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Paul Flemming ermittelt in seinem schärfsten Fall und erfährt wie nebenbei allerhand über die jahrhundertelange Kren-Tradition Frankens Zu seinem runden Geburtstag wird Paul Flemming von seiner Frau Katinka mit einem Wohnmobil überrascht, das er bei einer Spritztour durch Franken ausprobiert. Unterwegs lernt er Svenja Schamberger kennen, Spross der gleichnamigen Meerrettichproduzenten aus dem Forchheimer Land. Kurz darauf erfährt Paul vom gewaltsamen Tod der jungen Frau, die erschlagen in einem Waldstück aufgefunden wird. Die Sache lässt den Hobbydetektiv natürlich nicht kalt, und zusammen mit Stieftochter Hannah nimmt er Ermittlungen auf.
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Seitenzahl: 196
Veröffentlichungsjahr: 2025
Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in Franken und hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Bei ars vivendi erschienen neben seinen Paul-Flemming-Krimis u. a. auch der historische Kriminalroman Görings Plan (2014) sowie die Kurzkrimibände Die toten Augen von Nürnberg (2014) und Tod auf Fränkisch (2017).
Liebe Leserin, lieber Leser, sicher ist Ihnen auf dem Einband das Aktions-Logo des Vereins Junge Helden (www.junge-helden.org) aufgefallen. Man kann sich dieses Signet auch als Tattoo stechen lassen und damit signalisieren, dass man als Organspender zur Verfügung steht. Warum setzt der ars vivendi verlag mit seinen Büchern buchstäblich dieses Zeichen? Hätte ich selbst im Jahr 2006 nicht in allerletzter Sekunde das große Glück gehabt, eine Spenderleber zu erhalten, würden Sie dieses und viele andere Bücher von ars vivendi nicht in den Händen halten. Es ist mir ein Herzensanliegen, mich dafür einzusetzen, dass sich mehr Menschen bereit erklären, Organe zu spenden und damit Leben zu retten. Ihr Norbert Treuheit, Verleger und Geschäftsführer
Originalausgabe
1. Auflage 2025© 2025 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 [email protected]. +49 9103 719290Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: ars vivendiunter Verwendung eines Fotos © von orestligetka/Adobe StockDruck: CPI books GmbH, LeckGedruckt auf holzfreiem Werkdruckpapierder Papierfabrik Arctic Paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-7472-0662-1
Das Meerrettich-Komplott
Und so gab die Bauersfrau die Wurzeln, die das Pferd geheilt hatten, ihrem Manne zu essen. Mit überwältigendem Erfolg …
Die Rosswurzel (Sage aus dem 12. Jahrhundert)
»Querschläfer oder Längsschläfer?«
»Bitte was?«, entgegnete Paul Flemming verdutzt.
»Ob das Bett quer oder längs zur Fahrtrichtung angeordnet ist?«, präzisierte Victor Blohfeld seine Frage.
Die beiden saßen sich an einem Ecktisch im CaféNeef gegenüber, vor sich jeweils ein üppiges Stück Sahnetorte. Durch die großen Fenster konnten sie die Glockentürme der Sebalduskirche sehen. Paul hatte den Nürnberger Boulevardreporter anlässlich seines runden Geburtstags eingeladen. Auf der eigentlichen Party, die bei einem Edel-Italiener in der Nordstadt gestiegen war, hatte er ihn keinesfalls dabeihaben wollen, denn Blohfeld hätte sicher wieder nur gestänkert, wie es seine Art war, und wahrscheinlich versucht, aus den vertraulichen Gesprächen der Gäste irgendwelche Informationen für eine seiner Skandalstorys herauszuhören. Torte und Kaffee mussten reichen.
»Also, was denn nun?«, hakte Blohfeld nach.
»Quer«, antwortete Paul, woraufhin der hagere Reporter skeptisch von seiner Tasse Kaffee aufblickte.
»Nun ja, Sie und Ihre Frau Katinka sind keine Riesen. Ab einem Meter achtzig Körpergröße wird es für Querschläfer nämlich verdammt eng, dann stoßen sie mit den Zehen an die Wand.«
Paul rief sich den Grundriss des nagelneuen Wohnmobils ins Gedächtnis, das vor seiner Haustür an der Kleinweidenmühle stand und darauf wartete, die erste kleine oder große Spritztour zu unternehmen. Ein knapp sechs Meter langer Kastenwagen inklusive Küchenzeile, kleinem Bad und Sitzecke. Paul hatte das Gefährt von Katinka zum Geburtstag geschenkt bekommen – eine echte Überraschung. Nie im Leben hätte er damit gerechnet.
»Ihre Frau hat es ja sehr gut mit Ihnen gemeint«, sagte Blohfeld mit süffisantem Unterton. »Ich meine, so ein Wohnmobil ist doch locker siebzigtausend Euro wert, wenn nicht mehr. Klingt eher nach einem Präsent in einem Millionärshaushalt.«
Das geht Sie gar nichts an! Diesen Gedanken sprach Paul zwar nicht aus, dennoch musste er natürlich kontern: »Es ist ja eigentlich mehr ein Geschenk für uns beide, und Katinka ist der Ansicht, wenn nicht jetzt, wann dann? Wir haben schon länger davon geträumt, und man wird ja nicht jünger.«
»Trotzdem verdammt viel Geld …«
»Dann sollten Sie mal zur nächsten Freizeitmesse ins Messezentrum gehen und sich dort umschauen. Da stehen Geschosse mit allem erdenklichen Luxus für den Preis eines Einfamilienhauses. Unser Wägelchen ist dagegen bloß ein bescheidenes Einstiegsmodell.«
»Wann wollen Sie es denn ausprobieren?«, erkundigte sich Blohfeld und versenkte die Gabel in der Torte. »Und wo soll es hingehen? Zum Auftakt eine Italienrundreise? Como, Mailand, Florenz, Rom und auf dem Rückweg ein Stopp am Gardasee?«
Paul zog die Schultern an. »Italien? Vielleicht mal im Herbst, vorher hat Katinka keinen Urlaub. Termine, Termine, Termine. Im Moment nimmt sie an einem internationalen Juristenkongress in Melbourne teil.«
»Am anderen Ende der Welt sozusagen.«
»Ja, von Nürnberg aus ist man fast vierundzwanzig Stunden unterwegs, inklusive Umsteigen.«
Blohfeld schüttelte den Kopf. »Sie können doch nicht bis zum Herbst damit warten, dieses Ding mal auszuprobieren! Dann fahren Sie eben allein. Sie sind doch selbstständiger Fotograf und haben nicht sonderlich viele Aufträge. Nichts hält Sie hier. Also, worauf warten Sie, Flemming? Auf geht’s! Wenn nicht nach Italien, dann in den Norden, an die Ostsee. Oder in die Niederlande, davon hört man ja nur Gutes. Tolle Strände, nette Leute. Und wenn Sie in Amsterdam sind, bringen Sie mir ein paar Cookies mit. Sie wissen schon, die mit dem gewissen Extra.«
»Ich mag weder Cookies noch Krabbenbrötchen, da halte ich mich lieber an die Rostbratwurst«, lehnte Paul ab, um dann kurz in sich zu gehen. »Na ja, vielleicht versuche ich es wirklich mal. Aber ich bleibe in Franken. An der Mainschleife ist es ja recht schön, und da gibt es auch jede Menge Campingplätze.«
»Flemming«, sagte Blohfeld kopfschüttelnd. »Sie sind einfach unverbesserlich.«
Die Tortenstücke waren verspeist, und der Reporter sah auf die Uhr. Wahrscheinlich musste er zum nächsten Termin. Paul wollte ihn aber nicht gehen lassen, ohne ihn etwas zu fragen: »Haben Sie eigentlich auch ein Geschenk für mich?«
Blohfeld machte große Augen. »Geschenk? Ja, also …« Etwas hilflos tastete er die Seiten seines abgetragenen Jacketts ab.
»Sie haben keins, richtig?« Paul genoss den seltenen Moment, den Reporter in Verlegenheit gebracht zu haben.
Aber dann zog sein Gegenüber doch noch etwas Kleines, Schmales aus der Tasche, das in buntes Papier gewickelt war. »Bitte sehr«, sagte Blohfeld und reichte es ihm. »Und Glückwunsch noch mal.«
Paul, der nicht wirklich damit gerechnet hatte, packte es aus. Zum Vorschein kam eine Tube. Zunächst dachte er an Mayo oder Senf, aber es handelte sich um etwas anderes. Fragend blickte er auf. »Meerrettich?«
»Ja«, nickte Blohfeld begeistert, »für die Bordküche Ihres Wohnmobils. Ich gehe jede Wette ein, dass Sie das noch nicht im Kühlschrank haben.«
»Oh, äh, danke, wie großzügig«, sagte Paul und dachte, dass auch der Reporter einfach unverbesserlich war.
Knapp eine Woche lag das Treffen mit Victor Blohfeld zurück, und Paul war ganz begeistert! Erstens darüber, dass er mit dem Wohnmobil so gut zurechtkam – auf der Autobahn schaffte er hundertdreißig und konnte mit den meisten Pkw locker mithalten –, und zweitens über den Platz im kleinen Escherndorf direkt am Main, den er sich für seine erste Etappe ausgesucht hatte. Ringsherum Weinberge, so weit das Auge reichte, alle in frühsommerlichem Grün, und nur einen Steinwurf vom Fähranleger entfernt. Von dort aus tuckerte die nostalgische Gefühle auslösende Autofähre ins gegenüberliegende Nordheim und wieder zurück. Idylle pur, und auch das Wetter spielte mit.
Der Stellplatz, den man Paul zuwies, lag zwar nicht in der ersten Reihe, aber das störte ihn nicht. Kaum hatte er geparkt, machte er sich daran, den Camper für den Aufenthalt vorzubereiten. Strom und einen Wasseranschluss brauchte er, außerdem wollte er einen Klappstuhl aufstellen, in dem er später den Sonnenuntergang bewundern könnte. Im Augenblick blendete die Sonne ihn allerdings noch, weshalb er als Allererstes die Markise auskurbeln wollte.
Paul rannte zwischen den geöffneten Hecktüren und der seitlichen Schiebetür hin und her, schaute in verborgene Stauräume und unter dem Lattenrost der Betten nach. Wo zum Teufel waren die Kabel für den Stromanschluss? Und wo die Kurbel für die Markise? Vielleicht hätte er sich besser vor der Abfahrt schon einmal damit beschäftigen sollen. Nach langer Sucherei stieß er endlich auf eine Kabeltrommel und Anschlüsse – die allerdings völlig anders aussahen als normale Stecker. Paul fragte sich, wo er die entsprechende Dose finden würde.
Ein wenig desillusioniert ließ er sich auf die Trittstufe vor der Schiebetür sinken und betrachtete gedankenverloren die Strippen in seinen Händen. Er ahnte, dass er ohne Hilfe nicht weiterkommen würde, und das störte ihn. Denn waschechter Franke, der er nun einmal war, bat er fremde Leute nicht gern um Hilfe. Schon gar nicht als Mann. Er würde also wohl erst einmal auf seinem Smartphone nach einem Erklärvideo suchen. Irgendwie würde er sich schon mit dem Wohnmobil vertraut machen.
Im nächsten Moment sah er im Augenwinkel die schlanken Füße einer Frau, die in lockeren Riemensandalen steckten. Er hob den Kopf und blickte in ein erhitztes, schelmisches Gesicht.
»Hallo«, sagte die Frau und lächelte.
»Hallo«, antwortete Paul und blinzelte in die Sonne. Er registrierte eine blassblaue Bluse, eine lange Kette mit pastellfarbenen Kugeln, allerlei Armbänder und sonnengebräunte Arme. Ein geflochtener Gürtel hielt die verwaschenen Jeansshorts zusammen.
»Das erste Mal unterwegs damit?«, erkundigte sich die Frau. »Brauchen Sie Unterstützung?«
»Ja, kennen Sie sich aus?«
Die Frau, die er auf Anfang bis Mitte zwanzig schätzte, nahm ihm das Kabel ab und umrundete den Wagen. Paul folgte ihr. Sie öffnete eine kleine Klappe am Seitenblech, steckte einen der Anschlüsse an und verband den anderen mit der Trommel. Von dieser ließ sie einige Meter Kabel ab und verband dieses mithilfe eines weiteren Adapters mit einem Stromkasten. Auch die Kurbel, die im Heck oberhalb des Stauraums untergebracht war, entdeckte sie auf Anhieb und wollte bereits damit beginnen, die Markise auszufahren, als Paul intervenierte:
»Danke vielmals, aber mit dem Rest komme ich schon klar.«
»Gern geschehen!« Sie lüpfte ihre Brille und sah ihn aus meerblauen Augen an. »Wo soll die Reise denn noch hingehen?«
»Fürs Erste bin ich glücklich, hier zu sein. Ich möchte eine kleine Wanderung zur Hallburg machen und von da aus weiter nach Volkach. Inklusive Weinprobe natürlich.« Er nahm ihr die Kurbel ab. »Vielen Dank noch mal.«
Die Frau blieb stehen, wo sie war. »Lassen Sie die Markise fürs Erste nur zur Hälfte raus, dann klappen Sie die Standbeine aus und kurbeln erst danach weiter. Sonst ist das Gewicht zu hoch, und sie verbiegt.«
Das kriege ich auch allein hin, dachte sich Paul und begann zu drehen. Unter den wachsamen Augen der Frau machte er sich nun daran, die Leichtmetallstützen auszufahren – doch die klemmten.
»Sachte, nicht mit Gewalt«, empfahl sie.
Paul wurde dadurch nur noch nervöser. Er zerrte und riss an der Stange. Diese gab plötzlich nach, das Stützbein löste sich aus seiner Verankerung und schnellte nach unten. Die Frau machte einen Satz nach vorn, um die Stange abzufangen. Gleichzeitig riss Paul die Arme nach oben. Die beiden stießen beinahe zusammen, und dabei schrammten ihre Finger über Pauls Arm.
»Oje, das tut mir leid«, sagte sie und betrachtete besorgt den Kratzer auf Pauls Haut.
»Schon gut«, sagte er. »Ich bin ja derjenige, der sich so blöd anstellt.«
Sie half ihm dabei, auch das zweite Standbein auszuklappen, dann fragte sie: »Wissen Sie, wie Sie die Frischwasser-tanks befüllen, wie der Kühlschrank funktioniert und wo Sie die Toilettenkassette entleeren können?«
»Öh – nein«, musste Paul zugeben.
»Dann brauchen Sie wirklich jemanden, der Ihnen zur Hand geht.«
Paul glaubte an einen Scherz.
»Wenn Sie wollen, kann ich das übernehmen.«
»Okay, das ist nett, aber müssen Sie nicht zurück zu Ihrem eigenen Wohnmobil?« Er reckte den Hals und sah sich um. »Ihr Freund oder Ihre Freundin wartet sicher schon auf Sie.«
»Da wartet niemand«, entgegnete sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Ich bin allein.« Sie hob ihren Ruck-sack an, der neben einem Baum gelehnt hatte. »Ich bin als Tramperin unterwegs. Wenn Sie nichts dagegen haben, schließe ich mich Ihnen für ein paar Tage an.«
Paul musste lachen. »Eine Wohnmobiltramperin? Mal was Neues.« Dann fragte er: »Aber ist das nicht gefährlich? Trampen ist ja nicht umsonst aus der Mode gekommen.«
Sie musterte ihn, bevor sie antwortete: »Ich schaue mir die Leute ganz genau an, bevor ich sie anquatsche. An die Straße stellen und den Daumen heben, das würde ich nicht machen.«
Paul war geneigt, darauf einzugehen. Ein wenig Gesellschaft und vor allem Unterstützung beim Umgang mit seiner rollenden Behausung konnte ihm ja nur nutzen. Da er die junge Frau außerdem nett fand und er sich gut vorstellen konnte, dass seine Stieftochter Hannah auf ähnliche Weise durchs Land reisen würde, gab er sich einen Ruck und sagte zu: »Also schön. Sie können im Aufstelldach einziehen, wenn Sie mögen. Vorausgesetzt, Sie wissen, wie man das Teil ausfährt und wo die Leiter ist, mit der man hochkommt.«
»Aber klar doch«, sagte sie und warf den Rucksack auf die Einstiegsschwelle. »Svenja.« Sie schob sich die Brille ins Haar.
»Paul«, stellte auch er sich vor und erkundigte sich nach ihren weiteren Reiseplänen.
»Die gibt es nicht«, antwortete sie entspannt. »Wenn mich jemand mitnimmt, fahre ich einfach mit und lasse mich überraschen, wo ich ankomme. Nach meinem Abi habe ich direkt studiert, zehn Semester, also viele Jahre immer nur lernen, lernen, lernen. Bevor nun der Ernst des Lebens auf mich zukommt, wollte ich noch mal raus und in den Tag hineinleben.«
»Andere junge Leute zieht es dafür doch eher ins Ausland. Aber so, wie Sie klingen, kommen Sie ganz aus der Nähe.«
Von einer Auslandsreise schien Svenja – ganz wie Paul – nicht viel zu halten: »Ehe ich in Australien Kängurus fotografiere oder in Kanada Wale beobachte, möchte ich wissen, was es hier zu entdecken gibt. Ich bin in dieser Gegend geboren, kenne mich aber in meiner eigenen Heimat kaum aus.«
»Netter Ansatz«, fand Paul. »Wenn du magst, kannst du eine Weile ›an Bord‹ bleiben. Und keine Sorge: Ich werde darauf achten, die fränkischen Grenzen nicht zu überschreiten. Zumindest für ein paar Tage, bis meine Stieftochter eintrifft. Sie besucht mich und will den neuen Camper auch mal testen.«
»Erzähl mir von ihr!«, bat Svenja.
Paul berichtete von Hannahs unkonventioneller Art und ihrem Job im Kulturreferat der Stadt Nürnberg. Über die große Leidenschaft, die er seit vielen Jahren mit Hannah teilte – nämlich das Aufklären von Kriminalfällen –, verriet er Svenja lieber nichts. Er wollte sie mit diesem seltsamen Hobby nicht verschrecken.
»Stieftochter heißt, dass …«
»Dass meine Frau sie mit in die Ehe gebracht hat, aber für mich ist Hannah wie ein eigenes Kind. Und irgendwie auch wie ein guter Kumpel. Ihr würdet euch verstehen. – Und was macht deine Familie so?«
»Von der erhole ich mich gerade«, antwortete Svenja lachend und stieg in den Wagen. »Schöner Camper. Sieht von außen nicht besonders groß aus, bietet aber echt viel Platz.« Sie ging in die Knie und nahm mit wenigen Handgriffen den kleinen Kompressorkühlschrank in Betrieb. »Geld habe ich nicht viel dabei, aber handwerklich bin ich ziemlich begabt. Wenn es also irgendetwas zu richten gibt, sag es mir. Hier über dem Kochfeld könntest du zum Beispiel noch ein kleines Hängeregal gebrauchen, für Gewürze und so. Schraub ich dir an, wenn du willst. Ach ja, und ich koche auch ganz passabel.«
»Darauf komme ich gern zurück«, sagte Paul, der zwar schon herausgefunden hatte, dass der Campingplatz ein eigenes kleines Lokal hatte, aber lieber erst einmal den eingebauten Gasherd testen wollte.
»Dazu brauchen wir allerdings Zutaten«, stellte Svenja fest, »denn in deinem Kühlschrank sind nur ein paar Dosen Bier. Ich könnte mit der Fähre schnell rüber nach Nordheim fahren und etwas besorgen, da gibt’s ein paar kleine Läden.« Sie hielt die Hand auf.
Paul fand die Idee gut und gab ihr Geld für den Einkauf. Nachdem sie keinerlei Anstalten machte, ihre Sachen mitzunehmen, schob er den leichten Anflug von Misstrauen beiseite, dass sie möglicherweise mit den Geldscheinen durchbrennen würde.
Während er auf sie wartete, setzte er sich mit einem Campingstuhl ans flache Mainufer und schaute einigen Stand-up-Paddlern zu, die sich über das gemächlich dahingleitende Wasser treiben ließen.
So durfte es gern weitergehen, dachte er und lehnte sich zurück. Ein absolut gelungener Einstieg in die Campingwelt!
Eine gute halbe Stunde später kehrte Svenja mit zwei Einkaufstaschen zurück. Zu Pauls Freude hatte sie nicht nur ans Essen gedacht, sondern auch zwei Flaschen Wein besorgt: einen Riesling und eine Scheurebe von der Winzergenossenschaft in Nordheim. Als Nächstes machte sich Svenja mit der Bordküche vertraut, klappte die Glasplatte über den zwei Gasflammen nach unten, um sie als Arbeitsfläche zu verwenden, und räumte das Spülbecken leer, damit sie den grünen Salat putzen konnte.
»Was gibt es denn Feines?«, wollte Paul wissen und sah Svenja dabei zu, wie sie eine Schüssel und ein Schneidbrett bereitstellte. Glücklicherweise hatte Katinka ihm kein leeres Wohnmobil übergeben, sondern auch für die Erstausstattung gesorgt.
»Salat vom Räucherfisch«, gab Svenja preis und machte sich daran, die Filets auszulegen und zu zerteilen.
»Ich liebe Fisch«, zeigte sich Paul überaus zufrieden. »Welcher ist es denn?«
»Forelle, Saibling, Renke. Am Fischstand hatten sie eine gute Auswahl. Sie haben mir gesagt, dass sie ihn in einer Beize mit Salz und Zitrone einlegen und dann über Apfelholz räuchern.« Sie zwinkerte ihm zu. »Mit Liebe und Zeit, wie bei allen guten Dingen.«
Paul holte einen Tisch und einen zweiten Stuhl aus dem Stauraum im Heck. Er brauchte eine Weile, bis er den Klappmechanismus des Tisches durchschaut hatte, kam diesmal aber ohne Svenjas Hilfe zurecht und baute alles so auf, dass sie in der Abendsonne essen konnten.
Der Salat war angerichtet und der Wein geöffnet, als Svenja sich nach ihrem Rucksack bückte und diesem ein Glas mit Schraubverschluss entnahm. »Ohne Meerrettich geht für mich gar nichts. Und es gibt keinen besseren als den aus Forchheim.«
Nach dem Essen schoben sie ihre Stühle näher an den Main, um auch die letzten Strahlen der Sonne mitzunehmen, die bereits tief am Horizont stand und vom Fluss glitzernd reflektiert wurde.
»Wunderbar«, sagte Svenja und lehnte sich zurück. »Ist es nicht herrlich, mal so ganz ohne Verpflichtungen und Termine zu leben?«
Diese Bemerkung rief bei Paul ein Schmunzeln hervor. Was hatten Studenten denn für Pflichten? Zugegeben, der Prüfungsdruck konnte einem zusetzen – aber sonst?
»Wo willst du nach deinem Trip anfangen zu arbeiten?«, erkundigte er sich. »Hast du schon etwas Konkretes in Aussicht?«
Svenja zuckte die Achseln. »Ich kann es mir nicht aussuchen. Leider.«
»Wie meinst du das? Drängen deine Eltern dich in eine bestimmte Richtung?« Er erinnerte sich nur zu gut an die Gespräche, die er immer wieder mit Hannah geführt hatte, um sie davon abzubringen, sich unüberlegt für irgendeinen vermeintlich coolen Studiengang einzuschreiben.
»Nein, nein, das ist es nicht. Wenn ich wollte, könnte ich auch etwas anderes tun.«
Er merkte, dass sie ihm auswich, und wollte nicht weiter nachbohren. Stattdessen fragte er nach etwas, das ihn mindestens genauso interessierte: »Weshalb bist du eigentlich allein unterwegs und nicht mit einer Freundin oder einem Freund?«
Wieder wirkte Svenja ein wenig zögerlich. »Vielleicht aus demselben Grund wie du. Ich möchte eine Weile allein sein, um zu mir selbst zu finden.«
»Nein, bei mir sieht die Sache anders aus. Ich bin nur deshalb allein unterwegs, weil Katinka, meine Frau, gerade beruflich in Australien ist. Obwohl, ein bisschen Selbstfindung kann natürlich nie schaden.«
»Was machst du eigentlich, wenn du nicht mit dem Wohnmobil durch die Gegend fährst?«
»Ich bin freier Fotograf. Und, nun ja …« Paul zögerte. »Und ab und zu bin ich als Detektiv tätig.« Nun war es raus.
»Detektiv?«, fragte Svenja erwartungsgemäß überrascht. »Du meinst so richtig wie Sherlock Holmes?«
»Nicht ganz«, antwortete Paul lachend. »Wie du siehst, rauche ich weder Pfeife noch trage ich Deerstalker.«
Die zweite Flasche war nur zu Hälfte geleert, doch als Svenja herzhaft gähnte, fand auch Paul, dass es an der Zeit war, schlafen zu gehen. Außerdem war es inzwischen kühl geworden. Er stand auf und streckte sich.
»Schön war’s. Ich freue mich über deine Gesellschaft.«
»Ja.« Svenja erhob sich ebenfalls. »Ich glaube, wir beide werden für ein paar Tage gut miteinander auskommen – ohne fränkische oder noch ganz andere Grenzen zu überschreiten.«
Paul stutzte ob dieser Doppeldeutigkeit, ging aber darüber hinweg. Gerade wollte er die Schiebetür zum Wohnmobil öffnen, als es im Gebüsch am Ufer raschelte. Svenja riss blitzartig den Kopf herum, stieß einen erstickten Schrei aus und drückte sich eng an Pauls Seite. Es machte fast den Eindruck, als wollte sie sich in seine Arme flüchten. Er spürte ihre Anspannung und hörte ihr flaches Atmen. »Ganz ruhig«, sagte er. »Das war doch bloß ein Tier. Eine Maus oder ein Kätzchen oder so.«
Svenja schien seine Worte nicht zu hören. Unverwandt starrte sie auf den Busch, aus dem das Rascheln gekommen war.
Paul konnte sich ihre Schreckhaftigkeit nicht recht erklären. Warum war sie plötzlich so verängstigt? Um zu zeigen, dass es keinen Grund zur Sorge gab, holte er sein Smart-phone aus der Hosentasche und stellte die Taschenlampenfunktion ein. Er richtete den Lichtkegel auf das Gebüsch, und tatsächlich glitzerten dort zwei eng zusammenstehende rote Augen, die den Strahl reflektierten. Kurz darauf raschelte es erneut, und das Tier huschte davon. Paul fühlte sich bestätigt. »Da war bloß jemand neugierig.«
Svenja löste sich langsam aus ihrer Erstarrung, doch als sie Paul eine gute Nacht wünschte und sich in den hinteren Teil des Wagens zurückzog, spürte er, dass ihr die kurze Panik noch in den Knochen steckte. Machte die junge Frau am Ende nicht nur Urlaub, wie sie behauptete, sondern lief vor etwas oder jemandem davon?
Hannah reiste zwei Tage später mit leichtem Gepäck an. Sie hüpfte aus einem Taxi, zupfte ihr quittenfarbenes Sommerkleid zurecht und ließ sich vom Fahrer eine kleine Reisetasche reichen. Dann wandte sie sich ihrem Stiefvater zu, der ihr am Eingang des Campingplatzes entgegenkam.
Sie hatte ihren Lockenkopf mit einem Haarreif gebändigt und ging mit federnden Schritten auf Paul zu. Ihr düsterer Gesichtsausdruck wollte so gar nicht zu diesem wunderschönen Tag passen.
»Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?« Paul nahm ihr die Tasche ab. Er hatte sich auf Hannahs Besuch gefreut. Sie etwa nicht?
»Keine Laus, sondern mein Stiefvater.« Sie stemmte die Arme in die Hüften. »Waren wir nicht in Würzburg verabredet, wo du mich am Bahnhof abholen wolltest? Stattdessen musste ich mir ein teures Taxi nehmen. Warum bist du nicht gekommen?«
»Also, erst einmal: Das Fahrtgeld ersetze ich dir natürlich. Aber wenn du von Würzburg aus den Zug nach Volkach genommen hättest, wäre die Taxifahrt nur halb so teuer gewesen«, hielt Paul ihr vor und führte sie zum Wohnmobil. Auf dem Tisch davor standen eine Karaffe Limo mit Eiswürfeln und zwei Gläser. »Ich bin leider nicht dazu gekommen, dich zu holen, weil es ziemlich aufwendig wäre, hier alles wieder abzubauen. Außerdem fahre ich mit diesem großen Kasten ungern mitten in die Stadt.«
Hannah legte den Kopf schief. »Wieso aufwendig? Du hättest doch nur die Markise reinkurbeln und das Stromkabel abziehen müssen. Und sooo groß ist dein Kastenwagen nun auch wieder nicht. Ich glaube ja eher, du bist auf deinem Liegestuhl eingeschlafen und hast mich vergessen. Deswegen hast du wahrscheinlich auch nicht auf meine tausend WhatsApp-Nachrichten reagiert.« Und weiterhin schmollend fügte sie hinzu: »Ich hätte auf Mama hören sollen.«
»So?« Paul hob die Brauen. »Was hat Kati dir denn geraten?«
Hannah schenkte sich ein Glas ein. »Dass ich mich ja nicht auf ein paar geruhsame Tage auf dem Campingplatz einstellen sollte, denn du würdest mit Sicherheit schon wieder in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken, weil du dich irgendwo eingemischt hast.«
»Dann kennt sie mich aber schlecht«, entgegnete Paul etwas beleidigt. Nichts täte er lieber, als in Frieden in der Sonne zu dösen und ab und zu am Wein zu nippen.
»Du steckst also nicht in Schwierigkeiten?«
»Nun …« Diesmal zögerte er. »Nicht direkt.«
»Wusste ich es doch!« Hannah stieß einen tiefen Seufzer aus. »Verrätst du mir jetzt, was das alles soll?«
»Es tut mir wirklich leid, aber ich wurde aufgehalten.«
Sie schaute sich um, betrachtete die Natur, die den Main umgab, und richtete ihren Blick aufs Wohnmobil. »Ist etwas mit dem Wagen nicht in Ordnung? Hast du ihn etwa schon kaputt gemacht und traust es dich nicht zu sagen, damit Mama nicht sauer wird?«
Paul winkte ab und berichtete von der Tramperin, die er zwei Tage zuvor aufgenommen hatte. »Svenja heißt sie. Vielleicht ein bisschen jünger als du, aber nicht viel.«
»Eine Tramperin in deinem Wohnmobil? Nicht dein Ernst!«