Das Medaillonbild der blonden Frau - Anny von Panhuys - E-Book

Das Medaillonbild der blonden Frau E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Der Verlust seiner Frau kann Franz Wittenborn nicht verwinden. Der ehemalige Anwalt verändert sich völlig und kommt auf die schiefe Bahn. Inzwischen ernährt er sich in Berlin mit professionellem Falschspiel – kein schönes Leben für seine scheue Tochter Renate, die oft unter den Launen ihres Vaters zu leiden hat. Eines Tages verfolgt ein von Wittenborn betrogener Spieler ihren Vater bis vor die Haustür. Voller Zorn fordert Gutsbesitzer Heinz Hausmann sein Geld zurück. Der Streit eskaliert, bis Hausmann den Betrüger niederschlägt und ihm die Brieftasche entreißt. Als Renate aufgeschreckt ins Zimmer kommt, sieht sie ihren Vater am Boden liegen. Zwar verspricht Hausmann noch, ärztliche Hilfe zu holen. Doch dann flieht er voller Panik im Glauben, Wittenborn ermordet zu haben. Als er zum ersten Mal einen Blick in die Brieftasche wirft, findet er eine unglaublich große Summe Geldes und ein wunderschönes Medaillonbild, offensichtlich Renates Mutter. Das Geld wird für Hausmann der Start in ein neues Leben in Südamerika. Das Bild aber trägt er immer bei sich. Nie wird er seine Tat vergessen können. Für Renate ist das Leben in Berlin glücklos und voller Mühen. Bis ihr eines Tages das Medaillonbild ihrer Mutter wieder begegnet. Abenteuer, Tragik, Romantik: alles wird in diesem Roman so kunstvoll miteinander verbunden, das man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte.-

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Das Medaillonbild der blonden Frau

Frauenroman

Anny von Panhuys

Das Medaillonbild der blonden Frau

© 1953 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592250

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I.

Die Schritte der beiden Männer hallten in der nächtlich stillen Straße wider. Der Ältere beeilte sich, schneller zu gehen, aber der andere blieb an seiner Seite, und beim Licht der Laternen sah Franz Wittenborn den Blick des Jüngeren in zorniger Anklage auf sich gerichtet.

„Wie lange wollen Sie denn noch so neben mir herlaufen, Sie Bauer?“ zischte der Ältere.

Heinz Hausmanns Stimme war voll Härte, als er erwiderte:

„Ich weiche nicht und werde neben Ihnen herlaufen, bis Sie mir mein Geld wiedergegeben haben. Ich erklärte Ihnen das schon mehrmals.“

Der Ältere nahm jetzt einen fast väterlichen Ton an.

„Junger Mann, wenn man, wie Sie, in Berlin den Lebemann markieren will, muß man auch mit etwaigen Folgen fertig werden. Jetzt gehen Sie ins Bett und schlafen Sie sich aus, denn mir scheint, der Alkohol trägt auch ein bißchen die Schuld an Ihrem sonderbaren Benehmen. Deshalb will ich Ihnen Ihre bisherige Frechheit auch nicht weiter nachtragen. Also gute Nacht, Freundchen!“

Er wollte seinen Weg allein fortsetzen.

Heinz Hausmann ließ sich nicht abschütteln, er ging stumm und verbissen weiter neben Wittenborn her.

Ein Weilchen herrschte Schweigen zwischen den beiden.

Endlich sagte der Ältere knirschend: „Wenn Sie jetzt nicht machen, daß Sie fortkommen, rufe ich Hilfe herbei, Sie Unverschämter!“

„Ganz wie Sie wünschen“, erfolgte die Antwort. „Ich habe nichts zu verlieren, nur zu gewinnen. Wollen Sie mich los sein, dann geben Sie mir das Geld zurück, das Sie mir im Falschspiel abnahmen, Sie Bauernfänger. Sobald ich mein Geld habe, sind Sie von meiner Begleitung frei.“

Der Ältere schaute sich um. Er bedauerte, sich kein Auto genommen zu haben. Aber der Spaziergang durch die frische Nachtluft hatte ihn gereizt.

Wie hätte er auch ahnen können, daß sich dieser ländliche Mensch mit solcher Ausdauer an seine Fersen heften würde.

Er sann auf eine Gelegenheit, ihm zu entwischen, aber sein Begleiter beobachtete jede seiner Bewegungen mit unverkennbarem Mißtrauen.

Der Küstriner Platz war überquert, dort drüben in einem der ersten Häuser der Königsberger Straße wohnte Franz Wittenborn.

Er dachte, wenn nur der dickfällige Begleiter verschwinden wollte, denn er selbst war müde, verspürte gar keine Lust mehr nach langen Umwegen.

Er blieb schroff stehen.

„Mensch, nun türmen Sie aber, sonst läuft mir die Galle über!“

Der Jüngere lachte böse.

„Sie haben falsch gespielt und mir dadurch mein Geld abgenommen. Ich verlange meine fünfhundert Mark zurück, es ist mein ganzes Kapital und ich bin stellungslos.“

„Also sind Sie ein leichtsinniges Huhn“, höhnte der Ältere, „im übrigen Schluß mit der Geschichte. Da drüben kommen Leute und wir könnten auffallen.“

„Vor einem Weilchen drohten Sie doch sogar noch, Hilfe herbeizurufen“, warf ihm Heinz Hausmann entgegen, „also schadet es auch nichts, wenn wir auffallen. Keinesfalls werden Sie mich los, bevor Sie mir mein Geld wiedergegeben haben.“

Franz Wittenborn zuckte die Achseln, ging gerade auf das Haus zu, darin er wohnte, und schloß auf.

Der andere drängte sich neben ihn, stand bereits in dem hohen Hausflur, ehe ihn Franz Wittenborns Fuß betrat.

Jetzt drohte der Jüngere.

„Wenn Sie mich nicht mit in Ihre Wohnung nehmen, mir dort mein Geld wiedergeben, rufe ich hier so laut, daß Sie ein Bauernfänger, ein Falschspieler sind, bis alle Hausbewohner zusammenlaufen. Vor allem fordere ich eine Unterredung von Ihnen.“

Der Ältere sah keinen Ausweg, wenn er einen Skandal vermeiden wollte, und stieg schweigend zwei Treppen hinauf, begleitet von dem jungen Mann, den er erst am vergangenen Abend kennengelernt hatte. Der Lichtkegel der kleinen Taschenlampe schob sich gespenstisch voraus.

Vor einer Korridortür machte der Ältere halt, er hielt die Hand mit dem Taschenlämpchen so über das Namensschild, daß der andere nicht zu lesen vermochte, was darauf eingraviert war. Er hatte sich ihm unter falschem Namen vorgestellt.

Ein langer, schmaler Korridor tat sich vor den beiden auf, dann schritt der Ältere voraus in ein mäßig großes Zimmer, das sehr verwohnt aussah, dessen Möbel aber den Stempel einer gewissen Vornehmheit trugen, wenn auch nur den einer abgeschabten Vornehmheit.

Franz Wittenborn schloß, nachdem er das Gas entzündet, die Zimmertür, warf seinen Hut auf einen mit grünem Samt bezogenen Polsterstuhl und seinen Überzieher auf den Tisch.

Sein Gesicht war voll Hohn.

„Also, junger Mann, nun sagen Sie, was Sie mir sagen wollen, und zwar rasch, denn ich bin müde. Und reden Sie ein bißchen leise, meine Tochter schläft nebenan.“

Renate Wittenborn war schon wach geworden, als sie auf dem Korridor das Schreiten von zwei Paar Füßen gehört hatte. Sie wachte immer auf, wenn ihr Vater, meist lange nach Mitternacht, nach Hause zurückkehrte, aber sie stellte sich stets schlafend, weil er sehr zornig wurde, wenn er sie noch wach fand.

Sie hob ein wenig den Oberkörper und unterschied beim Lauschen deutlich zwei Stimmen. Die ihres Vaters und eine ihr völlig fremde Stimme.

Die fremde Stimme schrie ganz laut: „Geben Sie mir meine fünfhundert Mark wieder, um die Sie Falschspieler mich betrogen haben. Ich ließ mich leichtsinnigerweise leider verschleppen zum Trinken und Spielen, aber wenn Sie ehrlich gespielt hätten, würde ich gern die Zeche für meinen Leichtsinn tragen, doch beschwindeln lasse ich mich nicht. Ich bin doch stellungslos und mir blieb nichts, mir blieb nicht so viel, um ein paar Tage Essen und Schlafen bezahlen zu können. Also, geben Sie mir mein Geld, oder wenigstens die Hälfte zurück. Wer weiß, wie lange es dauert, bis ich Stellung finde.“

Renate hörte jetzt den Vater sagen: „Das hätten Sie sich früher überlegen sollen, Bürschchen, vor allem aber beleidigen Sie mich nicht mehr, ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht falsch gespielt. Aber ein gutes Herz habe ich und deshalb schenke ich Ihnen zehn Mark. Dafür können Sie ’ne ganze Weile in einem Asyl unterkriechen, und wenn es nicht mehr zu warmem Essen reicht, schmeckt trokkenes Brot auch ganz gut.“

Er hielt dem Jüngeren einen Schein entgegen, doch das sah das Mädchen natürlich nicht.

Jetzt vernahm Renate wieder die Stimme des Fremden.

„Verspotten Sie mich nicht noch, Sie Falschspieler, das Geld, das mein ist, will ich haben!“

Renate begriff den Sinn der erregten Unterhaltung nicht, die nebenan geführt wurde.

Ihr Vater sprach jetzt leiser. Sie verstand nichts mehr. Und nun sann sie, wer wohl bei dem Vater sei und was dieser Fremde damit meinte, daß er den Vater Falschspieler nannte.

Nebenan aber ging der erregte Wortwechsel weiter, obwohl die Stimmen jetzt gedämpft waren.

Wittenborn machte eine großartige Handbewegung und erbot sich, dem unwillkommenen Besucher zwanzig Mark zu geben.

„Was soll ich denn damit“, wehrte Heinz Hausmann ab. „Aber ich will vergessen, daß Sie das Geld auf unrechte Weise an sich brachten, und bitte Sie, es mir leihweise wiederzugeben, Sie erhalten es zurück, sobald ich Stellung gefunden habe.“

„Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?“ höhnte der Ältere. Er zog eine breite silberne Börse hervor, hielt sie hoch. „Hier drinnen stecken Ihre Fünfhundert, probieren Sie mal, da ranzukommen!“

Im Augenblick, da er kaum ausgesprochen, zuckte es ihm blitzgeschwind durch den Kopf, daß er am Schluß des Abends zu viele Liköre getrunken, das Zeug verleitete ihn zu Unbesonnenheiten.

Man soll Verzweifelte nicht reizen, und dieser schlanke Junge mit den etwas derben, braungebrannten Zügen befand sich in verzweifelter Stimmung.

Aber zu spät hatte er sich besonnen, denn schon reckten sich zwei nervige Hände nach der Silberbörse.

Er hielt die Börse mit der Linken und wehrte mit der Rechten Heinz Hausmann ab, achtete nicht mehr darauf, daß er ihn rücksichtslos an Schulter und Brust stieß, schließlich auch ins Gesicht.

Plötzlich ward ihm die Börse entrissen, er sah sie nicht mehr.

Wut raubte ihm die Besinnung, er schlug wie wahnsinnig auf den Jüngeren ein, bis der, zur äußersten Verteidigung getrieben, seinen Hals umspannte, fester und fester.

Mit gurgelndem Laut stürzte er zu Boden.

Schon kniete Heinz Hausmann neben ihm, blickte entsetzt in das fahle, verzerrte Gesicht des vor ihm Liegenden.

Abscheulich sah das Gesicht aus, wie das eines häßlichen, toten Fauns. Beuteliger bauschten sich die Tränensäcke unter den geschlossenen Augen, tiefer kerbten sich die Furchen ein, die von der spitzen Nase halbrund zu den Mundwinkeln liefen, und trübes, blaugraues Licht schien über den Zügen zu schwimmen wie Nebel.

Ich habe ihn erwürgt! durchschauerte es Heinz Hausmann, und Eiseskälte überströmte dabei seinen Körper.

Plötzlich ruckte sein Kopf hoch, er starrte auf die Tür, die sich eben mit leisem Quietschlaut öffnete.

Im Rahmen der Tür stand ein Kind im langen weißen Nachtgewand.

Es war ein dürftiges, blasses Mädelchen mit so großen braunen Augen, daß sie das Gesicht vollständig beherrschten, dünnes, steif zurückgekämmtes Haar schien farblos.

Heinz Hausmann erschrak vor dem bleichen Geschöpfchen, als ständen die Schergen vor ihm, um ihn als Mörder zu verhaften.

Er zitterte so heftig, daß es ihm unmöglich war, sich zu erheben.

Ein helles Stimmchen fragte leise: „Was fehlt denn dem Vater, ist er krank geworden?“

Er biß sich auf die Lippen in toller, mühsam beherrschter Erregung. O, mochte Gott ihm jetzt beistehen! Das Kind hatte ihm eben einen Weg zur Rettung gezeigt!

Er stammelte: „Dein Vater ist ohnmächtig geworden. Wir besprachen etwas Wichtiges und da fiel er plötzlich um.“ Rasch und dennoch stockend fügte er hinzu: „Befindet sich sonst noch jemand in dieser Wohnung?“

Das Mädchen kniete neben dem am Boden Liegenden nieder.

„Mein Vater und ich wohnen allein hier, Mutter ist doch tot und die Aufwärterin kommt nur tagsüber ein paar Stunden.“

Mit ihren überaus schmalen Ärmchen machte die ungefähr Zehnjährige einen Versuch, den Vater hochzuziehen.

Heinz Hausmann sprang empor, er mußte den Rettungsweg benützen.

„Quäle dich nicht ab, Kind, du kannst deinem Vater doch nicht helfen. Ich werde den Arzt rufen. Wo wohnt der nächste Arzt?“

Sie gab eifrig und aufgeregt Auskunft: „Drei Häuser von hier nach links, es ist eine Nachtglocke an dem Haus. Vater läßt die Schlüssel immer innen in der Korridortür stecken, wenn er nachts nach Hause kommt; der Hausschlüssel ist auch dabei.“

Er nickte. „Gut, gut, ich hole also den Arzt.“

Er bückte sich, horchte auf ein Lebenszeichen des am Boden Liegenden mit einer letzten, verzweifelten Hoffnung.

Kein Atemzug war zu erlauschen, stumm und starr blieb das verzerrte Gesicht.

Er ist wirklich tot! durchdrang es Heinz Hausmann mit grauenhafter Gewißheit. Er mußte alle Kraft anwenden, um es nicht laut hinauszuschreien.

Mörder! durchzuckte es ihn, und Mörder! schien ihm alles hier in dem dumpfen Zimmer zuzurufen.

Wie ein weißer, häßlicher Kobold mit wunderschönen Augen hockte die Kleine neben dem regungslosen Mann auf dem bunten, abgenützten Teppich.

Heinz Hausmann graute. Er flüsterte: „Ich hole den Arzt und komme sofort zurück.“

Er atmete auf, als er den Schlüssel in der Korridortür stecken fand. Am selben Messingring hing der Hausschlüssel. Nun konnte er sich retten.

Zum Glück hatte er Streichhölzer bei sich, sonst hätte er sich in dem fremden Hause nicht zurechtgefunden.

Endlich befand er sich auf der Straße. Ewigkeiten schien es ihm, waren vergangen, seit er das hohe düstere Haus betreten. Und in diesen Ewigkeiten war er zum Mörder geworden.

Er schritt über den Küstriner Platz, irgendwo schlug eine Uhr die dritte Morgenstunde. Er schleppte sich durch Straßen und über Plätze, bis er ein Auto fand. Er nannte als Fahrziel den Stettiner Bahnhof, dort in der Nähe lag das Hotelchen, in dem er wohnte.

Der Chauffeur schrie ihn an. „Sie sind woll besoffen, da drüben is ja der Stettiner Bahnhof!“

Er wies nach links hinüber.

Heinz murmelte: „Ich weiß nicht Bescheid in Berlin“, und zwang sich zu aufrechter Haltung. Erst als er sich in dem kleinen Hotelzimmer befand, sich unbeobachtet wußte, sank seine Haltung zusammen wie übermüdet.

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, grübelte dem Geschehenen nach.

Er langte in die Tasche seines Jacketts und fühlte, als er sein Taschentuch suchte, die Börse, in der seine fünfhundert Mark sein sollten. Die fünfhundert Mark, um derentwillen er zum Mörder geworden.

Er öffnete die Börse und sein Blick drückte furchtbares Entsetzen aus, denn es fanden sich zwar die fünfhundert Mark, aber außerdem noch viel, viel mehr Geld, eine Menge großer Banknoten.

Heinz Hausmann erbebte vom Scheitel bis zur Sohle, denn nun war er nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Dieb.

Er legte die Börse auf den Tisch, ein grauenhafter Ekel vor sich selbst würgte ihn im Halse.

Er drehte das Licht ab, warf sich angekleidet auf das Bett.

Vielleicht suchte man jetzt schon den Mörder. Vielleicht hatte das kleine Mädchen, nachdem es vergebens auf seine Rückkehr gewartet, Hilfe herbeigerufen, ihn beschrieben, ein kleiner Zufall konnte ihn verraten.

Er starrte in das Dunkel des Raumes, und ihm war es, als liege sein ganzes zukünftiges Leben in so dumpfes Dunkel eingehüllt wie das Zimmer.

Er mußte an die wunderschönen, traurigen und ernst fragenden Augen der Kleinen denken. Wie zwei goldbraune Sterne schienen sie aus der Düsternis auf ihn niederzublicken.

Armes Ding! sann er, und sein Herz war plötzlich über und über angefüllt von einem grenzenlosen, unsäglichen Weh. Er vermochte nichts, gar nichts mehr zu denken, wie in einem strudelnden Durcheinander ertrank die letzte Klarheit.

Aber zu schlafen vermochte er ebensowenig, dazu war alles in ihm zu wirr und aufgewühlt.

Als der Morgen die dunklen Schattentücher fortriß mit grauer Dämmerhand, warf er die Stumpfheit ab, sein Selbsterhaltungstrieb setzte doppelt stark ein.

Er wollte fort, weit fort, so bald wie möglich.

Er packte sein Köfferchen, mit dem er vorgestern in Berlin angekommen, um zu versuchen, von hier aus Stellung zu finden. Hinter sich hatte er ja sowieso alle Zelte abgebrochen, Verwandte besaß er nicht mehr, also fort, so weit es nur möglich, fort, fort.

Aber wohin?

Er dachte an Hamburg. Von dort aus fuhren viele Schiffe über das Meer nach dem großen Reiche Übersee. Irgendwo nach dorthin wollte auch er.

Der Inhalt der Silberbörse bedeutete seine Rettung. Ohne sie wäre er jetzt wohl verloren gewesen.

Er wunderte sich dann fast, daß sich niemand in dem kleinen Hotel um seine Abreise kümmerte, daß kein Polizeibeamter bereitstand, ihn zu verhaften, ehe er Berlin verlassen konnte.

Er saß dann im Zuge und fuhr der großen Hafenstadt entgegen.

Bisher hatte er nur mit spitzen Fingern in die Börse gefaßt, in Hamburg wollte er sie ins Wasser werfen, damit sie ihn nicht verraten konnte.

Er nahm auch in Hamburg in einem kleinen, billigen Hotel Wohnung, und dort schüttete er, nachdem er sich eingeschlossen, den Inhalt der Börse auf dem Tische aus. Er zählte fast viertausend Mark und zum Schlusse fand er, verdeckt von den Geldscheinen, ein kleines, auf Elfenbein gemaltes Medaillonbild in dünner Goldumrahmung.

Er betrachtete das Bild, sah ein Frauenköpfchen von bestrickendem Reiz, einen holdlächelnden Mund und mattgoldenes Haar in reicher, lockiger Fülle. Er sah goldbraune Augen voll Leuchten und erkannte, daß es dieselben Augen waren wie die des kleinen, häßlichen Mädchens, dem er den Vater genommen.

Lange, sehr lange betrachtete er das Bildchen, sein Blick wollte sich gar nicht davon lösen. Und dann wandte er es um und fand auf der Rückseite der Umrahmung eine Eingravierung: Er las: Meinem geliebten Manne, Franz Wittenborn, zu unserem ersten Hochzeitstag von seiner Eva.

Franz Wittenborn, so mußte der Tote heißen — ihm hatte er allerdings einen anderen Namen genannt — und sie, die blonde Lieblichkeit, die das Bildchen darstellte, war seine Frau gewesen und des kleinen Mädchens Mutter. Die Augen verrieten es, aber auch nur die Augen, denn das Mädelchen war häßlich, war ein graues Entlein.

An diesem Tage warf Heinz Hausmann die Silberbörse in die Alster. Er hatte dazu einen Spaziergang gemacht, weit hinaus.

Auf dem Rückweg überholte er eine einsame Spaziergängerin. Sie hatte ein etwas fremdländisches Aussehen, ihre Haut war tiefbrünett, ihr Haar blauschwarz, es war Herbheit und Frische um sie herum.

Kaum hatte er sie überholt, als sie ihm nachgelaufen kam. Ihr etwas fremd klingendes, aber reines Deutsch flog hinter ihm her: „Mein Herr, haben Sie nicht etwas verloren?“

Sie war stehengeblieben.

Sie hielt etwas hoch, ihm entgegen. Er erkannte das kleine Miniaturbild und begriff nicht, wie er es verloren haben konnte.

Vielleicht war es gefährlich, sich zu dem Gegenstand zu bekennen, aber er tat es doch, er liebte dies gemalte reizvolle Gesicht mit den großen, strahlenden Augen, dem sonnigen Lächeln.

Die Fremde, die einfach, aber gediegen gekleidet war, meinte mit leisem Vorwurf: „So etwas Wunderschönes darf man nicht verlieren.“

Er mußte lächeln. Wahrscheinlich glaubte sie an Herzensbeziehungen zwischen dem Original des Bildes und ihm.

Er sagte ein paar warme Dankesworte, steckte das Bildchen sorgfältig ein.

Die Fremde musterte ihn prüfend, fragte, ob es ihm recht sei, den Weg zur Stadt mit ihr gemeinsam zurückzulegen.

„Ich langweile mich“, bekannte sie offen, „und unterhalte mich gern einmal. Mein Schiff fährt erst nächste Woche von Bremerhaven, und ich wohne, nun so lange in Hamburg, weil es doch hier mehr zu sehen gibt.“

Er rückte an seinem Hut. Natürlich könne man den Rückweg zusammen machen.

Sie schritt leichtfüßig neben ihm her und plauderte dabei frisch und lebhaft. Er fand, es sah so appetitlich aus, wenn ihre weißen Zähne beim Sprechen zwischen den roten Lippen aufblitzten.

Sie erzählte: „Ich habe eine alte Dame, eine geborene Deutsche und die Frau unseres kürzlich verstorbenen Obercapataz, die fast vierzig Jahre im Ausland gelebt, zu ihrer Nichte nach Schlesien gebracht. Ein paar Monate war ich dort in der Nähe des Riesengebirges zu Gast, aber nun hielt ich es nicht mehr aus. Mir erging es wie der alten Dame, das Heimweh packte mich.“ Ihre schwarzen Augen blitzten. „Kreuzunglücklich fühlt man sich schließlich in der Fremde, weil man die Heimat vermißt, so vermißt, wie man es sich vorher gar nicht vorstellen kann. Ich hätte es nie geglaubt, wie einen das Heimweh schütteln kann. Wie ein böses, starkes Fieber ist das.“

Sie zuckte ein wenig die Schultern und ihr Blick hängte sich flüchtig in den seinen.

„Es gibt Menschen, die behaupten, wo es einem gut geht, da sei auch das Vaterland! Mir fehlt das Verständnis dafür. Es wäre allerdings engherzig, zu verlangen, jeder Mensch solle und müsse innerhalb der in seinen Landesfarben angestrichenen Grenzpfähle bleiben. Nein, man soll sich die Welt auch anderswo anschauen, wenn man das Geld dafür übrig hat oder sich die Gelegenheit dazu bietet. Besonders, wenn man Kaufmann, Künstler oder Forscher ist. Aber schließlich gehört man rechtzeitig wieder heim. Doch das sind Dinge, die man nur selbst fühlen kann.“

Sie endete mit der Frage, wie er darüber dächte.

„Ich weiß keine Antwort“, erwiderte er versonnen. „Ich liebe wohl die Heimat, aber ich habe sie noch nie verlassen. Erst wenn ich ein Weilchen draußen im Auslande bin, werde ich ein Urteil fällen können.“

Er dachte, was brauchte die Fremde um seine noch so herzlich unbestimmten Lebensziele zu wissen. Er schwankte ja sogar noch, welches von den Ländern jenseits der Wogen des Weltmeeres seine Zuflucht werden sollte.

Er schwankte in der Wahl zwischen Brasilien, Mexiko und Argentinien.

Er sann, es war die höchste Zeit, sich zu entscheiden, er mußte fort, die Schuld scheuchte ihn.

Die Fremde sah ihn fragend an.

„Sie redeten eben so vom Ausland, als ständen Sie im Begriff, es kennenlernen zu wollen. Hier, in dem Hotel, wo ich wohne, warten alle Gäste auf Schiffe, und es ist in Hamburg wohl überhaupt nichts Besonderes, Menschen kennenzulernen, die auf Schiffe warten. Ich glaube bestimmt, Sie gehören auch dazu. Darf ich wissen, wohin Sie zu reisen beabsichtigen?“

Er dachte, eigentlich war das eine müßige, neugierige Frage, und er wußte doch zugleich, dieses stark und aufrecht wirkende Mädchen kannte keine müßige Neugier. Die Frage entsprang lediglich einer wenn auch flüchtigen, so doch warmen Teilnahme am Geschick eines Mitmenschen.

Vielleicht buchstabierten diese klugen, dunklen Augen aus seinen Zügen heraus, daß er einer jener heimlichen Galeerensklaven war, die unsichtbare und doch schwere Eisenketten trugen und damit an der Schicksalsbarke festgeschmiedet waren.

Er wollte eine ausweichende Erwiderung geben, dennoch sagte er, als sei er dazu gezwungen: „Ich beabsichtige, mit einem der nächstfälligen Dampfer ins Ausland zu reisen, aber ich bin mir noch nicht einig, wohin. Ich will Erkundigungen einziehen, wo es sich erträglich lebt, wo einer Arbeit finden kann, der hier sein Brot verloren hat.“

Er fand, es klang täppisch und hielt ihren klaren Augen nicht stand.

Sie lächelte ein wenig.

„Also Sie sind ein Auswanderer, der in der Fremde sein Brot suchen will. Dios mio, ich kenne Sie nicht, mein Herr, aber wenn Sie kein anderer Grund wegtreibt als nur die Existenzfrage, dann rate ich Ihnen, hierzubleiben. Ich zum Beispiel möchte mich lieber in der Heimat zu Tode hungern, denn dann werde ich doch wenigstens in der Heimat begraben, als daß ich in der Fremde überreichlich satt würde.“ Der Ausdruck ihres energisch geschnittenen Gesichts wurde sehr ernst. „Aber ich glaube, Sie suchen die Fremde aus anderen Gründen, und die gehen mich nichts an. Meine Heimat ist Uruguay, mein Vater hat dort eine Estanzia und sein bester Vaquero bin ich, wie er selbst behauptet. Sie sehen, ich bin keine Salondame, und verübeln es mir hoffentlich nicht, wenn ich ein bißchen geradezu rede und so ganz selbstverständlich neben Ihnen herlaufe.“

„Uruguay?“ wiederholte Heinz Hausmann nachdenklich und wie fragend.

Es schien, er hatte das andere, was seine Begleiterin gesprochen, gar nicht gehört.

Sie sah ihn groß an, und er machte ein verlegenes Gesicht.

„Wenn ich ehrlich sein soll, ist es mir zwar, als hätte ich einmal etwas von Uruguay gehört, ja, aber es ist für mich ein vollkommen verschwommener Begriff. Ich habe keine Ahnung, wo es liegt.“

Sie atmete tief die frische Luft ein, die hier draußen in den Vorortstraßen noch morgenstark war.

„Sie haben demnach aber wenigstens einen verschwommenen Begriff. Jedoch habe ich während meines Aufenthalts in Deutschland viele Leute kennengelernt, die das Wort Uruguay überhaupt nie vernommen haben. Sie hielten es für eine Frucht oder einen Boxer. Man darf es wohl keinem verübeln, dieses Nichtwissen, doch selbst begreift man es kaum, wenn einem das Land, das so viele nicht einmal dem Namen nach kennen, Heimat ist. Und damit Sie Bescheid wissen, Uruguay liegt in Südamerika und ist Republik.“

Es war jetzt Spannung in seinem Blick, als er fragte: „Und wie lebt es sich in Uruguay?“

Sie schaute zum Himmel empor.

„Dort droben ist es blauer als hier und die Luft ist zitternd von wohliger Wärme.“ Ihre Augen blickten geradeaus. „Aber der Bürgerkrieg hat unser kleines, schönes Land zu oft geschüttelt. Vater sagt, der Boden wanke davon immer ein wenig. Viehzucht ist Uruguays Haupterwerbszweig, und wir Einheimischen haben spanische, portugiesische oder indianische Vorfahren. Man fragt nicht mehr so genau, wir haben die Heimat lieb, nur darauf kommt es an. Wir haben die Heimat lieb, und unter den Farben weiß-blau verbindet uns die gemeinsame Treue zu unserer engen, schönen Heimat.“

Sie hatten die Haltestelle einer Elektrischen erreicht. Die Mietskasernen begannen, die Straßenreihen erwuchsen dichter, strebten in hohen, einförmigen Häusern himmelan.

Beide waren stehengeblieben.

Er fragte: „Wollen Sie fahren?“

Sie nickte: „Ich laufe schon seit ein paar Stunden herum.“

Er dachte, vielleicht war ihr seine Begleitung nicht mehr angenehm, und als eben ein Straßenbahnwagen hielt und sie Miene machte einzusteigen, zog er grüßend den Hut.

Sie sagte nichts, reichte ihm aber die Hand.

Der Schaffner klingelte heftig ab. Da sprang sie in den Wagen.

Da erst fiel ihm ein, wie weltungewandt er eigentlich war. Er hatte sich nicht einmal vorgestellt. Und das hätte er wohl eigentlich tun müssen, das erforderte die einfache gesellschaftliche Höflichkeit.

Er stand noch immer an der Haltestelle, nachdem noch ein halbes Dutzend weiterer Elektrischen vorübergefahren, und dachte, wie schade, daß er nun wieder allein war. Die klare, ein wenig tief gefärbte Stimme der Fremden war so angenehm gewesen und hatte in ihm ein wenig die Angst zum Schweigen gebracht, die er seit der unseligen Tat mit sich herumtrug.

O, nur erst Schiffsplanken unter sich spüren, nur erst die Wogen des weiten Ozeans sehen und wissen, am Ziel des Schiffes liegt das Land, wo er mit aller Kraft, mit eisernem Willen Wurzel fassen wollte, um ein neues Leben zu beginnen.

II.

Endlich bestieg Heinz Hausmann den erstbesten Straßenbahnwagen, es war ihm gleich, wohin er fuhr, und fand sich dann in einem alten Stadtteil, sah das pittoreske Hamburg.

Trübe Kanäle zogen an dunklen, altersmüden Gebäuden dahin, Häuser mit Lastkranen nach der Wasserseite und offenen Paternostern sah er. Er stieg aus und lief durch Gassen, die während des ganzen Tages im Dämmer lagen.

In dunklen Konturen brannte Licht, damit man arbeiten konnte.

In diesen dunklen Gassen, durch die das Wasser trüber Kanäle zog, residierte manch namhafter Kaufherr, dessen Villa und Park an der Alster einen Traum von Reichtum und schöner Ruhe träumten.

Hier herrschte das Geschäft, hier war die Arbeit Königin, auch im düsteren, fleckigen, unansehnlichen Gewande.

Heinz Hausmann kümmerte sich nicht darum, wohin sein Fuß ihn trug. Er grübelte nur der Frage nach: In welchem Lande sollte er einen Platz suchen für sich? Es war die höchste Zeit, sich zu entscheiden. Ein Zufall konnte für ihn die schlimmsten Folgen heraufbeschwören, weil er ein Mörder war, ein Mörder und Dieb.

Mehrmals streckte er die Hand nach Tageszeitungen aus. Er wollte nachsehen, was die Blätter über seine Tat zu berichten wußten.

Aber ihm fehlte der Mut, weil er fürchtete, zugleich die Gewißheit zu erhalten, daß man ihm auf der Spur sei.

Er setzte sich, um Mittag zu essen, in eine kleine Hafenkneipe. Arbeiter und Heizer aßen hier. Sie unterhielten sich in ihrem breiten Hamburger Platt, er verstand nicht viel davon.

Ein sauber gekleideter Mensch nahm an seinem Tische Platz. Er grüßte freundlich, bestellte beim Kellner Essen und redete zu Heinz Hausmann ein paar allgemeine Worte. Aus seiner Rocktasche sah der Kopf einer Berliner Zeitung hervor.

Heinz Hausmanns Blick irrte immer wieder dorthin.

Der andere bot ihm, weil er den Blick bemerkt hatte, die Zeitung an.

„Wollen Sie lesen? Es steht heute allerlei Interessantes darin. Zum Beispiel wurde vorgestern nacht in Berlin ein Mord unter ganz seltsamen Umständen begangen. Es handelt sich um eine geheimnisvolle Sache. Lesen Sie es nur selbst, es ist sehr interessant, wirklich.“

Heinz Hausmann wehrte ab.

„Nein, nein, ich lese so etwas nicht gern!“

Ihn fror plötzlich und gleich danach ward ihm siedendheiß.

Vorgestern nacht! Ein Mord unter seltsamen Umständen!

Er sah in diesem Augenblick ganz deutlich das mit verschabter Eleganz eingerichtete Zimmer, sah den Erwürgten zu seinen Füßen und hörte das Mädelchen im weißen Nachtgewande fragen: Was fehlt denn dem Vater, ist er krank geworden?

Er bestellte sich ein Glas Rum.

Ihm war mit einem Male elend und übel zumute.

Der andere lachte. „Ihnen wird wohl schon flau, wenn man von so was wie einem Mord redet?“

Heinz versuchte, Haltung zu bewahren.

„So schlimm es is nun gerade nicht, mir ist schon den ganzen Morgen flau.“

Er redete noch allerlei, zwang sich dazu, denn jählings war in ihm die Angst erwacht, der Mann neben ihm könnte vielleicht ein Kriminalbeamter sein.

Schließlich vermochte er die Nervenanspannung nicht mehr zu ertragen, er zahlte, erhob sich und grüßte.

Ihm ward leichter, als er merkte, er wurde nicht verfolgt.

Er schalt sich kindisch. Niemand dachte daran, ihn zu verfolgen, weil niemand ihn verdächtigte.

Dennoch, solange er sich auf deutschem Boden befand, würde ihn die wahnwitzige Angst quälen, ihm nicht die kleinste Ruhepause gönnen, um frei zu atmen.

Ob er sich wegen seiner Überseereise irgendwo beraten lassen sollte? Aber wer weiß, welchem Schwindel und welchen Gaunereien er da ausgesetzt war.

Uruguay! Ganz laut meinte er das Wort zu hören.

Bunte Plakate im Fenster eines Schiffahrtsbureaus lockten an, versuchten in Farben die Reize fremder Länder anzupreisen. Unter einem mächtigen Dampfer auf grellblauen Wogen las er mit riesigen Lettern das Wort Uruguay. Die Buchstaben strebten ihm förmlich entgegen und das Wort war ihm doch noch gestern so fremd und unbekannt gewesen, wie es ihm heute schon vertraut schien.

Er betrat das Bureau, ließ sich die Fahrpreise sagen, fragte allerlei und erhielt freundliche Auskunft. Er hörte, der nächste Dampfer nach Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay, würde Mitte der kommenden Woche von Bremerhaven abfahren.

Da mußte er an die Fremde denken.

Er fragte, wann das Konsulat geöffnet sei, alle seine Papiere trug er ja bei sich.

Man antwortete ihm, wenn er sich eile, käme er noch zurecht, ehe geschlossen würde. Und er eilte sich sehr.

Vor der Tür des Konsulats traf er die Fremde wieder. Sie trat aus dem Hause, blieb stehen, begrüßte ihn wie einen alten Bekannten.

„Nun, Sie wollen doch nicht etwa auf das Konsulat für Uruguay?“

Er nickte. „Doch! Denn ich weiß ja nun, wohin meine Fahrt gehen soll. Nach Uruguay! Sie haben mir Lust gemacht, das Land kennenzulernen. Und weil ich Landwirt bin, hoffe ich dort Arbeit zu finden.“

Sie sah ihn sehr ernst an.

„War Ihr Entschluß auch nicht vielleicht übereilt? Ich möchte nicht die Schuld tragen, falls Sie vielleicht drüben bei uns im Lande nicht das Glück finden, das Sie erwarten. Sie dürfen sich nicht davon beeinflussen lassen, daß ich meine Heimat lobte.“

„Nein, nein“, versicherte er hastig. „Hoffentlich ist das Konsulat noch geöffnet?“

„Ja, es ist noch geöffnet“, gab sie zurück. Sie meinte nachdenklich: „Vielleicht macht man Ihnen aber für die Einreise Schwierigkeiten. Ich werde deshalb, wenn es Ihnen recht ist, wieder mit hingehen und erklären, Sie seien von meinem Vater durch mich engagiert, was ja, da Sie Landwirt sind, durchaus glaubwürdig ist. Ich habe mir vorhin Briefe vom Konsulat geholt.“

Er hatte bisher an keine Schwierigkeiten gedacht, plötzlich aber sah er Hindernisse.

Er nahm das Anerbieten ihrer Hilfe dankbar an.

Sie lächelte. „Ein wenig ist meine Heimatschwärmerei doch die Veranlassung, daß Sie sich für Uruguay entschieden haben, deshalb will ich Ihnen behilflich sein.“

Es ging alles glatt.

Er zeigte sein Zeugnis der Landwirtschaftlichen Schule und sein Zeugnis als Gutsinspektor, auf dem Tüchtigkeit und Ehrlichkeit betont wurden und daß die Entlassung nur geschehen, weil der Gutsherr in bedrängter Lage keinen Inspektor mehr halten könne.

Sie standen dan beide auf der Straße, und Heinz Hausmann wußte jetzt auch den Namen des brünetten Mädchens.

Sie hieß Verena Saperas, ihres Vaters Estanzia schien Bedeutung zu haben. Er hatte das auf dem Konsulat gemerkt an der Art, wie die Herren mit ihr sprachen.

Sie erbot sich, ihm bei der Besorgung des Fahrscheins behilflich zu sein, und er willigte mit Freuden ein. Ihre sichere, zuverlässige Art schläferte seine Ängste ein.

Sie verschaffte ihm einen Platz auf demselben Dampfer, mit dem auch sie fahren wollte, und er hatte das Gefühl, als seien da plötzlich wieder helfende Mutterhände für ihn bereit. Und es war doch schon so lange her, seit seine Mutter sich neben den Vater zur Ruhe gelegt auf dem kleinen Friedhof seines Geburtsdorfes.

Verena Saperas erzählte ihm viel von ihrem Daheim und aus ihrem Munde klang es wie eine einzige große Lobeshymne auf die Heimat.

Verena Saperas wohnte in einem Hotel, nicht weit von dem seinen entfernt, und er durfte sie ein paarmal zu Ausgängen abholen.

Dabei fragte sie ihn über seine landwirtschaftlichen Kenntnisse aus, und er bewunderte aufrichtig, wie beschlagen sie auf dem Gebiete war.

Sie versprach, den Versuch zu machen, ihm auf einer befreundeten Estanzia Stellung zu verschaffen. Im Anfang müsse er bescheiden sein und mit allem fürlieb nehmen; wenn er das Zeug dazu besitze, arbeite er sich schon empor.

Er freute sich des Versprechens, reiste er doch nun nicht ohne Hoffnung in die Fremde.

Sie fuhren zusammen nach Bremerhaven und Heinz Hausmann ging ein Weilchen nach Verena an Bord. Neben ihm aber schlich wieder die Angst, aufs neue fürchtete er die Gefahr einer Verhaftung überstark. Als sich aber die letzten Formalitäten glatt erledigten und ihm wieder Verenas bräunliches Gesicht zulächelte, dämmerte die Angst zurück, er empfand jenes Gefühl von Geborgensein, das ihn immer in ihrer Nähe in leise Sicherheit wiegte.

Sein Herz tat harten, schweren Schlag. Wie würde ihr Lächeln ersterben, ihr froher Blick, mit dem sie ihn begrüßte, sich in Verachtung wandeln, wenn sie ahnte, welch ein Verbrecher er war.

Denn das war er, davon konnten ihn auch die besonderen Umstände, durch die er zum Verbrecher geworden, nicht freisprechen. Einen Mord beging er, einen Diebstahl dazu — und ein kleines Mädchen war durch ihn zur Vollwaise geworden.

Ob er drüben im fremden Lande ein wenig würde vergessen können, welche furchtbare Schuld er auf sich geladen, ob die Fremde die Kraft besitzen würde, seinen Selbstvorwürfen die marternde Schärfe zu nehmen?

Mochte es der Himmel geben!

Er wußte wohl, er hätte sich freiwillig dem Gericht stellen müssen, hätte sich nicht der Verantwortung entziehen dürfen, aber dazu hatte sein Mut nicht gereicht, nein, dazu nicht.

III.

Es war eine wundervolle Seereise. Heinz Hausmann nahm mit Entzücken und Begeisterung die malerischen, fremdartigen Küstenbilder in sich auf, die sich seinem Auge boten. Er bewunderte die romantischen Schönheiten der portugiesischen Ufer, Madeira tauchte auf und die Kanarischen Inseln, der Äquator wurde passiert und immer war das Wetter herrlich klar geblieben in all den Tagen.

„Nun wird bald die brasilianische Küste in Sicht kommen“, erklärte ihm Verena, die viel mit ihm auf dem Dampfer beisammen war.

Aber noch ehe die brasilianische Küste in Sicht kam, wühlte ein Sturm den Atlantischen Ozean auf, der dem Riesendampfer einen Tanz auf den Wogen verschaffte, der keinem der Passagiere Freude bereitete.

Mit stummem Entsetzen hockte man in den Gesellschaftsräumen zusammen, Angst und Entsetzen schminkten die Gesichter grüngrau und es nützte nicht viel, daß die gesamte Schiffsmannschaft, vom Kapitän abwärts bis zum jüngsten Schiffsjungen, erklärte, es sei nicht der geringste Grund zur Besorgnis vorhanden, so ein Dampfer trotze noch ganz anderen Wettern.

Ein geschmackloser Unglücksvogel erzählte laut von Schiffsuntergängen. Seine scharfe Stimme tat allen weh, die ihn verstanden. Er sprach spanisch.

Verena war froh darüber, denn Heinz Hausmann brauchte über die törichte Unglücksunke nicht noch nervöser zu werden, als er schon war.

Er tat ihr so bitterleid.

Sie hatte längst bemerkt, daß er etwas mit sich herumtrug, mit dem er nicht fertig wurde. Sie war sich längst darüber klar, irgendeine große Sorge, eine Gewissenslast beschwere diesen kräftigen jungen Menschen, der ihr ausnehmend gefiel.

Er gefiel ihr besser als je ein Mann zuvor, sie gestand sich das ehrlich ein.

Ob sein Kummer, seine Sorge irgendwie mit der blonden Schönheit auf dem kleinen Medaillonbilde zusammenhing, das sie damals in Hamburg gefunden und durch das sie seine Bekanntschaft gemacht hatte?

Sie mochte nicht fragen, nicht dadurch vielleicht an Wunden rühren, die noch frisch waren und bluteten.

An einem der Tische, wo sich die meisten Passagiere zusammendrängten, saß eine ältere Dame, eine Deutsche. Sie rief sehr erregt: „Ich habe einmal in einem Roman gelesen, daß ein großes Schiff vom Sturm zerrissen wurde, wie ein schwaches Haustier von einer wilden Bestie, weil sich ein Mörder an Bord befand.“

Ein Berliner spöttelte: „Meine Allerjnädigste, dann müßten viele Schiffe vom Sturme zerrissen werden.“

Verenas Züge waren angespannt, sie schaute Heinz Hausmann schärfer an.

Hatte sie sich geirrt oder war er vorhin bei dem Satz der deutschen Dame zusammengezuckt wie jemand, der sich getroffen fühlt?

Sein Blick wich dem ihren aus, ward scheu.

Ein furchtbarer Stoß schien den Schiffsriesen von oben bis unen spalten zu wollen. Ein paar Frauen schrien laut auf, eine verfiel in Weinkrämpfe. Die ältere deutsche Dame kreischte: „Wir haben auch einen Mörder an Bord!“

Verena sah diesmal ganz deutlich das Zusammenzucken des Mannes, der sich krampfhaft an den Armlehnen seines bequemen Stuhles festhielt.

Allmählich, nach vielen Stunden, ließ der Sturm nach, die todblassen Gesichter der Passagiere bekamen wieder Farbe. Man beschloß vor Freude am Abend einen Ball zu feiern.

Heinz Hausmann schlich sich in seine Kabine. Ihm war jämmerlich zumute, jämmerlicher als je.

Die Worte: „Wir haben auch einen Mörder an Bord!“ gellten ihm noch immer in den Ohren.

Wie tausend Nadeln mit scharfen Widerhaken riß es an seinen Nerven und dazu war es ihm, als hätte ihn Verena scharf beobachtet, als habe er in ihren klaren klugen Augen das Licht des Mißtrauens aufblitzen sehen.

Er setzte sich auf sein Bett, stützte den rechten Ellbogen aufs Knie und legte sein Kinn in die Schale seiner Hand. Ohne daß er es wollte, stiegen ihm heiße Tränen in die Augen.

Mörder! Dieb! Wie ein Chor von Tausenden brüllte und tobte es unaufhörlich: Mörder! Dieb!

Er horchte genau und ein klägliches Lächeln erstand flüchtig um seinen Mund.

Das Meer war noch voll Unruhe, der mächtige Naturgesang der riesigen Wogen formte sich für sein schuldiges Gewissen zu einem Chor von Anklägern.

Er mußte wieder an jene Nacht im Hause des Berliner Ostens denken. Wie rührend war die Gestalt des Kindes gewesen, das ihn so gläubig hatte gehen lassen, um den Doktor zu holen.

Was mochte aus dem elternlosen Mädchen geworden sein?

Ob die Kleine Verwandte besaß, die sich ihrer angenommen hatten?

Eine schöne Mutter hatte sie besesen, eine wunderschöne Mutter.

Er zog das Bildchen hervor und strich unwillkürlich mit zärtlicher Hand über das entzückende Gesicht, das so gleichmäßig lieb lächelte, als sei das Lächeln nur ein einziger Weg der Freude.

„Wenn du mir so begegnet wärest, dich hätte ich geliebt“, flüsterte er auf das Bildchen nieder, von dem, so oft er es auch betrachtete, immer wieder jener eigentümliche, berauschende Reiz ausging, der ihn wie in einen Zauberbann zog.

Er hob die kleine Elfenbeinmalerei an die Lippen, sann verzweifelt, er hatte dem Kinde dieser liebreizenden Frau den Vater, den Beschützer genommen. Vielleicht auch das letzte Geld.

Gleichviel, ob es im Falschspiel gewonnen oder durch irgendwelche Arbeit erworben war, es handelte sich um eine ganze Menge Geld, das der kleinen Waise zugute gekommen wäre.

Als er das Bildchen an seine Lippen hob, hatte sich leise ein wenig die Tür geöffnet, Verenas dunkle Augen spähten in den Raum.

Sie war Heinz Hausmann gefolgt, getrieben von Mitleid und Güte, getrieben von einem Erbarmen, über das sie sich selbst nicht klar ward.

Der Mann hatte das Öffnen der Tür nicht bemerkt.

Verena aber erspähte das Bildchen und ein eigentümliches Empfinden durchströmte sie.

Sie beneidete sie, deren Bild Heinz Hausmann mit solcher Inbrunst küßte, und sie verschwand wieder, zog die Tür leise hinter sich zu.

Sie begab sich in ihre Kabine und in ihr war etwas erwacht, was sie vor dem heutigen Tage, was sie vor dieser Stunde noch nicht gekannt, die Eitelkeit.

Sie schloß sich ein, betrachtete sich gründlich im Spiegel.

Schön war sie nicht. Vielleicht aber hübsch, wenn sie es verstände, ihr Äußeres besser zur Geltung zu bringen.

Sie klingelte einer Stewardeß, mit der sie sich sehr gut stand, und sagte lächelnd zu ihr: „Ich möchte heute beim Ball recht hübsch aussehen, liebes Fräulein Marie, aber ich verstehe nicht, wie man das macht. Würden Sie mir dabei helfen?“

Sie hielt der Stewardeß einen Geldschein entgegen, die über das ganze Gesicht lachte.

„Natürlich helfe ich Ihnen gern, auf so etwas verstehe ich mich, und Sie sehr hübsch zu machen, ist nicht schwer, Senorita.“

Sie holte dann allerlei herbei und nun mußte Verena Saperas verschiedenes durchmachen, wovon sie bisher keine Ahnung gehabt.

Erst gab es ein Gesichtsdampfbad, dann stäubte heller Puder auf die bräunlichen Wangen nieder und die Augenbrauen wurden künstlich verlängert.

Danach ward Blau auf die Lider getupft und verrieben, die Lippen zu brennender Röte gezwungen durch einen Stift. Zuletzt ward das schwarze, straffgescheitelte Haar durch ein heißes Ondulationseisen aufgelockert zu losen Wellen. Endlich wählte die sich emsig mühende Stewardeß aus Verenas Garderobe ein dunkelrotes Seidenkleid. Sie trennte die Ärmel heraus und vertiefte mit kühner Schere den Halsausschnitt.

Als Verena sich, nachdem sie fertig angekleidet, im Spiegel beschaute, mußte sie zugeben, sie sah ganz anders aus als vorher, und die Stewardeß meinte stolz: „Man hat Sie bis jetzt kaum unter den Passagieren bemerkt, Senorita, von nun an werden sich die Herren die Augen nach Ihnen ausschauen.“

Verena dachte, daß ihr daran herzlich wenig lag, daß sie aber sehr zufrieden wäre, wenn der Mann, der das liebliche Medaillonbild so versunken geküßt, wenigstens bemerken würde, daß auch sie nicht zu den häßlichen Frauen gehörte.

Und doch, nachdem sie die Stewardeß verlassen, war sie nahe daran, das Kleid wieder abzuwerfen, ihr Haar wieder in der alten Weise zu ordnen. Es schien ihr mit einem Male töricht und aussichtslos, gegen eine Frau anzukämpfen, die sie nicht kannte.

Sie sann, weshalb hatte wohl Heinz Hausmann die schöne Blonde verlassen und was trieb ihn so weit von ihr und Deutschland fort?

Sein Zusammenzucken bei den zwei furchtbaren Silben „Mörder“ hatte sie zu deutlich gesehen.

Trieb den Mann, dem sich ihr eigenes Herz so überschnell zugeneigt, eine schwere Schuld von der schönen Blonden und aus der Heimat fort?

Und welche Schuld?

Sie kam sich in dem festlichen Kleid, mit dem geschminkten Gesicht, dem gelockten Haar wie eine schlecht zurechtgemachte Komödiantin vor. Der Mann, den ihre Gedanken umflogen wie Tauben ihren Schlag, dieser Mann litt; sie sah und fühlte es und gefiel sich doch in der Rolle des geputzten Weibchens, um ihm zu gefallen, seine Blicke auf sich zu ziehen.

Sie kämpfte mit sich. Sollte sie sich wieder umkleiden?

In diesem Augenblick klopfte es an.

Verena öffnete, Heinz Hausmann stand vor der Tür ihrer Kabine.

Er starrte sie an, als müsse er es sich erst klarmachen, daß sie es wirklich war.

Er rief betroffen: „Wie so ganz anders sehen Sie aus, Fräulein Saperas, aber —“

Er stockte. Nein, er durfte wohl nicht sagen, was sich ihm auf die Lippen drängte.

Verena ermunterte ihn: „Sprechen Sie nur frei heraus, sprechen Sie zu Ende. Ich kann eine herbe Wahrheit besser ertragen als eine schmeichlerische Unwahrheit.“

Er stand mitten im Rahmen der Tür, seine blauen Augen blickten sie treuherzig und doch ein bißchen verlegen an.

„Sie gefielen mir vordem viel besser als jetzt, Fräulein Saperas. Ich verstehe ja wohl nicht viel von dergleichen, aber ich finde, die Locken unterbrechen den metallenen Glanz Ihrer Haare. Ihr Haar ist viel schöner, wenn es glatt anliegt. Und Ihre Haut gefiel mir ohne Puder auch besser. Ihre Arme aber sind viel zu schön, um jedes dummen Gaffers Blick auf sich zu ziehen.“

Das letzte sagte er sehr leise.

Sie fühlte Freude, erwiderte rasch: „Ich werde mich sofort wieder in die alte Verena Saperas zurückverwandeln, denn ehrlich gestanden, ich gefalle mir so ebenfalls nicht.“

In seinen Augen leuchtete es auf.

„Ich kam eigentlich, um Sie zu bitten, nach dem Abendessen ein wenig mit mir an Deck zu gehen. Das Wetter hat sich beruhigt und die Sterne glänzen schon über dem Meer. Ich meine, man sollte nicht tanzen nach der Angst, die noch vor kurzem jeden verwirrt. Und zu Ihnen paßt das auch eigentlich gar nicht.“

„Weshalb, bin ich dazu zu häßlich?“ warf sie ihm scharf entgegen. Sie konnte nicht anders.

Er schüttelte lebhaft den Kopf.

„Ich weiß nicht genau, ob Sie schön oder häßlich sind, ich weiß nur, daß zu Ihnen all der Firlefanz der Durchschnittsgeschöpfe nicht paßt. Ich weiß, daß Sie klug und gütig sind und ein prächtiger Kamerad sein können, und das kleidet Sie. Ich habe an mir erfahren, daß Ihre Stimme allein wie Trost und Stärke ist, und danach sehnte ich mich vorhin. Deshalb bat ich Sie, mit mir später auf Deck zu gehen. Unter dem Sternenhimmel möchte ich Ihnen etwas erzählen, etwas beichten. Ich bin es Ihnen schuldig, und mich wird es erleichtern.“

Sie lächelte weich, ihre dunklen Augen ruhten auf seinem blassen Gesicht.

„Also ich kleide mich um, und nach dem Abendessen, wenn man im Saal über das Tanzen vergißt, daß es Stürme und Wetter gibt, treffen wir uns oben. Die Nacht unterm Sternenhimmel auf offenem Meer kümmert sich nicht um tanzende Pärchen, aber sie wird uns beiden gut tun.“

Sein dankbares Lächeln blieb bei ihr, und während sie sich umkleidete, trällerte sie ein Liedchen vor sich hin.

IV.

Als Verena nach dem Abendessen ihre Kabine abschloß, um auf Deck zu gehen, kam die Stewardeß den Gang entlang, ihr entgegen.

Sie blieb ein paar Schritte vor ihr entgeistert stehen. Ja, was bedeutete denn das? Erst ließ sich die Senorita Seperas von ihr schön machen, gab ihr dafür ein Trinkgeld, das nicht übel war, und jetzt sah sie doch wieder genau so aus wie früher.

Es sollte ein schwerreiches Mädchen sein, diese Uruguayerin, und so eine darf sich natürlich die dümmsten Launen gestatten und sie mit üppigen Trinkgeldern bezahlen.

Verena steckte ihren Schlüssel ein, lächelte die Stewardeß freundlich an.

„Fräulein Marie, ich habe meine Schönheit wieder abgeschüttelt, mir ist so wohler.“

Sie nickte ihr lächelnd zu, eilte vorüber und war sehr belustigt über den verblüfften Ausdruck auf dem Gesicht der Stewardeß.

Ihr war so überaus wohl zumute, seit sich ihr Haar, von Wasser und Bürste gezwungen, wieder wie ein glatter Ebenholzrahmen über Stirn und Schläfen legte, seit sie die Farben von ihrem Gesicht gewaschen.

Sie fand Heinz Hausmann an einem versteckten Platz, wo sich im allgemeinen selten jemand hin verlor und heute wohl gar nicht.

Sie saßen beide stumm ein Weilchen zusammen, und der Sturm, der zum leichten Wind geworden, strich über Verenas Wangen, die unter starkem Blutandrang brannten in der Erwartung, was ihr der Mann an ihrer Seite beichten würde.

Es tat wohl, dieses kühle Streicheln des Windes, und der starke, scharfe Meeresgeruch schien erfrischend und belebend in jede Hautpore einzudringen.

Heinz Hausmann lauschte auf das Rauschen der Wogen und ihm war es, als glitte er mit der Frau neben sich hinaus in die Unendlichkeit, weit hinaus über alle Beschränkung, die Menschenhirne ersonnen und Menschenhände geschaffen. Als seien nur diese dunkelhaarige Frau und er allein im grenzenlosen Raume und hinter ihnen beiden liege weit, weit alles das, was die Menschen einfingen in die Netze Gesetz und Strafe.

Unirdisch schien ihm alles, so völlig wesenlos, er fühlte sich frei und unbeschwert.

Furcht! Was war Furcht?

Er wollte beichten! Würde es eine Beichte werden? Eine Beichte und ein Geständnis? Oder konnte er nur erzählen, wie man ein böses, trauriges Märchen erzählt, das man einmal gelesen?

Verena wartete geduldig, sie unterbrach das Sinnen des Mannes nicht, sie hatten ja beide Zeit.

Unten im Saal hatte der Tanz begonnen. Ein Charleston klang auf, matt und gedämpft.

Verena dehnte wohlig die Glieder, die Seide ihres Mantels rieb sich leise aneinander.

Wie wundervoll, daß sie nicht zu den anderen gegangen war, zu den Tanzenden, die sich jetzt auf ihre Art amüsierten. Sturm hatte das Meer aufgewühlt in seinen Tiefen, hatte die Menschlein in Angst und Zittern gejagt, und nun die Gefahr vorüber. tanzten sie.

Und sie selbst hatte mitmachen wollen.

Hatte dadurch, daß sie sich herausputzte. einem Manne gefallen wollen, dem irgendeine große Not das Herz zusammenpreßte.

Sie glaubte das Medaillonbild vor sich zu sehen. Aus den dunklen Wogen stieg es herauf, ward groß und größer. Riesenhaft vergrößert, schien das süße Antlitz mit den herrlichsten Augen, dem flimmernden Haar, neben dem Dampfer über den Wassern herzuschweben.

Verena fühlte, wie ihre Lippen zuckten, aber der Mann ihr zur Seite wußte nichts von dem, was sie dachte und was ihr so schmerzhaft wehe tat.

Eben begann er zu sprechen.

Seine Stimme war leise und nur, weil ihm Verena nahe saß, vermochte sie ihn zu verstehen.

Heinz Hausmann erzählte von seiner Kindheit in dem märkischen Dorf, vom Tode seiner Eltern, von seinem Studium, für das er die kleine Erbschaft verbraucht, und von den zwei Jahren auf dem Gutshof des verarmten märkischen Junkers als Inspektor. Er erzählte, wie er mit seinen paar Habseligkeiten und seinen paar hundert Mark nach Berlin gefahren, wie er bei einem kleinen Abendbummel, zu dem die große lebhafte Stadt verlockte, einen liebenswürdigen älteren Herrn kennengelernt, der sich als Führer erbot. Er erzählte von einigen Gläsern Wein, die ihm der Fremde vorgesetzt, von zwei lustigen hübschen Mädchen, von einer Spielergesellschaft, und er erzählte das furchtbare Geschehnis, das sein Leben völlig aus dem Geleise gehoben.

Gleichmäßig leise, gleichmäßig ruhig fügte er Satz an Satz.

Es klang wirklich nur, als erzähle er ein böses, trauriges Märchen, das er einmal irgendwo gelesen.

Und Verena lauschte.

Ihre Hände ruhten lose gefaltet im Schoß, nichts an ihr bewegte sich, aber ihr Herz klopfte in einer Erregung, wie sie ähnliches noch niemals empfunden.

Sie litt, weil Heinz Hausmann furchtbar gelitten haben mußte, ehe er sie zur Vertrauten seiner Schuld machte.

Sie zitterte, als er von dem Medaillonbildchen zu sprechen begann, und ihre Hände preßten sich fester gegeneinander.

Und nun erfuhr sie alles, was das Bild anging, der schwere Druck wich von ihr, denn keine schöne blonde lebendige Frau stand hinter dem Bild, das er geküßt. Nur seine Phantasie begeisterte sich dafür. Ein Schatten war sie, die sie so glühend beneidet, ein Schatten, den er niemals gekannt.

Das war wie eine große, riesengroße Freude, die sie fast überwältigte.

Seine Schuld ward erdrückt von der Freude.

Und Heinz Hausmann sprach weiter.

Er erzählte, wie sehr ihn sein Gewissen gequält und wie jetzt alles so still in ihm geworden in dieser Stunde unter dem leuchtenden Sternenhimmel weit draußen auf hohem Meer.

Verena hatte ihn nicht ein einziges Mal unterbrochen. Sie hatte gefühlt, damit unterbrach sie vielleicht den Zauber der Stimmung, der den Mann so ruhig sprechen ließ von Dingen, die ihn noch kurz zuvor mit Grauen erfüllt.

Und nun schwieg Heinz Hausmann und wartete, daß Verena etwas sagen sollte.

Aber sie schwieg. Zu viel war auf sie eingestürmt, darüber mußte sie nachdenken und sinnen.

Das Schweigen dauerte lange, dauerte dem Manne zu lange.

Schon kroch die alte Angst wieder an ihn heran gleich einer hinterlistigen Schlange, bald würde sie ihm wieder den Atem abschnüren, bald war er wohl wieder der unglückliche schuldbeladene Mensch, der vor seiner Schuld floh und ihr doch nicht entrinnen konnte, weil er sie mit sich trug, wohin er sich auch wenden mochte.

Er dachte erschreckt, nun hatte er sich wohl um das Letzte gebracht, was seinem Dasein Hoffnung und Freude gegeben, um die wohltuende Freundschaft dieses ehrlichen geraden Mädchens.

O, weshalb hatte er nicht geschwiegen und es der Zeit überlassen, ihn gegen die Gewissensbisse abzustumpfen.

Er sagte mit schwankender Stimme: „Ich bin ein Narr gewesen, ein großer Narr! Verzeihen Sie mir, Fräulein Saperas, daß ich versuchte zu beichten, wo Schweigen Pflicht gewesen. Sie ekeln sich jetzt sicher vor mir, ich verstehe Sie. Ich begreife mich ja selbst nicht mehr. Aber es war so schwer, so entsetzlich schwer, allein zu tragen. Und nun ist ja auch alles gleich. Gehen Sie, bitte, zum Kapitän, erweisen Sie mir diesen Dienst, und berichten Sie ihm, hier oben auf Deck sitze ein Mörder, oder richtiger ein Mörder und Dieb, und warte auf seine Verhaftung!“

Er rief das letzte fast laut.

Verena sprang empor, legte ihm flüchtig die Hand auf den Mund.

„Um des Himmels willen, wenn Sie jemand hörte! Seien Sie vor allem ruhig, so ruhig wie vorhin, als Sie beichteten. Und was mich anbelangt, dios mio, ich denke nicht daran, mich vor Ihnen zu ekeln, Mitleid empfinde ich für Sie, großes, warmes Mitleid, denn Sie sind nicht schuldig im allgemeinen Sinne.“

Er unterbrach sie, die weitersprechen wollte, fast heftig.

„Nicht schuldig, sagen Sie, nicht schuldig?

„Ja, aber warum leide ich denn seither so entsetzlich, weshalb bin ich verdammt, das Geschehen jener Nacht immer wieder vor mir zu sehen? Weshalb?“

Sie ließ sich in den Stuhl zurücksinken.

Wie ein Hauch kamen ihre Worte zu ihm herüber über Brücken, die Erbarmen und heimliche Liebe erbaut.

„Sie handelten in Notwehr! Ein Richter würde Sie deshalb wahrscheinlich, wenn Sie alles sofort offen bekannt hätten, kaum zu hoher Strafe verurteilt haben. Vielleicht wären Sie sogar freigesprochen worden. Aber daß Sie schwiegen und die Börse mit dem Geld behielten, das erscheint mir schlimm. Man würde aus diesem Grunde heute wohl möglicherweise Raubmord annehmen. Und das wäre böse für Sie. Bedenken Sie auch, daß Sie jetzt niemand damit helfen würden, wenn Sie sich schuldig bekennen. Der Spieler, der Ihnen im Falschspiel Ihr letztes Geld abnahm, ist tot und Deutschland ist ein Land der Ordnung, ein Land guter humanitärer Einrichtungen. Sie dürfen überzeugt sein, auch wenn das Kind keine Verwandten besitzt, daß man doch für sein Wohl sorgt. Ich rate Ihnen, vorerst lange Jahre im Ausland zu bleiben und erst hohes Gras über die traurige Geschichte wachsen zu lassen. Ganz spät einmal können Sie ja Erkundigungen nach dem Mädchen einziehen lassen, ihm dann, wenn es nötig sein sollte, auf irgendeine diskrete Art Hilfe spenden. Am klügsten ist’s jetzt, nichts aufzurühren. Ich jedenfalls sehe in Ihnen überhaupt keinen Schuldigen, sondern einen Unglücklichen.“

Heinz Hausmann lauschte fast gierig, und was Verena sprach, legte sich wie Balsam auf sein wundes Herz, auf sein zerrüttetes Gemüt.

Heiße Dankbarkeit quoll in ihm hoch. Wie ein wirklicher Freispruch klang es ihm: Ich jedenfalls sehe in Ihnen überhaupt keinen Schuldigen, sondern einen Unglücklichen!

Seine Rechte tastete sich vor, langte nach der einen Hand Verenas, die er mit einer so inbrünstigen Dankbarkeit küßte, daß sie erschauerte. Sie fühlte ein paar Tränen auf ihren Handrücken niederfallen.

„Aber ich bitte Sie, erregen Sie sich nicht so sehr, ich bitte Sie herzlich.“

Sie sagte es weich und mütterlich.

„Es gibt kein Wort, mit dem ich Ihnen danken könnte“, sprang es ihm über die Lippen, „das beste und schönste Wort ist zu inhaltslos dafür.“

Sie lächelte glücklich, und er sah, als er den Kopf hob, in dem halben Lichte ihr ein wenig scharf geschnittenes Gesicht wie von einer wundersamen Verklärung überhaucht.

Staunend bemerkte er es.

Welche Wandlung war mit diesen herben Zügen vorgegangen?

Ihm schien es, daß Verena Saperas eigentlich doch schön war, von einer seltenen, eigenartigen Schönheit.

Von ganz nahe schauten sie einander in die Augen.

Heinz Hausmann erhob sich jäh von seinem Stuhle. Er durfte jetzt nicht seinem ihn beinahe überwältigenden Dankbarkeitsempfinden nachgeben, nicht seiner Stimmung, die ihn zu Füßen Verenas niederzwingen wollte.

Wie gerne wäre er vor ihr niedergekniet und hätte den Kopf in ihren Schoß gebettet, wie ein armes verirrtes Kind, das sich endlich heimgefunden.