu verarbeiten. Dazu zählen Geräusche, optische Eindrücke, Gerüche, Geschmackswahrnehmungen und alle äußeren Reize, die auf die Haut oder den Körper einwirken: Wärme, Kälte, Vibration, Druck, Berührungen und Zugluft. Hinzu kommen alle Impulse, die durch Begegnungen mit Menschen oder durch Medienkonsum ausgelöst werden. In Zeiten von digitaler Kommunikation und Social Media wird gerade dieser Faktor immer entscheidender. Denn Momente der Entspannung ohne visuelle, mediale oder kommunikative Reize sind selten geworden. Für viele hochsensible Menschen sind darüber hinaus auch die Stimmungen anderer Menschen relevant. Hier kommen Empathie und Feinfühligkeit ins Spiel, die uns häufig vor die Aufgabe stellen, dass wir herausfinden müssen, ob es sich um unsere eigenen oder die Gefühle oder Stimmungen anderer Menschen handelt.

Die DOES-Formel

Elaine Aron hat die Hauptmerkmale von Hochsensibilität in einer Kurzformel auf den Punkt gebracht.

D steht für »Depth of Processing«, also die Tiefe der Informationsverarbeitung.

O steht für »Easily Overstimulated«, was bedeutet, dass hochsensible Menschen leichter bzw. schneller überstimuliert oder überreizt sind als Menschen mit einer normalen Sensibilität.

E steht für »Emotionally Reactivity and High Empathy«. Hier geht es um die emotionale Berührbarkeit. Die Gefühle hochsensibler Menschen reagieren stärker auf positive und noch intensiver auf negative Reize.

S steht für »Sensitivity to Subtile Stimuli«. Hochsensible nehmen auch subtile Reize und Feinheiten bewusst wahr, die anderen verborgen bleiben.

Das Phänomen Hochsensibilität steht jedoch nicht nur für die größere Menge der zu verarbeitenden Reize, sondern auch für die intensive Tiefe der Verarbeitung. Manchmal geht uns nach Wochen, Monaten oder Jahren plötzlich wieder ein Erlebnis durch Kopf und Herz. Das kann eine Information sein, die bisher keine Relevanz hatte, für ein aktuelles Projekt jedoch interessant sein kann. Verknüpfungen herzustellen ist eine der großen Stärken von HSP. Manchmal sind es aber auch Erlebnisse oder Wahrnehmungen, die uns subtil belasten, ohne dass wir uns dessen wirklich bewusst sind. So kann zum Beispiel ein streitendes Paar oder ein trauriger Mensch selbst dann einen bleibenden Abdruck in unseren Emotionen hinterlassen, wenn wir diese Personen nur im Vorbeigehen kurz wahrgenommen und den Eindruck gar nicht bewusst verarbeitet haben. Beides sind Situationen, die für uns keine Relevanz haben müssten und doch verarbeitet werden wollen.

Bisher gibt es noch keine wissenschaftlich anerkannte neurophysiologische Theorie, die erklärt, warum Hochsensible anders wahrnehmen und verarbeiten. Ein anschauliches, stark vereinfachtes Modell dafür, wie die »Datenverarbeitung« bei hochsensiblen Menschen funktionieren könnte, ist mir auf einem Abendseminar über Hochsensibilität begegnet. Der Coach und Berater Reimar Lüngen ist auf Hochsensibilität spezialisiert und erklärt den Prozess – inspiriert von Christa und Dirk Lülings Buch »Lastentragen, die verkannte Gabe« – folgendermaßen:

Pro Sekunde strömen Millionen Bits auf unsere Sinnesorgane ein. Davon können wir Menschen nur einen winzigen Bruchteil verarbeiten. Die erste Filterschicht ist mit Hardware vergleichbar. Sie ist voreingestellt, körperlich gegeben und bei jedem Menschen individuell ausgeprägt – nämlich entweder »zart« oder »hart«. Hier liegt der Unterschied zwischen normal Sensiblen und HSP. Die zweite Filterschicht ist die Software, in der sich die individuelle Erlebnis- und Erfahrungswelt abbildet und die dem Filter die ureigene Wahrnehmungsbrille verleiht. Die Bits, die durch diese beiden Filter hindurchkommen, werden auf drei unterschiedliche Orte verteilt. Die wenigsten Eindrücke landen im Bewusstsein, die meisten wandern sofort ins Unterbewusstsein. Und der Rest landet in einem dritten Speicher; nennen wir ihn Zwischenablage. Alles, was dort landet, möchte unser System zu einem späteren Zeitpunkt nachverarbeiten. Bei hochsensiblen Menschen ist diese Zwischenablage viel schneller gefüllt. Erstens weil wir mehr wahrnehmen und zweitens, so die Vermutung, weil unser System mehr Reize als relevant einstuft.

Was bedeutet das für hochsensible Menschen? Ganz einfach: Machen Sie sich bewusst, dass es diese Zwischenablage gibt. Denn wenn die Zwischenablage voll ist, haben wir keinen Puffer mehr, um relevante Informationen abzulegen. Und dann sind wir von einem Moment auf den anderen überreizt. Eben noch die Party genossen, jetzt schon auf der Flucht nach Hause. Gerade noch das Meeting gerockt und plötzlich nicht mehr in der Lage, auch nur einen vernünftigen Satz zu formulieren. Der Ausweg: herausfinden, wie es sich anfühlt, bevor die Zwischenablage voll ist, und die eigenen Warnsignale kennen. Plötzlich müde? Hungergefühle, obwohl sie gerade etwas gegessen haben? Achtung, Überreizungsalarm! Ihre Zwischenablage droht überzuquellen. Bei mir entsteht dann ein Zustand der sozialen und kommunikativen Müdigkeit. Meldet meine Zwischenablage den nahenden »heavy overload«, werde ich schlagartig müde, wenn ich den direkten Kontakt und die Kommunikation mit anderen Menschen nicht vermeiden kann. Jeder weitere Reiz, wie zum Beispiel wiederkehrende Geräusche, zu laute Musik oder starke Gerüche, ist dann kaum noch erträglich. Gehen Sie in solchen Situationen liebevoll mit sich selbst um, und strafen Sie sich nicht dafür, dass Sie Leistung und Konzentration nicht wie gewohnt abrufen können. In vielen Situationen ist es sogar möglich, einer Überreizung vorzubeugen, indem wir kurze Reizpausen einlegen. Wenn das nicht geht, bleibt uns manchmal keine andere Chance, als uns zu disziplinieren. Ich habe gelernt, mit solchen Situationen umzugehen. Denn ganz gleich, ob im Job oder in der Familie, das Leben lässt uns manchmal keine andere Wahl. Gehen wir jedoch über einen längeren Zeitraum regelmäßig über unsere Grenzen, ohne ausgleichende Pausen einzulegen, und hadern wir womöglich zugleich noch mit unseren Leistungen, dann wird unser Körper früher oder später dafür sorgen, dass wir eine Zwangspause wegen Krankheit einlegen müssen. Und wer mag schon Zwangspausen! Besser sind die freiwilligen Auszeiten. Solche, mit denen wir aktiv dafür sorgen, dass wir sensibel und stark durchs Leben gehen. Machen Sie sich bewusst, wenn Sie über Grenzen gehen, damit Sie in den nächsten 24 Stunden eine außerordentliche Pause einbauen können.

Werte und Einstellungen

Viele HSP haben ein starkes inneres Wertesystem. Sinnhaftigkeit hat eine große Bedeutung. Viele HSP sind chronisch »sinnsibel« und Dauerträger des Sinnsucher-Virus. Die Gedanken kreisen, alles wird analysiert. Wer so viel wahrnimmt, der braucht Struktur und ordnet das Erlebte automatisch in das eigene Wertesystem ein. Die folgende Liste gibt einen Einblick in die Wertewelt hochsensibler Menschen:

• Ehrlichkeit und Gerechtigkeit

• Umweltbewusstsein, Naturverbundenheit und Respekt vor anderen Lebewesen

• Engagement für eine bessere Welt

• Berufung finden und leben

• Genauigkeit, Sorgfalt, Stimmigkeit und Logik

• Identifikation mit Aufgaben und Projekten, Loyalität

• Offenheit für Neues

• Verständnis für Zusammenhänge und Hintergründe sowie Blick hinter die Kulissen

• Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein

• Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit

• Frieden, Harmonie und Gemeinschaft

Finden Sie in der Liste den einen oder anderen Wert wieder, der auch Ihnen wichtig ist? Dann ist es umso wichtiger, dass Sie sich drei Dinge bewusst machen:

• Stehen Sie für Ihre Werte ein. Schaffen Sie sich ein Umfeld, in dem Sie Ihre Werte leben und weitergeben können.

• Machen Sie sich gleichzeitig bewusst, dass aus Ihrem Wertebewusstsein ein hoher Anspruch entsteht – an Sie selbst und an Ihre Mitmenschen.

• Es gibt viele Menschen auf der Welt, die diese Werte nicht teilen, und auch mit diesen Menschen gilt es auszukommen, statt sie zu verurteilen.

Für besondere Werte einzustehen, kann in unserer Gesellschaft auch besondere Herausforderungen mit sich bringen.

• Wir schwimmen im Meer der Möglichkeiten und können uns für vieles begeistern. Achtung: Passen Sie auf, dass Sie sich nicht verzetteln. Peilen Sie Ihr aktuelles Ziel an und machen Sie einen Schritt nach dem anderen.

• Wenn wir von der Welt täglich erwarten, dass sie genauso tickt wie wir, dann werden wir häufig enttäuscht und fühlen uns ungerecht behandelt. Hohe Werte sind gut. Doch wer nach Perfektion strebt, kann tief fallen. Achtung: Verletzungsgefahr für die Seele!

• Es ist für uns ein Leichtes, die Wahrheit hinter der Fassade zu sehen. Doch machen Sie sich bewusst, dass es für viele Ihrer Mitmenschen nicht leicht ist, mit der Wahrheit umzugehen. Wer laut sagt, was bisher verborgen war, der muss mit Ablehnung und Kritik umgehen können.

• Das Streben nach Sinn und Berufung sorgt häufig für kurvige Berg-und-Tal-Lebenswege. Sie brauchen Geduld und Ausdauer: Denn wer gnadenlos für seine Werte einsteht, braucht manchmal etwas länger, bis er seinen Platz im Leben gefunden hat.

Sozialverhalten und Emotionen

Im sozialen Miteinander sind hochsensible Menschen häufig sehr geschätzt, denn sie nehmen Stimmungen in ihrem sozialen Umfeld schnell wahr, auch kleinste Änderungen fallen auf. Im Team geht es heiß her? Ihr Partner wirkt erschöpft? Die Stimme Ihrer Freundin am Telefon spricht Bände, auch wenn sie nicht erzählt, dass sie etwas bedrückt? Es lohnt sich, wenn wir uns darin üben, Probleme oder Themen sensibel und konstruktiv anzusprechen. Denn so können wir in Arbeitsumfeld, Familie, Freundschaft oder Partnerschaft wertvolle Beiträge zu einem friedlichen, harmonischen Miteinander leisten oder Menschen dabei unterstützen, ihre Probleme zu reflektieren und zu lösen. Viele hochsensible Menschen erleben seit ihrer Kindheit oder Jugend immer wieder, dass sie schnell zu beliebten Gesprächspartnern werden oder dass Menschen ihnen Dinge anvertrauen, die sehr intim sind. Es scheint, als hätten wir ein Laufband auf der Stirn, auf dem steht: Guter Zuhörer mit hohem Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Diskretion …

Und so ist es auch kein Wunder, dass wir uns freuen, wenn wir Menschen begegnen, mit denen wir schnell eine echte und vertrauensvolle Beziehung aufbauen können. Denn Hochsensible lieben Tiefgründigkeit. Oberflächliche Gespräche und Small Talk sind nicht unser Ding, auch wenn es in manchen Zusammenhängen definitiv von Vorteil ist, sich auch in »Small-Talk-Gesellschaften« entspannt bewegen zu können, ohne einen Oberflächlichkeitskrampf zu bekommen. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum wir unsere Freunde sorgfältig auswählen und eher wenige intensive und tiefgründige Freundschaften pflegen als viele oberflächliche. Die Qualität der Freundschaften ist hoch: Oft sind die Menschen tief miteinander verbunden und empfinden ihre Beziehung als eine Verbindung, aus der beide Seiten viel Kraft und Energie schöpfen können.

Die hohe Dichte an emotionalen Erlebnissen, die in uns selbst und aus dem sozialen Miteinander entstehen, sorgt für intensive Eindrücke, Begegnungen und Gefühle. Wir sind in der Lage, uns schon über die kleinsten Dinge sehr zu freuen, und haben ohnehin ein reiches Innenleben. Und so ist das emotionale Miteinander ein Hochgenuss, der aber auch einen Ausgleich erfordert. Hochsensible können gut Zeit mit sich allein verbringen und brauchen ihre Privatsphäre. Selbst extrovertierte HSP benötigen immer wieder Rückzugszeiten, um das Erlebte zu verarbeiten, zu reflektieren und einzuordnen.

So weit zu den angenehmen Seiten von hoher Emotionalität und intensivem Miteinander. Wer hochsensibel ist, weiß jedoch auch, wie es sich anfühlt, wenn …

• Gefühle die Kontrolle übernehmen,

• Tränen einfach kullern, ob wir wollen oder nicht,

• sich die Leichtigkeit verabschiedet,

• geplante Unternehmungen mit anderen Menschen wegen Überreizung spontan ausfallen,

• alle »passenden« Menschen sich gerade irgendwo verstecken und man sich fühlt wie auf einem fremden Planeten,

• Hektik und Konflikte zum Rückzug zwingen,

• Überstimulation dafür sorgt, dass man aggressiv wird (und dies später ganz fürchterlich bereut),

• man ausgenutzt wird und das erst hinterher bemerkt, weil man nicht auf sein Bauchgefühl gehört hat und davon ausgegangen ist, dass alle Menschen ähnliche hohe Werte leben,

• Einladungen zu Partys keine Freude, sondern Anspannung auslösen,

• Kritik einen trifft wie der Schlag,

• Überraschungen einen voll aus dem Konzept bringen, weil man sich auf etwas anderes eingestellt hatte,

• Stimmungen anderer Menschen einen überrollen und man sich selbst erst einmal wieder erspüren muss oder

• eigene Bedürfnisse im Wirrwarr des Alltags untergehen und sich dann umso lauter bemerkbar machen.

Das Leben ist bunt, intensiv und für viele zarte Menschen oft eine große Herausforderung. Parallel erleben wir auch die schönen Seiten intensiver als die nicht hochsensiblen Menschen und bringen die Fähigkeit der Reflexion mit: die beste Voraussetzung dafür, uns jederzeit weiterzuentwickeln und Chancen zu entdecken, die anderen verborgen bleiben. Die Erkenntnis Hochsensibilität ist der wichtigste Schritt. Wenn wir mögliche Merkmale und Eigenschaften, die mit einer hohen Wahrnehmungsfähigkeit einhergehen, identifizieren können, dann ist das die beste Voraussetzung dafür, unser eigenes Steuerrad zu schnitzen, die Segel zu setzen und die Jacht unseres Lebens sicher durch Wind und Wetter hindurchzusteuern – mit Kurs auf ein sensibel-starkes Leben.

Hochsensible Typen