Das Lied meiner Schwester & Das Maikäfermädchen - Gina Mayer - E-Book
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Das Lied meiner Schwester & Das Maikäfermädchen E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Zwei Romane von Gina Meyer in einem E-Book.

Das Lied meiner Schwester.

Es sind die Zeiten von Swing und Jazz – nur nicht im Deutschland der dreißiger Jahre. Orlanda hat ihre Anstellung an der Düsseldorfer Oper verloren und entdeckt als Sängerin der Melody Girls die Swingmusik für sich. Sie steht zwischen zwei Männern, dem Jazzgeiger Leopold und dessen Freund Clemens. Als ihrem Quartett von den Nazis Auftrittsverbot erteilt wird, schließt sich Orlanda einer Widerstandsgruppe an, in der ihre Schwester Anna organisiert ist. Kurz nachdem Orlanda Leopold und Clemens in ihre Aktivitäten einweiht, wird eine der Schwestern verhaftet. Wer hat sie verraten?

Im Gefängnis entdeckt die junge Frau, dass sie schwanger ist, und beginnt Briefe an ihr ungeborenes Kind zu schreiben, denn sie weiß, dass es ohne seine Mutter aufwachsen wird ...

Das Maikäfermädchen.

Herbst 1945. Deutschland liegt in Trümmern, von Düsseldorf sind nur noch Ruinen übrig. Die Hebamme Käthe Arensen leidet unter der Trennung von ihrem Mann Wolf, der im Krieg verschollen ist. Eines Nachts taucht eine junge Frau bei ihr auf. Ingrid ist schwanger und völlig verstört. Sie will Käthe nicht sagen, wer der Vater ihres Kindes ist, sondern summt immer nur die Melodie von „Maikäfer flieg“. Käthe zögert nicht lange, sie hilft Ingrid, indem sie in einer halb zerstörten Arztpraxis eine Abtreibung vornimmt. Ingrid verschwindet nach dem Eingriff spurlos, aber wenige Wochen später erscheint ein anderes junges Mädchen bei Käthe, das ebenfalls schwanger ist. Zusammen mit ihrer Freundin Lilo beschließt Käthe, bedrängten Frauen zu helfen – trotz der Gefahr, als „Engelmacherin“ im Gefängnis zu landen.

Dann taucht Ingrid wieder auf, erneut schwanger, und beginnt Käthe zu erpressen ...

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Seitenzahl: 1225

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Informationen zum Buch

Das Lied meiner Schwester:

Es sind die Zeiten von Swing und Jazz – nur nicht im Deutschland der dreißiger Jahre. Orlanda hat ihre Anstellung an der Düsseldorfer Oper verloren und entdeckt als Sängerin der Melody Girls die Swingmusik für sich. Sie steht zwischen zwei Männern, dem Jazzgeiger Leopold und dessen Freund Clemens. Als ihrem Quartett von den Nazis Auftrittsverbot erteilt wird, schließt sich Orlanda einer Widerstandsgruppe an, in der ihre Schwester Anna organisiert ist. Kurz nachdem Orlanda Leopold und Clemens in ihre Aktivitäten einweiht, wird eine der Schwestern verhaftet. Wer hat sie verraten? Im Gefängnis entdeckt die junge Frau, dass sie schwanger ist, und beginnt Briefe an ihr ungeborenes Kind zu schreiben, denn sie weiß, dass es ohne seine Mutter aufwachsen wird...

Das Maikäfermädchen:

Herbst 1945. Deutschland liegt in Trümmern, von Düsseldorf sind nur noch Ruinen übrig. Die Hebamme Käthe Arensen leidet unter der Trennung von ihrem Mann Wolf, der im Krieg verschollen ist. Eines Nachts taucht eine junge Frau bei ihr auf. Ingrid ist schwanger und völlig verstört. Sie will Käthe nicht sagen, wer der Vater ihres Kindes ist, sondern summt immer nur die Melodie von „Maikäfer flieg“. Käthe zögert nicht lange, sie hilft Ingrid, indem sie in einer halb zerstörten Arztpraxis eine Abtreibung vornimmt. Ingrid verschwindet nach dem Eingriff spurlos, aber wenige Wochen später erscheint ein anderes junges Mädchen bei Käthe, das ebenfalls schwanger ist. Zusammen mit ihrer Freundin Lilo beschließt Käthe, bedrängten Frauen zu helfen – trotz der Gefahr, als „Engelmacherin“ im Gefängnis zu landen. Dann taucht Ingrid wieder auf, erneut schwanger, und beginnt Käthe zu erpressen...

Informationen zur Autorin

Gina Mayer, 1965 in Ellwangen geboren, lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf. Bevor sie freie Autorin wurde, hat sie als Werbetexterin gearbeitet. Als Aufbau Taschenbuch sind lieferbar: „Zitronen im Mondschein“ und „Das Lied meiner Schwester“ sowie „Im Land des Regengottes“. Im Verlag Rütten & Loening erschien von ihr: „Leonore und ihre Töchter“.

Mehr zur Autorin unter www.ginamayer.de

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Gina Mayer

Das Lied meiner Schwester &Das Maikäfermädchen

Zwei Romane in einem E-Book

 

 

 

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Das Lied meiner Schwester

5. Juni 1964

ERSTER TEIL

Jonny spielt auf

Ulmer Höh’, 7. Oktober 1942

Präludium in g-Moll

Ulmer Höh’, 20. Oktober 1942

Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht

Ulmer Höh’, 24. Oktober 1942

Honeysuckle Rose

Lamentationes Jeremiae Prophetae

Ulmer Höh’, 3. November 1942

Stille Nacht, heilige Nacht

Ulmer Höh’, 7. November 1942

ZWEITER TEIL

Ein Freund, ein guter Freund

Ulmer Höh’, 12. November 1942

Schwarzwaldmädel

Ulmer Höh’, 16. November 1942

Ain’t we got fun

Ulmer Höh’, 5. Dezember 1942

Selig sind, die Verfolgung leiden

Ulmer Höh’, 7. Dezemer 1942

O Tod, du bist ein bittre Gallen

Ulmer Höh’, 18. Dezember 1942

DRITTER TEIL

Die Fahne hoch

Ulmer Höh’, 25. Dezember 1942

Let my people go

Ulmer Höh’, 1. Januar 1943

Swing Heil

Düsseldorf, den 3. Juni 1938

Ich mach alles mit den Beinen

Ulmer Höh’, 30. Januar 1943

Variation 1

Ulmer Höh’, 14. Februar 1943

Der Fliegende Holländer

Ulmer Höh’, 1. März 1944

La donna è mobile

Ulmer Höh’, 17. März 1943

Meine Seele hört im Sehen

Ulmer Höh’, 10. April 1943

VIERTER TEIL

Meerstern, ich dich grüße

Russland, den 22. Dezember 1941

Ulmer Höh’, 14. April 1943

Sing, Nachtigall, sing

Ulmer Höh’, 28. April 1943

Das ist ein Flöten und Geigen

Ulmer Höh’, 10. Mai 1943

Ubi caritas et amor Deus ibi est

Ulmer Höh’, 13. Mai 1943

Nocturne in g-Moll

Ulmer Höh’, 16. Mai 1943

That old black magic

Ulmer Höh’, 27. Mai 1943

Lamentationes Jeremiae Prophetae

Ulmer Höh’, 3. Juni 1943

5. Juni 1964

Danke

Das Maikäfermädchen

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

August 1948

Danke

Impressum

Gina Mayer

Das Lied meiner Schwester

Roman

 

 

 

 

Lass alle ihre Bosheit vor dich kommen und richte sie zu, wie du mich zugerichtet hast um aller meiner Missetat willen, denn meiner Seufzer sind viel, und mein Herz ist betrübt.

 

(Klagelieder 1, 22)

5. Juni 1964

Wie oft sie die Treppe zum Haus schon emporgestiegen war. Als kleines Kind an der Hand der Tante, später mit dem Geigenkasten unter dem Arm, dem Tornister auf dem Rücken. Die Stufen glänzten speckig wie ein altes Jackett. Sie waren flach, aber so tief, dass man unmöglich zwei auf einmal nehmen konnte. Bei Regen wurden sie glitschig, bei Frost spiegelglatt.

Heute schien die Sonne. Friederike ging trotzdem langsam, sie hatte keine Eile, oben anzukommen. Hin und wieder blieb sie sogar stehen und überlegte, ob sie umkehren sollte. Dann setzte sie sich doch wieder in Bewegung.

Es muss sein, dachte sie. Wir müssen reden.

Seit vorgestern war sie erwachsen. Einundzwanzig Jahre alt.

Thomas hatte sie zum Essen eingeladen und ihr einen Kompass geschenkt. »Damit du deinen Weg in die Zukunft findest.«

Noch zwölf Stufen bis zum Haus. Elf. Zehn. Wahrscheinlich hatte ihre Tante Kuchen gekauft und Tee gekocht.

Wie läuft das Studium, würde sie fragen.

Friederike blieb stehen. »Ich werde es abbrechen«, sagte sie halblaut. »Ich möchte nicht länger Musik studieren. Ich werde das Konservatorium verlassen.«

In der Luft zerplatzten die Worte wie Seifenblasen.

Ganz egal, wie sie es ausdrückte, es würde ihrer Tante nicht gefallen und ihrem Onkel auch nicht. Sie setzten so große Hoffnungen in Friederike. »Du kannst es richtig weit bringen«, sagten sie immer. »Wenn du nur willst.«

Aber Friederike wollte nicht mehr.

Sie war einundzwanzig Jahre alt. Sie studierte seit zwei Jahren an der Musikhochschule in Köln und würde als Violinistin immer mittelmäßig bleiben, egal, wie hart sie arbeitete.

Sie hatte es lange Zeit nicht wahrhaben wollen. Erst seit sie Thomas kannte, hatte sie den Mut, sich der Wahrheit zu stellen: Dass es der falsche Weg war.

Thomas und Friederike hatten sich vor einem halben Jahr auf der Geburtstagsfeier eines Kommilitonen kennengelernt. Thomas studierte Architektur und stand kurz vor seinem Abschluss. Neben seinem Studium arbeitete er bereits in einem großen Architekturbüro. Er wusste, was er wollte, er wusste, was er konnte.

Ganz im Gegensatz zu Friederike, die nur wusste, was sie nicht konnte. Sie würde niemals die Karriere machen, von der ihre Zieheltern träumten. Vermutlich würde sie später Geigenstunden geben, für kleine Kinder, die genauso unbegabt waren wie sie selbst.

»Warum veränderst du dich nicht einfach?«, fragte Thomas Friederike, als sie sich besser kannten. »Fang etwas Neues an. Mach etwas, das dich wirklich interessiert. Vielleicht macht dir die Musik dann plötzlich wieder Spaß.«

»Friederike.« Ihre Tante öffnete nach dem ersten Klingeln, als ob sie hinter der Haustür auf Friederike gewartet hätte. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Kind.«

Wie weich und vertraut sich ihre Umarmung anfühlte. Ich kann es ihr nicht sagen, dachte Friederike. Ich kann sie doch nicht so enttäuschen.

Ihre eigenen Eltern waren im Krieg ums Leben gekommen, Friederike konnte sich gar nicht mehr an sie erinnern. Sie war bei ihrer Tante und deren Mann aufgewachsen. Mit fünf hatten sie sie zum Geigenunterricht geschickt, mit sechs hatte sie ihr erstes eigenes Instrument bekommen. Deine Eltern wären so stolz auf dich gewesen, hatten sie ihr ein ums andere Mal versichert.

»Ist Onkel nicht da?« Im Wohnzimmer hing Friederikes Kindergeige an der Wand, das Griffbrett zerkratzt und abgespielt. Ein stummer Vorwurf.

»Er kommt gleich. Ich habe uns Tee gemacht.« Der Kuchen stand schon auf dem Tisch. Der Blumenstrauß in der Glasvase, das Kaffeegeschirr mit dem blau-weißen Zwiebelmuster, alles war genau wie immer und doch ganz anders. Sie nahmen Platz und plauderten über dies und das, während Friederikes Herz immer heftiger zu schlagen begann. Am Montag würde sie sich im Universitätsklinikum in Köln um einen Ausbildungsplatz als Hebamme bewerben. Worauf wartest du noch, hatte Thomas sie gefragt. Es ist dein Leben.

Sie holte tief Luft.

»Ich muss dir etwas sagen.«

Friederike und ihre Tante sprachen den Satz gleichzeitig aus. Sie lachten beide nervös.

»Du zuerst«, sagte Friederike.

Die Tante zögerte einen Moment lang, dann nickte sie. »Wir möchten dir zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag etwas ganz Besonderes schenken. Ich wollte eigentlich auf deinen Onkel warten, bevor ich es dir gebe, aber nun …«

Bitte keine Geige, dachte Friederike. Lieber Gott, lass es keine neue Geige sein.

Ihre Tante räusperte sich. Dann stand sie auf und holte ein kleines Paket aus dem Buffet. Es war keine Geige, das erkannte Friederike sofort. Es war ein Stapel Papier, Briefumschläge, von einem Seidenband zusammengehalten.

»Sie sind von deiner Mutter. Für dich.«

»Von meiner … meine Mutter hat mir Briefe geschrieben? Wieso, ich …«

»Du wirst es verstehen, wenn du sie liest.«

»Ihr hattet sie die ganze Zeit? Warum gebt ihr sie mir erst jetzt?«

»Weil … wir waren beide der Meinung, dass … auch das wirst du verstehen.«

Wie aufgeregt ihre Tante war. Ihre Hände zitterten, als sie Friederike das Bündel reichte.

Friederikes Hände zitterten ebenfalls, als sie das hellblaue Seidenband löste und den ersten Brief aus dem Umschlag zog.

Sie begann zu lesen.

ERSTER TEIL

Jonny spielt auf

Aus dem Schornstein der Lokomotive kam echter Qualm, er stieg in einer leuchtend weißen Wolke in den schwarzen Bühnenhimmel. Eine Dampflok auf der Bühne, das war neu, so etwas hatte man noch nicht gesehen.

Auf dem Perron stand Clemens Haupt und schwitzte unter seiner schwarzen Lockenperücke. Schwitzen war gefährlich, das hatte er schon in den Proben festgestellt. Wenn man zu sehr schwitzte, dann lösten die Schweißtropfen die schwarze Farbe und hinterließen rosa Linien in der Schminke. Deshalb hatte Liddy, die Maskenbildnerin, Puder auf die schwarze Schicht getupft. »Puder hält das Ganze zusammen«, erklärte sie ihm. Sein Gesicht juckte höllisch, aber an Kratzen war natürlich nicht zu denken.

Die Dampflok stieß ein grelles Tuten aus. Das Publikum jubelte. Technische Effekte auf der Bühne kamen an, eine tutende Dampflok, ein klingelndes Telefon, ein röhrender Staubsauger, das begeisterte die Leute viel mehr als fünfmal in Folge das hohe C.

»Die Stunde schlägt der alten Zeit«, sang der Chor. »Die neue Zeit bricht jetzt an. Versäumt den Anschluss nicht. Die Überfahrt beginnt ins unbekannte Land der Freiheit.«

Clemens hob seine Geige und spähte dabei nach oben. Die große Bahnhofsuhr senkte sich langsam zu ihm herab. Jetzt kam das Finale, der Höhepunkt, wenn er nun nur nicht stolperte wie neulich in der Probe. Er setzte mit einem eleganten Sprung auf die Uhr, die sich im selben Moment verwandelte. Das Ziffernblatt, das nur eine Filmprojektion gewesen war, verschwand, aus der Uhr wurde eine Weltkugel, die langsam zu rotieren begann, während Clemens oben auf dem Nordpol stand und auf seiner Geige fiedelte, ohne natürlich einen Ton zu produzieren, denn er konnte gar nicht Geige spielen.

Die Melodie, die man hörte, spielte in Wirklichkeit Leopold Ulrich, der erste Geiger im Orchester.

»Die Überfahrt beginnt, so spielt uns Jonny auf zum Tanz. Es kommt die neue Welt übers Meer gefahren mit Glanz und erbt das alte Europa durch den Tanz«, sang der Chor.

Clemens fiedelte, Leopold geigte, und die anderen Schauspieler, Max, Yvonne, der Manager, die Polizisten und Anita, tanzten um den Globus herum, in einer sich steigernden, wilden Ekstase. »Denn seht, er tritt unter euch, und Jonny spielt auf«, sangen sie.

Der Zwischenvorhang fiel. Clemens sprang von der Weltkugel, dann wurde er von den beiden Polizisten nach vorn geschoben, durch den Vorhang an die Rampe. Sänger und Orchester waren verstummt. Alles war still. Er war allein. Allein vor dem dunklen, bis auf den letzten Platz ausverkauften Zuschauerraum.

Während er die Geige hob und an die Wange legte, konnte er das Publikum dort unten atmen hören. Dann begannen sie beide zu spielen, Clemens und Leopold, eine einsame Melodie, hingebungsvoll und süß. Es ist zu Ende, schluchzte die Geige. Bis im Orchester der Trommelwirbel einsetzte und dann das Becken. Aus.

Im Zuschauerraum ging das Licht an. Clemens schloss die Augen. Einen Moment lang war alles möglich. Erfolg oder Niederlage, Triumph oder Versagen.

Dann donnerte der Applaus los, ein Tornado, der ihn fast umwarf. Er riss die Augen wieder auf und sah Zuschauer, die von ihren Sitzen aufgesprungen waren, die jubelten und klatschten und Rosen auf die Bühne warfen. Bravo, bravissimo! Er schwitzte, der Schweiß lief jetzt in Strömen über sein Gesicht, aber es war egal, die Sache war entschieden.

Es war der 18. Juni 1929.

Clemens Haupt. Dieser Name, den bislang keiner gekannt hatte, würde morgen in allen Zeitungen stehen. »Wenn du das schaffst, dann bist du wer«, hatte Leopold zu ihm gesagt. Und Leopold hatte recht.

Vor ihm lag die Zukunft und glänzte.

Hinter ihm lag die Vergangenheit, die dunkle, armselige, elende Vergangenheit, die endlich vorbei war. Die Tage, in denen er sich mit der Mütze in der Hand in den Opernhäusern zum Vorsingen eingefunden hatte. In denen er vier Takte aus dem Freischütz gesungen hatte und zwei aus dem Fidelio, nur damit der Regisseur ungeduldig in die Hände klatschte. »Danke sehr.« Weggetreten. Fast ein Jahr war er durch ganz Deutschland gereist, immer auf der Suche nach einem Engagement, nach einer Chance. Um Geld zu verdienen, hatte er Kohlen geschippt, Kartoffeln geklaubt und auf dem Bahnhof Koffer geschleppt, aber er hatte die Hoffnung nie aufgegeben.

In Duisburg hatten sie ihm dann endlich eine Rolle gegeben. Nicht den Jago, für den er vorgesungen hatte, sondern den Schankwirt, der nur ein paar Takte zu singen hatte. Aber immerhin gab es Geld, für jede der zwanzig Vorstellungen des Othello fünfzehn Mark und für die Premiere noch einmal zehn extra.

»Wenn man erst einmal den Fuß in der Tür hat, kommt es nur noch drauf an, mit dem Rest des Körpers nachzudrängen. Dann ist man drin«, sagte Leopold, der es wissen musste. Leopold war schon seit einem Jahr festes Mitglied im Opernorchester, obwohl er erst zweiundzwanzig war, ein Jahr jünger als Clemens. »Erste Geige«, sagte er. »Auch wenn es andere gibt, die es durchaus besser verstehen als ich und doch nur die zweite Geige spielen. Aber ich hab meinen Fuß zur richtigen Zeit an die richtige Stelle gesetzt.«

Leopold wusste, wie die Dinge an der Oper liefen. Wenn er Clemens damals nicht auf die Sprünge geholfen hätte, hätte Clemens es nie geschafft.

»Die wollen den Jonny wieder hierher nach Duisburg holen«, hatte er ihm im Januar erzählt.

»Den was?«

»Menschenskind, ›Jonny spielt auf‹ von Ernst Krenek. Das haben sie vor zwei Jahren schon einmal gebracht! War ein Riesenerfolg. Hast du nichts davon mitbekommen?«

Clemens zuckte mit den Schultern. Es gab so viele erfolgreiche Opern und Operetten, wer sollte da noch den Überblick behalten?

»Ist ja auch ganz egal. Auf jeden Fall ist das ein ganz dolles Ding, diese Oper. Ungeheuer modern, wenn du verstehst, was ich meine. Flotte Musik, ganz im Jazzstil.«

Clemens fragte sich, worauf Leopold hinauswollte.

»Die Besetzung steht schon mehr oder weniger fest.« Leopolds Stimme klang jetzt ungeduldig. »Willi soll wieder den Jonny spielen.«

»Der Willi? Na, hoffentlich packt er das.« Willibald Kroner war der Star der Duisburger Oper, ein begnadeter Sänger, wenn er nicht gerade betrunken war, was in letzter Zeit leider des Öfteren vorkam.

»Mensch, Clemens, das ist die falsche Haltung. Hoffentlich packt er das nicht, muss es heißen!«

»Was meinst du denn?«, fragte Clemens, obwohl er nun doch langsam zu begreifen begann. »Die lassen mich doch nie und nimmer ran.«

»Freiwillig bestimmt nicht. Du musst es eben richtig anstellen.«

Am Vorabend der ersten Probe besuchten Leopold und Clemens Willibald Kroner. Sie brachten vier Flaschen Champagner mit, zwei Flaschen Brandy und drei Mädels aus dem Opernchor, Fritzi, Elsa und Milly. Willibald wirkte irritiert, als er ihnen die Tür öffnete, aber dann hob Leopold die Tüten mit den Flaschen hoch, so dass sie sich mit einem leisen Klirren berührten, und das Geräusch räumte bei Willi sämtliche Bedenken aus. Er hatte ein möbliertes Zimmer unter dem Dach, erstaunlich klein und düster für einen so erfolgreichen Sänger wie ihn, aber vielleicht vertrank er seine Gage ja immer sofort.

»Wir wussten, dass man mit dir Spaß haben kann«, erklärte Leopold, nachdem vier der sechs Flaschen leer waren und Elsa bei Willi auf dem Schoß saß. Willibald hatte allein so viel getrunken wie sie alle zusammen. Er mischte sich Cocktails aus Brandy und Champagner, drei Viertel Brandy, ein Viertel Champagner, und schüttete das Ganze in sich hinein, als wäre es Wasser.

»Nun ist es aber genug«, sagte Fritzi, als er sich am Korken der letzten Champagnerflasche zu schaffen machte.

»Was ist genug? Nichts ist genug.« Willis Replik war nicht brillant, aber überraschend klar und deutlich, wenn man bedachte, wie viel Schnaps er intus hatte.

»Du musst morgen auf die Bühne«, erklärte Fritzi. »Wenn du das vermasselst, dann wird der Reichmüller sauer.«

»Morgen ist ein anderer Tag«, entgegnete Willi bestimmt, und Leopold prostete ihm anerkennend zu, woraufhin Fritzi verächtlich schnaubte.

Fritzi Albrecht war Sopranistin im Opernchor, sie stand immer in der ersten Reihe, weil sie so klein und zierlich war, dass sie ansonsten den Dirigenten nicht gesehen hätte. Sie trug ihr rotbraunes Haar in einem Bubikopf, der auf ihren Wangen in zwei Kringeln auslief. Die vollen Lippen waren leuchtend rot geschminkt, und ihre Schuhe hatten hohe Absätze, aber trotzdem wirkte sie wie eine Vierzehnjährige, dabei war sie schon einundzwanzig.

Willi schenkte noch einmal nach, aber Fritzi gab jetzt keine Ruhe mehr, bis sie alle aufbrachen. Willibald versuchte Elsa aufzuhalten, zuerst mit Worten, und als das nicht funktionierte, mit seinen Händen, aber sie entkam ihm.

Für Willi waren die Dinge gelaufen, er wusste es nur noch nicht. Er erfuhr es jedoch in den nächsten Tagen.

Nachdem er am Morgen nicht zur Probe erschienen war, bekam Regisseur Reichmüller einen Tobsuchtsanfall. Als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, machte Clemens, der den dritten Polizisten spielen sollte, den zaghaften Vorschlag, dass er doch selbst … Rein zufällig habe er die Rolle kürzlich für ein Vorsingen studiert.

»Ach, so habt ihr euch das also gedacht«, sagte Fritzi verächtlich, als Clemens zwei Wochen später die Rolle bekam und Willi im Büro seine Papiere abholen konnte. »Der arme Willibald. Ihr Schweine habt ihn reingelegt.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Clemens mit ehrlicher Empörung. Er sah wirklich keinen Grund, sich Vorwürfe zu machen. Indem Reichmüller ihm die Rolle gegeben hatte, hatte er ihm Absolution erteilt. Es war doch nun einmal so, dass Clemens niemals zum Zug gekommen wäre, wenn er sich nicht selbst geholfen hätte. Er hatte sich eine Chance verschafft, eine winzige Chance, die anderen Leuten in die Wiege gelegt oder in den Schoß geworfen wurde. War das ein Verbrechen? Sicherlich, der arme Willibald konnte einem leidtun, aber früher oder später wäre seine Karriere ohnehin zu Ende gewesen, so wie der soff.

»Das weißt du ganz genau«, sagte Fritzi abfällig, die von seiner Gedankenkette nichts mitbekommen hatte.

Von diesem Tag an ignorierte sie Clemens. Sie stakste auf ihren hohen Absätzen an ihm vorbei und schaute einfach durch ihn hindurch.

Auch jetzt starrte sie vermutlich voller Verachtung, denn der Zwischenvorhang hatte sich wieder gehoben, und der Chor stand hinter Clemens auf der Bühne. Aber was kümmerte ihn das, an diesem Tag, zu dieser Stunde, in diesem Moment? Er war jetzt ein Star.

Clemens bückte sich, hob eine der Papierrosen auf, die man zu ihm hochgeworfen hatte, roch scherzhaft daran und stellte zu seiner Überraschung fest, dass sie tatsächlich duftete, man hatte sie wohl mit Rosenöl parfümiert. Dann schleuderte er die Blume zurück ins Publikum, wo eine dicke Frau sie einem hübschen jungen Mädchen wegschnappte. Nimm sie, dachte er großzügig. Sollst auch etwas haben, worüber du dich freuen kannst.

Neben ihm stand auf einmal Marina Liebner, die die Yvonne gesungen hatte. Sie lächelte ihn an und reichte ihm die Hand, er brauchte einen Moment, bis er verstand, dass er sie greifen sollte, damit sie sich gemeinsam verbeugen konnten. Sie zählte leise, bei drei neigten sie sich nach vorn. Als Clemens den Oberkörper wieder hob, stand Marina schon wieder aufrecht da und winkte ins Publikum. Das ärgerte ihn, aber nur ganz kurz. Das nächste Mal würde er es geschickter anstellen.

»Acht Vorhänge«, sagte Reichmüller, der am Ende auch noch auf die Bühne gekommen war. »Das ist einfach grandios.«

Später wischte sich Clemens die schwarze Farbe aus dem Gesicht, in seiner eigenen Garderobe, die bis vor kurzem noch Willis Garderobe gewesen war. »Geht’s, oder brauchst du Hilfe?« Liddy streckte ihren Kopf zur Tür herein.

»Ich komm schon zurecht.« Er rieb mit einem Wattebausch über seine Stirn. Die Farbe ging nicht ganz ab, in den Augenlidern und an den Nasenflügeln hing immer noch ein Hauch von Schwarz, als er auf der Premierenfeier auftauchte. Das machte aber nichts, im Gegenteil, diese Spur Jonny stand ihm hervorragend. »Bravo!«, schrien die Musiker und Sänger, die Beleuchter, Bühnenbildner und Handwerker, der Regisseur und die Garderobenfrau. Sie stellten ihre Sektgläser ab und applaudierten wie verrückt.

»Ein Autogramm!«, rief Leopold, und alle lachten über das Zitat aus der Oper.

»Oh, my dear, so ist gut! Oh, you know, I love you!«, sang Clemens, und das Lachen wurde noch lauter. Er musste einen kurzen Moment lang an Willi denken, vielleicht lag es an dem Glas Champagner, das man ihm jetzt in die Hand drückte.

 

Seine Karriere lag vor ihm und glitzerte verheißungsvoll wie ein unendlich langer, zugefrorener Fluss in der Wintersonne. Er bewegte sich auch wie auf Eis, als er durch den Raum ging. Der Applaus und die bewundernden Blicke, die ihm folgten, all dies war so ungewohnt.

Dass Reichmüller ihm auf die Schulter klopfte und nickte.

Dass Marina ihn anlächelte, die ihn sonst immer ignoriert hatte, sobald die Probe beendet war.

Seine Karriere war auf ihrem Höhepunkt, in dieser Nacht der Premiere. Er würde natürlich noch sehr viel berühmter werden, seine großen Erfolge lagen alle noch vor ihm. Aber niemals wieder wäre es so wie heute: Dass die Wirklichkeit seine Erwartungen übertraf. Von dieser Nacht an würden seine Hoffnungen langsam, ganz langsam ausschwingen. So wie eine Schaukel, die keinen neuen Anschub mehr erhält, irgendwann zum Stillstand kommt.

In der Nacht seines ersten großen Erfolgs traf er Orlanda zum ersten Mal. Es passte zu ihrer Geschichte, dass sie ausgerechnet nach dieser Premiere begann.

Er sah sie, als er an die Bar trat, um sich ein Bier zu holen. Sie stand neben Fritzi Albrecht an der Theke und wartete darauf, ihre Bestellung aufzugeben. Er war sich ganz sicher, dass er ihr noch nie zuvor begegnet war, denn an ihr Gesicht hätte er sich erinnert. Ihre Züge waren scharf geschnitten, die Nase schmal und lang, der Mund sehr breit, die Wangenknochen hoch und weit. Ihr dunkelbraunes Haar trug sie nicht in einer Ponyfrisur wie die meisten anderen Frauen im Raum, sondern nach hinten gekämmt, was ihre Züge noch extremer erscheinen ließ. Sie war nicht besonders schön. Sie war außergewöhnlich.

»Bitte sehr, der Herr?« Der Kellner beugte sich mit einem servilen Lächeln so weit nach vorn, dass sein Oberkörper fast auf der Theke lag. Offensichtlich hatte er auch schon mitbekommen, dass Clemens der Star des Abends war.

»Ladies first«, sagte Clemens großzügig.

»Thank you, Jonny«, meinte Orlanda und lachte. Dieser Mund! Wenn sie lachte, wuchs er ins Unermessliche. Fritzi zog die Augenbrauen hoch und drehte sich in die andere Richtung.

»Willst du uns nicht vorstellen?«, fragte Clemens, nur um sie zu ärgern.

»Fräulein Mandel, Herr Haupt«, sagte Fritzi, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen. »Zwei Gin-Fizz.« Die letzten beiden Worte waren an den Barmann gerichtet.

»Orlanda«, sagte Orlanda und lachte wieder.

Orlanda. Nicht Lissy oder Betsy oder Fritzi, sondern Orlanda. Ein Name, so außergewöhnlich wie eine Barockkirche mitten in einem Vergnügungsviertel. Der Name passte zu ihr, zu ihrem aufsehenerregenden Gesicht.

Der Kellner stellte zwei Gin-Fizz auf die Theke und wandte sich dann wieder Clemens zu. Während er sein Bier bestellte, fragte er sich noch, warum Orlanda hier war, aber dann kam ein Kollege und zog ihn weg, und Clemens vergaß die Frage wieder.

 

Orlanda trank ihren letzten Schluck Gin-Fizz aus und stellte das leere Glas zurück auf die Theke. Sie gähnte.

»Müde?«, fragte Fritzi, ohne die Augen von einem hochgewachsenen Mann zu wenden, der schon die ganze Zeit mit Marina Liebner schäkerte.

»Vergiss ihn«, sagte Orlanda. »Er ist viel zu groß für dich.«

Die Bemerkung tat ihr leid, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte. Fritzi litt darunter, dass sie nur einen Meter vierundfünfzig groß war, auch wenn sie immer so tat, als ob es sie nicht kümmerte. »Die Männer übersehen einen einfach«, hatte sie Orlanda einmal anvertraut.

Orlanda und Fritzi waren Freundinnen, seit sie zusammen aufs Buths-Neitzel-Konservatorium in Düsseldorf gegangen waren, um Gesang zu studieren. Nach ihrem Abschluss hatte Fritzi ein Engagement in Duisburg bekommen, und Orlanda sang im Düsseldorfer Operettenhaus. Wenn eine von ihnen eine Premiere hatte, lud sie die andere ein, zur Vorstellung und hinterher zur Feier, auch wenn es von den Häusern nicht gern gesehen wurde, dass die Angestellten ihre Angehörigen und Freunde mitbrachten.

Der Mann, den Fritzi da anhimmelt, ist wirklich nichts für sie, dachte Orlanda. Nicht nur wegen seiner Größe, es war die Art, wie er dastand, die Hände in den Hüften, das Becken nach vorn. Es wirkte herausfordernd und arrogant.

»Ich will doch gar nichts von ihm«, sagte Fritzi und wandte endlich den Blick ab. »Das ist dieser Leopold, von dem ich dir erzählt habe«, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort. Leopold, Leopold … Orlanda versuchte sich zu erinnern, was Fritzi über den Kerl gesagt hatte. »Die Nummer mit Willibald«, half ihr Fritzi auf die Sprünge.

»Der Brandy und die verpasste Probe!«, rief Orlanda eine Spur zu laut. Hatte er sie gehört? Auf jeden Fall schaute er jetzt zu ihnen herüber. Sie spürte, wie sie rot wurde, aber sein Blick glitt nur über sie hinweg und wandte sich danach wieder der Liebner zu.

»Nicht so laut«, wisperte Fritzi, dabei war es ohnehin zu spät. »Ist das nicht erbärmlich? Ich meine, was er dem armen Willibald angetan hat?«

»Na, immerhin hat er es nicht zu seinem eigenen Nutzen getan. Er wollte seinem Freund zu einer Gelegenheit verhelfen, sich zu beweisen. Und der Jonny – also Clemens – hat seine Sache heute Abend richtig gut gemacht, das musst du zugeben.«

»Sicher. Aber ob es nur ein Freundschaftsdienst war – ich weiß es nicht.«

»Was denn sonst?«

Fritzi fuhr mit dem Zeigefinger auf dem oberen Rand ihres Cocktailglases entlang, bis es leise zu wimmern begann. »Aus Vergnügen«, sagte sie. Das Wimmern steigerte sich zu einem hellen Kreischen. Ihr Zeigefinger hielt an, das Glas verstummte. »Einfach so.«

»Weil er eifersüchtig auf Willibald war?«

Fritzi schüttelte den Kopf. »Einfach so«, wiederholte sie dann. »Weil es ihm gefiel. Weil er sehen wollte, ob funktionierte, was er sich ausgedacht hatte.«

Orlanda warf Leopold einen verstohlenen Blick zu. Er hatte wohl gerade einen Scherz gemacht, denn die Liebner lachte und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Er schaute ihr dabei zu, ein leises Lächeln auf den Lippen.

Fritzi interpretierte viel zu viel in die Sache hinein, dachte Orlanda. Es lag doch auf der Hand, warum dieser Leopold seinem Freund geholfen hatte. Clemens Haupt war jetzt in einer viel besseren Position, und bei nächster Gelegenheit würde er sich dafür revanchieren. So wusch eine Hand die andere.

Orlanda gähnte wieder. Ob Duisburg oder Düsseldorf, ob Musiker oder Sänger, an der Oper waren doch alle gleich. Man gab vor, dass man sich einen Dreck um Ruhm und Glanz und Ehre scherte – wahre Künstler stehen schließlich über diesen Dingen. Aber sobald sich eine Chance auftat, den anderen auf die Seite und sich selbst ins Rampenlicht zu befördern, fuhr man seine Ellenbogen aus wie Kämpfhähne ihre Flügel, warf sich in die Brust und ging zum Angriff über.

Der Barmann sah sie fragend an, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe nach Hause«, teilte sie Fritzi mit. »Es ist schon fast elf, und in einer halben Stunde fährt die letzte Bahn.«

»Ich könnte dich zur Station begleiten.« Fritzi hatte ganz offensichtlich noch keine Lust aufzubrechen.

»Nein, lass nur. Den Weg find ich schon allein.«

 

Der Himmel über dem Duisburger Opernhaus war aus schwarzem Samt, darunter hing ein zarter Schleier aus weißen Sternen. Orlanda hob das Gesicht und starrte in die weite Dunkelheit. Unendlichkeit, dachte sie. Ein Kollege hatte ihr vor kurzem erklärt, dass es das gar nicht gäbe. Er hatte ihr von Albert Einstein erzählt und von der Krümmung des Raums und der vierdimensionalen Raumzeit, aber sie hatte kein Wort verstanden. Es war ja auch nicht zu verstehen. Weil es nicht stimmte. Es geht immer weiter, dachte sie, hinter den Sternen liegen andere Sterne und Sonnen und Monde und neue Himmel und neue Welten. Es geht immer und immer weiter, und irgendwo in dieser Unendlichkeit gibt es vielleicht eine Welt, in der Menschen wohnen wie wir. In der eine Frau lebt wie ich, die in eben diesem Moment in die Unendlichkeit ihres Himmels schaut. Es machte sie ganz schwindlig, diese Vorstellung, sie hatte das Gefühl, dass sich der Boden unter ihren Füßen plötzlich nach oben kehrte und der Himmel nach unten, und sie stürzte in die Unendlichkeit des Universums hinein wie in ein tiefes Loch.

»Hoppla!« Eine Hand berührte ihre Schulter und brachte sie zum Stolpern. Oder war sie schon vorher gestolpert, und die Hand hatte sie gestützt?

»Lassen Sie das!« Sie wich einen Schritt zurück. Der Mann, der sie gerade berührt hatte, trat ebenfalls zurück, so dass sie nun in gebührendem Abstand zueinander standen. Es war dieser Leopold. Ausgerechnet.

»Sie!«

»Kennen wir uns?« Dasselbe leise Lächeln, mit dem er gerade noch die Liebner betrachtet hatte.

»Nein.« Mein Gott, warum war ihr nur so schwindlig? Sie hatte doch nur den Gin-Fizz getrunken und ein Glas Sekt.

»Ulrich«, sagte der Mann. Auf seiner Oberlippe saß ein dunkler Bart, der genau von einem Mundwinkel zum anderen reichte.

Ulrich. Hatte Fritzi nicht vorhin gesagt, dass er Leopold hieß? Was war denn nun richtig? Ulrich musste der Nachname sein, verstand sie dann, er hätte sich wohl kaum mit seinem Vornamen vorgestellt.

»Und … Sie?«

»Orlanda Mandel.«

»Sie sind eine Bekannte von Fräulein Albrecht. Kann ich Sie nach Hause begleiten? Mein Automobil steht dort hinten.«

Du liebe Zeit, was fiel dem Mann ein? Als ob sie mit einem wildfremden Kerl in ein Automobil steigen würde, noch dazu mitten in der Nacht. »Ich muss nach Düsseldorf. Ich nehme die Schnellbahn.«

»Aber ich fahre Sie gerne.«

Der Kerl war wirklich hartnäckig. »Wirklich, ich … Bemühen Sie sich nicht. Es ist auch nicht weit.« Das war gelogen. Von der Endstation der Schnellbahn auf der Graf-Adolf-Straße bis zu ihrer Wohnung in der Thalstraße brauchte man zu Fuß eine gute Viertelstunde. Nimm eine Taxe, sagte Anna immer, alles andere ist viel zu gefährlich. Aber Orlanda sparte sich das Geld lieber und ging zu Fuß.

»Das kommt gar nicht in Frage. Ich bringe Sie unter allen Umständen nach Hause. Bitte, vertrauen Sie mir.«

Hinterher fragte sie sich oft, warum sie nachgegeben hatte. Es war nicht ihre Art, sich überreden zu lassen. Auch Höflichkeit war nicht ihre Art. Dennoch war sie ihm zu seinem Automobil gefolgt und war eingestiegen.

Obwohl es ihr doch eigentlich widerstrebte.

 

Sein Automobil parkte direkt unter einer Straßenlaterne, in dem kalten Licht glänzte das Grün der Motorhaube wie nasses Gras. Die beiden Scheinwerfer machten Stielaugen, der quadratische Kühlergrill darunter war ein offenes Maul. »Ein Laubfrosch«, sagte sie.

»Sagen Sie das nicht so abfällig. Mein Opel ist mein ganzer Stolz. Ich habe ihn im letzten Jahr aus dritter Hand erworben.«

Er ließ sie auf der Beifahrerseite einsteigen. Dann kurbelte er den Wagen an, bis der Motor knatternd zum Leben erwachte, nahm auf dem Fahrersitz Platz und drückte den Gashebel neben dem Steuer.

Bevor er losfuhr, beugte er sich zu ihr hinüber und zog einen Seidenschal aus dem Fach über ihren Knien. »Hier. Legen Sie sich das Tuch um, damit Sie sich nicht verkühlen.«

Sie zögerte einen Moment lang. Wie seltsam, dass sie hier Seite an Seite in dem engen Automobil saßen, über dem offenen Verdeck nur der weite Nachthimmel und der kühle Fahrtwind, der jetzt an ihren Haaren zu zerren begann. Dabei kannten sie einander doch gar nicht.

»Legen Sie sich den Schal um«, beharrte er, ohne die Augen von der Straße zu nehmen. »Auf der Landstraße wird es noch viel stürmischer, und Sie sind nicht danach angezogen. Am Ende ist morgen Ihre Stimme weg. Sie sind doch auch vom Fach.«

Der letzte Satz war keine Frage, eher eine Feststellung. Sie fragte sich, wie er darauf kam, dass sie vom Fach war. Fritzi hatte es ihm bestimmt nicht verraten, und außer Fritzi kannte sie in Duisburg keiner.

»Damit liege ich doch richtig, oder?«

Sie legte das Seidentuch über die Haare, schlang es einmal um den Hals und band es unter ihrem Kinn fest. Der Stoff roch sanft nach Kölnischwasser. Sie versuchte sich die Frau vorzustellen, die den Schal vor ihr getragen hatte, und sah plötzlich Marina Liebner vor sich, die das Seidentuch über ihre rotgoldene Wasserwelle schlug und ein glockenklares Sopranlachen lachte.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass er sie mit süffisantem Lächeln betrachtete, aber als sie sich ihm zuwandte, blickte er geradeaus auf die Straße.

»Zurück zu Ihrem Engagement«, sagte er, als ob sie inzwischen das Thema gewechselt hätten. »Wo, sagten Sie, sind Sie angestellt?«

»Ich singe nicht«, entgegnete sie. Warum sagte sie das? Warum log sie ihn an? Es gab überhaupt keinen Grund dafür. Außer dass sie ihm ungern recht geben wollte.

»Nein? Was sind Sie dann? Schauspielerin?«

»Nichts von all dem. Ich bin … Krankenschwester«, hörte sie sich selbst sagen. Am Autofenster glitten hohe Stadthäuser mit Stuckverzierungen vorbei, im Wechsel mit Geschäften, deren Schaufenster auch zu dieser späten Stunde noch beleuchtet waren. »Kauft Erdal-Schuhwichse«, schrie eine gelbe Leuchtreklame in die Dunkelheit.

»Ach. Wohnen Sie im Schwesternheim?«

»Ich lebe mit meiner jüngeren Schwester zusammen. Unsere Eltern sind tot, also kümmere ich mich um sie.«

»Das ist vorbildlich von Ihnen.« Dieses Lächeln. Er glaubte ihr kein Wort, dabei stimmte die Geschichte doch. Nur dass sie selbst die kleine Schwester war.

Kurz nachdem ihr Vater gestorben war, hatte Anna sie von Saarn nach Düsseldorf geholt. Ihre Schwester hatte damals ihre Krankenschwesterausbildung im Evangelischen Krankenhaus schon beendet und aufgrund der besonderen Umstände die Erlaubnis erhalten, außerhalb des Krankenhauses eine Wohnung anzumieten. Orlanda war aufs Konservatorium gegangen, und Anna hatte im Evangelischen Krankenhaus gearbeitet, als eine der wenigen externen Schwestern. Am Anfang hatten ihre Kommilitonen am Konservatorium sie darum beneidet, dass sie mit ihrer Schwester zusammenlebte. »Da kannst du tun und lassen, wie es dir beliebt«, meinten sie, und ein paar schlugen sogar vor, dass man sich doch zum Feiern bei ihr treffen könne. Aber da kannten sie Anna schlecht. Als sie sich bereit erklärt hatte, Orlanda aufzunehmen, hatte sie ihrem Vormund versprochen, sich um die seelische und moralische Erziehung ihrer Schwester zu kümmern. Und dieses Versprechen löste sie nun gewissenhaft ein. Nach jedem Essen wurde die Küche gefegt, jeden Sonnabend das Treppenhaus gewischt und abends gebadet, Sonntagmorgen ging man in die Kirche, und alle vier Wochen schleppten sie ihre Teppiche in den Hof und klopften sie auf der Teppichstange aus. Wenn Orlanda abends im Operettenhaus auftrat, hielt sich Anna so lange wach, bis sie wieder zu Hause war. Auch heute war sie vermutlich aufgeblieben und wartete, obwohl sie morgen Frühdienst hatte und schon um halb fünf im Krankenhaus sein musste. Anna war wie eine Mutter, nur schlimmer.

Leopold Ulrich beschleunigte das Tempo. Die letzten Häuser und Lichter von Duisburg lagen inzwischen weit hinter ihnen, aber Düsseldorf war noch nicht in Sicht. Das Automobil ratterte durch die Dunkelheit, zwei schmale Lichtkegel vor sich herschiebend wie ein Kettentraktor seine Schaufel. Die Nadel auf dem runden Tachometer kletterte von vierzig auf fünfzig und zitterte dann in Richtung sechzig. Die Dunkelheit flog an ihnen vorbei, über sie hinweg. Der Fahrtwind dröhnte in ihren Ohren und riss an den Enden ihres Schals. Orlanda legte den Kopf in den Nacken. Über ihr lag der weiße Sternennebel, so ruhig und still. Ihre rasende Fahrt berührte ihn nicht, der ganze Erdball berührte ihn nicht.

»Geht es Ihnen zu schnell?« Er musste ihr die Frage zwei Mal zurufen, bis sie sie über den Fahrtwind hinweg verstand.

»Nein!«, rief sie zurück. »Es ist schön!«

Er lachte. »Sie sind anders als die anderen. Die meisten Damen steigen genau zwei Mal bei mir ein. Zum ersten und zum letzten Mal.«

Über diese Sätze dachte sie eine ganze Weile nach. Die meisten Damen, hatte er gesagt. Wie viele Damen er wohl schon in seinem Automobil mitgenommen hatte? Zehn, zwanzig oder noch mehr? Die meisten ließen sich kein zweites Mal auf ihn ein. Ob es wirklich nur daran lag, dass er ihnen zu schnell fuhr?

Und dann der erste Satz. Sie sind anders als die anderen. Was wollte er damit sagen? Dass sie im Gegensatz zu den anderen ganz ohne Zweifel wieder bei ihm einsteigen würde?

Sei dir da nur nicht zu sicher, dachte sie.

Die ersten Häuser von Düsseldorf tauchten am Straßenrand auf, wie eine Vorhut duckten sie sich in der Dunkelheit hinter Gartenzäunen aus Holz und Ziegelmauern. Je näher die Stadt kam, desto enger rückten die Gebäude zusammen. Auch die Straßenlaternen standen zuerst nur vereinzelt, sie warfen auf das Gefährt gelbe Lichtstreifen, die von der Motorhaube über die beiden Insassen bis zum Heck wanderten und hinter ihnen auf der Straße liegen blieben. Immer schneller folgten die Lichtstreifen aufeinander, obwohl Leopold jetzt viel langsamer fuhr.

Dann glitten sie die Königsallee entlang, links lag der Stadtgraben, rechts starrten Kleiderpuppen mit toten Augen aus den hell erleuchteten Schaufenstern in die Nacht.

Ihre Wohnung lag im vierten Stock, Orlanda sah das Licht im Fenster, sobald sie in die Thalstraße einbogen. »Nun haben Sie einen weiten Umweg für mich gemacht«, sagte sie, als das Automobil am Straßenrand hielt. Er schaltete den Motor aus und wandte sich ihr zu. Wie still es plötzlich war, so still, dass man deutlich hören konnte, wie sie schluckte. Sie wartete darauf, dass er ausstieg, um ihr die Autotür zu öffnen, aber er regte sich nicht. Er sah sie nur an. Sie griff also selbst nach dem Türhebel. Erst als sie schon einen Fuß auf dem Bürgersteig hatte, fiel ihr der Schal wieder ein. Als sie ihm das Tuch reichte, berührten sich ihre Finger.

»Orlanda!« Die vorwurfsvolle Frauenstimme kam von oben, direkt aus dem Himmel. Orlanda fuhr erschrocken zurück, auch Ulrich saß plötzlich in Habachtstellung hinter dem Steuer. »Es ist so spät«, rief die himmlische Stimme vorwurfsvoll. Orlanda schaute nach oben und blickte in die Augen ihrer Schwester, die sich aus dem offenen Fenster im vierten Stock lehnte.

»Ich komme ja schon«, murmelte sie, obwohl Anna sie unmöglich hören konnte.

»Ihre jüngere Schwester?«, fragte Ulrich spöttisch.

»Auf Wiedersehen.« Sie reichte ihm die Hand, aber kaum dass er sie ergriffen hatte, entzog sie sie ihm wieder. »Vielen Dank noch einmal.«

»Grüßen Sie Ihre Schwester von mir«, sagte er, als sie fast schon auf der Straße stand. »Und passen Sie gut auf sie auf.«

Sie schlug die Wagentür ins Schloss und ging zum Haus, ohne ihn noch einmal anzuschauen. Sie verwünschte sich selbst für ihre Lüge. Sie verwünschte Anna, die sie wie ein kleines Kind behandelte. Aber am allermeisten verwünschte sie Ulrich oder Leopold oder wie auch immer er heißen mochte. Dabei hatte sie gar keinen Grund dafür. Vielleicht verwünschte sie ihn ja genau deshalb.

Ulmer Höh’, 7. Oktober 1942

Mein Kind,

mehr als eine halbe Stunde sitze ich nun schon hier, ein leeres Blatt vor mir. Anstatt zu schreiben, kaue ich an meinem Bleistift, er schmeckt bitter. Ich weiß nicht, wie ich meinen Brief beginnen soll. Ich schreibe an mein Kind. Mein unbekanntes Kind. Mein fremdes, fernes, nahes Kind. Mein liebes Kind.

Seit einer Woche weiß ich von Dir, geahnt habe ich es schon länger und wollte es doch nicht wahrhaben. Wenn ich nicht an Dich dächte, wenn ich Dich nicht erwähnte, wenn niemand von Dir wüsste, redete ich mir ein, dann würdest Du wieder verschwinden. Auf genauso stille und rätselhafte Weise, wie Du in mein Leben gekommen bist.

Ich weiß von Dir, ansonsten aber keiner. Es wird noch lange dauern, bevor irgendjemand etwas merken wird. Manchmal betrachte ich mich von oben herab. Man sieht nichts.

Ich werde niemandem von Dir erzählen. Du bist mein Geheimnis, und dieses Geheimnis werde ich besser bewahren als das andere. Du bist bei mir in Sicherheit, noch.

Es ist das einzig Richtige. Dennoch fühlt es sich an wie Betrug. Ich denke an meine Schwester, die keine Ahnung hat. Wie würde sie reagieren, wenn sie es wüsste? Ob sie sich freuen würde? Unter anderen Bedingungen vielleicht. Wahrscheinlich nicht.

Ich erwarte ein Kind. Ich erwarte Dich. Ich rechne nach, neun Monate ab dem Zeitpunkt, als mir bewusst wurde, dass ich schwanger bin. Die Geburt wird irgendwann in den Sommer fallen. Wo werde ich dann sein? Wenn ich darüber nachdenke, umfasst mich eine furchtbare Beklemmung, eine Panik, die in mir aufsteigt, die alles überschwemmt, mich selbst und Dich auch.

Du gehörst zu mir. Alles, was mir geschieht, wird auch Dir geschehen. Alles, was Dir geschieht, wird auch mir geschehen. Es ist furchtbar, und es ist ein Trost.

Deine Mutter

Präludium in g-Moll

Das schrille Geräusch des Weckers bohrte sich in einen Traum, in dem Anna über einen See ruderte. Ihr Vater saß im Bug des Bootes und faltete Schiffe aus Notenpapier, die er auf dem Wasser schwimmen ließ. Ohne die Augen zu öffnen, stellte Anna den Wecker aus. Ihr Kopf sank zurück auf das Kopfkissen, sie glitt wieder zurück in ihren Traum. Der See war noch da, aber ihr Vater war weg.

Dann fuhr sie erschrocken hoch. In einer halben Stunde begann ihr Dienst im Evangelischen Krankenhaus.

Im Dunkeln griff sie nach ihren Kleidern, schlüpfte in die Strümpfe und die graue Bluse. Es war jetzt schon warm im Zimmer, obwohl es erst vier Uhr war. Der Tag würde heiß werden. Als sie die weiße Schürze über ihrem Rock festband, hörte sie Orlanda leise seufzen. Ob sie auch von einem Ruderboot träumte? Mit wem sie wohl unterwegs war? Anna seufzte ebenfalls. Wegen Orlanda hatte sie stundenlang wach gelegen.

Gestern war sie erst um Mitternacht nach Hause gekommen. Ein Mann hatte sie begleitet, ein junger Mann, den Anna noch nie zuvor gesehen hatte. Anna hatte sich aus dem Fenster gelehnt und nach unten gerufen. Das war natürlich nicht richtig gewesen, das war ihr klargeworden, als Orlanda mit hochrotem Gesicht in die Wohnung gestürmt war. »Wie kannst du es wagen, mich so vorzuführen? Ich bin kein kleines Kind mehr!«

Sie hatten sich gestritten, danach war Orlanda ins Schlafzimmer gerannt und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.

Seit sie auf dem Konservatorium war, sind ihre Gefühlsausbrüche noch schlimmer geworden, dachte Anna, während sie ihre dünnen, hellbraunen Haare zu einem kleinen Knoten zusammensteckte. Die strenge Frisur ließ ihr Gesicht noch runder erscheinen. Sie setzte ihr Schwesternhäubchen auf und befestigte es mit zwei Haarnadeln. Das war besser. Sie liebte diese Haube, die Schwesterntracht, die sie gediegen und erwachsen erscheinen ließ. Eine Respektsperson mit einem festen Platz im Leben.

Wenn Orlanda doch ebenfalls zuerst einmal eine Schwesternausbildung gemacht hätte. Im Krankenhaus kam man mit Launen und Allüren nicht durch, und als Schwesternschülerin hätte sich Orlanda zwangsläufig an Disziplin und Ordnung gewöhnen müssen. Aber es war der letzte Wunsch ihres Vaters gewesen, dass Orlanda Gesang studieren solle, und gegen letzte Wünsche kam man nun einmal genauso wenig an wie gegen Orlandas Dickkopf.

Dabei hatte ihr Vater sich die Sache bestimmt ganz anders vorgestellt. Die Leonore aus dem »Fidelio«, die Konstanze aus der »Entführung aus dem Serail«, das waren die Rollen, in denen er seine Orlanda gerne gesehen hätte, aber nun hatte sie eine Anstellung im Operettenchor und sang »Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?«. Die frivolen Inszenierungen kamen natürlich an, die anderen Krankenschwestern waren ganz wild auf billige Karten zur Generalprobe im Kleinen Haus. Deine Schwester ist ein richtiger Star, hatte Schwester Emmy nach der Uraufführung von der »Zirkusprinzessin« kürzlich noch zu Anna gesagt.

Aber wenn Anna im Dunkel des Zuschauerraums saß, im zweiten Rang auf den Plätzen für fünfzig Pfennige, wenn sie Orlanda auf der Bühne sah, wie sie ihre langen Beine schwang und mit den geschminkten Lidern klimperte, dann musste sie immer an ihren Vater denken. Manchmal saß er sogar neben ihr, seine Augen unter den buschigen weißgrauen Augenbrauen blickten irritiert zur Bühne. Wo ist sie denn, fragte er Anna, und wenn sie auf Orlanda zeigte, in der zweiten Reihe ganz rechts, dann erkannte er sie nicht.

Orlanda. Ihr Vater hatte sie nach dem Komponisten Orlando di Lasso benannt, den er sehr verehrt hatte. Anna verdankte ihren Vornamen dagegen Anna Magdalena Bach, der zweiten Frau von Johann Sebastian Bach. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Namen vielleicht daran schuld waren, dass sie sich so unterschiedlich entwickelt hatten. Anna, die Vernünftige, Orlanda, die Künstlerin. Wie wäre ich geworden, wenn ich Giuseppa getauft worden wäre oder Giovanna?, überlegte sie.

Orlanda jedenfalls hatte ihren außergewöhnlichen Namen von Anfang an geliebt, obwohl sie in der Schule oft dafür verspottet worden war. »Es ist gut, wenn einen der Name von den anderen abhebt«, sagte sie.

Die Glocke der Dominikanerkirche schlug ein Mal. Viertel nach vier. Anna trank ihre Milch aus, während sie gleichzeitig nach ihrer Tasche griff.

 

Die Stadt lag um diese Zeit noch im Tiefschlaf, die Straßen waren menschenleer. In den Fenstern waren die Vorhänge zugezogen, schwere Eisengitter sicherten die Auslagen der Geschäfte. Oben auf den Hausdächern lag ein seidengrauer Schimmer, in weniger als einer Stunde würde die Sonne aufgehen, und dennoch würde es noch dauern, bis die Stadt ihre Augen aufschlug, denn es war Sonntag.

Ein Sonntag im Krankenhaus war ein Tag wie jeder andere. Auch sonntags mussten die Kranken gewaschen, die Betten gemacht, das Essen ausgeteilt, die Wunden verbunden werden. Nur für Anna war es ein ganz besonderer Tag. Jedenfalls seit vier Wochen. Seit sie sonntags im Gottesdienst die Orgel spielte. Vor etwas über einem Monat war der alte Organist ganz überraschend gestorben. Am Anfang hatte sich Anna gesträubt, als Schwester Afra sie gefragt hatte, ob sie nicht aushelfen könnte. Aber dann hatte sie es doch versucht, und nun übte sie dreimal in der Woche nach der Arbeit an der Orgel, und auch wenn sie es nicht zugab, nicht einmal sich selbst gegenüber, freute sie sich schon montags auf den nächsten Sonntag.

Die Absätze ihrer Schuhe hallten durch die Thalstraße. Eine gelbe Katze stolzierte vor ihr über den Bürgersteig, den Schwanz hoch erhoben. Ihr grüner Blick streifte Anna gelangweilt. Meine Stadt, sagte der Blick, um diese Zeit gehört die Stadt mir, und du bist nichts als ein Schatten in meiner Welt. Sie verschwand im Hinterhof der Provinzial-Feuer-Sozietät, wo sie die nächsten Stunden auf einem Stapel Bretter verbringen würde.

 

Sobald Anna das Krankenhaus betrat, beschleunigten sich ihre Schritte. Sie durchquerte die Eingangshalle, eilte die Treppe zum ersten Stock hoch und dann nach links, zum Schwesternzimmer. In ihrem Kopf begann die Uhr zu ticken. Ticktackticktack, machte sie, verlier keine Zeit! Die Uhr im Kopf gehörte dazu, als Krankenschwester befand man sich den ganzen Tag in einem Wettlauf gegen Krankheit, Tod und die unerbittliche Tagesordnung im Krankenhaus.

Die anderen waren schon im Schwesternzimmer versammelt, als Anna eintraf. Die Nachtschwestern erstatteten Bericht von der Frühschicht. Dazu gab es eine Tasse Kaffee mit Milch und Zucker. »Bei den Frauen war alles ruhig heute Nacht, dafür gab es bei den Männern sechs Neuzugänge«, erklärte Schwester Gerlinde.

»Schlägerei auf der Friedrichstraße«, ergänzte Schwester Cordula.

»Was Politisches?«, fragte Anna, und Cordula nickte. Anna fragte nicht weiter. Es war klar, wie es abgelaufen war, die Kommunisten oder die Sozialdemokraten waren wieder einmal mit den Völkischen zusammengeraten. Jede Gruppierung hatte sich in ihrem Stammlokal Mut angetrunken, dann hatten die einen den anderen aufgelauert und sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Und am Ende schleppten sich die Männer dann ins Evangelische Krankenhaus und ließen sich zusammenflicken.

»Sie liegen allesamt in Saal vier«, erklärte Trude. »Es ist natürlich ungünstig, weil sie alle unterschiedliche politische Ansichten haben …«

»Wer Ärger macht, fliegt auf der Stelle raus«, unterbrach sie Schwester Else, die Oberin. »Pöbeleien sind in einem Krankenhaus unakzeptabel.« Sie musste es wissen, denn sie war eine Disselhoff, eine Enkelin des berühmten Pastors Theodor Fliedner, der vor einem knappen Jahrhundert die Kaiserswerther Diakonissenanstalt gegründet hatte.

Schwester Else leerte ihre Kaffeetasse in einem Zug. Nachdem sie ihre Diakonissenhaube zurechtgerückt hatte, legte sie ihre Handflächen auf den Tisch und stemmte ihren massigen Körper nach oben. Auch die übrigen Schwestern erhoben sich und tranken ihren restlichen Kaffee im Stehen. Ticktackticktack, machte die Uhr. Der Wettlauf ging weiter.

Um halb sechs wurden die Patienten geweckt und gewaschen. Nach dem Fiebermessen gab es Frühstück. Um sieben war Annas Schwesternuniform nass geschwitzt. Sie arbeitete im Haupthaus, in den Krankensälen der dritten Klasse. Die Oberin hatte Anna schon mehrfach angeboten, sie in den neuen Flügel zu versetzen, in dem die Patienten der ersten und zweiten Klasse untergebracht waren. Aber sie hatte jedes Mal abgelehnt. Im Neubau gab es zwar komfortable Ein- oder Zweibettzimmer mit doppelt verglasten Schiebefenstern und fließend warmem und kaltem Wasser, aber die Mehrzahl der Erste-Klasse-Patienten behandelte die Krankenschwestern wie Dienstpersonal.

Hier in der dritten Klasse waren die Leute geduldiger und dankbarer, auch wenn sie oft zu siebt oder zu acht in einem Raum lagen, in dem sich schon frühmorgens die Hitze staute, als wäre es Mittag. »Öffnen Sie doch bitte schön das Fenster, Schwester«, stöhnte eine dicke Patientin. »Man wird ja bei lebendigem Leib gekocht.«

»Draußen ist es auch nicht kühler«, erklärte Anna. Dennoch ging sie zum Fenster. Als sie die Arme hob, um die Vorhänge aufzuziehen, roch sie ihren eigenen süß-säuerlichen Geruch, der ihr schon vorher aufgefallen war, den sie aber den Patienten zugeschrieben hatte. Sie öffnete das Fenster weit und beugte sich über das Brett nach draußen, als könnte sie den Geruch auf diese Weise loswerden.

»Schwester, um Gottes willen.« Die Frau im Bett hinter ihr brach in konvulsivisches Husten aus. »Wollen Sie mich umbringen? Der Zug! So machen Sie doch das Fenster zu.«

Anna lehnte sich noch weiter vor. Mitten im Hof putzte sich die gelbe Katze, die der Hausmeister der Provinzial-Feuer-Sozietät von ihrem Bretterstapel vertrieben hatte, weil er keine Katzen auf seinem Grundstück duldete.

Annas Hände umfassten das Holz des Fensterrahmens, das sich rissig und warm anfühlte wie alte Haut. In ein paar Stunden wäre es glühend heiß von der Sonne.

»Bitte, Schwester«, keuchte die Frau.

»Nun lassen Sie doch«, rief jetzt die Dicke wieder. »Frische Luft tut doch gut.«

»Sie liegen ja auch nicht am Fenster.«

»Wir können die Betten gerne wechseln, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Ich bin auch dafür, dass das Fenster geschlossen wird«, mischte sich jetzt eine dritte ein.

Anna machte das Fenster wieder zu und verließ den Raum. Ticktackticktack, weiter, schnell weiter, nur keine Zeit verlieren. Um zehn Uhr würde sie in die Kapelle gehen und Orgel spielen. Dann würde die Uhr eine Stunde lang stillstehen. Aber bis dahin mussten alle Verbände gewechselt und Medikamente ausgeteilt sein.

»Schwester!«, rief eine Patientin aus einer halboffenen Tür. »Ich glaube, ich habe wieder Fieber, können Sie einmal messen.«

»Schwester, ich habe Durst!«

»Etwas gegen die Schmerzen, ich vergehe!«

»Reichen Sie mir die Krücken!«

»Schwester, ich brauche einen Doktor!«

»Schwester! Schwester!«

Die Uhr tickte. Anna schwitzte.

 

Die alte Frau auf Zimmer neun hatte kurz vor zehn Uhr noch einen Erstickungsanfall bekommen. Bis Schwester Ursula zur Stelle war, die während des Gottesdienstes die Aufsicht über die Station führte, hatten die Glocken bereits aufgehört zu läuten. Anna hastete die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Als sie die Krankenhauskapelle betrat, saßen die übrigen Schwestern schon in ihren Bänken vorn auf der linken Seite.

Vor Anna stauten sich die Gottesdienstbesucher. Die Spitze der Prozession bildete ein alter Mann, der seine Krücken zentimeterweise voranschob und sich selbst hinterher. Ihm folgte Schwester Elfriede mit einer Frau im Rollstuhl, an dem breiten Gefährt kam keiner vorbei. Danach eine Reihe Alter, Kranker, Gebrechlicher. Wie Wallfahrer in der Hoffnung auf eine wunderbare Heilung schleppten sie sich keuchend, hustend, ächzend in die Kirche, unendlich langsam verteilten sie sich in den Bänken. Die weiblichen Gottesdienstbesucher nahmen auf der linken Seite hinter den Schwestern Platz, die männlichen Besucher setzten sich in die rechten Reihen.

Anna stellte sich auf die Zehenspitzen. War Orlanda in der Kirche? Sie konnte sie nirgends sehen, vielleicht kam sie noch. Oder sie war schon um halb neun zum Gottesdienst in der Friedenskirche gegangen.

Nein, sie wollte jetzt nicht an Orlanda denken. Sie musste sich sammeln, vor allem musste sie endlich zur Orgel. Auf dem Spieltisch lag der Zettel mit den Liedangaben, die der Pastor ausgesucht hatte und die sie vor dem Gottesdienst noch in ihrem Buch markieren musste. Aber der Spieltisch der Orgel in der Krankenhauskapelle stand nicht auf einer Empore, sondern hinten im Raum, und die Gottesdienstbesucher versperrten ihr den Weg dorthin. Ungeduldig spreizte Anna ihre Finger und nahm sie dann wieder zusammen. In ihrem Magen spürte sie ein leichtes Kribbeln.

 

Gestern Abend, als Orlanda in der Oper gewesen war, war Anna hierher in die Kapelle gekommen und hatte das Vorspiel geübt, das Präludium in g-Moll von Buxtehude. Sie hatte das Stück zuletzt vor vielen Jahren gespielt und war überrascht, wie schnell sie sich wieder daran erinnert hatte. Wenn nur diese Stelle in der zweiten Hälfte des Stücks nicht wäre, der Pedaleinsatz, mit dem sie schon früher ihre Schwierigkeiten gehabt hatte.

Als der Weg zur Orgel endlich frei war, sah sie ihn.

Ein Mann saß auf der Orgelbank, auf ihrer Orgelbank. Wusste er denn nicht, dass dieser Platz dem Organisten vorbehalten war? Neben ihm stand Schwester Afra, die früher immer den Balg getreten hatte, bis die Orgel endlich elektrifiziert worden war. Warum sagte sie ihm nicht Bescheid?

Jetzt kam sie auf Anna zu. »Der Herr Bredelin«, flüsterte sie.

»Bitte?«, fragte Anna, obwohl sie schon verstanden hatte.

Herr Bredelin war der neue Organist, er würde ab sofort die Orgel spielen, und sie selbst, Anna, hatte ausgedient.

Schwester Afra hob beide Hände, begütigend und abwehrend zugleich, als habe sie Angst, dass Anna den neuen Organisten angreifen könnte. Anna drehte sich um und ging wortlos weg, und während sie durch den Mittelgang nach vorn lief, begann der Organist zu spielen.

 

Wenn man nur die Ohren schließen könnte wie die Augen, dachte Anna. Sie wollte den Neuen nicht hören, sie wollte überhaupt nichts hören. Am liebsten hätte sie die Kirche direkt wieder verlassen, aber das ging natürlich nicht, man hatte sie ja nun gesehen.

Woher kam der neue Organist? Warum hatte man ihr nicht gesagt, dass er heute spielen würde? Dass ihre Zeit vorbei war, genauso plötzlich, wie sie begonnen hatte.

Sie hatte ihn kaum angesehen, aber dass er recht jung war, das hatte sie bemerkt. Wahrscheinlich kam er frisch vom Konservatorium. Wie Orlanda. Vielleicht kannten sich die beiden sogar, schließlich hatte auch Orlanda ihr Studium erst vor kurzem beendet.

Wenn man nur die Ohren schließen könnte wie die Augen, dachte Anna wieder, aber das ging nicht, und deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zuzuhören. Sie wusste es sofort. Er war gut. Es ließ sich nicht leugnen. Er war hervorragend.

Herr Canet, der alte Organist, den Anna in Gedanken bereits mein Vorgänger genannt hatte, hatte erbärmlich gespielt. Genauso wie der Organist davor.

Anna hatte ihre Sache hingegen ganz gut gemacht, das hatten auch die anderen Schwestern bestätigt, sogar Schwester Else hatte sie einmal gelobt. Allerdings musste man einräumen, dass die Oberin und die anderen Schwestern auch den alten Canet gelobt hatten. Es bedeutete also nichts.

Im Vergleich zu dem neuen Organisten, diesem Herrn Bredelin, war sie jedenfalls ein Nichts, genauso erbärmlich und lächerlich wie Canet. Wie dieser Bredelin mit der Orgel umging, als würde er schon jahrelang darauf spielen. Dabei hatte er doch höchstens ein oder zwei Stunden Zeit gehabt, das Instrument kennenzulernen. Wie gekonnt er die Register einsetzte. Die Stärke der Orgel waren die sanften Klänge, das hatte er offensichtlich sofort erkannt. Anna hatte sich in der letzten Woche an dem Choral »O Ewigkeit, du Donnerwort« von Johann Sebastian Bach versucht und war kläglich gescheitert, weil die Orgel eben nicht für Donnerworte taugte. Es gab nur zwei Prinzipale, die übrigen fünfzehn Register waren streichende Grundstimmen, Flötenregister und Aliquoten. Trost und Stärkung, Zuversicht und Hoffnung, darauf kam es in einem Krankenhaus an, und entsprechend war diese Orgel intoniert.

Pfarrer Sander sprach die Begrüßungsworte, danach schlug man Lied Nummer 374 auf. »Ich will dich lieben, meine Stärke«. Der alte Herr Canet, der ungeheuer stolz auf seine Fingerfertigkeit gewesen war, war dem Gesang immer vorausgeeilt. Als käme es darauf an, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sein Orgelspiel war keine Begleitung gewesen, sondern eine Vorhut.

Auch der neue Organist begleitete die Gemeinde nicht – er tanzte vielmehr um sie herum, flog über sie hinweg und fing sie doch im rechten Augenblick wieder auf, bevor sich ihr Gesang verlor.

Herr Bredelin. Er war sehr jung, das hatte Anna bemerkt, ansonsten erinnerte sie sich kaum daran, wie er aussah. Auf der Straße würde sie an ihm vorbeilaufen, ohne ihn zu erkennen. »Ich will dich lieben ohne Lohne auch in der allergrößten Not«, hörte sie die anderen singen, aber sie sang nicht mit.

Er spielte gut, der Neue, er spielte viel besser, als sie jemals spielen würde. Es war, als ob man sich an einen Tisch setzt, um ein Stück Torte zu essen, auf das man sich lange gefreut hat, nur um dann festzustellen, dass es sich ein anderer bereits genommen hat.

 

»Schwester Anna!« Als Anna sich umdrehte, sah sie Schwester Afra durch den langen Flur auf sie zueilen, gefolgt von dem neuen Organisten. »Wir haben Sie schon gesucht!«, rief Afra, wobei sie die Arme nach Anna ausstreckte, als wollte sie sie ergreifen und festhalten.

Anna hielt einen vollen Nachttopf in den Händen. Die Uhr tickte. Der Nachttopf musste geleert und ausgespült werden. Die Patientin von Nummer 34 wartete auf ein Abführmittel. In einer halben Stunde gab es Mittagessen.

»Bevor Herr Bredelin geht, wollte ich Sie einander doch einmal richtig vorstellen«, meinte Schwester Afra, als wären sie in einem Salon oder auf einem Ball und nicht in einem Krankenhausflur mit grünem zerkratztem Linoleum, auf das die Deckenlampen diffuse Lichtflecke warfen.

Es dauerte einen Moment, bis auch der Organist bei ihnen war. Er starrte zuerst auf den Nachttopf, auf dem glücklicherweise ein Deckel lag, und trotzdem konnte man den Inhalt riechen. Dann blickte er in ihr Gesicht.

»Das ist also unsere Schwester Anna«, erklärte Schwester Afra. »Sie hat vor Ihnen die Orgel bedient, aushilfsweise, und sie hat ganz wunderbar gespielt, ganz ausgezeichnet!«

Ganz ausgezeichnet, dachte Anna. Warum wurde dann überhaupt ein neuer Organist eingestellt, wenn sie so ausgezeichnet spielte?

»Herr Bredelin ist der neue Kantor der Friedenskirche, da betreut er unsere Kirche mit«, erläuterte Afra, als habe Anna ihre Gedanken laut ausgesprochen. »Wir haben ihn erst in der nächsten Woche erwartet, aber nun hat er es heute schon möglich gemacht, zu uns zu stoßen.«

Herr Bredelin öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, dann schloss er ihn wieder. Er war blass und schmal, nicht viel größer als Anna, die auch nicht gerade groß war. Dunkelbraune Locken fielen in leichten Wellen in seine Stirn, über seine Ohren.

»Sehr erfreut«, sagte Anna »Ich muss nun aber …« Zur Entschuldigung hob sie den Nachttopf ein Stück in die Höhe. Herr Bredelin nickte.

»Nun bleiben Sie doch wenigstens einen Moment.« Für Afra waren volle Nachttöpfe genauso normal wie blutige Tupfer und offene Wunden. Anna stellte den Nachttopf hinter sich an die Wand. »Unsere Schwester Anna ist sehr musikalisch«, sagte Afra so stolz, als wäre Anna ihre Tochter.

»Wo haben Sie das Orgelspielen gelernt?« Bredelins Stimme war weich und melodisch, sie klang genau so, wie er aussah.

»Mein Vater hat es mir beigebracht.«

»Die ganze Familie ist musisch begabt«, schwärmte Afra. »Die Schwester ist Opernsängerin.«

»Operette«, korrigierte Anna.

Herr Bredelin lächelte.

»Orlanda Mandel«, hörte Anna sich sagen. »Kennen Sie sie vielleicht?«

Das Lächeln verschwand wieder. »Nicht, dass ich wüsste. In der Operette bin ich, offen gestanden, nicht sehr bewandert.«

»Natürlich.« Anna hätte sich ohrfeigen können. Warum musste sie ihn fragen, ob er Orlanda kenne?