Das Meer über dem Sofa - Anna Katharina Neufeld - E-Book

Das Meer über dem Sofa E-Book

Anna Katharina Neufeld

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Beschreibung

Das "Meer über dem Sofa" ist die Reise in ein Haus, das man P10 nennt. Eine Briefsammlung, die im Fahrstuhlschacht gefunden wird, erzählt von Dingen, die dort passieren. Dort lebt nicht nur eine Giraffe, auch eine Schlange treibt dort ihr Unwesen. Unter dem Treppenabsatz gibt es einen Winterwald und die Kinder des Hauses können im Meer über dem Sofa schwimmen. Wahrheit oder Erfindung - beides verschwimmt zunehmend und spielt keine Rolle mehr, denn wer will nicht an heißen Sommertagen in das Meer springen, das über dem Sofa hängt?

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Für

Charlotte, Laura und Thomas

Mia, Marleen, Milan, Miriam und Michael

Uschi und Karl-Heinz

Inhaltsverzeichnis

Ankunft – ein Prolog

Rutschparty

Briefkästen und Mitternachtsparty

Das Kino der P10

Die Pferderennbahn in der Küche

Mary Poppins und das Fenster zum Hof

Im Zwischenboden

Das Meer über dem Sofa

Familie Stein und Familie Gruber

Das Geheimnis hinter dem Gartenhaus

Der Wasserfall unter dem Teppich

Warme Blätter

Pirouetten der besonderen Art

Der Wald unter dem Treppenabsatz

Die Briefe im Fahrstuhlschacht

ANKUNFT – EIN PROLOG

Ich wohnte schon länger nicht mehr in dem Haus, das wir damals die P10 nannten. Seitdem hatte sich viel verändert. Das Leben lief auf der Überholspur dahin und ich weigerte mich mit der Zukunft zu gehen. Nun werdet ihr euch vielleicht fragen: Welche Überholspur? Welche Zukunft? Ja, ich weiß es selber nicht genau. Aber ich merkte, dass ich älter wurde. Das Leben langweilte mich und die Zukunft begriff ich nicht.

Das änderte sich an einem Dienstagnachmittag. Was tun, fragte ich mich an diesem Nachmittag. Es war Ende Oktober. Draußen war es ungemütlich kalt, feucht und dunkel, und ich langweilte mich mal wieder. Nach einem kurzen Zögern griff ich entschlossen nach meinem langen dunklen Mantel, setzte den Hut auf und verließ das Haus. Ich stieg in die S-Bahn und fuhr los. Wie von Zauberhand geführt, landete ich vor der P10. Nein, eigentlich im Kiosk gegenüber und überhörte dort unfreiwillig ein Gespräch, das zufälligerweise stattfand.

Todsanieren wollen sie es. Hast du es schon gehört? Zu verwinkelt und zugig der alte Kasten, sagte eine Person zur anderen und nickte dabei mit dem Kopf in Richtung P10.

Schade, erwiderte die andere Person. Mir gefiel das Haus so... Ich hab‘ gehört, dass sich dort seltsame Dinge zugetragen haben.

Nein, ach – das sind Märchen, antwortete nun wieder die erste Person und die andere nickte, erwiderte aber: Spannend waren sie trotzdem.

Damit endete das Gespräch, denn beide packten ihre Sachen ein und verabschiedeten sich.

Märchen, dachte ich, pah, die haben ja keine Ahnung. Das waren keine Märchen. Ich war da und habe alles erlebt.

Was hast du erlebt, fragte mich plötzlich ein kleines dünnes Mädchen mit großen Augen, das wie aus dem Nichts nun neben mir stand.

Nun, sagte ich stolz und drehte mich zu ihr, ich habe in der P10 gelebt.

P10, fragte mich das kleine Mädchen neugierig, was ist die P10?

Eine seltsame Geschichte, antwortete ich.

Ich überlegte und dachte an den eingängigen Satz „Es war einmal...“ – Nein, die P10 war kein Märchen, sagte ich nochmal mit Nachdruck.

Erzähl sie mir, unterbrach das dünne Mädchen meine Gedanken, erzähl mir die seltsame Geschichte – bitte!

Ach, sagte ich, das dauert zu lang und ich habe sie schon so oft erzählt, die Geschichten der P10.

Nicht mir, widersprach sie.

Nicht dir, das stimmt. Nun, ich kann es versuchen.

Es wird aber schwer und braucht seine Zeit.

Was ist denn daran schwer, fragte das Mädchen und schaute mich herausfordernd an.

Nun, einen roten Faden zu finden – das ist schwer, entgegnete ich ihr. Seltsame Dinge scheinen manchmal mehr als einen Faden zu haben. Das Meer spült immer wieder neue Geschichten an. Das Sofa steht schief und das Haus ist verwinkelter, als man denkt. Der Fahrstuhlschacht ist tief und der Zwischenboden dunkel.

Ach so, sagte nun das Mädchen wenig verwirrt, das Sofa kippelt? Liegt das an den Winkeln im Haus oder am Fahrstuhlschacht? Erzähl es mir, bitte! Ich mag seltsame Dinge. Bestimmt kannst du es so erzählen, forderte sie mich nun mit fester Stimme auf, so, dass ich es verstehe.

Ich schaute sie an, schaute mich um und weil ihre Augen vor Spannung leuchteten, sagte ich: Na gut. Dann hör zu. Und so begann ich zu erzählen.

________________

Es fröstelte mich. Es war Ende Oktober und der Luftzug, der durch die Häuserschluchten zog, verriet den Herbst, den ich von allen Jahreszeiten am wenigsten mochte. Ungemütlich war es, feucht und dunkel und zu allem Überfluss hatte ich meine Mütze, meinen Schal und meine Handschuhe in den Koffer gepackt. Die Ärmel meines dunklen Mantels waren zu kurz, am Hals zog es, die Ohren waren kalt und durch die Turnschuhe spürte ich bereits, wie die Feuchtigkeit an meine Füße herankroch. Schnell gehen, dachte ich, dann wird es warm.

Als ich an dem Tag in der P10 einzog, trat ich durch eine mächtige Doppelflügeltür ein und spürte sofort: Hier war alles anders und gleichzeitig möglich. Ich war noch nicht richtig angekommen, da bemerkte ich am Rande, wie eine große schlanke Gestalt im langen dunklen Mantel die seitlich ansteigende Treppe herunterkam und in den Hinterhof zu den Mülltonnen ging. Von der sich leise schließenden Tür unterbrochen, blickte ich mich um. Dabei wanderte mein Blick durch das großzügige Vestibül an den Briefkästen vorbei, auf denen ich nun einen großen Packen Briefe entdeckte. Irritiert und neugierig nahm ich den Packen herunter. Ich hielt dreiundzwanzig dreckige Briefe in der Hand, die an den Rändern der Umschläge schwarze Flecken zeigten. Es handelte sich bei näherem Hinsehen ausschließlich um Geschäftsbriefe, was ich aus den Umschlägen mit Fenstern schloss, die die Absender verrieten. Vereinzelte Adressaten hatte ich auf dem Klingelschild gelesen. Die meisten aber waren mir unbekannt.

Die habe ich im Fahrstuhlschacht gefunden, sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Bevor ich mich jedoch umdrehen konnte, schloss sich erneut die Haustür, diesmal hinter der Stimme. Ich lief hinterher, öffnete die Tür und sah gerade noch wie die große Gestalt im langen dunklen Mantel – nun einen Koffer in der Hand – um die Ecke bog. Hey, rief ich der Gestalt hinterher. Hey, warten sie! Woher wissen sie das mit dem Fahrstuhl?

Die Person mit dem Mantel und dem Koffer jedoch drehte sich weder um noch blieb sie stehen. Was sollte ich tun? Hinterherlaufen? Mit den Briefen? Mein Gepäck im Flur stehen lassen? Halbherzig machte ich einen Schritt vor die Tür, um schnell zu entscheiden, dass ich der Person nicht hinterherlaufen würde. Also stand ich erneut im Hausflur, ließ die Tür zufallen und schaute auf die Briefe in meinen Händen.

Was sollte ich mit ihnen machen? Liegen lassen? Mitnehmen? Wer schmeißt Briefe in den Fahrstuhlschacht, fragte ich mich. Eine Frage jagte die nächste. Ich stand in der Eingangshalle der P10, hielt dreiundzwanzig dreckige Briefe in der Hand, die vor über einem halben Jahr nicht zugestellt, stattdessen im Fahrstuhlschacht gelandet waren und wusste nicht weiter.

Du kannst dir denken, sagte ich nun dem kleinen Mädchen, dass der Eine die Briefe einfach wieder auf die Briefkästen gelegt hätte. Ein Anderer hätte sie in den Mülleimer geschmissen. Wieder ein Anderer hätte vielleicht die Briefe den Adressaten zugestellt, die ihm bekannt waren und die noch im Haus wohnten. Noch ein Anderer hätte die Briefe möglicherweise zur Post gebracht oder zur Polizei. Ich aber, habe sie wieder in den Fahrstuhlschacht geschmissen! Ganz still, als niemand schaute. Mich hatte plötzlich die Idee beschlichen, dass der Fahrstuhlschacht ein konspirativer Ort war, wo sich Fremde heimlich Nachrichten übergaben. Ein toter Briefkasten, dachte ich und schauderte bei dem Gedanken! Ach nein, im Gegenteil – die Idee beflügelte mich! Die P10 war ein Übergabeort für verschwörerische Treffen. Hier gingen Fremde ein und aus, ohne, dass die Bewohnerinnen und Bewohner davon etwas mitbekamen. Es musste einen Geheimbund geben, der einen Schlüssel für den Fahrstuhlschacht besaß und hinabstieg in die Tiefen eines von Elektronik und Dreck getarnten Verstecks. Ich verfolgte in Gedanken die Gestalt, die ich nur von hinten gesehen hatte und die nun in meiner Vorstellung mit einem Koffer in den Schacht stieg. Was befand sich in dem Koffer? Briefe? Wer war die Person? Warum trug sie einen dunklen langen Mantel? Warum hatte sie mich nicht rufen hören? Gehörte sie zum Geheimbund? Oder war sie eine Spionin oder ein Spion, die den Geheimbund auffliegen lassen wollte? Um welche Verschwörung ging es? Waren Geheimnis und Verschwörung ein und dasselbe, oder gab es Unterschiede? Und wer bestimmte die? Welcher Bund schwor Geheimhaltung und welche Geheimhaltung schwor einen Bund ein?

Ja, solche Fragen stellte ich mir. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Fragen fielen mir ein und je mehr Fragen mir einfielen, desto mehr merkte ich, dass mir ganz schwindelig wurde und während ich schwindelte, schob sich die Aufregung vor meine Augen, und es wurde ganz schwarz um mich herum.

Geht es ihnen besser, fragte mich Frau Stein. Ich sah ihr freundliches Gesicht, das auf mich herunterblickte.

Wo war ich?

Sie sind im Krankenhaus, antwortete Frau Stein nun etwas besorgt. Wir haben sie im Hausflur der P10, am Ende der Treppe, auf dem Boden gefunden. Bewusstlos waren sie, sagte sie mit leiser Stimme. Bewusstlos, wiederholte ich fragend.

Ja. Wir haben den Krankenwagen gerufen und nun sind sie hier.

Dunkel erinnerte ich mich an das Haus, vor dem ich gestanden hatte, der P10, wie man es nannte. Auf den ersten Blick hatte es groß und einladend ausgesehen, obwohl es zugleich schon etwas Unheimliches ausstrahlte. Es stand inmitten von vier Baustellen in einer ruhigen Straße, die mit vielen hohen und dichten Bäumen gesäumt war. Die dunklen Fenster starrten stumm auf mich herunter und vermittelten eine beklemmende Ruhe, die zwischen dem emsigen Treiben der Baustellen um die P10 herum, etwas Stoisches und drohend Widerspenstiges hatte. Ich schluckte. An mehr erinnerte ich mich nicht. Aber, und dabei atmete Frau Stein erleichtert aus und lächelte, es ist alles nochmal gut gegangen. Nur beide Beine haben sie sich gebrochen. Morgen werden sie entlassen. Wir kümmern uns um sie. Machen sie sich keine Sorgen.

Ich schaute an mir herab und sah meine Beine eingegipst und geschient. Oberhalb der Knie lag