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Als Privatdetektiv Aron eine Leiche findet, die sich als seine Frau entpuppt, bringt er die Polizei auf Trab. Die Polizei glaubt ihm nicht, als er ihnen sagt, dass er nichts mit dem Mord zu tun hat. Im Gegenteil, sie halten ihn komplett aus den Ermittlungen heraus. Als Aron beschließt, seine eigenen Nachforschungen anzustellen, kommen eine Menge Geheimnisse ans Licht und es stellt sich heraus, dass er viel weniger über die Vergangenheit seiner Frau weiß, als er dachte...-
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Seitenzahl: 259
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Pål Gerhard Olsen
Kriminalroman
Deutsch von Regine Elsässer und Ebba D. Drolshagen
Saga
Der Schwur der Engel
Übersezt von Regine Elsässer
Titel der Originalausgabe: Tusenårsriket
Originalsprache: Norwegisch
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2005, 2021 Pål Gerhard Olsen und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726921656
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Sie lag mit dem Gesicht nach unten, in zwei dicht stehende Bäume am Ufer verfangen. Ihre Hände waren gespreizt, wie zwei kleine ockergelbe Fächer im leicht schäumenden Wasser der Aker. Ich balancierte über die wackeligen Steine im Flussbett und stand bis zu den Knien im Wasser. Da erkannte ich meine Frau an der kleinen Grube zwischen Schädel und Nacken, die ich so oft massiert hatte.
Ich drehte sie nicht um. Es genügte, sie so zu sehen. Ihren Hals zu sehen. Er hatte eine dunkelrote Kerbe, verursacht von einer Schnur, die die Vertiefung ihres Nackens mehrfach kreuzte und so stramm saß, dass ich nicht einmal einen Finger darunter schieben konnte. Ich befreite sie aus den Bäumen, hob sie hoch, stützte ihren Oberkörper auf mein Knie und streichelte ihren eingeschnürten Hals. Über das Haar konnte ich ihr nicht streichen. Sie hatte keine Haare mehr. Von ihrem dichten Blond waren nur ungleichmäßig abgeschnittene Stoppeln geblieben. Wie eine Badekappe. Jemand war so rücksichtsvoll gewesen, ihr eine Badekappe aufzusetzen. Sie war voll bekleidet. Die Strömung trieb sie immer weiter in meine Arme. Ich begann, den malträtierten Nacken mit leichten Küssen zu bedecken.
Irgendwann hörte ich ein Geräusch auf den Steinen hinter mir. Es kam Bewegung ins Wasser. Ich blickte hoch und sah verschwommen eine Uniformhose mit aufgenähten Leuchtstreifen. Ich hielt Turid fester – die Polizei war da. Sie störte unseren Frieden.
«Lassen Sie uns hier übernehmen», sagte eine Stimme. Jemand berührte mich vorsichtig an der Schulter.
«Ganz ruhig, wir tun ihr nichts», sagte ein anderer, als ich mich wehrte.
«Ihr nichts tun?», hörte ich mich antworten, so zäh, als habe mir jemand den Mund verklebt. Als könne man ihr noch Schlimmeres antun.
Als ich wieder auf meine Hände sah, war sie mir entglitten. Sie drehten sie um. Ihre Augen waren verdreht und weiß. Die Nase gebrochen. Ich sagte ihren Namen wie eine Beschwörung, wie einen Bann gegen diesen Anblick – und wurde taumelnd ans Ufer geführt. Sie zogen mich eine zwei Meter hohe Mauer hoch, bis ich im kalten Nieselregen schwankend auf dem Asphalt stand. Fünfzig Meter weiter flussaufwärts stürzte das Wasser einen kleinen flutlichterleuchteten Wasserfall hinab, die Vøyenfälle. Sie dröhnten wie Dampfhämmer. Am anderen Ufer waren ein paar Spaziergänger stehen geblieben, sie beobachteten neugierig die Autos mit Blaulicht und die Techniker der Spurensicherung, die mit ihrer Arbeit begonnen hatten. Jemand bot mir eine Zigarette an. Ich nahm sie, obwohl ich seit zehn Jahren nicht mehr geraucht hatte. Meine Lungen vertrugen es nicht. Jemand klopfte mir auf den Rücken, bis der Hustenanfall vorüber war, und ich rauchte die Zigarette bis zum Filter. Dann warf ich sie weg, und sie verlosch im Flusswasser, aus dem die inzwischen eingetroffenen Sanitäter Turid gerade herausholten.
Ein Frauengesicht erschien in meinem Blickfeld. Ein unzerstörtes Frauengesicht, dachte ich sofort. Mirjam Paulsen. Strenge Frisur und zweckmäßige Kleidung.
«Kommen Sie. Ich möchte kurz mit Ihnen sprechen. Wenn Sie können», sagte sie und wies mit der Hand auf einen Streifenwagen, als hätte ich schon geantwortet.
Der Nieselregen wurde stärker, der Motor brummte, der Wagen drehte von der Aker ab. Es war still im Auto. Eine ungebrochene Stille. Ich sank in mich hinein. Aber ich drang nicht bis zu mir durch. Nicht zum Privatdetektiv Aron Ask, nicht einmal zum privaten Aron. Ich kam nur bis zu Turid, meiner Frau. Sie war alles für mich gewesen. Doch jetzt war sie tot, und mir blieb nur noch eines: Ich stand in ihrer Schuld, sie hatte mir so viel bedeutet. Die Polizisten waren fraglos ebenso motiviert wie ich, denn Turid war im Dienst ermordet worden. Sie hatten ihren Korpsgeist. Ich meine Liebe. Damit würden wir weit kommen. Vielleicht nicht jeder für sich, aber zusammen.
In Kommissarin Paulsens engem Büro hängte ich meinen Kamelhaarmantel zum Trocknen auf und entledigte mich der tropfnassen Schuhe und Socken. Erst jetzt begann ich zu frieren. Solange ich im Wasser gestanden hatte, war mir nicht kalt gewesen – jetzt zitterte ich, klapperte mit den Zähnen, trank mit großen Schlucken bitteren Automatenkaffee, der aber nichts bewirkte. Wir waren nicht allein. Paulsens Kollege Svenning saß dabei, und neben der Tür stand diskret ein Mann in einer rissigen Lederjacke und Schnürstiefeln.
«Ich weiß, dass das schwer für Sie ist. Es ist für uns alle schwer. Aber wir müssen trotzdem ein paar Dinge klären», meinte Paulsen vorsichtig und blickte mit unverhohlenem Ekel auf meine deformierten und verfärbten Zehennägel.
«Ja. Zum Beispiel, wer sie umgebracht hat», sagte ich trocken und spürte meine letzte Liebkosung ihrer Haut wie einen Phantomschmerz in den Fingerspitzen.
«Wie haben Sie sie gefunden?» Svenning war wesentlich jünger als seine Vorgesetzte. Er hatte Bodybuilderschultern und trug einen Ring im Ohr.
«Ich sah sie. Im Fluss», sagte ich, denn so war es gewesen. Auch jetzt noch sah ich sie, nichts als sie. Immer wieder hob ich sie aus dem Wasser, bettete ihren Kopf auf mein Knie.
«Wir wissen, dass sie im Fluss lag», sagte Paulsen sanft. «Vielleicht könnten Sie etwas ... ausführlicher werden?»
«Sie hätten sie finden sollen. Nein, Sie hätten verhindern sollen, dass ihr das überhaupt zustößt.»
Sie deutete auf den stummen Türwächter. «Vegard Bakke. Verdeckter Ermittler. Turid war heute Abend mit ihm zusammen. Dann ... haben sie sich aus den Augen verloren.»
«Aus den Augen verloren?», fragte ich und sah Bakke an, als liege die Beweislast bei ihm. Er fühlte sich nicht angesprochen.
«Genauer gesagt: Sie sagte, sie habe eine Verabredung. Vielleicht mit Ihnen?»
Die Phantomschmerzen hielten an. Lag sie jetzt auf einem Metalltisch mit einem Nummernzettel um die große Fußzehe? Bereitete man sie für das Obduktionsmesser vor? Ja, wir waren verabredet gewesen. Die Verabredung, die wir jeden Abend hatten, wenn wir nach Hause kamen, sie spät von der Schicht, ich spät von meinen jeweiligen Recherchen. Es hätte ein Abend mit Seinfeld-Videos werden sollen. Avocado mit leckerer Füllung. Dazu Rot- oder Weißwein. Die Brise des Föhns in ihrem frisch gewaschenen Haar, dazu die letzten Neuigkeiten aus dem Polizeipräsidium. Sie musste immer erst einmal den ganzen Klatsch und Tratsch und Ärger des Tages bei mir abladen, bevor sie etwas essen oder trinken konnte, dazwischen lachte sie sich über die mehr oder weniger intelligenten Kalauer in der Glotze schlapp. Dabei öffnete sich ihr drachenflammender Kimono wie ein Bühnenvorhang. Dann legte sie sich nackt in unser Bett, das ich frisch bezogen hatte, denn ich erledigte den überwiegenden Teil der Hausarbeit. Diese alltäglichen Tätigkeiten hatten mich zu etwas gemacht, was ich zuvor nicht gewesen war: zu einem ausgeglichenen Mann.
Das Gespräch zog sich so lange hin, dass in mir das beunruhigende Gefühl aufkeimte, die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und mir werde nicht ganz so glatt laufen. Die Aussichten verbesserten sich nicht dadurch, dass sie mich mit einem Auto in Verbindung brachten, das im Maridalsvei geparkt stand, nördlich der Waldemar Thranesgate. Meinem Auto.
«Bakke hat Turid zuletzt unten am Alexander-Kiellands-Platz gesehen. Er ermittelt gegen eine Spielhölle in der Gegend. Jetzt haben wir Klein-Balkan in Oslo», sagte Mirjam Paulsen mit einem schiefen, sarkastischen Lachen. «Vom Alexander-Kiellands-Platz bis zu Ihrem Wagen sind es zu Fuß keine fünf Minuten. Was haben Sie da gemacht?» «Sie ... Sie wissen, was ich mache.»
«Ja, Turid hat erzählt, dass Sie Privatdetektiv sind.»
«Eine unglückselige Allianz. Sagen Sie es ruhig.»
«Lassen wir das. Ich muss Sie leider noch einmal fragen: Was haben Sie im Maridalsvei gemacht?»
«Ich war wegen eines Kunden da.»
«Und der heißt?»
«Das kann ich nicht so ohne weiteres sagen.»
«Das werden Sie aber müssen.»
«Kann ich darüber schlafen?»
«Glauben Sie, Sie werden schlafen können?», fragte die Kommissarin mit einer aufrichtig wirkenden Fürsorglichkeit in der Stimme.
Damit ließen sie mich gehen. Ich wurde nach Hause gebracht. Die steilen Kehren hinauf zum Mehrfamilienbungalow im Betzy Kjelsbergvei im Stadtteil Grefsen knallte der Regen wie Splitterbomben gegen die Scheiben. Nachdem ich die Wohnungstür geöffnet hatte, blieb ich lange lauschend im Flur stehen, flüsterte ihren Namen. Die Leere, die sie hinterließ, war so groß, dass ich nach Luft schnappte. Alles schien über mir zusammenzuschlagen. Ich musste ihr ihre Würde wiedergeben. Wenn ich lebte, dann war es ihr Leben in mir. Ihres und das des Ungeborenen. Sie war im dritten Monat schwanger gewesen.
Das Tageslicht war nichts als ein unwilliger kleiner Spalt Grau. Nach einer schlaflosen Nacht, die mir die Polizistin so korrekt vorausgesagt hatte, lag ich zusammengerollt und von kaltem Schweiß bedeckt auf der einen Seite des Betts und fixierte die kaum merkliche Vertiefung auf der anderen Seite der Matratze. Vom Körper meiner Geliebten, den es nur noch in meiner Erinnerung gab.
Später schnitt ich mich beim Rasieren, ließ die Klinge in das blutgerötete Wasser fallen, setzte mich auf den Kachelboden, schlang die Arme um die Knie und brach in Schluchzen aus. Schaukelte, schüttelte, zitterte die Tränen heraus. Es war, als risse das Weinen alles aus mir heraus, alles außer ihr, sie war wie ein harter Kern, es gab nur noch sie und meinen festen Vorsatz, ihr Genugtuung zu verschaffen. Meine Trauer war noch neu, sie war erst im Entstehen, aber es war bereits eine entschlossene Trauer.
Turid war nicht in einem Vakuum gestorben. Ich war nicht der einzige Hinterbliebene. Sie hatte eine Familie, die ich allerdings kaum kannte. Musste ich sie nicht unterrichten? Ich stand mit dem Hörer in der Hand da, konnte mich aber nicht überwinden, die Tasten zu drücken, die mich mit ihrem Heimatort verbunden hätten. Jevnaker. Die Polizei würde das für mich tun, wenn sie es nicht schon getan hatte. Ich hatte eine andere Aufgabe. Ich musste mich dem unfassbaren ersten Tag nach dem Mord stellen.
Im Bus saß ich am Fenster und ließ die Schaufenster mit Weihnachtsdekoration passieren, sie widerten mich an. Den Maridalsvei hinunter erschienen mir die renovierten, bunt gestrichenen Holzhäuser wie Schwarzweißfernsehen, eine Idylle mit kleinen Fenstern und weißen Gardinen, die weiter unten von moderneren Gebäuden abgelöst wurde.
Mein zehn Jahre alter Golf stand nicht weit von der Stelle, wo sich Maridalsvei und Sagvei gabelten. Ich sah zu den Fenstern der Wohnung hinauf, in die mich mein Auftrag geführt hatte, sie lag im zweiten Stock eines sandgelben, lang gestreckten Mehrfamilienhauses. Wieso hatte man mich mit dem Auto in Verbindung gebracht? Ich hatte nicht falsch geparkt; der Wagen war also nicht wegen einer Verkehrswidrigkeit an das Polizeipräsidium gemeldet worden.
Auf dem Klingelschild stand Johnsen. Knapp. Geschäftsmäßig.
«Ich komme hoch», sagte ich in die Gegensprechanlage.
«Habe nicht geöffnet.»
«Für mich schon.»
Als ich im zweiten Stock ankam, stand sie schon in der Tür und ließ mich ebenso schnell ein wie zwölf Stunden vorher. Das Paneel der Flurwände war mit gerahmten Fotos bedeckt. Tiere und Kinder. Zwei der Kinder waren ihre eigenen. Sie wohnten beim Vater in Lørenskog. Richtige Jungs, hatte sie gesagt, als erkläre das alles. «Er ist seither nicht mehr hier gewesen?»
«Welcher ‹er›?», sagte sie und zupfte an ihrem geräumigen Pullover herum. Ihre Stimme klang wie ein Rennwagenmotor im Leerlauf. Längliches Gesicht mit hohen Wangenknochen. Das Haar weizenblond, die Spitzen sonnengebleicht. Barfuß und ungeschminkt. Außer Dienst.
«Der, wegen dem Sie mich angerufen haben.»
«Ach der», sagte sie, als sei ihr so früh am Morgen noch kein Gedanke an Männer gekommen.
Tiere und Kinder auch an den Wohnzimmerwänden. Lämpchen mit viel Dekor. Flokatis. Übermöbliert, die Luft von einträglichem Männerschweiß durchdrungen. Das drei Quadratmeter große Handtuch mit einem Gran-Canaria-Motiv lag nicht mehr auf dem Fußboden. Fußboden oder Sofa, nie im Schlafzimmer, hatte sie mir gesagt. Ihre Tarife begannen bei 1500. Sie hatte mir alles aufgezählt – ihre komplette Angebotspalette. Als sei ich deswegen gekommen, beim ersten Mal. Dabei hätte ich ihr durchaus sagen können, dass ihr Anliegen nicht zu meiner Angebotspalette gehörte, und sie an ein Krisenzentrum oder etwas Ähnliches verweisen können. Aber ich war zu ihr gegangen. Warum eigentlich?, fragte ich mich, während sie sich auf das Sofa setzte und den Pullover wie eine Zeltplane über die Knie zog. Wusste ich das wirklich nicht? Ich kannte doch meine verheerende Neigung, dem anderen Geschlecht zu Diensten sein zu wollen. Diese übertriebene Ritterlichkeit, die allzu oft dazu geführt hat, dass ich selbst Prügel bezog. Sie hatte angerufen, ich war angerannt gekommen. Manche lernen es eben nie.
Sie zündete eine Pall Mall an und pulte sich ein wenig zwischen den Fußzehen herum, während im Radio die Zehn-Uhr-Nachrichten liefen. In der Küche prustete die Kaffeemaschine. Ihr griffbereit platziertes Nokia brach in schrilles Vogelgezwitscher aus.
«Wollen Sie nicht antworten?»
«Nicht um diese Tageszeit.»
«Es könnte sich um etwas anderes handeln.»
«Das tut es nie.»
«Es gibt eine Tote», sagte ich.
«Tote?», sagte sie mit deutlichem Entsetzen vor dem, was das Wort implizierte.
Ich drückte die Klinke zur Balkontür herunter.
«Die klemmt ganz furchtbar», sagte sie, als wolle sie mich davon abhalten. Ich zog so heftig, dass das Glas klirrte. Mein Fingernagel versank im Holz.
«Fängt an zu modern.»
«Kriege keine Handwerker. Die bewegen ihren Arsch erst, wenn die dicke Kohle winkt.»
«Ja, ja», sagte ich geistesabwesend und trat auf den Balkon. Eine zusammengeklappte Sonnenliege mit verflecktem Bezug. Eine Wäscheleine, die mir ins Gesicht schlug. Die Aussicht ging auf Fabrikdächer sowie auf die Grünfläche neben der Stelle, wo Turid starb.
«Jemand, den ich kenne», sagte ich, als ich wieder hereinkam.
«Das tut mir Leid», sagte meine Auftraggeberin aus der Küche. Als sie zurückkam, hatte sie zwei Becher mit Teddymuster in den Händen. War das jetzt Entsetzen oder nur professionelles Mitleid? Ich saß ihr gegenüber im Sessel und konnte sehen, dass sie nicht alle Requisiten weggeräumt hatte. Unter dem Sofa lag ein Paar altmodische Damenpumps, die aussahen, als stammten sie noch aus den fünfziger Jahren. Als ich sie darauf hinwies, angelte sie sich ungerührt einen und ließ ihn an den Zehen baumeln. «Für Sie oder einen Kunden?»
«Einen Kunden. Hätte fast den Absatz abgebrochen, dieses Tier. Wollen alle etwas anderes sein, als sie sind. Schon komisch.»
«Aus der eigenen Haut fahren», fügte ich hinzu.
«Sind Sie auch so drauf?»
«Nein. Das war ich einmal, war lange aus der Haut gefahren. Jetzt will ich nur da sein, wo ich bin. Daheim.»
«Viel Glück dabei. Wenn alle wären wie Sie, gäbe es nicht viel zu verdienen.»
«Da sehe ich keine akute Gefahr.»
«Was wollen Sie eigentlich?» Sie befreite sich aus dem zeltartigen Pullover und griff nach der Kaffeetasse.
«Wissen, was Sie gestern Abend wirklich von mir wollten. Sie brauchten Hilfe. Es ginge um einen Mann, sagten Sie. Keinen Exmann. Nur einen Mann. Aber er sei sehr beängstigend. Ich selbst brauche jetzt lediglich einen Ort, wo ich gewesen bin. Die Polizei verlangt das von mir. Das kann unangenehme Konsequenzen für Sie haben, auch wenn Ihr Broterwerb davon zunächst einmal nicht betroffen ist. Ich muss angeben, dass ich bei Ihnen war. Es sei denn, Sie waren bereits so uneigennützig und haben es ihnen selbst gesteckt.»
«Ich?», protestierte sie entsetzt.
«Die Polizei hat mein Auto gefunden. Jemand muss ihnen einen Tipp gegeben haben.»
«Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt», sagte sie und wickelte sich wieder in ihren Zeltpullover. «Ich war es nicht. Warum sollte ich einen solchen Schwachsinn machen? Ich sitze hier und kriege die Krise, weil dieser Wahnsinnige wieder auftauchen könnte, und Sie behaupten, ich hätte keine anderen Sorgen, als Sie in irgendetwas reinzureiten.»
«Ja, ist das nicht unerhört? Aber mir kommt das alles merkwürdig vor, ich wüsste gern mehr über ihn. Wiederholen Sie bitte, was Sie gestern Abend gesagt haben. Mir kommt es vor, als sei ich heute aufnahmebereiter dafür.»
Sie tat, worum ich sie gebeten hatte. Sprach über ihn, seine Angewohnheiten. Es klang überzeugend. Sie verwickelte sich in keine Widersprüche, sie wiederholte präzise die Aussage vom Vortag. Aber es gelang mir trotzdem nicht, das Bild dieses Mannes in irgendeine einleuchtende Beziehung dazu zu bringen, wie ich Turid vorgefunden hatte.
«Jemand will mir etwas anhängen», sagte ich.
«Ich nicht», kam es sofort vom Sofa. «Ich will nur raus aus dieser Hölle.»
«Und in den Himmel», sagte ich und sah aus dem Fenster, hinaus in den Tag, der zur Neige ging, obwohl er noch gar nicht richtig begonnen hatte. Oslo im Dezember war ein Kohlenkeller.
«Also das kann noch warten.»
«Er meldet sich nicht an. Er kommt einfach – das sagten Sie doch, oder? Nicht durch die geschlossene Tür, sondern durch die Tür, die Sie ihm aufschließen, weil er Sie mit seiner Stimme willenlos macht. Sagt keine Silbe über sich selbst. Er sagt nur, wie er Sie haben will», sagte ich, ging um den Couchtisch herum und beugte mich über sie, die Hände rechts und links von ihren merkwürdig kleinen Ohren auf die Rückenlehne gestützt. «Aber gestern sind Sie drangegangen. Ans Telefon. Es war die richtige Tageszeit, aber etwas fiel mir auf. Ja, sagten Sie. Sonst nichts. Ja und amen.»
Ich rückte näher an sie heran. Sie wich mit dem Kopf seitlich aus.
«Als ob Sie Anweisungen erhielten. Sagen Sie also nicht, dass er nicht anruft. Er ruft an. Die Polizei hat mich gefragt: Wie haben Sie sie gefunden? Ja, wie war das möglich? Nicht schlecht, bei dieser Dunkelheit, oder?»
«Kapiere nicht, was Sie da reden. Das war nur einer von diesen üblichen Schwätzern, die nicht potent genug sind, herzukommen und sich zu holen, was sie haben wollen.»
Meine Handrücken legten sich wie Schraubzwingen über ihre Haare, die in einem Halbkreis auf dem Sofarücken lagen. Sie schob das Kinn nach oben, verdrehte die Augen.
«Erinnern Sie sich, wie wir gingen? Sie wollten nach Ihrer Höllenstunde an die frische Luft, sagten, dass Sie sich mit mir sicher fühlen. Und wir gingen zur Aker hinunter. Sie redeten fast nur über die Enten, den Fluss, Sie hatten für nichts anderes Augen. Dann sah ich etwas, das, was ich sehen sollte, und Sie konnten sich zurückziehen.»
«Jetzt hören Sie auf damit. Sie sind doch plötzlich ins Wasser gesprungen. Hätte ich den ganzen Abend da herumstehen und mir Ihre idiotische Planscherei ansehen sollen? Da bin ich lieber nach Hause. Ich hab nichts gewusst und konnte auch nicht erkennen, was Sie da plötzlich entdeckt haben. Sie haben sich da drübergehängt wie eine verdammte Plane.»
«Haare», sagte ich und schob meine Hände auf ihren ausgebreiteten Haaren langsam nach außen. Ihre Augen wurden kreideweiß wie Flipperkugeln, der Hals war glatt wie eine Schwimmbadrutsche. «Haare, die nicht mehr da waren. Das habe ich entdeckt.»
«Nicht, nicht», japste sie.
Ich zog etwas fester. «Sagen Sie etwas anderes. Etwas mit Hand und Fuß.»
«Was ... denn ... zum Beispiel?», brachte die heimarbeitende Sexualdienstleisterin keuchend hervor, den Blick blind zur Decke gerichtet. Ich machte ihr Angst, aber sie würde deswegen nicht den Verstand verlieren. Ich war zu harmlos, zu trivial. Ich war der Konkurrenz nicht gewachsen. Nicht, solange ich ihr nicht wirklich den Hals brach.
Ich ließ mich wieder in den Sessel fallen.
«Zum Beispiel, ob es diesen Mann wirklich gibt.» Sie schüttelte das zusammengedrückte Haar, die Pupillen kehrten an die richtige Stelle zurück.
«Natürlich. Ihn auch.»
«Ihn auch? Was soll das heißen?»
«Nichts. Nur dass die Welt voller Verrückter ist», sagte sie, die Panik stand ihr noch deutlich im Gesicht. Aber vielleicht war das nur eine verzögerte Reaktion.
«Ich komme wieder», sagte ich, als sie mich zur Tür brachte. «Falls nötig.»
«Ach ja?», sagte sie, als würde sie jederzeit dagegen wetten, und drückte die fünfte Zigarette, die unseren Kaffeeklatsch begleitet hatte, an der Halterung der Sicherheitskette aus.
Im Auto bekam ich Sodbrennen. Die Hände schlugen unkontrollierbar auf das Lenkrad. Ich zuckte am ganzen Körper. Verzögerte Reaktionen waren ansteckend. Vor meinem inneren Auge lief immer wieder der Film mit Turids groteskem Tod, ohne dass ich das Geringste dagegen tun konnte. Würde es mir helfen, wenn ich ihren Mörder fand? Vielleicht wäre das nur eine höhere Stufe der Hilflosigkeit. Ihn zu finden, um zu verstehen, wie jemand sie so behandeln konnte. Das war meine Existenzberechtigung.
Wenche Johnsen hatte so wenig gelogen, wie sie konnte. Sie lag auf einer Streckbank. Um mich stand es vielleicht nicht viel besser, auch wenn ich den Gedanken, dass jemand etwas gegen mich hatte, nicht zu Ende denken wollte, bevor ich dazu gezwungen war. Vielleicht war das Ende unseres Abendspazierganges wirklich nur Zufall, wenn auch ein ganz und gar unglaublicher. Aber der Mord an Turid war mit Sicherheit kein Zufall. Ich konnte auch nicht an einen Raubmord glauben. Irgendjemand hatte offenbar ein Exempel statuieren wollen. Zur Warnung und Abschreckung. Als Kommissarin im Dezernat für Gewaltverbrechen und Glücksspiel hatte sie sich weit aus dem Fenster gelehnt. Eine eigensinnige und ehrgeizige Polizistin, die allem auf den Grund gehen wollte. Sie ermittelte nicht nur, wenn sie im Dienst war, sondern rund um die Uhr. Ich legte abends meinen Job ab wie ein schmutziges Kleidungsstück, sie aber dachte ständig daran. Bei dem ganzen Klatsch und Tratsch und Ärger, den sie indiskreterweise bei mir ablud, ging es meist um klar definierte Fälle.
War die Erklärung nicht da zu suchen – in einem der Fälle, die sie bearbeitete? War das nicht das Nächstliegende? Ich ließ den Motor an, drehte die Heizung auf, wartete, bis mein kleines metallenes Schneckenhaus langsam auftaute, während ich ihre Fälle in Gedanken rekapitulierte, Fälle, die ihr nachtblaue Schatten unter den Augen beschert hatten. Sie hatte mit jedem Einzelnen gelebt. Jeder ging ihr gleich nah. Aber einer war anders als die anderen gewesen. Es war erst wenige Monate her. Damals hatte man ihr mit Repressalien gedroht. Es hatte Drohanrufe gegeben, sogar bei uns zu Hause. Ich hatte ihr angesehen, dass da etwas war, aber sie wollte nicht darüber sprechen, welchem Druck sie ausgesetzt war, bis ich eines Abends ans Telefon ging. Und selbst da wollte sie nicht, dass der Anrufer aufgespürt wurde. Sie wollte keine Geheimnummer, wollte einfach so weitermachen, im Clinch mit dem Fall. In dessen Mittelpunkt stand eine Wohngemeinschaft im eleganten Westend der Stadt. Ein Haus, in dem ständig Leute ein- und auszogen. Und dann lag eines Morgens eine Sechzehnjährige auf dem Esstisch, in der Scheide eine Kerze, über dem Kopf eine Plastiktüte.
Auto-Erotik. So nannte man das. Eine Praktik der sexuellen Stimulation ohne Partner. So schien es jedenfalls. Aber Turid hatte sich nie mit dem Anschein zufrieden gegeben. Sie ging den Sachen auf den Grund. Sie vermutete einen provozierten Tod zur Steigerung der Lust eines anderen. Sie umkreiste eine Person und kriegte sie schließlich. Nicht aufgrund von Indizien. Sie befasste sich mit der Persönlichkeit eines Verdächtigen. Ihr ging es mehr um die menschliche Dimension als um die DNA. Sie konnte den Menschen, den sie im Verhör vor sich hatte, ausziehen, indem sie ihm oder ihr immer näher kam. Zuhörte. Mitspielte. Des Teufels Advokat und zugleich sie selbst war. So arbeitete sie: auf dem Drahtseil über dem Abgrund balancierend. Darin hatte sie in mir einen Verbündeten. So hatten wir einander gefunden, im unglaublich heißen Sommer 1997. Der Fall, der uns zusammenführte, war der erste Baustein unserer Beziehung gewesen. Wir wussten beide, wie leicht man Grenzen überschreitet: Nur eine kleine Drehung an der mentalen Schraube, und schon verschwindet die Trennlinie zwischen Zivilisation und Barbarei. Wir hatten das gleiche Menschenbild gehabt. Konnten wir mehr teilen als das? In diesem speziellen Fall hatte ihre halsbrecherische Strategie allerdings nicht zu einem klaren Geständnis geführt, sondern zu einem gut untermauerten Verdacht und später zu einer Anklage.
Das alles lag nun einige Wochen zurück. Sie hatte sich sofort anderen Fällen zugewandt. Aber sie war immer wieder mit kleinen Bemerkungen auf die Vorgänge in dieser Wohngemeinschaft zurückgekommen. Irgendetwas an diesem Fall hatte sie nicht losgelassen.
Nachdem ich im Archiv einer der großen Osloer Zeitungen eine Stunde mit der Lektüre alter Ausgaben zugebracht hatte, wusste ich über diese ganze Geschichte wieder mehr als genug. Die Zeitungskonzerne hatten sich die Berichterstattung über Verbrechen zur wichtigsten kulturellen Pflicht gemacht. Jetzt würde Turid selbst der öffentlichen Begutachtung preisgegeben werden, erbarmungslos und bis ins letzte Detail. Das bedeutete, ein zweites Mal zu sterben, und wieder war ich völlig machtlos.
Das Haus im vornehmen Westen war von einer merkwürdigen Ansammlung von Leuten bewohnt. Es hatte einen weiten Blick über die Stadt und lag an der Straße, die zur Sprungschanze Holmenkollen hinaufführte. Joachim Bucher. So hieß der Mordverdächtige. Ehemaliger Skispringer. 1993 hatte er nur um Haaresbereite den Sieg der norwegischen Schanzen-Tournee verfehlt. 29 Jahre alt. Er machte ein bisschen in Weinimport zusammen mit einem zurückgetretenen Politiker der äußersten Rechten und während der Goldgräberzeit irgendetwas mit IT. Er besaß eine Neigung zu Cabriolets und Edelrestaurants. Ein Schürzenjäger. Bevorzugte junge Mädchen, wie Turid herausgefunden hatte. Am liebsten Mädchen in Pfadfinderuniformen, was auf ein pervertiertes Reinheitsideal hindeutete. Vielleicht hatte sein älterer Bruder Amund eine Meinung zu Turids Tod. Seine Berufsbezeichnung lautete kurz und knapp «Berater».
Ich musste mich am Lenkrad festhalten, als ich von meinem Parkplatz in der Innenstadt losfuhr. Die verzögerten Reaktionen waren chronisch geworden. Ich war aus der Haut gefahren, und das würde so bleiben. So lange, wie ich brauchte, um das Unfassbare fassen zu können.
*
Ich fuhr Richtung Holmenkollen, Oslos Hausberg. Ich verließ das Auto wie auf Luftkissen. Wie leicht und wackelig ich geworden war. Ein sportlicher Jüngling in Seemannspullover hüpfte in kleinen Tigersprüngen von Briefkasten zu Briefkasten und stellte die Post zu.
«Ich nehme die Post mit rein», sagte ich mit weit vorgestreckter Hand, als der junge Athlet einen Stapel Umschläge in Buchers Schlitz stecken wollte.
Er nahm mein Angebot ohne Widerrede an. Der Garten vor der säulengeschmückten Villa war auf dekorative und aristokratische Weise verwildert. An der Haustür war keine Türklingel. Vielleicht ging man einfach hinein, nachdem man ohne Ergebnis angeklopft hatte. Die Tür gab nicht nach. Ich umrundete das Haus und kam zu einem angebauten, nach Nordwesten gehenden Wintergarten neueren Datums. Ein Gewächshaus mit üppigen Grünpflanzen. Ein Aquarium wie ein gewaltiger Weinballon. Rattanmöbel. In einem der Sessel saß ein junger Mann und onanierte. Hemd über der Hose. Handystöpsel im Ohr.
Ich betrat das Haus durch eine Sprossentür an der Schmalseite des Wintergartens. Der Onanierer lächelte, murmelte einsilbige Kommentare auf die Pikanterien des Ohrstöpsels und wippte dabei wohlig mit dem Stuhl vor und zurück. Ich trat leicht gegen ein Bein seines Stuhls. Er kippte in der Sekunde um, als es ihm kam. Das Aquarium bekam eine Breitseite ab.
«Was verflucht ...»
Ich zog ihm den Ohrstöpsel heraus.
«Was hat es gekostet?»
«Was meinen Sie – das Aquarium?»
«Das Telefongespräch.»
«Eh, 280.»
Ich hielt ihm die Post vor die Nase. «Jemand zu Hause? Bucher, beispielsweise? Ich meine den, der frei herumläuft? Oder sind alle unten in der Stadt, um sich den Bauch voll zu schlagen?»
«Weiß nicht genau. Ich glaube, ich habe ihn heute Morgen gesehen. Dann wäre er oben. Da hat er ein Büro.»
«Und Sie – wo wohnen Sie? Wenn Sie nicht hier sitzen und bombensicheren Sex haben.»
«Ich ... also ich bin Kellner, in der Torggate. Ich habe gleich Dienst.»
«Ja», sagte ich und betrachtete das subtropische Schlachtfeld. «Es ist serviert.»
Draußen in der Eingangshalle stieß ich lediglich auf ein Surfbrett sowie einen Thermoanzug, der an einer Garderobe hing. Teppichbelegte Stufen, Tapeten, deren Ränder klafften, als wollten sie aufplatzen.
Er stand in der ersten Tür, die ich sah, als ich oben ankam. Groß und schlank. Falkennase. Haare sehr kurz geschoren. Lederhose, Ringershirt. Auf dem Oberarm eine Tätowierung. Eine vulgärrote Rose. Nicht gerade das, womit man im Elternhaus beim Weihnachtsessen protzen würde. Aber heute war alles erlaubt. Stil haben bedeutete, stillos zu sein.
«Sie stören», sagte er. Er sprach, wie ich es erwartet hatte: arrogant näselnd.
«Das deckt die Versicherung.»
«Ihre oder meine?»
«Doch wohl die von Ihrem Vater», sagte ich und gab ihm die Post.
Er ging vor mir ins Zimmer – mit einem Gang wie ein Löwe. Büro und Privatzimmer in einem Raum. Der war dafür aber riesig. In der Ferne ein Specksteinkamin. Eine Sofagruppe mit Bauhaus-Anklängen. Ein Bauernschrank als Bar. Auf einem Glastisch das Magazin Wallpaper und alle norwegischen Finanzzeitungen. Bang & Olufsen vertikal aufgehängt. Das Neueste und Teuerste an Büroausstattung, aber der Schreibtisch hätte im Büro eines Reeders stehen können. Zeitgemäß und traditionsbewusst. Von allem etwas. Das Cover einer Led-Zeppelin-Platte als Poster an der Wand. Houses of the Holy. Jungfräuliche Mädchen mit langem Blondhaar, die in einer mythologischen Steinlandschaft herumklettern. Waren sie Jungfrauen? War die Sechzehnjährige Jungfrau gewesen? Ich hatte hohen Blutdruck. Bis in die Augen.
Ich sagte, was ich Wenche Johnsen gesagt hatte, berichtete von einem Todesfall. Noch ein Versuchsballon.
«Shit happens. All the time.»
«Soll ich Ihnen nicht sagen, wer ich bin?»
«Sind Sie nicht schon dabei? Man muss den Leuten eine Chance geben, das ist mein Motto. Alles kommt zu dem, der warten kann.»
«Meine Frau hat Ihren Bruder eingebuchtet. Den mit der Kerze. Mit dem Pfadfinderehrenwort und den vielen Spielsachen. Sie wissen schon.»
Er kratzte sich auf der Brust, ein scharrendes Geräusch, wie von Kakerlaken. Er zog sich an den Eiern. Ein glatteres Geräusch. Dann sah er sich das Fax an, das gekommen war, während wir unser Vorgeplänkel absolvierten. Er machte daraus ein Papierflugzeug, das gegen meine Brust krachte.
«Ja, spielen wir doch ein bisschen, ein Spiel unter Gleichen? Homo ludens, Sie wissen schon», sagte er nachäffend.
«Und jetzt ist sie tot», sagte ich und riss das Flugzeug in winzige Stücke.
Er schnalzte herablassend mit der Zunge und trank einen Schluck des französischen Mineralwassers, das er auf dem Tisch stehen hatte.
Meine Wut nahm immer mehr zu. Er hatte sich hinter den Schreibtisch gesetzt, drehte sich ein wenig hin und her. Er spielte wieder, jetzt mit einem Papiermesser, ließ den Zeigefinger über die Schneide gleiten.
«Sie bekam Morddrohungen. Aber sie ließ nicht locker. Das war ihr Job: Sie buddelte in Scheiße. Sie war beharrlich, sie gab nicht auf. Sie gibt immer noch nicht auf. Jetzt bin ich an ihrer Statt hier.»
«Ach Gott, wie süß. Höre ich das Libretto einer Liebesgeschichte für das neue Jahrtausend, auf das wir uns alle so minutiös vorbereiten? Ich könnte im Besetzungsbüro der Oper anrufen und einen Termin für ein Vorsingen arrangieren.»
«Das Vorsingen hat schon stattgefunden, Bucher. Durch Sie. Der Anrufer waren Sie.»
Das Messer stand wie ein Pfahl im Schreibtisch, in den er es hineingerammt hatte.
«Natürlich war ich der Anrufer. Ich telefoniere am laufenden Band. Habe an jedem Finger ein Handy. Telefonieren ist mein Broterwerb. Manchmal gehe ich damit Pleite, aber das ist eine andere Geschichte. Und was wäre, wenn ich der Anrufer gewesen wäre? Wenn ich sie gebeten hätte, die Sache einzustellen? Was beweist das? Wie weit kommen Sie damit? Sie sind die Treppe hochgekommen. Freddy ist ein miserabler Türwächter. Er ist meistens ein aufgegeilter Dschungeljunge. Begeistert sich für die Kolonialzeit in Belgisch-Kongo, oder war es Borneo? Baströckchen und schokoladenbraune Fettärsche machen ihn völlig fertig. Also keine besondere Leistung, dass Sie ihn austricksen konnten. Aber hier endet Ihr Vormarsch. Sie sind eben kein Napoleon.»
Er lachte voller Hohn.