Das Mädchen aus Oslo - Pål Gerhard Olsen - E-Book

Das Mädchen aus Oslo E-Book

Pål Gerhard Olsen

3,0

Beschreibung

Eine zentrale Figur des Buches, Helen Lassen, leidet an einer unheilbaren Krankheit. Bevor sie stirbt, möchte sie ihren damaligen Freund noch einmal sehen, um sich gebührend verabschieden zu können. Sie beauftragt den Privatdetektiv Ask mit der Aufgabe, die sich als mysteriös herausstellt. Ask taucht in die Vergangenheit des Mannes ein und findet heraus, wie er die Frauen und gleichzeitig seine Karriere ausgenutzt hat. Ein tragischer Zwischenfall in Oslofjord macht die Detektivarbeit nicht einfacher! -

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Pål Gerhard Olsen

Das Mädchen aus Oslo

Übersezt von Regine Elsässer

Saga

Das Mädchen aus Oslo

 

Übersezt von Regine Elsässer

 

Titel der Originalausgabe: Oslo-Piken

 

Originalsprache: Norwegischen

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2004, 2021 Pål Gerhard Olsen und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726900361

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

eins Lange bevor die Toten mit Salzwasser in den Kopfwunden auftauchten, hätte ich begreifen müssen, dass ich es darauf angelegt hatte. Ich war zu unüberlegt gewesen, war zu schnell darauf eingestiegen. Mit anderen Worten, ich war ganz der Alte.

Aber die Stadt war neu. Ich hatte Bergen hinter mir gelassen und war ein Bürger Oslos geworden – nun konnte ich hoffen, unter dem Schutz des Stadtheiligen St. Halvard zu stehen. Ich schleppte ein ziemlich gemischtes Gepäck mit in die Hauptstadt. Vier Jahre zuvor hatte ich meinen ganzen kriminalistisch überfrachteten Wortschatz in einen Wäschesack gestopft und mich um einen Job in einer Werbeagentur beworben. Ich wollte einen stoßgedämpften Alltag, ich wollte von hübschen, adretten und ausgeglichenen Menschen umgeben sein, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnten.

Ich bekam die Stelle. Ich nahm die Verbraucher aufs Korn. Ich legitimierte Bedarf, ich schuf Bedarf. Ich stürzte mich in die Arbeit, war pausenlos kreativ und wurde entsprechend bezahlt. Ich hatte ein paar Beziehungen, für die ich mich mal mehr, mal weniger engagierte, ich ging aus, ins Theater, in Restaurants, in Bars, und wenn Bergen mir zu eng wurde, unternahm ich Wochenendtrips in europäische Großstädte. Alles in allem hielt ich in geradem Kurs auf die Mitte des Jahrzehnts zu.

Aber alles hat seine Zeit. Und die Zeit zehrt. Mein wohlgenährtes Texter-Dasein büßte immer mehr an Glanz ein, bis ich mir eingestehen musste, dass ich mich nach dem Gesetz der Straße zurücksehnte, nach dem Ungeschütztsein, dem Ausgeliefertsein, nach allem, woher ich kam. Ich hatte keine Lust mehr, die Bedürfnisse fremder Leute zu formulieren. Ich wollte sie lieber natura erleben. Die Grundbedürfnisse und nicht die Sekundärbedürfnisse der Werbung. Aber das ging in Bergen nicht. Ich hatte das Gefühl, diese Stadt als Privatdetektiv von innen ausgehöhlt und als Werbemann von außen beschossen zu haben. Also zog ich nach Süden. Oslo hat mir schon immer gefallen, trotz seiner unbeholfenen Stadtplanung. Oslos Besonderheit liegt darin, dass man von außen kommen muss, um den optimalen Nutzen aus dieser Stadt zu ziehen. Erst dann kann man tatsächlich begreifen, was es mit diesem erstaunlichen Konglomerat aus gegensätzlichen Dörfern auf sich hat.

Also eröffnete ich wieder ein Büro. Es lag mitten in der Stadt in der unansehnlichen Sommerrogate, in einem gepflegten Bürogebäude, wo auch Anwälte, Makler verschiedener Ausrichtungen, eine hochspezialisierte Versicherungsgesellschaft und ein ebensolcher Verlag ihre Räume hatten. Die oberste Etage wurde komplett vom Hauptsitz jener Werbeagentur belegt, die sich in Bergen meiner erbarmt hatte: Brot und Spiele, sehr witzig, so was kriegt nur die Werbebranche hin. Für diese erfolgsverwöhnten Jungs, die Mädels nicht zu vergessen, wird das Brot niemals hart, bekommt das Spielbrett niemals einen Knick. Im Gegenteil, jetzt surften sie auf zehn Meter hohen Wellen durchs Internet, eine große Investition, die sie ins nächste Jahrtausend hieven würde, mit mir als unmittelbarem Zeugen – sie hatten mir zwölf Quadratmeter zu einer erschwinglichen Miete abgegeben. Hin und wieder kamen aus der Abteilung Brot und Spiele welche zu Besuch, spendierten Coke sowie allerlei asiatisches Fast Food und erneuerten in regelmäßigen Abständen das Angebot, freiberuflich für sie zu arbeiten, falls der Müßiggang bei mir überhand nehmen sollte.

Helen Lassen sorgte dafür, dass das nicht passierte. Sie nahm an einem Montagvormittag Kontakt mit mir auf, an einem Tag im August, als der Sommer aller Erfahrung nach hätte zu Ende sein müssen. Aber dieser war ein Marathonsommer, es war ein Sommer, der einfach immer weiterging, der sich wie Gottes feuchte Hand auf Oslo legte, und das mit einer Beharrlichkeit, die selbst den Sonnenhungrigsten den Atem rauben konnte. Es war so ein Sommer, der die Urinstinkte der Menschen anfacht, der die Stadt zu einer großen, ausgetrockneten Kehle werden lässt, durch die nie genug Flüssigkeit rinnt.

Ihre Stimme war im unteren Bereich der Tonskala angesiedelt, sie klang wie ein weicher Kontrabass und schärfte sofort meine Aufmerksamkeit. Sie begann das Gespräch mit der Bemerkung, dass wir sozusagen Nachbarn seien. Sie arbeite in der Respekt einflößenden Universitätsbibliothek auf der gegenüberliegenden Seite des völlig überlasteten Kreisverkehrs am Lapsetorget, der – wie es sich für die Stadt, mit der ich es zu tun hatte, gehörte – in eine chaotische Baustelle verwandelt worden war.

«Darüber können wir nicht am Telefon sprechen», fuhr sie fort. «Können wir uns treffen?»

«Ja, das geht. Wollen Sie mich hier besuchen, oder soll ich zu Ihnen hinüberkommen?»

«Wie wäre es mit keinem von beiden?», konterte sie. «Wie wäre es mit Felix?»

«Jetzt gleich?»

«Wenn Ihnen das passt.»

Es passte mir. Es passte ausgezeichnet. Ich saß nur herum und schwitzte hinter schwarzen Jalousien; mein Blick auf die Welt reduzierte sich auf den wirkungslos schwirrenden Tischventilator vor mir. Um präsentabel auszusehen, zog ich mein federleichtes hellgraues Jackett über, dann stellte ich pflichtschuldig den Anrufbeantworter an und ließ die Possenreißer nebenan allein.

Draußen schlug mir die Hitze wie ein durchweichter Boxhandschuh ins Gesicht. Ich setzte die Sonnenbrille auf, um mich vom Tigergrinsen der Sonne nicht blenden zu lassen, und überquerte den sterilen Platz vor dem nicht weniger sterilen Bürogebäude, der einzig von der Statue des alten Säufers und Ehrenmanns Winston Churchill belebt wurde. Da stand er im Gehrock, gebeugt, auf den Stock gestützt und doch unerschütterlich, und blickte in die Ewigkeit. Auf dem Sockel stand gut lesbar die von ihm stammende Parole, «Come then, let us go forward with our united strength», ausgesprochen in jener Schicksalsstunde im Parlament am 13. Mai 1940. Dieser flammenden Aufforderung konnte ich mich nur anschließen, selbst wenn sie bei der Gnadenlosigkeit dieses Sommers völlig undurchführbar schien.

Helen Lassen kam mir mit einer ungezwungenen, selbstsicheren Körperspannung entgegen, sie trug ein rot-weiß kariertes Trägerkleid. Ihr Haar war dunkel und schulterlang, der Mund von fast afrikanischer Sinnlichkeit, die breiten Wangenknochen gaben dem Gesicht Stärke. Zwei Knöpfe des Kleides standen offen und entblößten den üppigen, nicht mehr ganz straffen Brustansatz. Eine Frau, die nicht nur reif, sondern vollreif war, eine Frau im Zenit des Lebens, die gleichzeitig, so schien es mir, den Gedanken einer ewigen Jugend mit einem Schulterzucken verwarf.

Wir gaben uns zur Begrüßung die Hand, betraten die weiß umzäunte Terrasse des Restaurants Felix und fanden einen Tisch im Schatten. Ich fragte sie, was sie trinken wolle. Sie wollte Wein.

«Es ist nie zu früh für ein Glas Wein, oder?», fügte sie hinzu.

«Nie zu früh, selten zu spät», sagte ich und begab mich zur Theke. Ich selbst nahm schwarzen Kaffee. Hitze gegen Hitze. Schwarz gegen die Sonne. Das war mein Rezept. Das Weinglas, das ich ihr hinstellte, war beschlagen, und sie leckte sich als Erstes langsam und genüsslich das Kondensat vom Zeigefinger. Ich nippte am Kaffee. Er hatte zu lange gestanden. In Norwegen, dem wahren Heimatland der Thermoskanne, steht Kaffee immer zu lange. Sie widmete sich mit ihren vollen Lippen dem Wein, ich sah, wie ihr Hals länger wurde, wie seine rückwärtige Beugung die unbestreitbaren Falten glättete, den Hals straffer, schmaler, sehniger werden ließ. Sie setzte das Glas mit einem Anflug von Unwillen ab, nahm jedoch den durstigen Finger nicht weg, ließ ihn um den Rand des Glases kreisen, immer wieder. Die Nasenflügel bebten, ein Träger war wenige Zentimeter nach unten gerutscht.

«Warum haben Sie mich angerufen?», fragte ich.

Sie betrachtete mich. Eingehend. Als liege die Antwort bei mir. «Sie waren der Erste im Alphabet.»

«Auch ein Grund.»

«Es geht um einen Mann. Er heißt Björn Aarhus.»

«Und was ist mit ihm?»

«Ja, was ist mit ihm?» Sie nahm noch einen Schluck, das Glas wurde rasch zu leer für sie, sie stellte es mit einem stillen Lächeln ab, beugte sich über den Tisch und stützte das Kinn auf den Halbkreis ihrer gefalteten Hände, den Kopf etwas zur Seite geneigt.

«Er wird vermisst. Schmerzlich vermisst.»

«Das hört sich ja fast so an, als ...»

«Nein, er nicht. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Ich bin es, die bald stirbt. Die Ärzte geben mir höchstens noch ein Jahr.»

«Also, ich kann nichts ...», stotterte ich ratlos.

«Nichts sehen? Das ist nur eine Frage der Zeit. Aber daran denke ich nicht. Das habe ich nur in den ersten Tagen getan. Da war ich wütend auf die Ärzte, auf alles und jeden. Ich tat mir Leid. Ich habe geweint und mich eingeschlossen. Aber jetzt kann kommen, was kommen muss. Jetzt ist es so, als hätte ich eine lang ersehnte Erklärung bekommen. Ja, ich spüre eine ganz große Klarheit. Ich weiß, wohin mich mein Weg führt. Ich weiß, woher ich komme. Ich weiß jetzt, was zählt. Ich sehe, was wichtig ist. Ich sehe nur noch, was wichtig ist. Und darauf will ich mich in dem bisschen Zeit, das mir bleibt, konzentrieren.»

Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund, und das lag nicht nur am Kaffee. Was sollte ich sagen? Sollte ich ihr mein Beileid aussprechen? Sie sah nicht so aus, als brauche sie das. Sie wirkte ausgeglichen, unbeschwert, sie wurde ihrer teuer erkauften Lebenseinstellung überzeugend gerecht.

«Und dieser Bjørn Aarhus hat damit zu tun?», fragte ich knapp.

Sie nickte langsam. «Vor zwei Wochen war ich oben im Norden. Habe mich einfach ins Auto gesetzt und bin losgefahren. Dann bin ich zu Fuß weitergegangen, viel weiter, bis dahin, wo wir damals ... wo wir damals waren.»

«Wo befinden wir uns gerade?»

«Im Sørkedal. Kennen Sie die Gegend?»

«Leider nicht. Ich bin noch nicht viel weiter als zu den Seen vor der Stadt gekommen, sonntags mal zum Bogstadvann und so», sagte ich.

Sie lächelte. Wie bewundernswert leicht es ihr fiel, zu lächeln.

«Ich ging, als könnte ich alles wieder zum Leben erwecken, als läge es in meiner Macht, alles noch einmal passieren zu lassen, jetzt, wo ich besser dafür gerüstet bin, jetzt, wo ich mich besser kenne.»

«Und wann war das erste Mal?»

«Vor fünfzehn Jahren. Im Sommer vor fünfzehn Jahren. Wir wohnten da, mein Mann, ich und unsere Tochter Veronika. Wir hatten einen kleinen Bauernhof gemietet, wir hatten ein Pferd, sammelten Beeren und kochten Marmelade ein, suchten Pilze. Ein wunderbares Leben, jedenfalls für mich. Mein Mann stand dem Ganzen skeptisch gegenüber, er ist einfach ein unverbesserlicher Stadtmensch. Aber ich ging in den Wald», sagte sie und trank das Glas leer, ihre feuchte Zungenspitze sog wie ein Schwamm die an den Lippen verbliebene Feuchtigkeit auf. Sie sah mich wieder schwer an, sah durch mich hindurch, als sei ich lediglich ein brauchbarer Rahmen für die Bilder aus ihrer Vergangenheit. Ich hatte keinen Anlass, ihre Freude daran zu unterbrechen. «Da war Bjørn. Damals war er kaum mehr als ein Junge, achtzehn, neunzehn. Ich war weit über dreißig. Er arbeitete für Løvenskiold.»

«Den Gutsbesitzer?», fragte ich und hatte den Eindruck, als klopfe das letzte Jahrhundert an die Tür.

«Ja», sagte sie mit einem Seufzer, der wie ein Echo auf meine Gedanken klang.

«Den Gutsbesitzer. Bjørn war eine Art Tagelöhner, er half beim Holzfällen, kassierte an der Mautstraße in die Berge, solche Sachen. Er stand einfach da, am Rand einer Lichtung, und sah mich an. Ich hatte ihn nicht gehört, er hatte überhaupt kein Geräusch gemacht. Es war heiß, ein Sommer wie dieser. Ich hatte den Pullover ausgezogen, ich saß da und trug nur ... Aber das war es nicht. Es lag nicht daran, dass ich fast nichts anhatte. Mich sah er an, mich. Mich als Menschen. Er gaffte nicht. Verstehen Sie?»

«Ich glaube schon», behauptete ich.

«Ich blieb sitzen. Ich drehte ihm den Rücken zu. Aber ich spürte, dass er da stand. Es kitzelte im Nacken. Diese Begegnung wurde so etwas wie eine heimliche Verbindung zwischen Bjørn und mir. Wir hatten etwas gemeinsam. Etwas Sprachloses. Wir wussten, wo und wann wir uns finden würden. Lange sah er mich nur an. Er war scheu, wie ein ... Tier. Er kam und ging sehr schnell. Eines Tages folgte ich ihm. Wir stiegen einen steilen Abhang hoch, über einige moosbewachsene Felsblöcke. Dort war eine kleine Mulde, und ich begriff, dass er sich oft dort aufhielt, dass es sich um eine der Stellen handelte, an denen er häufig war, dass er mehrere davon hatte, dass er überall im Wald herumstreunte. Dort berührte er mich, ich bekam ihn dazu, mich zu berühren, ich musste von ihm mehr haben als dieses Kitzeln, ich musste in ihn, und ich hatte nicht im Geringsten das Gefühl, etwas Falsches zu tun, ich dachte keine Sekunde an meinen Mann, er hatte damit nichts zu tun, das spielte sich auf einer ganz anderen Ebene ab.»

«Animalisch», assistierte ich, mit Kaffeesatz in der Stimme.

«Er hielt mich so fest, er hob mich so hoch. Es passierte immer wieder, ich ließ mich offenen Auges darauf ein, es war Leben und Lust. Ja, Lust. Die reine Lust. Schwere, undurchdringliche Lust. Eine Lust, die durch all das Ungesagte zwischen uns entstand. Wir spielten. Er kannte so viele Spiele. Er machte den Wald zu unserer Spielwiese. Er wusste so viel über ... mich. Er sagte, er hätte noch nie ... Aber er wusste so gut Bescheid. Er hat mir so viel gegeben. Er hat mir gut getan. Den ganzen Sommer lang hat er mir nur gut getan. Aber dann starb plötzlich seine Mutter. Die beiden lebten allein in einem kleinen, ungepflegten Häuschen, einer Hütte fast. Ich habe sie nie außerhalb des Hauses gesehen, aber sie muss ihm viel bedeutet haben, denn nach ihrem Tod zog er sich völlig von mir zurück, und eines Tages war er wie vom Erdboden verschluckt – niemand wusste, wo er abgeblieben war.»

«Und seither haben Sie ihn nicht mehr gesehen?»

«Nein. Nach ein paar Jahren sind wir wieder in die Stadt gezogen. Mein Mann hatte genug vom Landleben. Es gab Momente, in denen ich überzeugt war, Bjørn sei in der Nähe, weil ich eine Andeutung dieses Kitzelns spürte, das er in mir auslöste, aber wenn ich mich umdrehte, war es immer ein anderer, einer, der mir nichts anhaben konnte, nur ein Mann, ein ganz normaler Mann ...»

Sie hatte die Hand flach auf die Tischfläche gelegt, außer dem goldenen Ehering trug sie zwei ziselierte Silberringe.

«Was ist mit Ihrem Mann?», fragte ich. «Sollten Sie ihm nicht auch davon erzählen? Ihn wachrütteln, bevor es mit Ihnen beiden – vorbei ist? Wenn ich das richtig verstehe, hat er all die Jahre sanft geschlafen.»

«Ich habe geschlafen. Ich habe nicht unablässig an Bjørn gedacht. Er hat mich damals verletzt – als er mit mir nichts mehr zu tun haben wollte. Außerdem war es, als habe er mich entlarvt, auf frischer Tat ertappt. Ich sah meinen eigenen – Hunger. Ich sah, wie gierig ich geworden war. Und dann kam die Scham. Scham darüber, was ich getan hatte, in welche Lage ich mich gebracht hatte. Ich bereute alles. Ich fing an, das nur als Laune zu betrachten, als ein Strohfeuer. Eine Jugendsünde. Eine verspätete Jugendsünde. Ich ließ die Wunde, in der Bjørn verschwunden war, vernarben. Ich wollte damit nichts mehr zu tun haben. Ich wollte treu sein. Ich wollte ein ... reflektierter Mensch sein. Mit ihm war ich das nicht gewesen. Er war meiner nicht würdig, dachte ich schließlich, musste ich denken, um ein Haus haben zu können, ein Zuhause, eine Familie. Und deshalb, na ja, deshalb habe ich geschlafen. Die Zeit verschlafen.»

«Aber Sie haben es doch zu etwas gebracht», sagte ich aufmunternd. «Sagten Sie nicht, dass Sie Abteilungsleiterin sind? Das ist doch nicht schlecht.»

«Nein, das ist nicht schlecht», sagte sie mit schneidendem Sarkasmus. «Nichts von dem, was ich gemacht habe, war jemals schlecht. Das gilt auch für meinen Mann. Wir sind einfach ungeheuer gut.»

«Was macht er?»

«Er ist Journalist. Bei der Aftenposten. Früher war er Redakteur. Jetzt hat er kein festes Ressort mehr, er schreibt vor allem über Kunst, Reisen und Essen und lebt wie Gott in Frankreich.»

«Während Sie sich verzehren?»

«Es ist nicht so, dass mir das Leben in der Stadt nicht gefällt, ich mag die vielen Gestaltungsmöglichkeiten. Aber manchmal wünscht man sich, dass etwas – Gefährliches passiert, etwas, das einem den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Wir modernen Menschen reiben uns so überhaupt nicht mehr aneinander. Als seien wir uns einmal zu oft zu nah gekommen. Als müssten wir erst den Globus umrunden, um wieder zueinander finden zu können. Aber dafür ist mein Mann nicht zu begeistern, er kann nur der sein, der er ist, er kann mich nur bestätigen. Und darauf habe ich mich eingestellt. Wir sind unter der Flagge unserer gemeinsamen Bequemlichkeit immer gut gesegelt. Aber dann hörst du jemanden sagen, dass du sterben musst, vielleicht noch bis zum nächsten Sommer lebst, aber dass dann Schluss ist. Da fallen alle Schutzwälle, du stehst mit leeren Händen da, hilflos. Wachrütteln, sagen Sie. Als wäre es nicht der Tod, der uns wachrüttelt. So weit sind wir mit unserem Wohlstandsleben inzwischen gekommen, dass uns nur noch der Tod wachrütteln kann. Plötzlich bin ich auf das zurückgeworfen, was zwischen Bjørn und mir so abrupt endete. Doch jetzt gibt es keine verletzten Gefühle mehr, keine Scham. Nur diese überströmende, umfassende Lust. Das lag alles in mir verschlossen. Es war alles da und wartete auf mich. Auf den Tag, an dem ich den Tatsachen ins Auge sehen würde. An dem ich in der Wahrheit würde leben müssen. Das hört sich alles furchtbar altmodisch an, oder?»

«Ich habe Schlimmeres gehört.»

«In der Wahrheit leben. Wer kann von sich behaupten, das zu tun? Ich habe es nicht getan. Nicht ganz und gar. Vielleicht nur in den heimlichen Begegnungen mit Bjørn. In denen war Wahrheit. Die Wahrheit, dass alles in einem selbst ungefestigt ist, veränderlich. Man fließt. Man lebt. Bjørn gab mir immer genau dieses Gefühl. Darum möchte ich ihn so gern wieder sehen. Um zu erfahren, wer ich mit ihm zusammen war. Wer ich bin. Wenn ich ganz nackt bin. Ein unbeschriebenes Blatt. Keiner außer ihm hat mich an diesem Punkt in mir getroffen.»

«Warum versuchen Sie nicht selbst, ihn zu finden?», fragte ich, um ihr ein bisschen kaltes Wasser ins kochende Blut zu schütten, vielleicht auch mir. «Wozu brauchen Sie mich?»

«Ich möchte mir Peinlichkeiten ersparen. Vielleicht hat er mich vergessen. Wer weiß, ob ihm das Ganze überhaupt etwas bedeutet hat. Darüber habe ich nie etwas erfahren: wie es ihm ging, was er wollte. Er hatte etwas Rastloses. Als wolle er nur weg, als sei der Wald ausschließlich ein Fluchtort. Irgendwie kann ich ihn mir nicht anderswo vorstellen als im Wald. Deswegen habe ich auch nach ihm gefragt, als ich da oben war, ob ihn jemand gesehen hatte, aber es kam nichts dabei raus. Nun verlasse ich mich auf Sie», sagte sie und schabte mit ihren prächtigen Ringen über die Tischdecke, um meine Fingerkuppen zu berühren. «Ich brauche einen – Puffer. Einen, der vermittelt, mir aber auch vermitteln kann, wer Bjørn ist. Ich möchte, dass Sie ihn studieren. Lange. Gründlich. Versuchen, ihn mit meinen Augen zu sehen. Nach alldem, was ich Ihnen erzählt habe. Glauben Sie, dass Sie das können?»

Ich starrte in ihren Blick. Er übte einen Sog aus, einen schwärzenden, sonnenverfinsternden Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Ich sagte: «Ich kann es jedenfalls versuchen. Aber es könnte schwierig werden. Wer weiß, vielleicht ist er ausgewandert.»

«Nein», sagte sie bestimmt. «Er ist hier in Oslo.»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Ich weiß es einfach. Er muss hier sein.»

«Nun gut. Gehen wir also davon aus. Auch wenn nichts sicher ist. Ich brauche ein paar Tage, Sie hören wieder von mir.»

Ich stand auf, gab ihr meine Karte und erhielt die ihre.

«Rufen Sie an, wann immer es nötig ist», sagte sie.

«Auch zu Hause?»

«Jetzt ja.»

Ich blieb stehen und sah ihr nach, wie sie zu ihrem leitenden Bibliotheksjob zurückkehrte, vorbei an der gigantischen roten Buchskulptur, die auf dem Rasenstück vor dem Kreisverkehr für ihren Arbeitsplatz warb, einem Buch, das aufgeschlagen war, als müsse der, der klug werden wolle, nur darin blättern. Sie ging, wie sie gekommen war. Unbekümmert, gleichsam getragen von dem, was sie mir gerade erzählt hatte, wie in einer höheren Sphäre, wo der Tod keinen Stachel hat. Der, so schien mir, war bei mir zurückgeblieben, bei mir, der ich nun die Welt mit ihren Augen sehen sollte.

 

Im Büro war es inzwischen kochend heiß, aber ich musste mich überwinden, musste ein Telefongespräch führen, dann fiel mir ein, dass mehrere Gespräche anstanden. Das erste war mit der Auskunft. Durch die Kabel der Telefongesellschaft sauste ich aus Oslo hinaus zur Auskunft in Kongsberg, wo ich aber nur erfuhr, dass es im dortigen Teilnehmerverzeichnis keinen Bjørn Aarhus gebe. Ohne etwas in der Hand zu haben, rief ich danach das Osloer Einwohnermeldeamt an. Dort musste ich meine Anfrage begründen. Sie hatten ihre Vorschriften. Ich band der Frau von der Information den Bären einer Erbschaftssache auf, für die ich Bjørn Aarhus umgehend finden müsse. Der Hinweis auf Geld brachte die Sache voran. Es gab nur einen Eintrag auf den Namen Aarhus, und der war in Torshov verzeichnet. Er stammte aber vom Ende der achtziger Jahre. Ich dankte dennoch.

Ich hatte einen grashüpfergrünen Golf aus dem geschichtsträchtigen Jahr 1989. Mit heruntergedrehten Scheiben fuhr ich den Kirkevei entlang, auch unter dem erheblich weitläufigeren Namen Ring 2 bekannt. Eine anonyme Straße, ein anonymes Wohnhaus. Schmucklose Architektur. Ich drückte wahllos auf ein paar Klingeln, wahllos, weil auf keiner der Name Bjørn Aarhus stand. Das hatte ich erwartet. Wenn Helen Lassen ihn richtig beschrieben hatte, konnte es nicht ganz so einfach sein. Auch ich hatte den Eindruck eines ruhelosen Menschen bekommen. Lebendig und ruhelos.

Im ersten Stock war jemand zu Hause. Ein älterer Mann, dessen Misstrauen metertief saß – ich musste mich mit der Gegensprechanlage als Kommunikationsmedium zufrieden geben. Nein, um so etwas kümmere er sich nicht, er wisse nicht, wer hier ein- und ausziehe. Ja, Ende der Achtziger habe er bereits hier gewohnt, sogar schon Ende der Siebziger, aber zu dem Namen Aarhus falle ihm nichts ein. Auch die Frau im Stockwerk darüber war schon in die Jahre gekommen, bei ihr löste Aarhus jedoch eine regelrechte Sesam-öffne-dich-Reaktion aus. Sie ließ mich umgehend ein. Es handelte sich um eine Witwe Isachsen mit steifer Hüfte, im groß geblümten Kleid, mit sommertrockenen Dauerwellenlöckchen und Kuckucksuhr im Flur. Und ob sie sich an einen so netten jungen Mann wie Aarhus erinnerte! Er hatte nicht lange hier gewohnt, knapp ein Jahr, in der Wohnung schräg gegenüber von ihr, zur Untermiete. Sie persönlich habe für solche Regelungen nichts übrig, das führe leicht zu Unannehmlichkeiten. Aber Aarhus war die Höflichkeit in Person gewesen, immer so hilfsbereit. Ja, die steife Hüfte habe ihr schon damals zu schaffen gemacht, aber dieser Aarhus habe doch tatsächlich angeboten, die Treppe für sie zu wischen – er habe auch Glühbirnen und Sicherungen ausgewechselt. Mit ihm im Haus habe sie sich sicher gefühlt, da sei alles in Ordnung gewesen. Sonst sei ja unten drunter einiges los, na ja, oben drüber auch. Ausländer, sagte sie und kniff die Augen zusammen, als imitiere sie die resoluten Schließmuskeln in der Asylpolitik der amtierenden Regierung. Na ja, er nahm es vielleicht nicht mit allem so genau, Aarhus, meinte sie, denn zu ihrem Schrecken habe sie feststellen müssen, dass er sich nicht umgemeldet hatte. Darum musste sie sich kümmern, die Papiere mussten schließlich in Ordnung sein, das hatte sie von ihrem verstorbenen Mann gelernt, der war Wirtschaftsprüfer gewesen. Das sei doch das Mindeste, was sie zum Dank für Aarhus’ Hilfsbereitschaft hatte tun können. Was er von Beruf gewesen sei? Schwer zu sagen. Er war keiner von denen, die unnötig viel über sich selbst redeten, aber hatte er nicht mal ein Studium erwähnt? Er war viel unterwegs. Und sie hatte nie gesehen, dass er jemanden mit nach Hause gebracht hätte. Nein, hinter dieser Tür war es immer ruhig gewesen, fügte sie viel sagend an. Doch dann war er verschwunden, von einem auf den anderen Tag. Das war das einzige Mal, dass er sie enttäuscht hatte. Einfach zu verschwinden, ohne ihr ein einziges Wort zu sagen. Kein Zettel im Briefkasten, nichts. Aber im Jahr darauf hatte sie ihn einmal gesehen, im Freiapark. Eine Freundin von ihr wohnte in der Fagerheimgate, sie waren im Herbst einmal zusammen spazieren gegangen, und da war ihnen Aarhus begegnet. Er hatte etwas verlegen gewirkt, aber trotzdem konnte sie ihn fragen, wohin er eigentlich gezogen sei, er würde ihr doch wohl nicht verbieten, ihm eine Weihnachtskarte zu schreiben? Und sie schrieb ihm eine, musste aber leider sagen, dass sie keine zurückbekommen hatte. Nun ja, sie wollte ihm das nicht übel nehmen, er hatte sicher anderes zu tun, als alten Frauen Karten zu schreiben.

Nach der Wegbeschreibung der redseligen Witwe fuhr ich bis zu der Kreuzung, wo die Uelandsgate nach Oslo downtown abbiegt, und parkte den Wagen im Maridalsvei. Dann ging ich den Hügel hinauf, wo Oslo von pittoresker Dörflichkeit ist. Fast rechnete ich damit, dass mir die Märchensammler Asbjørnsen und Moe aus der Alten Akerkirche entgegenkommen würden, zahllose Sagen und Märchen gut verstaut in den Satteltaschen eines Packpferdes. Aber die Dame im Sarong, die unter einem absolut unverzichtbaren Sonnenschirm hinter einem südnorwegisch wirkenden, weißen Gartenzaun saß, las eine Frauenzeitschrift, neben sich ein Glas mit dickflüssigem, frisch gepresstem Orangensaft. Über die Treppenstufen hinter ihr ergoss sich der kräftige Sopran einer Arie. Die Dame hieß Bente Flem, und sie sprach bereitwillig über Aarhus, der damals die Dachwohnung gemietet hatte. Sie ließ die Zeitschrift sinken, sie sagte «er», aber irgendwann wechselte sie zu «Bjørn» und blieb dabei, ich hörte eine Neuauflage der Hymnen der Witwe, nur in anderen Worten, hörte Bente Flem davon erzählen, wie wunderbar er mit Kindern umgehen konnte. Sie hatte einen Ehemann, der viel zu oft auf Reisen war, aber ihre beiden Kinder, die damals fünf und sieben gewesen waren, hatten in Aarhus fast so etwas wie einen Vater gehabt, er nahm sie mit zum Rummel, ins Theater, er ging mit ihnen im St. Hanshaugen-Park schwimmen. Sie sprach seinen Namen gedehnt aus, zog das ‹ø› so schön in die Länge, und ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, ich wusste nicht, was es mit der langsamen Weitung der Pupillen auf sich hatte, damit, dass ihre Hand manchmal das Glas verfehlte. Es konnte alles und nichts heißen, und was immer es bedeutete, es verriet mehr über sie als über Aarhus, denn selbst wenn sie von ihm sprach, als habe er das Haus voll und ganz in Besitz genommen gehabt, wusste sie über ihn ebenso wenig Konkretes und Handfestes zu erzählen wie ihre Vorrednerin. Die plötzliche und schnelle Abreise hatte sich auch hier wiederholt; er war nur acht Monate geblieben, hatte dieses Mal jedoch eine Adresse hinterlassen, damit die Kinder ihm schreiben konnten, was sie anfangs auch getan hatten, aber nachdem alle Briefe unbeantwortet geblieben waren, hatten sie damit aufgehört, sagte Bente Flem etwas bekümmert.

Ich fragte nicht, ob sie selbst ebenfalls geschrieben hatte, ich hatte genug gehört. Schon zu dem Zeitpunkt erkannte ich das Muster, ein Muster, das sich in den folgenden Tagen bestätigen sollte: Bjørn Aarhus kam, sah und siegte, um dann zu verduften, und das so unbemerkt, wie es ihm in seiner jeweiligen Umgebung nur möglich war. Und er gewann die Frauen für sich. Die Männer nahmen ihn bestenfalls als diffuse Gestalt wahr, aber für Frauen besaß er eine überwältigende Anwesenheit, heute ebenso wie seinerzeit. Frauen hielten die Türen hinter ihm offen, Frauen halfen mir, als ich ihn wie bei einer Schnitzeljagd im Zickzack durch Oslo suchte. Ich war im Osten, ich war im Westen, ich war im Norden, und ich war im Süden, ich war hier, und ich war da, und immer wenn die Sache rabenschwarz aussah, half mir eine Frau, auch wenn sie selbst nicht wusste, wo er abgeblieben war, aber sie kannte eine, die eine kannte, die eine kannte ... Das Netzwerk von Frauen rettete mich – mit vereinten Kräften behielten sie durch Zeit und Raum hindurch den Überblick über sein rastloses Umherziehen, über einen Mann, der offenbar alles um sich herum heller gemacht hatte, selbst aber in einem undurchdringlichen Dunkel blieb.