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Eine weltberühmte Stadt. Ein neues Opernhaus. Eine Liebe, die nicht sein darf. Und der Klang unsterblicher Musik. Dresden 1841: Das feierlich eröffnete königliche Hoftheater wirkt in seiner Pracht wie ein Palast für die Musik. Doch hinter den Kulissen geht es nicht weniger dramatisch zu als auf der Bühne: Die Primaballerina hütet ein tragisches Geheimnis, die Requisiteurin will ihrer Vergangenheit entfliehen, und die Kostümschneiderin hat den Glauben an wahre Leidenschaft verloren. Dennoch ist das Opernhaus für sie alle ein magischer Ort. Auch die junge Elise Spielmann ist bei ihrem ersten Besuch verzaubert. Sie entstammt einer Musikerdynastie und träumt davon, eine gefeierte Violinistin zu werden. Als sie dem talentierten Malergehilfen Christian Hildebrand begegnet, entspinnt sich eine zarte Bindung zwischen ihnen – in größter Heimlichkeit und gegen alle Konventionen. Währenddessen ziehen sich im ganzen Land revolutionäre Kräfte zusammen. Doch vor dem sich verdunkelnden Himmel strahlen die Liebe und die Musik umso heller. Das groß angelegte Epos der Bestsellerautorin Anne Stern zur wechselvollen Geschichte der Semperoper: berührende Schicksale vor und hinter den Kulissen, ein Fest der Sinne.
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Seitenzahl: 509
Anne Stern
Roman
Eine weltberühmte Stadt. Ein neues Opernhaus. Eine Liebe, die nicht sein darf. Und der Klang unsterblicher Musik.
Dresden 1841: Das feierlich eröffnete königliche Hoftheater wirkt in seiner Pracht wie ein Palast für die Musik. Doch hinter den Kulissen geht es nicht weniger dramatisch zu als auf der Bühne: Die Primaballerina hütet ein tragisches Geheimnis, die Requisiteurin will ihrer Vergangenheit entfliehen, und die Kostümschneiderin hat den Glauben an wahre Leidenschaft verloren. Dennoch ist das Opernhaus für sie alle ein magischer Ort.
Auch die junge Elise Spielmann ist bei ihrem ersten Besuch verzaubert. Sie entstammt einer Musikerdynastie und träumt davon, eine gefeierte Violinistin zu werden. Als sie dem talentierten Malergehilfen Christian Hildebrand begegnet, entspinnt sich eine zarte Bindung zwischen ihnen – in größter Heimlichkeit und gegen alle Konventionen.
Währenddessen ziehen sich im ganzen Land revolutionäre Kräfte zusammen. Doch vor dem sich verdunkelnden Himmel strahlen die Liebe und die Musik umso heller.
Das groß angelegte Epos der Bestsellerautorin Anne Stern – berührende Schicksale vor und hinter den Kulissen, ein Fest der Sinne.
Anne Stern wurde in Berlin geboren, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Sie ist Historikerin und promovierte Germanistin. Ihre Reihe um die Berliner Hebamme «Fräulein Gold» ist ein großer Erfolg, jeder Band wurde ein Spiegel-Bestseller. Mit «Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie» hat Anne Stern nun den Auftakt zu einem groß angelegten Dresden-Epos geschrieben, in dem sie die wechselvolle Geschichte der Semperoper und der Stadt Dresden im 19. Jahrhundert erzählt. Weitere Bände sind in Planung.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung U1berlin, Patrizia Di Stefano
Coverabbildung Ginette Beaulieu, AdobeStock
ISBN 978-3-644-01534-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Dresden war eine wunderbare Stadt, voller Kunst und Geschichte … Die Vergangenheit und die Gegenwart lebten miteinander im Einklang … Und mit der Landschaft zusammen, mit der Elbe, den Brücken, den Hügelhängen, den Wäldern und mit den Gebirgen am Horizont, ergab sich sogar ein Dreiklang. Geschichte, Kunst und Natur schwebten über Stadt und Tal … wie ein von seiner eignen Harmonie bezauberter Akkord.
Erich Kästner
Die Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann
und worüber zu schweigen unmöglich ist.
Victor Hugo
Dresden, Dezember 1820
Die Glocken der Kirche Unserer Lieben Frau klangen zart, beinahe schüchtern vom Neumarkt herüber. Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, lag der sternlose Himmel wie ein schwarzblaues Kleid über den weihnachtlich geschmückten Ständen und den dreistöckigen Häusern, die den großen Altmarkt säumten. Das Jahr neigte sich merklich dem Ende zu, die Tageslichtstunden schrumpften immer mehr zusammen. Doch zwei Wochen waren es noch bis zum Weihnachtsfest, wenn die Tage wieder heller würden.
Das Geläut trieb Georg Spielmann, der beim Anblick der dampfenden Maronen an einer Bude einen Moment stehen geblieben war, weiter über den Striezelmarkt. Im Gehen schlug er den hohen Kragen seines Samtmantels bis zu den Ohren und vergrub die Hände tief in den Taschen, um sich vor der grimmigen Kälte zu schützen. Unter seinen Stiefeln knirschte Schnee. Der Atem stand ihm wie eine weiße Wolke vor dem Mund. Einen Moment blickte er nach oben in den schwarzen Winterhimmel, aus dem ein paar eisige Schneegraupelflocken auf ihn niedertanzten, und suchte mit den Augen den barocken Turm der Kirche über den Häusern, deren schlanke Silhouette er so liebte. Dort, vom Norden der Innenstadt, ragte er hervor und schien Georg tröstend zuzunicken.
Er fröstelte, als der schneidende Ostwind ihm unter den Mantel fuhr und seine Rockschöße flattern ließ. Es war höchste Zeit, dass er weiterkam – nach Hause, in die heimelige, aber kostspielige Wohnung in der Großen Frauengasse, wo Amalie Friederike seit letzter Nacht in den Wehen lag. Es war das erste Kind der Spielmanns, und sie hatten mehrere Jahre darauf warten müssen. Doch hätte Georg gewusst, wie es sich anhörte, wenn die eigene Gemahlin mit einem Kind niederkam, wäre es ihm durchaus recht gewesen, es sogar noch länger hinauszuzögern. Dabei wünschte er sich mehr als alles einen Sohn, den er an der Geige und am Klavier ausbilden konnte, wie sein Vater es einst mit ihm getan hatte. Aber die Schmerzen, die Amalie sichtlich litt, mit denen hatte er nicht gerechnet, obwohl er sehr gut wusste, was Schmerzen waren. Schließlich hatte er als Student in Lützows Freikorps gegen Napoleons Truppen gekämpft, damals im Sommer anno 1813. Und auch er war, wie unzählige andere Männer, verwundet worden. Die ganze Stadt wirkte wochenlang wie ein einziges Lazarett, voller stöhnender, schreiender, an ihren Wunden oder dem Hunger sterbender Menschen – doch die Pein in Amalies Stimme, wenn sie bei jeder neuen Wehe wieder flehte, es möge aufhören, die konnte Georg trotzdem nicht ertragen. Sie ging ihm näher als alles andere, was er je gehört hatte.
Heute gegen Mittag hatte er es endgültig nicht mehr ausgehalten und war vor den klagenden, jammervollen Lauten aus dem Schlafgemach geflohen. Amalie befand sich in den Händen der Hebamme, so beruhigte er sich, und nicht zuletzt in denen Gottes. Außerdem konnte ein Ehemann nun einmal nichts ausrichten, wenn es um das uralte und ohnehin etwas unheimliche Frauenhandwerk der Geburt ging.
Ziellos war er durch die winterliche Stadt gewandert, hatte in der Kurfürstenschänke einen Sauerbraten gegessen – oder vielmehr darin herumgestochert, obwohl dies sonst sein Leibgericht war – und sich dann über den Christmarkt treiben lassen, bis die Dämmerung herankam. Der Striezelmarkt war weit über die Grenzen des Königreichs Sachsen hinaus berühmt. Und der weitläufige Altmarkt zwischen dem Rathaus und solch imposanten Gebäuden wie der Arnoldischen Buchhandlung, der Marienapotheke und dem Gotischen Hausverwandelte sich um diese Zeit wochenlang in ein einziges Gewimmel aus Buden und Ständen, aus kleinen Glanzpunkten im Zwielicht, wenn die Händler ihre Petroleumlämpchen entzündeten und ihre Ware feilboten. Man bekam hier hübsches Spielzeug aus dem Erzgebirge, fein gedrechselte Holzware, seidene Bänder und die berühmten Pflaumentoffeln, auch Striezelkinder genannt – kleine, aus getrockneten Pflaumen gefertigte Figuren, die aussahen wie Schornsteinfeger. Und es duftete an jeder Ecke so himmlisch, dass Georg trotz seiner Nervosität erneut innehielt und schnupperte. Nach Stollen duftete es, nach Quarkkäulchen, Anisbrot und Meißner Fummel.
Er trat an einen Stand, an dem die gelbe Petroleumlaterne im Wind schwankte wie ein Irrlicht, das ihn anzog.
«Ein paar Pfefferkuchen, der werte Herr?»
«Ein Pfund», verlangte Georg und sah zu, wie die alte Frau ihm die herrlichen Küchlein in eine Papiertüte schaufelte. «Sie sind für meine Gattin», fügte er leise hinzu, als müsste er sich entschuldigen, hier noch herumzustehen, während Amalie zu Hause Höllenqualen durchlitt.
«Noch etwas?» Die Alte sah ihn ungeduldig aus kleinen Äuglein an. In seinem Rücken hatte sich eine kleine Schlange in der Dunkelheit gebildet.
Hastig winkte Georg ab und lächelte entschuldigend, während er bezahlte.
«Unsere Empfehlung an die Frau Gemahlin», sagte die Frau und wandte sich schon dem nächsten Kunden zu.
Georg eilte weiter durch die Menge, bis der Lärm der fliegenden Händler, der schnatternden Verkäuferinnen und rumpelnden Karren hinter ihm zurückblieb. Schließlich tauchte er in eine düstere Gasse ein, die vom Altmarkt weg in Richtung Norden führte. Ein Nachtwächter im langen Mantel und mit einem Spieß ausgestattet kam ihm entgegen. Er trug ein schwankendes Talglicht in der anderen Hand und grüßte einsilbig, ehe er weiterschlurfte.
Von hier waren es nur noch fünf Minuten zu Fuß in die Wohnung der Spielmanns, und jetzt spürte Georg eine wachsende Ungeduld, nach Hause zurückzukehren. Was, wenn die Geburt plötzlich schneller vorangeschritten wäre? Was, wenn Amalie ihn brauchte? Schon fiel er in einen raschen Trab und versuchte abermals, in seinem hochstehenden Kragen dem schneidenden Wind zu trotzen, der ihm um die Ohren und den Bart pfiff.
Da bemerkte er, dass in einer Ecke der Gasse, unter einem finsteren Torbogen, zwei Gestalten vor einem winzigen flackernden Lichtlein hockten. Im Näherkommen sah er, dass es Kinder waren. Sie hatten selbst gebastelte Laternen vor sich abgestellt und blickten ihm erwartungsvoll entgegen. Das Mädchen, das vielleicht sieben Jahre alt war, trug einen zerschlissenen Umhang und war – Georg schluckte bei dem Anblick – trotz der Eiseskälte barfuß. Der Junge, wahrscheinlich ihr jüngerer Bruder, hatte große Augen in einem bleichen Gesicht, das nur von der Papierlaterne zu seinen Füßen beschienen wurde.
Die armen Kinder Dresdens hatten die Erlaubnis, in den Gassen rund um den Striezelmarkt kleine Handwaren feilzubieten, was immerhin besser war als die Bettelei, die das restliche Jahr ihr Haupterwerb war.
«Guter Herr», sagte das Mädchen zaghaft im Schutz der Dunkelheit, «möchten Sie eine Laterne kaufen?»
Georg blieb stehen. Die Papierdinger waren sehr schlicht, und doch gefielen sie ihm auf eine schwer erklärliche Weise. Er beugte sich hinunter und betrachtete sie. Auf der des Jungen sah er zwei Figuren, die ihm bekannt vorkamen. Trotz der unbeholfen aufgeklebten Papierschnitzel erkannte er eine Frau und einen Mann – die Frau trug ein Kleid aus rotem Papier, und es schien, als nehme sie dem Mann Fesseln ab.
«Sind das …?», fragte er ungläubig.
Der Junge, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, nickte. «Leonore und Florestan», sagte er heiser. «Aus Fidelio.»
«Wie solltet ihr eine solch exquisite Oper kennen?» Georg ging in die Knie. Auf der Laterne des Mädchens sah er jetzt einen Mann, der mit einem Dolch auf eine zweite Figur einzustechen drohte.
Diesmal war es das Mädchen, das antwortete. «Unser Vater war Theaterdiener drüben im Morettischen Haus», sagte sie leise. «Er hat uns von den Geschichten der Oper erzählt.»
«War? Und wo ist er nun?»
Plötzlich wehte der Wind ein paar Fetzen Musik herüber – jemand sang am anderen Ende der Gasse.
Georg richtete sich auf. Das Schweigen der Kinder war ihm Antwort genug. Immer wieder wüteten Typhus-Epidemien in Dresden. Diese beiden Sprösslinge hier waren nicht die Einzigen in den ärmeren Gassen rund um den Altmarkt, die der plötzliche Tod des Familienernährers in Hunger und Elend gestoßen hatte.
«Ich kaufe euch die eine hier ab», sagte er und deutete auf die Laterne mit dem Liebespaar. Eilig kramte er einen Taler hervor und reichte ihn dem Jungen. Die schmutzige kleine Hand war kalt wie die eines Toten.
Georg fröstelte erneut. Er sah auf die Tüte mit den Pfefferkuchen, die er noch immer im Arm hielt und von der ein herrlicher Duft nach Zimt und Nelken aufstieg, und kurz entschlossen reichte er sie auch noch hinüber.
«Eine frohe Adventszeit», sagte er.
Die Kinder sahen einander an, ein ungläubiges Lächeln umspielte die Lippen des Mädchens.
«Vergelt es Ihnen Gott», stammelte es.
Der Junge griff nach der Tüte und umklammerte sie so fest, als enthielte sie statt Gebäck pures Gold. Er deutete eine Verbeugung an, was bei seiner kleinen, ausgemergelten Gestalt erbärmlich wirkte.
Georg nahm die Papierlaterne mit dem brennenden Talgstummel auf und entfernte sich rasch. Das winzige Licht beschien nur ungenügend die finstere Gasse, deren sonst sandiger und schlammiger Grund im grimmigen Frost der vergangenen Wochen wie zu Stein gefroren war.
Wieder klang der Gesang zu ihm herüber, er vernahm nun ganz deutlich liebliche Kinderstimmen. An der nächsten Ecke, an der Georg abbiegen musste, stand eine Gruppe älterer Mädchen – Gott sei Dank mit Schuhen und einigermaßen warmen Mänteln bekleidet. Sie sangen zweistimmig ein Weihnachtslied. Brich an, o schönes Morgenlicht aus dem Weihnachtsoratorium von Bach. Eines von ihnen hielt ein Petroleumlämpchen in den Händen, und sein Gesicht, ein gelblicher Kreis im Schwarz der Gasse, leuchtete wie das eines Engels in der Dunkelheit. Die anderen drängten sich um das Licht.
Wie oft hatte Georg den Choral schon gehört, gesungen von den feinsten Gesangsvirtuosen des Landes, in den prächtigsten Kirchen. Doch etwas an den einfachen, aber klaren Stimmen der Mädchen rührte ihn – auf einmal schien es ihm, als bewiesen sie ein besseres, reineres Verständnis der unsterblichen Musik Bachs als die herausgeputzten Frauen in den Salons, die er sonst den Sopran singen hörte, und ihm wurde weihnachtlich ums Herz. Für einen Moment vergaß er seine Sorgen, vergaß, wie sehr es ihn schmerzte, dass sein viel gerühmtes Talent als Geiger noch immer nicht zum Erfolg geführt hatte. Er vergaß, was er im Krieg vor sieben Jahren erlebt hatte, zu welch furchtbaren Taten er fähig gewesen war, um sein eigenes Leben zu retten. Nur eines ging ihm in diesem Augenblick durch den Kopf – dass ihm heute ein Kind geboren würde. Ein Sohn, den er hegen und pflegen wollte, dem er die schönste Musik vorspielen und den er zu einem Genie heranziehen würde, sofern es Gott gefiele.
Die kleine Laterne in seiner Hand schaukelte in der Schwärze des herannahenden Abends hin und her, als er nun in Laufschritt fiel. Die Stimmen des Kinderchors – Soll unser Trost und Freude sein – wurden leiser und erloschen schließlich ganz unter dem Hämmern seiner eilenden Stiefel auf dem gefrorenen Boden und im Brausen des Dezemberwinds, als er in seine Wohnstraße einbog.
Dresden, Samstag, 17. April 1841
Elises rechte Hand führte den Bogen, während die Fingerspitzen der anderen über die Geigensaiten tanzten, als wüssten sie mehr über das Instrument als ihre Besitzerin. Immer wieder spielte sie die Tonleiter, beginnend mit der leeren G-Saite und dann aufwärts, bis in die schwindelerregenden Höhen der E-Saite, zum Steg hinauf, über den die Saiten gespannt waren – und wieder hinab. Sie hatte den Kopf nach links zum Instrument geneigt, lauschte in den hölzernen Klangkörper hinein, und ihre Wange schmiegte sich an die Heberlein-Geige, während sie immer und immer wieder die gleiche Tonfolge spielte. Das Instrument jubelte und jauchzte, es schien die Liebkosungen seiner Virtuosin zu genießen. Zum Rhythmus ihres Spiels lief Elise in der Wohnstube ihrer Eltern in der Großen Frauengasse auf und ab, sodass der weite Rock ihres dunkelroten Kleids hemmungslos über den Boden fegte. Das glänzende Parkett knarrte ein wenig unter ihren Schnürschuhen aus geblümtem Challis-Stoff, als sie ihr Gewicht bei einem besonders emphatisch ausgeführten Strich des Bogens auf eine der alten Dielen verlagerte.
Elise übte für das Maikonzert, das ihre Mutter in einigen Wochen hier in den Räumen der Großen Frauengasse für ihre Freunde geben wollte. Die Spielmanns waren eine Musikerfamilie, mit Ausnahme der jüngsten Schwester Barbara musizierte oder sang jedes der vier Kinder. Auch die Mutter selbst, Amalie Friederike Spielmann, besaß eine hübsche Singstimme, obwohl sie keine musikalische Ausbildung genossen hatte. Eine solche bekam man in Sachsen durch Privatstunden, und diese waren für eine Frau nur selten vorgesehen, als Amalie jung gewesen war. Ihr Talent hatte sie dennoch an alle ihre Kinder vererbt. Hinzu kam die noch größere Begabung des Vaters, Georg Spielmann, der sich, obwohl eigentlich Justizrat am Appellationsgericht, in den letzten Jahren als Violinist in Dresden einen Namen gemacht hatte. Elise wusste, wie sehr ihr Vater sich danach sehnte, Größeres auf der Geige zu erreichen. Niemand konnte das so nachempfinden wie sie – ihr ging es schließlich genauso. Doch beide mussten sich – aus unterschiedlichen Gründen – gedulden.
Mit einem Mal wurde die Flügeltür vom angrenzenden Studierzimmer aufgestoßen. Elises Bruder Eduard stand im Rahmen, das dunkle Haar gescheitelt, und unter der Hausjacke blitzte ein weißes Hemd mit gerüschtem Kragen hervor. Er hatte die Stirn gerunzelt und betrachtete sie mit einer Miene, die Missfallen und Neid gleichzeitig ausdrückte.
«Kannst du nicht einmal still sein?», fragte er. «Ich versuche, mir lateinische Vokabeln in den Kopf zu hämmern, und du verscheuchst mit deinem Gefiedel jeden vernünftigen Gedanken.»
Elise ließ die Geige sinken.
«Macht dir der Herr Lehrer in St. Benno wieder die Hölle heiß, wenn du die Übersetzung verpatzt?», fragte sie spöttisch und hielt den Geigenbogen in Eduards Richtung wie einen Degen, mit dem sie ihn zum Duell auffordern wollte. «Ich glaube aber nicht, dass das an meinem Spiel liegt, sondern nur an deinem Köpfchen.» Sie lächelte spitzbübisch. «Das ist nämlich hohl wie eine Winternuss.»
Eduards Wangen färbten sich rot. «Zieh mich nicht auf!» Aus den Sorgenfalten auf seiner jugendlichen Stirn wurden Zornesfurchen. «Du hast gut reden, du musst schon lange nicht mehr zur Schule gehen und hast gar keine Ahnung, wie es auf unserem Progymnasium zugeht. Auf deinem Töchterpensionat habt ihr doch bloß Sticken gelernt, was weißt du also von den alten Sprachen?»
Elise zuckte zurück. Der Bogen hing nun schlaff herab, die Geige pendelte am hölzernen Hals in ihrer Hand. «Wenn du wüsstest, wie gut du es hast, Brüderchen», sagte sie leise. «Du bekommst das Wissen auf einem silbernen Tablett präsentiert, während ich …» Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippen. «Meine Hochzeit mit Adam Jacobi ist so gut wie beschlossen, sagt Vater», fuhr sie leiser fort. «Ich werde mich also für den Rest meines Lebens in einer hübschen Wohnung zu Tode langweilen. In genau so einer wie dieser hier.» Sie zeigte auf die zierliche Einrichtung aus Nussbaum und die gerahmten Stiche an der Wand und seufzte. «Und mit dem Geigenspiel ist es dann auch Essig», fügte sie achselzuckend hinzu.
Eduards Zorn war aus seinem ebenmäßigen Gesicht verschwunden. Beinahe verlegen fuhr er sich durch das dunkelbraune Haar.
«Und das, obwohl du viel besser Violine spielst als ich», sagte er. «Ein Jammer.»
«Das stimmt nicht», widersprach Elise, doch beim Blick in Eduards Miene musste sie lachen. «Oder gut, es stimmt», gab sie zu, «aber es müsste nicht so sein – wenn du nur mehr üben würdest.»
«Mit den Etüden ist es das Gleiche wie mit den Vokabeln», sagte Eduard und trat ans Fenster. Er sah durch die Spitzenvorhänge hinaus auf die Straße, wo sich der Frühling ankündigte. Entschlossen drehte er den zierlichen Knauf und öffnete es einen Spalt. Die verheißungsvolle Aprilluft strömte herein, der Himmel wirkte wie frisch gewaschen. «Es macht mir eben keine Freude. Du dagegen», er drehte sich wieder zu Elise um, die noch immer in der Mitte der Wohnstube stand, «scheinst für die Musik zu brennen. Für dich ist das Üben keine Qual wie für mich.»
Nachdenklich betrachtete Elise ihren vier Jahre jüngeren Bruder. Er hatte recht, dachte sie. Jede Sekunde, die sie mit ihrer Geige verbringen durfte, war für sie das reine Vergnügen. So war es schon gewesen, als sie als Vierjährige mit den Violinstunden begonnen hatte. Obwohl ihr Vater sich einen Sohn als Erstgeborenen gewünscht hatte, hatte er Elise doch stets gut behandelt und sie sogar oft zu Konzerten mitgenommen, als er ihre Liebe zur Musik bemerkte. Bei einem Violinkonzert hatte sie Feuer gefangen und gewusst, dass sie nichts anderes tun wollte, als dieses herrliche, singende und klingende Instrument zu spielen. Gefleht und gebettelt hatte sie, bis er sich erweichen ließ. Der Vater selbst hatte sie zuerst unterrichtet, dann aber, als Elise schnell Fortschritte machte, einen Hauslehrer für die Violinstunden engagiert, weil er nicht genug Zeit dafür fand. Elise wusste, dass sie Glück hatte – nicht viele Väter investierten derart viel Mühe und Geld in die musikalische Bildung ihrer Töchter, die ja doch über kurz oder lang heiraten und den Haushalt verlassen würden.
Anders als von ihrem Vater vorausgesagt, war Elise von ihrer Begeisterung für die Musik über die Jahre nicht abgewichen – bis heute nicht. Und bei dem Gedanken, dass es damit in wenigen Monaten vorbei wäre, weil sie dann die Pflichten einer Ehefrau und Mutter fesseln würden, bekam sie Magendrücken. Zu Neujahr würde sie heiraten und ins Haus des Hofkompositeurs und Journalisten Jacobi in die Königstraße in der Neustadt, auf der nördlichen Seite der Elbe, ziehen. Sie kannte ihn nur flüchtig, er war ein ernster Mann und außerdem um viele Jahre älter als sie. Etwas Düsteres zog heran, wenn sie an die Zukunft dachte – wie ein grauer Schleier, der sich über ihr Gemüt legte. Ob das dieselbe unerklärliche Melancholie war, die auch ihre Mutter immer wieder überfiel und derart lähmte, dass diese ganze Tage im Bett verbringen musste?
«Was wirst du im Mai bei Mutters Konzert spielen?», fragte Elise, um das Thema zu wechseln. Sie trat zu einer mit grünem Samt bespannten Bank und legte ihre Geige in den Violinkasten, der dort aufgeklappt an der Wand wartete. Sorgsam deckte sie ihn mit einem Seidenschal zu, damit kein Schmutzkörnchen auf die empfindlichen Saiten fallen konnte. Anschließend löste sie behutsam die Spannung der Bogenhaare und legte den Violinbogen hinein. Ein wenig Kolophoniumstaub wurde in die Luft gewirbelt, und Elise sog den harzigen Duft ein. Vor jedem Spiel rieb sie die Rosshaare des Bogens sorgfältig mit gehärtetem Fichtenharz ein, um sie geschmeidig zu halten.
«Die Klaviersonate g-Moll», antwortete Eduard dumpf, «von Schumann.» Er starrte wieder nach draußen in das helle Sonnenlicht und schien abgelenkt von einer Amsel, die sich auf dem Fensterbrett putzte.
Elise stellte sich neben ihren Bruder ans Fenster. Unten hielt gerade ein Fuhrwerk, und eine Dame, gehüllt in einen seidenen Umhang und mit zierlichem Schuhwerk, stieg aus dem Schlag und ließ sich am Arm des Kutschers über die Gasse führen. Die kleineren Straßen in Dresden waren nicht gepflastert wie die großen Plätze, und nach den häufigen Regenfällen der letzten Wochen war jede Überquerung wegen des schlammigen, aufgeweichten Untergrunds ein Wagnis.
«Robert Schumann?», fragte Elise. «Dieser Komponist in Leipzig, von dem man so viel hört?»
Eduard nickte. «Mein Klavierlehrer verehrt ihn», sagte er, «und er meint, es täte mir gut, die Werke eines so jungen Genies zu spielen und nicht immer nur die alten Meister.»
«Das ist klug vom alten Büchner», sagte Elise und nickte. «Vielleicht macht es dir mehr Freude. Die Familie Schumann ist zudem wirklich außergewöhnlich. Ich habe von Schumanns junger Frau gehört: Clara Wieck ist ebenfalls Pianistin, und man behauptet sogar, sie würde nicht nur konzertieren, sondern auch komponieren.»
Überrascht sah Eduard sie von der Seite an. «Das ist lächerlich», sagte er rasch. «Eine Frau kann keine Komponistin sein. Sie hat nicht das Schöpferische in ihrem Charakter, das dafür nötig ist.»
«Gleich behauptest du noch, eine Frau könne auch nicht Violine spielen!», fuhr Elise auf. «Das meinen ja schließlich alle Kritiker des Landes, allen voran Jacobi. Aber eben hast du selbst zugegeben, dass ich dir im Spiel überlegen bin.»
«Du bist eben eine Ausnahme», sagte Eduard widerwillig. «Trotzdem solltest du dir besser eingestehen, dass es sehr ungewöhnlich ist. Hier zu Hause mag es ja angehen, vielleicht auch noch bei privaten Salons, wo man sich kennt. Aber hast du schon einmal eine Frau die Violine in einem Orchester spielen sehen? Oder auf einer großen Bühne in einem Konzerthaus?»
Es blieb Elise nichts anderes übrig, als mit dem Kopf zu schütteln. Bei der Bewegung fiel ihr Blick quer durch den Raum in den Spiegel, der über dem gedrechselten Sofa hing. Neben Eduards dunklem Schopf mit den langen Koteletten entdeckte sie sich selbst. Hellbraune Locken umrahmten ihr kleines Gesicht mit dem eigensinnigen, etwas zu eckigen Kinn. Das rote Kleid war hochgeschlossen und in der Taille gefältelt, ein braunes Schultertuch lag über den ausladenden Keulenärmeln, die sie beim Geigespielen stets störten. Doch so war nun einmal die Mode, und eine Tochter des Dresdner Bürgertums musste zeigen, dass sie über die nötigen Mittel verfügte, sich jedes Jahr ein Kleid nach neuestem Geschmack schneidern zu lassen. Immerhin hatte Elise bei ihren Spaziergängen durch die Stadt in letzter Zeit mehr und mehr Frauen gesehen, deren Ärmelumfang wieder etwas gemäßigter war – die Mode schien in Richtung schmalere Silhouetten, ins Schlichtere zurückzugehen, was ihr nur recht war.
Beim nächsten Besuch musste ihr Schneider Behnke, in dessen Geschäft am Schloss die Spielmanns Stammkunden waren, engere Ärmel anfertigen, entschied sie.
Eduard hatte recht, dachte sie dann, während sie mit leichtem Missfallen zusah, wie die Elise im Spiegel sich eine Locke hinter ein zu weit abstehendes Ohr strich – angeblich ein Überbleibsel ihrer schweren Geburt vor einundzwanzig Jahren. In den großen Orchestern des Landes fanden sich tatsächlich keine Frauen. Es gab nur Sängerinnen in den Chören und Solistinnen in der Oper. Diese Frauen würden die weltberühmten Arien auch im nagelneuen Opernhaus von Gottfried Semper singen, das vor wenigen Tagen eröffnet worden war – doch keine von ihnen schwang dort den Bogen, geschweige denn den Dirigentenstab. Elise wusste, dass es als geradezu ungehörig für eine Frau galt, Geige zu spielen – die dafür nötige Körperhaltung schien dem Publikum unweiblich. Vom Violoncello, das man zwischen den gespreizten Beinen halten musste, ganz zu schweigen. Angeblich gab es in Paris eine junge Cellistin, die öffentlich auftrat – aber selbst dort, so las man in den Gazetten, fielen die anwesenden Damen reihenweise deswegen in Ohnmacht.
Elises Laune hellte sich ein wenig auf, als ihr einfiel, dass sie die Dresdner Hofkapelle bald selbst hören würde. Ihr Vater hatte Eintrittsbilletts für den Freischütz gekauft. Endlich würde die ganze Familie Spielmann in die neue Oper am Schloss gehen! Elise konnte es kaum erwarten.
Die Eröffnungsfeier war das Ereignis des Jahres gewesen, und alles, was Rang und Namen in Dresden hatte, war zur Premiere geströmt. Georg Spielmann war zwar ein angesehener Mann in der Stadt, jedoch nicht einflussreich genug, um eine Einladung zu erhalten. Deshalb musste auch Elise sich noch gedulden, die Pracht dieses Ortes, von der sie bisher nur hatte reden hören, mit eigenen Augen zu sehen. Und natürlich der Musik des ehemaligen Musikdirektors Carl Maria von Weber zu lauschen, der den Freischütz komponiert hatte. Er war ein wichtiger Mann für Dresden gewesen, und seit seinem Tod gedachte man ihm mit exquisiten Aufführungen seiner Werke. Um seine Operhatte es einst, wie Elise von ihrem Vater wusste, einen großen Streit zwischen dem Komponisten und dem Schriftsteller des Librettos gegeben, doch das war vor ihrer Geburt gewesen. Heute spielte man die Oper wieder im ganzen Land, und am besten natürlich im neuen, prächtigen Bau des Dresdner Hoftheaters.
«Dann wärst du also gern so wie die junge Frau Schumann?», fragte Eduard und stieß Elise spielerisch in die Seite. «Denn eine Heirat bedeutet heute offensichtlich nicht, dass man nicht mehr musizieren kann.» Er kicherte. «Du solltest dankbar sein, dass der ehrwürdige Herr Jacobi dich überhaupt heiraten will», sagte er. «Wenn er wüsste, welche Flausen du im Kopf hast, würde er vielleicht noch Reißaus nehmen und sich eine bescheidenere Jungfer zur Frau wünschen.»
Elise runzelte die Stirn. «Sei lieber still», sagte sie, «oder ich erzähle Mama, dass du neulich Friedel geküsst hast. Ich hab es genau gesehen, hinten im Hof bei den Pferden.»
Eduard war blass geworden. Er trat ein Stück von Elise weg, als wollte er sich gegen ihre Anschuldigung verwahren. «Das ist doch nichts», sagte er leise und starrte auf den Dielenboden. «Das dumme Ding stand da so herum, und mir war fad.»
Elise stemmte die Hände in die Taille. «Du nutzt sie aus», sagte sie eindringlich. «Friedel kommt von der Elbe, aus einem Dorf! Sie hat keine Erfahrungen mit frechen Stadtknaben wie dir. Du solltest deine Hände von ihr lassen, auch wenn sie bildhübsch ist.»
«Du bist nicht unsere Mutter», erwiderte Eduard trotzig. Seine Wangen glühten, doch er sah Elise herausfordernd an. «Du hast kein Recht dazu, mich zu schelten. Was ich tue, ist ganz allein meine Sache!»
«Was tust du denn?», fragten in dem Moment zwei Mädchenstimmen.
Elise und ihr Bruder fuhren herum. Die fünfzehnjährigen Zwillingsschwestern Barbara und Dorothea waren unbemerkt hereingekommen und hatten den letzten Satz ihres älteren Bruders gehört. Sie glichen einander aufs Haar, beide hatten dieselben dichten blonden Locken, eine füllige, weiche Figur, die durch ihre eng taillierten Kleider aus kariertem Musselin reizvoll betont wurde, und sogar das gleiche Grübchen am Kinn, wenn sie lächelten. Wie zwei der Goldengel auf dem Gemälde, das an der hinteren Wand des Zimmers hing, sahen sie aus. Seite an Seite gingen sie nun zum Sofa und ließen sich auf die lindgrünen Samtkissen fallen. Barbara streckte aufseufzend die Füße von sich, während sich Dorothea in die Sofaecke schmiegte und Eduard herausfordernd ansah.
«Geht es um die schöne Viehmagd?»
Barbara kicherte.
Zornig blickte Eduard zwischen seinen drei Schwestern hin und her. «Hört endlich auf damit», sagte er, «es geht euch nichts an, verstanden?»
«Dann solltest du dich mehr bemühen, dass dich auch niemand von uns beim Poussieren mit dieser Person beobachtet», sagte Dorothea und ahmte vortrefflich die tadelnde Stimme von Fräulein Drosselmeir, der Gouvernante, nach. «Sonst werden es bald auch die Frau Mama oder der Herr Papa erfahren, und dann gnade dir Gott.»
Mit einem Wutschnauben verschwand Eduard im Studierzimmer und warf die Tür hinter sich zu, sodass die Butzenscheiben darin gefährlich klirrten. Die drei Schwestern tauschten vielsagende Blicke, dann fingen alle an zu lachen.
«Armer Bruder», sagte Dorothea gedehnt. «Er hat es nicht leicht mit drei Schwestern.»
Elise schnaubte. «Er ist ein junger Mann», sagte sie leise, «natürlich hat er es leicht, trotz seiner Schwestern und trotz der Paukerei.» Sie war wieder ernst geworden. Ihr Blick wanderte hinüber zu ihrer Geige, die an der Wand in ihrem Kasten ruhte. Plötzlich überkam sie ein seltsames Gefühl – vielleicht war dies hier eins der letzten Male, dass die Geschwister alle zusammen in der elterlichen Wohnstube saßen, sich gegenseitig hänselten und neckten, als wären sie noch Kinder. Dabei war Elise schon längst keines mehr, und sie spürte, dass dieses letzte Jahr im Elternhaus eine große Veränderung bringen würde. Ein neues Lebensalter brach an, ihre Zeit als junges Mädchen war bald vorbei. Kurz sah sie sich vor dem Altar stehen, neben sich den älteren Adam Jacobi, die Orgel dröhnte, und sie trug ein neues Kleid aus Brokat … Es war ein hübsches Bild, und doch bedrückte es sie. Elise kannte den Herrn kaum, sie siezten sich bei ihren seltenen Begegnungen, die stets im Kreise ihrer Familie und deren Bekannten stattgefunden hatten. Und zum wiederholten Male fragte sie sich, weshalb ihre Eltern wohl einer Heirat mit Jacobi so freimütig zugestimmt hatten. Warum sie so bereitwillig ihre älteste Tochter fortgaben, obwohl keine Not dazu bestand. Mit ihren einundzwanzig Lenzen war Elise noch jung, erst in vier Jahren würde sie volljährig werden. Und doch – Amalie Friederike Brühl war im selben Alter gewesen, als sie den beinahe mittellosen Jurareferendar Georg Spielmann geheiratet hatte. Sie hatte das Geld ihrer Eltern in die Ehe eingebracht, damit er weiterhin seinem Violinspiel und dem Komponieren nachgehen konnte. Und auch sie hatte ihr ganzes Leben einem Fremden geschenkt. Wie es einer Frau vorherbestimmt war.
Weshalb nur machte Elise der Gedanke dann so traurig, von zu Hause fortzugehen? Sie würde ihre Violine doch mitnehmen, und gewiss konnte sie auch in der schönen Neustädter Wohnung von Herrn Jacobi fiedeln, wie Eduard gesagt hatte. Aber es war nicht das Gleiche. Solange der Ring dieses Mannes nicht an Elises Finger steckte, besaß ihr Geigenspiel noch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Bald jedoch würde es hohl sein und glanzlos, weil niemand außer ihrem Ehemann und – in naher Zukunft – vielleicht eins ihrer eigenen Kinder ihm lauschen würde. Die Töne wären eingesperrt in ein Leben zwischen den vier Wänden des Salons, eingekeilt zwischen all dem Zierrat, der zweifelsfrei auch in den Räumen in der Königstraße herumstand – denn die ältere Schwester von Adam Jacobi führte ihm bisher den Haushalt. Das Geigenspiel wäre nicht länger so kühn, wie Elise es so liebte, wenn sie mit ihrer Wange an der Geige durch die Zimmer wanderte und sich von der Musik – sanft und stark zugleich – einhüllen ließ.
Von draußen zog das Mittagsgeläut der Glocken von der nahe gelegenen Frauenkirche herein, und Elise schreckte auf. Sie stand noch immer mitten in der Stube, der unstete Frühlingswind zerrte am offen stehenden Fensterflügel und ließ die weißen Gardinen sich bauschen und winden. Dorothea und Barbara waren in eins ihrer leisen Gespräche vertieft, die nur die Zwillinge miteinander führen konnten – eingesponnen in ihren zweisamen Kosmos, als seien sie noch immer gemeinsam im Mutterleib, flüsternd und kichernd, den Mund der einen dicht am Ohr der anderen. Elise beneidete sie um ihre tiefe Vertrautheit mit der jeweils anderen Zwillingsschwester. Es war, als brauchten sie sonst keinen Menschen auf der Welt – wohingegen Elise selbst immer etwas abseits zu stehen schien.
Sie trat zum Fenster und schloss es, denn es war Zeit für das Mittagessen. Danach würde ihr Vater wieder in die Amtsstube eilen, und der Rest der Familie würde sich hier in den Wohnräumen versammeln, um vorzulesen, miteinander zu singen und zu plaudern, während der Samstagnachmittag verrann.
Die Wohnungstür ging, sie hörten die schweren Tritte des Vaters, der von seiner Sitzung heimkehrte, und das helle Lachen der Mutter, das so selten war und deshalb so kostbar, als sie ihren Mann in der Diele begrüßte. Die Zwillinge sprangen auf.
«Eduard», rief Elise durch die geschlossene Tür ins Studierzimmer. «Kommst du?»
Immer noch mürrisch tauchte er auf. Doch Elise lächelte und hakte ihn liebevoll unter. Alle vier Spielmann-Kinder verließen die Wohnstube und gingen durch den Korridor ans andere Ende der Wohnung ins Esszimmer, um die Eltern zu begrüßen und um sich Albertas Speckpfannkuchen schmecken zu lassen.
Aus dem Tagebuch des Königlich Sächsischen Hoftheaters,Schauspielfreunden zum Jahre 1841 gewidmet
Das von Gottfried Semper neu erbaute Hoftheater der Stadt Dresden wurde am 12. April dieses Jahres feierlich eröffnet. Die Oper ist in ihrer Herrlichkeit und Pracht wie ein Palast für die Musik!
Gespielt wurde ein Prolog von Theodor Hell, vorgetragen zum Anlass des neu gemalten Hauptvorhangs von Prof. Hübner. Die zweite, ebenfalls vorzügliche Dekoration, die sich dahinter auftat, ward im Malersaal gefertigt vom Hoftheatermaler Anton Arrigoni und seinem Gehülfen Christian Hildebrand.
Es folgte die Jubel-Ouvertüre von Carl Maria von Weber sowie Torquato Tasso von Johann Wolfgang von Goethe. Die Sopranistin Demoiselle Schröder-Devrient wurde vom frenetisch applaudierenden Publikum mehrmals gerufen.
Der Abend war ein unermesslicher Erfolg, von dem in unserer Stadt noch lange zu reden sein wird.
Generaldirektor der Königlichen Kapelle ist auch in diesem Jahr Seine Exzellenz Wirklicher Geheimer Rat Herr Wolf Adolf August von Lüttichau, Großkreuzträger des Zivil-Verdienst-Ordens. Möge er lange seine Gesundheit erhalten und dem Theater aufs Vortrefflichste dienen – und wir mit ihm. Denn was wäre das Königliche Theater in Sachsen ohne uns – und wir ohne die Oper? Sie schenkt uns die wunderbarste Musik. Eine Musik, die uns aus dem Staub der Erde zieht und unser Innerstes zum Singen anhebt.
Ehregott Wagner, Diener und Chronist des Königlichen Hoftheaters
Dresden, Montag, 19. April 1841
Die Ballerina drehte sich in ihrem weißen, durch den eingenähten Reif auf und ab wippenden Tutu – eine Neuheit aus Paris! – immer wieder um ihre eigene Achse. Die Spitze des Saums raschelte an ihren Knien, wenn sie ihre Drehung vollführte, die Arme in elegantem Bogen hoch über den Kopf erhoben. Trippelnd und tänzelnd bewegte sie ihre grazile Figur über die Bühnenbretter. Sie schien zu schweben, wie durch Zauberhand verloren ihre Füße den Bodenkontakt, während ringsumher junge Mädchen in nicht ganz so ausladenden Kleidern herumtänzelten und Blumengirlanden schwangen. Umringt wurden sie von ein paar männlichen Balletttänzern, die kurze, weite Pluderhosen trugen, unter denen sich muskulöse Oberschenkel abzeichneten, und deren samtschwarze Capes bei ihren tanzenden Drehungen aufflogen, als seien sie Fledermäuse auf ihrem Flug durch die Nacht. Um ihre Hälse waren weiße Krausen nach Art der Hugenotten gelegt, und sie mussten ihre Nasen weit herausstrecken, um zu sehen, wohin sie sprangen. Die schweren, ausgestopften Ballettschuhe klapperten auf dem Holzboden wie Kastagnetten. Ständig stolperte einer der Tänzer über ein mit Weidenkorb ausstaffiertes Kind oder einen der herumliegenden Blumenkränze oder Strohballen – denn man befand sich auf einem Marktplatz in Paris, am Ufer der Seine, vor dreihundert Jahren, noch vor dem Dreißigjährigen Krieg.
Bertha Heise, die Garderobiere des Königlichen Theaters, stand auf der hinteren Bühne an eine Kulissenwand gelehnt – eine französische Kapelle aus Pappe im Renaissancestil – und sah der Probe zu. Es war zwei Wochen vor der Premiere von Les Huguenots, der großen Oper von Giacomo Meyerbeer, und bis jetzt schien es wenig glaubhaft, dass die Darsteller es bis zum großen Abend schaffen würden, aus diesem Durcheinander eine vorzeigbare Szene zu machen. Doch Bertha kannte das Theater, sie kannte es schon ihr ganzes Leben lang, und nichts überraschte sie mehr. Es musste immer bis zum Äußersten kommen, ein Drama musste das nächste jagen, mindestens drei Ballerinen samt Musikdirektor in Ohnmacht fallen – bis endlich der Durchbruch gelang und die Aufführung wie durch ein Wunder doch noch ein überragender Erfolg wurde. Vielleicht musste die Premiere auch mit diesem unvermeidlichen Schmerz erarbeitet werden, der erst das tiefe Schaudern der großen Gefühle bei den Darstellern hervorrief – und beim Publikum.
«Arretez!», rief da auch schon wieder Herr Kühn, der massige Repetitor, mit verzweifelter Stimme. Auf der Bühne sprach man hauptsächlich Französisch, die Sprache des Balletts. «Attention, Mesdames! Messieurs!»
Er drängte sich und seinen ausladenden Bauch durch die Gruppe der Tänzer hindurch und blieb vor Mademoiselle Koch im weißen Tutu stehen, die soeben in ihrer letzten Drehung innehielt und ihn ansah wie einen Hofnarren, der seine Königin beim Regieren gestört hatte.
«Mademoiselle», flehte er, «encore une fois, s’il vous plaît!» Er warf furchtsame Blicke nach allen Seiten und fuhr sich über seinen weißen Vollbart mit den gezwirbelten Spitzen. «Mon Dieu, dieses Durcheinander … Wenn das Monsieur Lepitre zu Gesicht bekommt!»
Bertha musste sich ein Lächeln verbeißen. Monsieur Lepitre, der schwarzäugige Ballettmeister, würde einen seiner berühmten Zusammenbrüche bekommen, wenn er jetzt hier wäre – doch er erschien selten vor der Mittagszeit zur Probe, denn er legte viel Wert auf seinen Schlaf und ein gutes, ausgedehntes Frühstück, bevor er sich mit den Ärgernissen der Welt befassen konnte. Von seinen Tänzern jedoch verlangte er, gemäß den Statuten des Theaters, strenge Disziplin und Pünktlichkeit. Erst kürzlich war die Strafe fürs Zuspätkommen zu einer Probe für die Darsteller um zwei Taler erhöht worden.
«Hab mit Gott nichts zu schaffen, Herr Kühn», war die wenig demütige Antwort der Primaballerina. Gelangweilt betrachtete sie die Kinder und Tänzer, die inmitten der Kränze, Girlanden und Strohballen standen und mit hängenden Köpfen und Armen vor sich hin starrten. «Wenn ich hier nicht mit Amateuren arbeiten müsste, sondern in Paris oder London unter meinesgleichen wäre, bräuchten Sie meine Partie nicht andauernd zu unterbrechen.» Abschätzig fuhr sie über ihr seidenes Tutu und schnappte theatralisch nach Luft. «Außerdem ist dieses Kostüm viel zu eng», japste sie. «Wer soll darin schon tanzen können?»
Repetitor Kühn sah sich Hilfe suchend um. Dann fiel sein Blick auf eine Dame in einem ausladenden Spitzenkleid und mit aufgetürmter Frisur, die ein paar Meter weiter mit einer Gruppe Elevinnen einen Pas de quatre übte und dabei mit den Armen fuchtelte, als dirigierte sie ein ganzes Orchester.
«Signora Pecci», rief er mit sich überschlagender Stimme.
Die Ballettlehrerin wies ihre Schülerinnen an, einen Moment allein weiterzumachen, und stolzierte zum Repetitor hinüber.
«Sì, Signore?», sagte sie mit ihrem dunklen Timbre und rollte das r, wie Bertha fand, eine Spur zu laut – so, als wolle sie allen ihre hinreichend bekannte italienische Herkunft erneut beweisen. Sie rückte sich die schwarze Perücke zurecht, an der sie augenscheinlich schwer zu tragen hatte.
«Irgendetwas stimmt mit dem Kleid der Mademoiselle nicht, Signora», sagte Kühn bemüht leise. Beinahe, dachte Bertha belustigt, hätte er wohl einen Bückling gemacht. «Sie sagt, es sei zu eng.»
Taxierend glitt der Blick aus Signora Peccis kleinen dunklen Äuglein über das weiße Tutu. «Tatsächlich», sagte sie schnalzend, «viel zu eng. Terribile!»
Bertha gab sich einen Ruck. Das hier war ihr Stichwort! Wenn etwas mit dem Kostüm nicht stimmte, betraf das ihre Domäne – ihre und die ihres Gatten, Franz Heise, dem Damenschneider des Theaters. Sie konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb das Kleid auf einmal nicht mehr passen sollte, denn Mademoiselle Koch trug es bereits seit Jahren in verschiedenen Vorstellungen. Die Sängerinnen und Tänzerinnen hatten selbst für ihre Kostüme zu sorgen und brachten sie von zu Hause mit, Bertha und ihr Mann waren nur für kleine Änderungen und Anpassungen zuständig. Doch was auch immer der Grund war – der Fehler musste behoben werden.
Rasch ging sie zu dem Grüppchen hinüber.
«Ah, Madame Heise», sagte Kühn erleichtert und wischte sich mit einem Taschentuch geziert den Schweiß von der Stirnglatze. Seine vollen Wangen leuchteten rosig. «Sie kommen gerade recht. Sehen Sie mal, das Tutu von Magdalene … ich meine, von Mademoiselle Koch», verbesserte er sich hastig. «Es, nun ja, es passt nicht.»
«Nicht mehr», sagte Bertha trocken und erntete, wie sie sehr wohl spürte, einen bissigen Blick von der Primaballerina, doch sie achtete nicht darauf, sondern prüfte mit fachkundigen Griffen die Taille. Die Nähte waren zum Zerreißen gespannt, und der glänzende Taftstoff wurde erbarmungslos in die Breite gezogen.
Offenbar hatte es der Ballerina in letzter Zeit zu gut geschmeckt, dachte Bertha und schmunzelte in sich hinein. Nicht jeder vertrug das Dresdner Essen mit den vielen Mehlspeisen und den herrlichen Torten der Kaffeehäuser, ohne dass es Spuren hinterließ. Auf dem nahen Altmarkt lauerte stets die Verführung in Form von Kuchen, Konfekt und Schmalzgebackenem, wenn man sich derlei leisten konnte. Doch sie sagte nichts, lächelte nur still und nickte den Herumstehenden beruhigend zu.
«Das haben wir gleich.» Und zu der Primaballerina gewandt, fügte sie hinzu: «Wenn Sie bitte einmal mitkommen würden, Fräulein Koch?»
Bertha führte die Mademoiselle auf die hintere Bühne, während Herr Kühn vorne begann, erneut den Takt mit seinem Stock auf die Bühnenbretter zu schlagen, und die Darsteller und Tänzer daraufhin wieder mit ihren Drehungen anfingen. Auch Signora Pecci begab sich mit rauschenden Röcken, einem Schlachtschiff im offenen Meer gleich, zurück an ihren angestammten Platz zu ihren zitternden Elevinnen.
Das Unheil schien abgewendet, und die Lösung des Problems ruhte nun auf Berthas knochigen Schultern.
«Es tut mir sehr leid, Mademoiselle», sagte Bertha behutsam. Sie wusste, wie man mit Belladonnen umgehen musste, das Theater war voll von ihnen. Auch wenn nicht alle dankbar waren für ihr Engagement an diesem Haus, denn manch eine fühlte sich von der strikten Direktion gegängelt, schlecht bezahlt und zu wenig wertgeschätzt. Die Tänzerinnen beäugten einander misstrauisch, ob nicht doch eine übervorteilt wurde. Da reichte es schon, wenn der Garderobeninspektor nach der Vorstellung erst der Konkurrentin einen Wagen für die Heimfahrt rufen ließ, damit ein schwelender Streit vollends entfachte.
Sie traten in die Nähstube hinter einer der Nebenbühnen, die, wie alles im neuen Theater, gerade erst fertig eingerichtet worden war. Ein kleiner Kanonenofen prasselte, denn auch im April war es noch empfindlich kalt in den Räumen des großen Theaters, und Bertha hatte es in den Gelenken.
«Sie werden sehen, im Handumdrehen kann ich dieses Missgeschick beheben», sagte sie und sah sich erwartungsvoll um. Hier fühlte sie sich in ihrem Element. Alles war in schönster Ordnung – wandhohe Regale voller fein säuberlich gefalteter Stoffballen, nach Farbe und Stärke sortierte Garnspulen in unzähligen Fächern. Daneben warteten in langer Reihe die schwarzen Fräcke und Blusen der Kapellknaben auf ihren Einsatz. Das gewaltige Plätteisen glänzte im Feuerschein des Ofens. Weiter hinter standen mehrere Kleiderpuppen mit aufgezogenen Kostümen. An der gegenüberliegenden Wand hingen zahllose Hüte – mit Gamsbart, Schlappe oder Spitzenschleier, einer sogar mit einer riesigen Papageienfeder. Die Mitte des Raums aber bildeten zwei große Holztische, einer zum Stoffschneiden, einer zum Nähen. Dort saß meistens auf seinem Höckerchen Berthas Gatte. Doch heute war nicht viel zu tun, und Bertha hatte ihn, der nicht mehr der Jüngste war, nach Hause geschickt. An manchen Tagen bevorzugte sie es, allein in der Nähstube zu sein, wo sie sich so wohl fühlte wie ein Fisch im Wasser. Arbeit gab es genug. Irgendwann, so hoffte sie, würde es auch endlich eine Maschine geben, mit der die langen Nähte an den Draperiestoffen automatisch gefertigt werden konnten. Bertha hatte gehört, dass es solche Nähautomaten bereits in Frankreich und England gab, doch offenbar waren die Ergebnisse noch immer nicht zufriedenstellend genug, als dass man hier in Sachsen ebenfalls in Produktion gegangen wäre. Trotzdem schritt auch hier die Zeit voran, in Dresden gab es viele Manufakturen und neue Industrien. Sicher konnten kluge Menschen – klügere als sie – ein solches Gerät bald herstellen und ihr die gröbste Arbeit erleichtern. Und vor allem ihrem Franz, der nicht jünger wurde und immer öfter über Schmerzen im Kreuz von der gebückten Haltung klagte. Jetzt lag er hoffentlich zu Hause im Bett, mit einem Heizstein im Rücken und warmen Füßen, wie sie es ihm stets einbläute. Sie musste wirklich mehr darauf hinwirken, dass er endlich kürzertrat.
Sanft, aber bestimmt dirigierte Bertha die Ballerina zum Schneidetisch, löste geschickt die Kleiderhaken im Nacken der Frau und half ihr, das Kostüm auszuziehen, bis Mademoiselle Koch nur noch im Unterkleid vor ihr stand. Eine Spur zu üppig standen ihre Brüste in der Korsage nach vorn, und um die sonst so schmalen Hüften hatte sich eine kleine Speckrolle gebildet, die wohl die Ursache für das Problem war. Immer noch lächelnd, nötigte Bertha die Frau, auf einem der samtbespannten Hocker Platz zu nehmen.
«Hätten Sie vielleicht ein Gläschen für mich, Frau Heise?», fragte die entblätterte Tänzerin und schielte zum Schränkchen mit der Karaffe und den kleinen, goldgeränderten Gläsern, die die Heises hier wohlweislich bereithielten. Nicht selten war die Nähstube Schauplatz von Lebensbeichten und Tränen.
Eine rabenschwarze Locke hatte sich aus Magdalenes Frisur gelöst und ringelte sich über ihren weißen, weichen Arm. Es sah entzückend aus, fand Bertha. Kein Wunder, dass kein Mann im Theater die Augen von der Primaballerina abwenden konnte – Speckrolle hin oder her. Nur schade, dass sie so oft sauertöpfisch aus der Wäsche schaute, sie wäre sonst eine echte Schönheit gewesen.
«Natürlich, liebes Fräulein Koch», sagte sie und schenkte der Tänzerin großzügig ein. Sie sah zu, wie Magdalene Koch zunächst vorsichtig an der Flüssigkeit nippte und schließlich das ganze Glas hinunterkippte. Ohne zu fragen, goss Bertha nach und stellte die Karaffe dann sorgsam zurück. «Und nun wollen wir mal sehen.» Sie nahm ein Maßband und legte es um Fräulein Kochs Taille. Stattliche fünf Zentimeter mehr in nur wenigen Wochen, stellte sie verblüfft fest. Sie kannte alle Maße der festen Darsteller im Theater auswendig, und so etwas war ihr noch nicht oft untergekommen, außer … Bertha biss sich auf die Lippen. Ihr Blick wanderte erneut über Fräulein Kochs Gesicht, die vollen Wangen und glänzenden Augen, dann über ihren Körper mit den ungewohnt vollen Rundungen und dem kleinen Bäuchlein, das aus dem Spitzenbund der Unterhose herausquoll, die nur die Unaussprechliche genannt wurde.
Herr im Himmel!, dachte Bertha und rollte innerlich mit den Augen. Sie war nicht von gestern, sie hatte selbst zwei stramme Burschen geboren und aufgezogen und kannte die Anzeichen. Welcher Herr wohl dafür verantwortlich war? Anwärter auf ein Abenteuer mit der Primaballerina gab es ja genug im Hause, Bertha hätte zu gern gewusst, wer das Rennen gemacht hatte. Und noch etwas interessierte sie brennend: Ob Magdalene Koch selbst über ihren Zustand im Bilde war? Sie bezweifelte es, denn natürlich wäre es eine Tragödie für die arme Frau. Wenn sie es wüsste, würde es ihr schwerfallen, so sorglos auf Berthas Hocker zu sitzen, mit den Beinen zu baumeln und Gewürzwein zu trinken, als sei nichts.
Es war ein Jammer. Bertha hätte erwartet, dass eine Frau mit Magdalenes Erfahrung wüsste, wie man derlei verhinderte. Es gab immerhin Condoms und, wie man hörte, noch andere Mittel, die eine Empfängnis, wenn nicht ausschlossen, so doch unwahrscheinlicher machten.
Bertha überlegte. Dies hier war nicht die erste Liebschaft am Theater, aber leider wohl eine derjenigen, die schlimme Folgen nach sich ziehen würde. Wie sollte sie vorgehen? Magdalene auf ihren Verdacht ansprechen, sie warnen? Doch was, wenn sie sich irrte? Was, wenn die Primaballerina einen Anfall bekam und sie anschrie? Es ging die Garderobiere schließlich nichts an, und über kurz oder lang würde es ohnehin herauskommen, auch ohne ihre Einmischung. Nein, dachte Bertha, das Beste wäre wohl, die Unwissende zu spielen und sich nur um das Kleid zu kümmern. Für alles andere war sie nicht zuständig.
Wenn es so weit wäre, müsste sich Monsieur Lepitre um einen geeigneten Ersatz für die Vorstellung kümmern. Glücklicherweise war die Ballettszene im dritten Akt von Les Huguenots nur ein kleiner Teil der Oper von Meyerbeer, wichtiger waren die großen Titelrollen des Edelmanns Raoul, seines Dieners Marcel und der Königin von Navarra, die von Wilhelmine Schröder-Devrient gesungen wurde, der berühmtesten Sopranstimme des Königreichs Sachsens. Auf Wilhelmine war Verlass, sie würde nicht einfach so schwanger werden. Vor Jahren schon war sie von ihrem Mann geschieden worden, und sie durfte ihre vier Kinder seitdem nicht mehr sehen. Aber auch sie war dem Hörensagen nach kein Geschöpf von Traurigkeit, angeblich schrieb sie sogar an ihren Memoiren, in denen sie freizügig von ihren vielen Liebhabern berichtete. Nur war die Schröder-Devrient kein dummes Mädchen wie das ärmste Fräulein hier auf dem Schemel, sondern eine Dame von Welt. Der Skandal ihrer Scheidung hatte ihrer Beliebtheit beim Dresdner Publikum keinen Abbruch getan. Bei jeder Vorstellung wurde ihr Name so oft gerufen, dass sie mehrere Male vor den Vorhang treten und Kusshände verteilte musste, bis die tobenden Zuschauer zufrieden waren. Doch was würde mit Magdalene geschehen, wenn ihr Fehltritt offensichtlich wurde? Sie genoss keine solche Vorreiterstellung an der Oper wie ihre berühmte Kollegin, und wenn Direktor Lüttichau von ihrem Malheur Wind bekäme, wären ihre Tage als Ballerina am Haus gezählt.
Als Bertha jetzt das gelangweilte Gesicht der Primaballerina betrachtete, wusste sie auf einmal nicht, ob es sie überhaupt kümmern würde, wenn man Fräulein Koch entließe. Die Liebe zur Oper schien nicht durch Magdalenes Adern zu fließen. Ein Skandal aber, der sie auf die Straße triebe, würde ihr trotzdem den Rest des Lebens vergällen und sie ins Elend stürzen.
«Wir müssen ein Stück Stoff in der Taille ansetzen», sagte Bertha zu der Ballerina, die sie nun doch bedauerte.
Magdalene nickte abwesend und schielte erneut verstohlen zur Karaffe herüber. Aber Bertha würde ihr nichts mehr geben. Wenn ihr Verdacht stimmte, konnte zu viel starkes Getränk der Leibesfrucht vielleicht schaden.
«Sie können jetzt gehen», sagte sie daher freundlich, «es wird ein wenig dauern. Ich brauche ein Band in der richtigen Farbe, um die Naht zu kaschieren. Hier, nehmen Sie den Morgenmantel.» Sie legte der Ballerina das Kleidungsstück über, das ihre Reize genug verhüllte, damit sie unbescholten in ihre Garderobe gelangen würde. Nicht, dass es nun noch allzu sehr darauf ankam, dachte Bertha. Doch niemand sollte ihr nachsagen, nicht auf die Ehre der Damen zu achten, die aus ihrer Nähstube kamen.
Die Sittlichkeit an der Oper wurde streng überwacht, während der Vorstellung mussten die weiblichen und die männlichen Sänger in verschiedenen Logen warten, beaufsichtigt von einer Anstandsdame, damit es nicht zu unziemlichen Vorgängen kam. Leider hatte das strikte System, in dem es unvermeidliche Lücken gab, bei Magdalene Koch offenbar versagt.
Die Ballerina leckte sich den Rest Wein von den vollen Lippen und nickte huldvoll.
«Es wird ohnehin Zeit für mich», sagte sie und fügte in mürrischem Ton hinzu: «Der Ballettmeister dürfte bald auftauchen, und er knöpft mir nicht schon wieder meine Taler fürs Zuspätkommen ab.»
Damit rauschte sie aus der Stube.
Bertha räumte seufzend das Glas vom Schneidetisch fort und trat anschließend ans Regal, um nach einem passenden Stück Seide zu suchen. Doch das Fach mit den weißen und cremefarbenen Stoffresten war fast leer. Sie würde etwas Passendes in der Stadt besorgen müssen.
Wie zur Erlösung klopfte es in diesem Moment an der Tür, und Ernestine Hildebrand kam herein, eine junge Frau von achtundzwanzig Jahren. Sie hatte rotblondes, strähniges Haar und war, wie meistens, etwas schäbig gekleidet, doch ihre Augen mit den farblosen Wimpern blickten klug in die Welt und schienen stets ein wenig zu glitzern, als wüsste sie eine lustige Geschichte zu erzählen, die sie jedoch niemals preisgeben würde.
«Was hat denn die Demoiselle gebissen?», fragte Ernestine mit einem Blick zurück in den Korridor.
Bertha zuckte nur mit den Schultern und winkte die Requisitenbeauftragte zu sich. Die junge Frau trug ein großes Bündel, das sie nun auf dem Schneidetisch ablegte. Sofort quoll daraus das bunteste Vielerlei – farbige Federn, schimmernde Knöpfe und eine groteske Pappnase mit einem falschen Schnurrbart daran. Ein paar goldene Becher, die aussahen, als seien sie eigentlich aus billigem Zinn und nur mit Goldfarbe bemalt, kullerten über die Tischplatte. Einer davon plumpste zu Boden und rollte in die Zimmerecke.
Bertha mochte Ernestine. Sie wusste, dass das Mädchen ein Waisenkind gewesen war und die Stelle als Requisitenbeauftragte nur durch Vermittlung eines mitleidigen Vetters erhalten hatte, der vor drei Jahren im richtigen Moment von der Vakanz gehört hatte. Doch schon nach wenigen Tagen hatte die dürre, fahrig wirkende Ernestine es geschafft, sogar den gestrengen Theaterinspektor Carl Engelmann von ihren ungewöhnlichen Talenten zu überzeugen. Sie besaß ein gutes Auge fürs Detail, sah stets, wenn noch irgendwo eine winzige Kleinigkeit fehlte, um aus einer Kulisse einen lebendigen Ort zu machen. Und sie kannte sich bestens in der Stadt aus, wusste von jedem Winkel, jedem noch so windigen Hehler in den Vorstädten, jeder aberwitzigsten Ware. Und stets brachte sie das Gewünschte in einer solchen Schnelle, dass Bertha immer wieder nur staunen konnte. Vermutlich hatte das Mädchen eine Vergangenheit, die nicht gerade bieder genannt werden konnte. Sie und ihr jüngerer Bruder Christian hatten sich als Kinder mehr schlecht als recht durchgeschlagen, ehe Ernestine die Stelle am Königlichen Theater erhalten hatte. Doch gerade diese unfreiwilligen Lehrjahre hatten ihr die Findigkeit und Ortskenntnis eingebracht, die sie nun jeden Tag beweisen konnte.
Nein, dachte Bertha, sie konnte sich die Requisite ohne ihre Besorgerin Ernestine Hildebrand nicht länger vorstellen. Und Anton Arrigoni, der große Dekorationsmaler hinten im Malergebäude, mochte seine Arbeit wohl auch nicht mehr ohne ihren Bruder verrichten, wie man so hörte. Christian Hildebrand machte sich als Malergehilfe außerordentlich gut und hatte sogar gemeinsam mit Maestro Arrigoni an der Dekoration mitgewirkt, die bei der feierlichen Eröffnung der Oper am 12. April zur Schau gestellt worden war.
«Also?», fragte Ernestine in Berthas Gedanken hinein, während sie mit flinken Fingern die Knöpfe sortierte, die sie vor sich ausgebreitet hatte. «Wieso stürmt unsere Ballerina notdürftig verhüllt durch die Gänge wie eine Furie?»
Bertha schmunzelte. Sie zögerte kurz, entschied dann aber, Magdalenes Geheimnis vorerst niemandem zu verraten. Wenn es ans Licht käme, würde es einen unglaublichen Skandal geben, und Bertha gönnte der Ballerina bis dahin noch ein wenig Ruhe um ihre Person. «Sie war aufgebracht», sagte sie daher nur, «weil ihr Kleid zu eng ist. Und, Fräulein Hildebrand, es tut mir leid, aber Sie müssten gleich noch einmal zum Markt laufen.»
Ernestine sah auf. Ihre Miene zeigte keinerlei Verdruss bei Berthas Worten. Manch eine Bedienstete wäre wohl lustlos gewesen, sofort wieder aus dem Haus gejagt zu werden, doch im mageren Gesicht von Ernestine stand nur das Jagdfieber.
«Was brauchen Sie?», fragte sie und war schon in der Tür.
«Hier …» Bertha deutete auf das Kleid, das schlaff auf der anderen Seite des Schneidetischs lag. «Nur ein kleines Stück Stoff und ein seidenes Band in genau dieser Farbe.»
«Ich bringe es Ihnen in weniger als einer Stunde», erklärte Ernestine.
«Nehmen Sie das Kleid mit», sagte Bertha und wollte es der jungen Frau in die Hand drücken, doch die schüttelte nur ihre rötlichen Haare.
«Ich habe den Farbton im Kopf, keine Bange», sagte sie schnell und verschwand im Flur.
Bertha blieb verblüfft zurück und hörte nur noch Ernestines leichte Schritte in den abgeschabten Stiefeln. Ein Lächeln schummelte sich auf ihre alten Lippen. Wie unterschiedlich doch die Menschen waren, dachte sie, während sie sich ächzend auf dem Hocker niederließ, auf dem vorhin Magdalene Koch gesessen hatte. Die einen, denen das Glück von Geburt an in den Schoß gefallen war, setzten alles aufs Spiel mit einer dummen Tat und schienen gar nicht zu wissen, wie hold ihnen Fortuna bislang war – und wie hoch der Einsatz, den sie riskierten. Die anderen aber kämpften für ihr Glück und ließen es, einmal in ihren Fingern, nicht mehr entwischen, klammerten sich daran fest und nahmen ihr Leben, wenn es auch nur aus harter Arbeit bestand, in die Hand. So wie die fleißige Ernestine.
Bertha musste nicht lange überlegen, zu welcher Sorte Mensch sie selbst gehörte. Sie dachte an den langen Weg, der sie hierhergeführt hatte, an die Entbehrungen, die Mühsal, die zerstochenen Fingerkuppen und durchwachten Nächte.
Ein warmer Schauer durchrieselte sie, während sie sinnend auf das Knacken der Scheite im Ofen lauschte. Sie war hier an der neuen Königlichen Oper am schönsten Ort der Stadt, des Königreichs Sachsens, ja, der ganzen Welt. Auch wenn sie nicht viel von dieser Welt kannte, so wusste sie dies doch mit aller Sicherheit, und sie war voller Dankbarkeit.
Leise summend – denn von draußen klangen nun Geigentöne herein – stand sie auf, schenkte sich ein wenig Gewürzwein ein und genoss die scharfe Süße, die über ihre Zunge rann.
Dresden, Dienstag, 20. April 1841
Die Kälte des Frühlingstags zog durch die Ritzen des großen Malersaals hinter der Theaterbühne, und Christian steckte seine steifen Hände unter die Achseln und wanderte auf und ab, während er beinahe zaghaft die auf dem Boden liegende Holzplatte betrachtete, die er heute bemalen sollte. Immerhin hatte Ehregott Wagner, der Diener des Königlichen Hoftheaters, ein Einsehen und entzündete soeben das Feuer im aufgemauerten Ofen an der Stirnseite des Raums. In wenigen Minuten würde es etwas wärmer werden, obwohl die Feuerstelle nie ganz ausreichend war für den weitläufigen Raum. Oft haperte es mit dem Abzug durch den Schornstein, dann brannte der Ofen nicht richtig – und es blieb den ganzen Tag kühl.
Christian war schon mit Anbruch der Morgendämmerung als Erster hergekommen, weil er die halbe Nacht wach gelegen und an dieses ganz besondere Blau gedacht hatte, mit dem er die Kulisse für die Oper Les Huguenots verzieren wollte. Natürlich wusste er nicht, welche Farben ein Marktgebäude in Paris vor Hunderten von Jahren wirklich gehabt hatte, doch dieses irisierende, pulsierende Blau, das er gestern probehalber mit Maestro Arrigoni angemischt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Auch im Publikum, da war er sicher, konnte niemand wirklich wissen, wie es damals am Ufer der Seine ausgesehen hatte. Zwar gab es viele gebildete, feine Bürger, die die Vorstellungen des Hoftheaters im neuen prunkvollen Bau nur wenige Meter von hier besuchten, doch Christian hatte schon oft bemerkt, dass selbst die Reichen nicht alle Weisheit gepachtet hatten. Sie kamen ins Theater, um sich zu vergnügen, um unterhalten zu werden, nicht mehr und nicht weniger. Christian und der Maestro verkauften ihnen mit ihren Kulissen einen schönen Traum, eine Sehnsucht. Und in Christians Träumen war der Pariser Markt am Fluss, ganz in der Nähe der berühmten Kirche Notre-Dame, nun einmal blau – ein tiefes Lapislazuli, von dem sich die Gesichter der Knaben und Mädchen, die er anschließend als Passanten der Szene daraufmalen wollte, hell schimmernd abheben würden.
Entschlossen hauchte er in seine Hände, um sie weiter anzuwärmen, und sah sich um. Der große Saal lag still da. An den grob verputzten Wänden lehnten bemalte Leinwände, einige mehr als mannshoch. Auch eine wacklige Leiter stand dort. Häuserkulissen und Paläste waren aus Kartonpapier geschnitten und zusammengeklebt worden und warteten nun darauf, den richtigen Anstrich zu bekommen, damit sie später auf der Bühne täuschend echt aussehen würden. In der Mitte des Raums bildeten lange, aufgebockte Holzbretter einen Arbeitstisch, auf dem unzählige, bunt bekleckste Farbtöpfe standen. Auch die Bodendielen leuchteten, weil von Malerarbeiten besudelte Schuhe und tropfende Pinsel in den vergangenen Monaten bereits ihre Spuren darauf hinterlassen hatten.
Noch einmal schritt Christian die große ausgesägte Holzplatte ab, die zu seinen Füßen lag, und während seine Tritte von den Wänden widerhallten, schloss er kurz die Augen, um die Bilder in seinem Kopf heraufzubeschwören.
Arrigoni sagte stets, Christian habe so viel Phantasie, dass es für drei reiche. Und dass diese Vorstellungskraft die fehlende Ausbildung für den Anfang wettmache, bis er alles gelernt habe, was es über Farben, Pinsel und Leinwand zu wissen gab.
«Für das Handwerk wende dich an mich», hatte der Maler schließlich nach langem Schweigen geknurrt, nachdem Christian vor zwei Jahren zum Probemalen angetreten war – noch nicht hier, in der neu erbauten Oper, sondern im alten Fachwerksaal des früheren Theaters. Er hatte wie wahnsinnig zwei Stunden lang auf dem teuren Papier herumgekleckst, und die Miene des Meisters hatte sich nach und nach von herablassend zu ungläubig gewandelt. Am Ende hatte er Christians Hand ergriffen und gedrückt, als gehe er mit dem jungen Nichtsnutz einen Pakt ein.