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"Ein Held ist wie ein Funken Hoffnung in der Dunkelheit … Seien wir mal ehrlich. In der Realität erlöschen Funken ganz, ganz schnell." Das Grauen lauert zwischen den fahlen Stämmen des Düsterwalds, drängt aus seinen dunklen Tiefen hervor ins Licht. Nichts scheint die Scharen von Ungeheuern stoppen zu können. Verzweifelt klammern sich die Menschen an ihre letzte Hoffnung: Uralte Lieder und Legenden wispern von einer Heldin, strahlend wie eine Flamme … Anscheinend muss bei der Überlieferung irgendetwas schiefgelaufen sein. Denn warum sonst sollte die Wahl ausgerechnet auf mich fallen? Ja genau, auf mich, Zoraya, großartig im Schafe hüten, aber absolut hoffnungslos im Monster töten. Beste Voraussetzungen, um in einem Kampf gegen Riesenratten und pferdegroße Heuschrecken nicht als Futter zu enden. Bleibt nur die Frage, ob es keinen anderen Weg gibt, als sich den Spielregeln der Mächtigen zu fügen. Denn wer sagt eigentlich, dass man seiner Bestimmung folgen muss?
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Seitenzahl: 502
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Copyright © 2017 by
Astrid Behrendt
Rheinstraße 60
51371 Leverkusen
http: www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Sarah Adler
Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout: Michelle N. Weber
Umschlagdesign: Sanja Gombar
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-772-8
Alle Rechte vorbehalten
Für Sarah
Weil du es immer wieder schaffst,
mich an das Unmögliche glauben zu lassen.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Danksagung
Über den Autor
Ich wollte nie die Heldin sein. Retterin hat man mich genannt, Auserwählte. Was für ein absoluter Schwachsinn!
Ich glaube nicht an die Ammenmärchen von der einen Auserkorenen, die von Geburt an dazu bestimmt ist, die Welt zu retten. Ich denke, es kommt vielmehr darauf an, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Oder in meinem Fall eher zur falschen Zeit am falschen Ort …
Nennt es Schicksal, wenn ihr wollt, ich werde definitiv bei Zufall bleiben – höchstens Pech könnte besser beschreiben, was mich in diese Lage gebracht hat. Zoraya, die Heldin. Dass ich nicht lache.
Alle sind so besessen von ihren Helden.
Es zieht sich durch die ganze Geschichte. Von dem Moment an, in dem meine Vorfahren vor unendlich langer Zeit auf einer kleinen einsamen Insel landeten. Damals, als sie Wesen irgendwo zwischen Mensch und Affe waren und ihre zukünftige Zivilisation nur ein Konstrukt aus Hoffnungen und Träumen. Jeder ihrer Tage war ein Kampf ums Überleben, denn die Insel spuckte unablässig Feuer, Asche und Gestein.
Sie begannen, den Berg anzubeten, machten ihn zu ihrer Gottheit und brachten ihm Opfer dar, um seinen Zorn zu mildern. Und unter der Hitze ihrer Heimat verloren sie ihr Fell. Im Schein der Lava lernten sie, das Feuer zu bändigen und Tiere zu erlegen; sie erlernten Sprache, Kunst und Gesellschaft. Dies ist lange, lange her. So alt sind die ersten Sagen. So alt sind die ersten Helden der Menschheit.
Später, als sie neues Land erreichten, hielten sie sich selbst für die Helden aus ihren Geschichten. Sie brachen in kühlere Gebiete ein, erlernten Ackerbau, Viehzucht und Schmiedekunst. Und Stolz. Stolz auf ihre Herkunft, Stolz auf ihren uralten Feuergott, ihre Anführer und ihre Legenden …
Warum will jeder den Helden spielen? Habt ihr euch schon mal gewünscht, ihr könntet euer langweiliges Leben gegen Ruhm und Abenteuer eintauschen? Gegen Reisen, Gefahr und Anerkennung? Vielleicht sogar gegen die große Liebe? Absoluter Humbug.
Held sein, das ist zunächst einmal nicht so golden glänzend, wie man sich das vorstellt. Held sein ist grau vom Staub der Straße, braun vom Schlamm des Schlachtfelds und rot von Blut. Dem eurer Feinde, eurer Freunde – oder eurem eigenen. Ihr dürft euch aussuchen, was euch lieber ist. Haha, reingelegt! Dürft ihr nicht. Am Ende habt ihr von jedem davon an euren Händen kleben.
Viel schlimmer ist es jedoch, nichts als ein Spielball zu sein. Ein Spielball der Reichen und Mächtigen, hin und her geworfen wie ein kleines Holzschiffchen auf einem Gebirgsbach. Ihr müsst kämpfen, töten, euer Leben riskieren – für Ziele, die niemals eure eigenen waren.
Klar, am Ende bekommt ihr den Ruhm. Beziehungsweise: Das Bild, das die Leute von euch haben, erhält den Ruhm. Der Schatten euer selbst, den die Massen vergöttern. Ihre Chance, Verantwortung abzuwälzen. Der Trottel, der freiwillig für sie in die Bresche springt. Selbstverständlich jubeln sie euch zu, beschmeißen euch mit Blumen und Geld. Was sind schon ein paar Rosen als Bezahlung für einen menschlichen Schutzschild? Ein paar Groschen für einen willenlosen Sklaven, der sich bereit erklärt, sämtliche Probleme der Welt auf sich zu nehmen?
»Das stimmt so nicht!«, denkt ihr jetzt, und ich weiß schon, was ihr sagen wollt. Wie wäre es mit: »Am Ende besiegt der Held das Böse!« Glaubt ihr? Glaubt ihr das wirklich? Ich verstehe schon, man will daran glauben. Allerdings gibt es da ein paar Schwachstellen. Zum Beispiel, was ist »das Böse« eigentlich? Glaubt mir, damit fange ich besser gar nicht erst an.
Es reicht schon alleine die Frage: Wie? Das Böse ist in den meisten Geschichten übermächtig, der Held ein Nichts dagegen. Wie ein Funken Hoffnung in der Dunkelheit … Seien wir mal ehrlich. In der Realität erlöschen Funken ganz, ganz schnell.
Was das mit mir zu tun hat? Ich sollte das Land retten. Besser gesagt seinen König. Es hatte eine Prophezeiung gegeben, die seinen Sturz ankündigte. Wovor er beschützt werden musste, wurde dabei mit keinem Wort erwähnt. Sicher nicht vor den Monstern, die unser Land heimsuchten. Die Einzigen, die darunter leiden mussten, waren die gewöhnlichen Leute. Den König in seinem prunkvollen Palast, hinter den hohen Mauern, was scherten ihn die paar Bestien, die in Scharen über seine Besitztümer herfielen? Im letzten Jahr hatte er keinen Finger gerührt, als die große Hungersnot herrschte.
Warum sollte ich den König retten? Ich hatte ihn nie sonderlich gemocht und mein Bild von ihm hatte sich im Laufe der Zeit nicht gerade gebessert. Im Gegenteil. Ein Machtwechsel hätte dem Land vielleicht ganz gutgetan. Ich konnte ja nicht einmal seinen Sohn leiden, diesen Idioten von einem Thronfolger. Nur weil jemand den König zu Fall bringt, um dessen Platz einzunehmen, muss derjenige nicht automatisch ein fürchterlicher Tyrann werden.
Aber so sind die Geschichten. Der alte König ist ein guter, weiser Mann. Der Held ist tugendhaft und furchtlos. Die Dinge nehmen ihren vorgeschriebenen Lauf und die Monster sterben wie die Fliegen. Habt ihr euch nie gefragt, ob die Geschichten wahr sind? Habt ihr euch nie gefragt, ob sie es sein können?
Ich will euch die meine erzählen. Die ehrlichste Heldensaga, die ihr je gehört habt. Ich kann euch nicht einmal ein glückliches Ende versprechen – im Moment sieht es eher schlecht für mich aus. Bald wird es vorbei sein, denke ich. Fast macht mich das froh. Ich wollte nie die Heldin sein.
Die ganze Geschichte begann geradezu lächerlich beschaulich, mit einem verlockenden Beerenstrauch auf der anderen Seite eines Flusses, inmitten einer malerischen Berglandschaft. Dann wurde alles sehr schnell sehr viel komplizierter.
Und egal wie das hier letztlich enden wird, eines kann ich euch versprechen: Meine große Liebe werde ich dabei gewiss nicht finden.
Es war einige Tage vor Samaras, dem Frühlingsfest. Samaras ist der größte Feiertag bei mir in den Bergen. Man feiert den Sieg des Lichts über die Dunkelheit, man feiert den Anfang des Sommers. Und man feiert, einen weiteren Winter überlebt zu haben.
Das Leben vor und nach Samaras könnte unterschiedlicher nicht sein. Die Winter sind lang und hart, es ist furchtbar kalt und in der Speisekammer herrscht eine gähnende Leere. Ich hatte schon ein Brüderchen, das seinen ersten Schnee nicht überstanden hat. Genau aus diesem Grund bekommen die Kinder in den Bergen erst zu Samaras ihre Namen.
Zudem ist der Herbst die Zeit des Schlachtens. Niemand kann es sich leisten, die ganze Herde durch den Winter zu bringen. Vor dem ersten Frost sind die Tage mit Blut und Tod gefüllt. Die dunkle Jahreszeit ist grausam.
Im Sommer hingegen … Im Sommer ist es ein Leben wie im Paradies. Der Schnee schmilzt und klare Bächlein bahnen sich ihren Weg ins Tal. Wenn die Weiden grün und saftig sind und überall kleine Blumen sprießen, treibt man die Herden die Hänge hinauf. Man setzt sich auf einen großen Felsbrocken, lässt die Beine baumeln und spürt den Wind im Haar. Unter einem grasen friedlich die Schafe, während man den Blick davongleiten lässt, hinab ins Tal. Auf die dunklen, dichten Wälder hinunter. Auf die sanften Hügel. Bis ganz hinten, am Horizont, die Ebene beginnt und die Landschaft zu einem diesigen Blau verschwimmt.
Doch man ist hier, hier oben, auf dem Gipfel der Welt. Und wenn der Schrei des Bussards von den Felsen widerhallt, fühlt es sich an, als würde all das nur einem selbst gehören.
Abends, wenn die Sonne in der Ferne untergegangen ist, versammelt sich die Familie um das Lagerfeuer. Es wird gegessen, geredet, gelacht. Und es werden Geschichten erzählt. Zunächst nur Alltägliches, später, wenn die Kälte langsam mit ihren dünnen Fingern nach einem greift, folgen die Gruselgeschichten. Bis das Feuer ganz heruntergebrannt ist und man sich spät in der Nacht um das sanfte Licht der Glut drängt, denn erst dann lauscht man den alten Sagen.
Danach hüllt man sich in warme Felle und schläft unter dem sternenklaren Nachthimmel ein. Am nächsten Tag treibt man die Herden weiter. Das Leben ist schön im Sommer.
Was das mit meiner Geschichte zu tun hat? Nur mit der Ruhe.
Im Sommer gibt es Nahrung im Überfluss. Die Lämmer kommen zur Welt, die Blüten der Obstbäume fallen zu Boden und weit unten im Tal färbt sich das Getreide langsam golden. Es gibt Milch und Fleisch, Brot, Kuchen, saftiges Obst und Gemüse, frische Kräuter und Wein. Deshalb ist es üblich, zu Samaras die Vorratskammern zu leeren. Es gibt keinen Grund mehr, zu horten – was übriggeblieben ist, kann an einem einzigen Tag verspeist werden. Traditionell gibt es dazu eine süße Milchspeise mit den ersten Beeren des Frühlings.
Und wie versprochen beginnt meine Geschichte mit einem unwiderstehlichen Beerenstrauch auf der anderen Seite des Flusses.
Obwohl ich bereits den ganzen Vormittag unterwegs gewesen war, hatte ich nicht viel gefunden. Mein Körbchen war fast leer und wir würden dieses Samaras eine Menge Gäste erwarten. Ich starrte also für eine Weile sehnsüchtig hinüber zu dem vollen Strauch am anderen Ufer. Nur ein paar Meter und die zu den Zeiten der Schneeschmelze peitschenden Wellen des Flusses Raico trennten mich von einem gelungenen Nachtisch. Ich verfluchte den Prinzen dafür, dass er sich gegen den Bau einer Brücke eingesetzt hatte, und beschloss, dass ich diese Beeren brauchte. Was war schon dabei? Ich musste nur ein paar Hundert Meter weiter flussabwärts. In dem kleinen Städtchen Dufferingen gab es eine Brücke. Die Ernte dort drüben würde ausreichen, meinen Korb zu füllen, ich war bester Laune – wo lag das Problem?
Oh niedliches, naives Ich …
Ein schmaler Trampelpfad führte nach Dufferingen, ein heimeliges Städtchen, das überall in der Gegend für seine guten Gasthäuser bekannt war. Reichliche Mahlzeiten, große Ställe, freundliche Bedienung und weiche Betten, in denen kaum Wanzen vorzufinden waren. Es gab gleich drei solcher begehrten Unterkünfte in dem kleinen Ort: den Goldenen Löwen, die größte und teuerste, die Adlerschwinge, ganz oben am Hang und mit einer tollen Aussicht, und Zum Lachenden Mönchen, wo neben viel gutem Wein reichlich gutes Bier ausgeschenkt wurde. An ebendiesem Lokal, das so kurz vor Frühlingsbeginn erst recht an eine Kneipe erinnerte, musste ich vorbei. Und als ich so beschwingt und an nichts Böses denkend zwischen den hellen Steinhäusern hindurch an der weißen, mit Weinranken überwucherten Fassade vorbeischlenderte, passierte es.
Ein großer, kräftiger Mann torkelte offensichtlich angetrunken aus der Tür. Er machte ein paar unbeholfene Schritte, knallte fast mit einem Steuertransporter zusammen und zückte plötzlich ein Messer. Während ich damit beschäftigt war, verwirrt langsamer zu werden, ging er laut, dafür umso undeutlicher schreiend auf den Fahrer los.
Der Transporter bestand aus einer schmucklosen offenen Kutsche. Sie war beladen mit einigen Säcken Getreide, mehreren wesentlich kleineren Säckchen Gold und ein paar Krügen Wein und wurde von einem außergewöhnlich schreckhaften Pferd gezogen. Denn in der Sekunde, als der Räuber zu schreien begann, scheute das Tier, bäumte sich auf, schmiss den Karren um, riss sich los und stob davon. Der Kutscher wurde von seinem Sitz geschleudert, landete unter seinem eigenen Wagen und schrie schmerzverzerrt auf. Eine Passantin fiel kreischend mit ein. Der ohne Zweifel nur leicht angeheiterte Bandit versuchte sich in der allgemeinen Unruhe Gehör zu verschaffen, indem er das Geschrei lautstark übergrölte. Als das ohrenbetäubende Gebimmel der Alarmglocken dazukam, hatte er genug.
Die Alarmglocken waren der Hauptgrund für die – großzügig ausgedrückt – eher lasche Sicherung des Steuertransports. Innerhalb eines Ortes konnte man zwecks leichterer Verladung hart erarbeiteter Ernten gerne mal die Ladefläche offenlassen, denn jedes Haus besaß eine Glocke. Die Bürger waren verpflichtet, diese zu betätigen, solange sie sich in Sichtweite eines Gesetzesverstoßes oder einer Gefahrenquelle befanden. Was unter uns gesagt besonders bei Letzterem in den meisten Fällen keine gute Idee ist. Wenigstens wussten auf diese Weise die überall stationierten Wachmänner stets, wann und wo ihre Präsenz gefragt war.
Gerade rechtzeitig zum Eintreffen von einem dieser blau-weiß uniformierten Wächter kam der Räuber auf eine für seinen Zustand erstaunlich geistreiche Idee. Er nahm eine Geisel.
Tja, und so wurde ich damals zur Heldin. Was? Nein, ich habe die Geisel nicht mit viel Brimborium vor ihrem schrecklichen Schicksal gerettet. Das wäre in der Tat eine nette Art gewesen, zur Heldin zu werden, und eine Lüge obendrein. Ich konnte gar nicht ausziehen, um den Retter zu mimen. Ich war die Geisel.
Es war keine gute Idee gewesen, stehen zu bleiben, um die Ereignisse besser verfolgen zu können. Ich wurde grob am Oberarm gepackt, mit Gewalt zurückgezogen und bekam eine scharfe Klinge gegen meinen Hals gepresst. Ich verstand zunächst gar nicht, was vor sich ging. Erst als der stechende Schmerz an meiner Kehle langsam die ersten Blutstropfen hervorbrachte, wurde mir der Ernst meiner Lage klar.
»Wenn einer von euch verscheuerten Vollidioten auf die Idee kommt, mir su folgen, dann werd’ ich … dann werd’ ich der Dings … dem Gör hier die Kehle aufmachen, darauf könnt ihr euch wetten!«, erklärte der Bandit lallend. Ich starrte in die schockierten Gesichter der Schaulustigen, die dem Ruf der Alarmglocke gefolgt waren. Panik stieg in mir auf. Was, wenn einer von ihnen uns folgen würde? Ich betete inständig, dass all die Leute so feige waren, wie sie dreinblickten, denn das Messer an meinem Hals war ganz und gar kein Witz.
Der Räuber beugte sich nach unten, um nach den Goldsäckchen zwischen den zerbrochenen Krügen zu tasten. Ich wurde dabei unsanft durch die Gegend geschoben – ich erinnere mich gut, wie ich mich an seinen Arm klammerte, um nicht unabsichtlich in die Klinge gestoßen zu werden. Er wurde fündig, richtete sich auf und zog mir den Knauf des Messers so heftig über den Kopf, dass ich ohnmächtig zusammensank.
Augenzeugen zufolge warf er mich über seine Schulter und entfernte sich dann, undeutliche Drohungen von sich gebend, in den Wald.
In meinem Gedächtnis finden sich nur Bilder des Waldbodens, der über mir schwankte, der Gedanke an ein unaufhörliches Pochen in meiner Schläfe und der Geruch. Altes Leder, Schweiß und der beißende Gestank von Alkohol. Irgendwann muss ich die Augen zusammengepresst haben, um mich nicht vor lauter Schwindel zu übergeben.
Bis ich richtig zu mir kam, könnten Stunden vergangen sein. Ich erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen, verschwommener Sicht und absolut keiner Ahnung, wo ich mich befand und wie ich dort hingekommen war. Eine einzige erschreckende Erkenntnis breitete sich mit unbestreitbarer Klarheit in meinem Kopf aus: Ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte schreien, aber es kam kein Laut heraus. Für einen winzigen Moment war ich fest davon überzeugt, gelähmt zu sein. Dann begann ich langsam zu begreifen, was los war.
Mit meinem schleichend klarer werdenden Blick betrachtete ich misstrauisch meine verschwommene Umgebung. Ich befand mich auf einer Lichtung, ringsum hohe Fichten und Buchen, dazwischen jede Menge Gestrüpp. Ein paar Meter entfernt lag das Diebesgut auf einem fein säuberlichen Häufchen, von meinem Entführer war keine Spur zu sehen. Vielleicht sah er sich gerade um, ob die Luft rein war, oder er musste ein paar Dinge besorgen, die er für seine Flucht benötigte.
Mein Mund war ganz trocken, weil jemand ein paar alte, stinkende Lumpen hineingestopft hatte. Gut! Wenn er Angst hatte, dass ich Leute mit meinen Schreien alarmieren könnte, mussten wir uns in der Nähe der Stadt befinden. Oder er wollte nicht, dass mich eventuelle Verfolger oder nichtsahnende Passanten hören konnten. Zu viel Optimismus steht mir nicht.
In beiden Fällen hatte ich nur ein knappes Zeitfenster, um mich zu befreien und abzuhauen. Es sah nicht so aus, als wäre uns jemand gefolgt, der mir helfen könnte. Vielleicht hatten sie zu viel Angst um mich, wahrscheinlicher jedoch eher um sich selbst.
Ich besah meine Lage genauer. Ich saß auf dem Boden, geknebelt, den Rücken an einen Baum gelehnt. Meine Arme waren hinter dem Stamm fixiert, durch dasselbe dicke Seil, das sich um meinen Bauch schlang. Meine Beine waren mit einem zweiten Strick an den Knöcheln zusammengebunden. Bis auf eine bald stattliche Beule und einen Schnitt am Hals hatte ich keine Schäden davongetragen.
Ich versuchte vergeblich, meine Hände durch Winden und Ziehen freizubekommen, die Knoten saßen zu fest. Stattdessen stieß ich mit den Fingerspitzen gegen einen Stein, der halb im Boden steckte. Mit einer Fingerkuppe fuhr ich über eine scharfe, gezackte Kante. Ha! Was für ein Anfängerfehler! Jedes Kind weiß, dass man mit spitzen Steinen Fesseln durchschneiden kann.
Davon abgesehen, dass das nicht funktioniert. Glaubt mir, ich habe es versucht. Es ist schier unmöglich, mit gefesselten Händen Sägebewegungen zu machen, ganz zu schweigen davon, dass das ein gutes Seil in irgendeiner Form interessieren würde.
Ich stellte jedoch fest, dass es möglich war, die Rinde abzukratzen. Der Baum musste kränklich sein, außen schon weich und modrig. Ich brauchte nicht lange, um eine flache Mulde freizukratzen, nur ein Stückchen unterhalb meiner gefesselten Hände. Ich wurde mit jeder Bewegung aufgeregter. Wenn mein Entführer jetzt zurückkam, würde ich meinen Fluchtversuch nicht mehr verbergen können. Mir blieb nur zu hoffen, dass er sich entweder Zeit ließ oder in seinem Suff nicht zu Wutausbrüchen und Gewaltanwendungen gegenüber hilflosen Gefangenen neigte.
So war es mir egal, wie schmerzhaft es war, meine Hände nach unten in die Mulde zu quetschen. Es war mir egal, ob ich meine Handgelenke an der rauen Rinde aufscheuerte, ich wollte nichts als weg von hier. Sobald meine Hände die Vertiefung erreicht hatten, lockerten sich die Fesseln kaum merklich. Mit einigen Anstrengungen gelang es mir, die erste Hand zu befreien, die zweite konnte ich ohne Schwierigkeiten herausziehen.
Ich streifte den Strick über meinen Kopf, um auch meinen Oberkörper freizubekommen. Dann riss ich mir den widerlichen Lappen aus dem Mund und hustete ein paar Mal trocken, während ich mit steifen Fingern meine Fußfesseln löste. Ich achtete gar nicht auf das Blut an meinen Händen, denn ich hatte Geräusche gehört. Geräusche, die verdächtig nach einem großen Menschen klangen, der sich behäbig seinen Weg durch das Unterholz bahnte. Da ich keine Lust hatte, einem gewissen – von mir wahnsinnig geschätzten – Herrn zu begegnen, galt es nun, keine Zeit zu verlieren. Ich sprang auf, was bei meinem angeschlagenen Kreislauf keine glänzende Idee war, mein Sichtfeld füllte sich sofort mit Sternchen. Normalerweise wäre ich in so einer Situation stehen geblieben, hätte tief durchgeatmet und geduldig abgewartet, bis sie sich auflösten. Jetzt schnappte ich mir die Säckchen und rannte los.
»Verdammt!«, erklang hinter mir ein wütender Schrei. Ich war entdeckt worden.
Ein idyllischer kleiner Waldweg führte von der Lichtung ab und garantiert ins nächste Dorf. Zielsicher steuerte ich daran vorbei. Um meine Verfolgung schwieriger zu gestalten, stürzte ich mich geradewegs ins Unterholz. Leider bestand das nicht nur aus Maiglöckchen, Farn und Efeu, sondern zudem aus Brennnesseln, Steinen und Brombeerhecken.
Da ich damit beschäftigt war, um mein Leben zu rennen, beeindruckte mich das nicht weiter. Egal, wie oft ich über Felsbrocken und Wurzeln stolperte, in der nächsten Sekunde war ich stets zurück auf den Beinen und hastete weiter. Ich zerriss mein Kleid, schürfte meine Knie auf und überzog dank dem Kontakt mit meterhohen Brennnesseln große Teile meiner Haut mit schmerzhaften Pusteln. Allein die aufgebrachten Schritte hinter mir ließen mich nicht langsamer werden. Selbst dann nicht, als mir eine Dornenranke quer durchs Gesicht schlug. Das näherkommende Fluchen und die brechenden Äste trieben mich weiter und weiter, schwer atmend kämpfte ich mich durch das Gestrüpp.
Erst als ich plötzlich aus dem Wald brach und mich auf einer Weide oberhalb Dufferingens wiederfand, kam endlich Erleichterung in mir auf. Die Schritte hinter mir verstummten schlagartig. Ich rannte trotzdem weiter, mit den Händen fest das Gold umklammernd, und sah mich dabei hektisch um. Erleichtert stellte ich fest, dass er mir nicht aufs freie Feld hinaus folgte.
Auf meiner Flucht habe ich einige Goldmünzen verloren und ich stelle mir gerne vor, dass es heute deshalb ein paar überaus glückliche Kinder gibt, die an Feen glauben.
Es wurde bereits Abend, als ich schwer geschunden in Dufferingen ankam. Ich muss furchtbar ausgesehen haben, verdreckt, zerkratzt, todmüde. Trotzdem waren die Bewohner begeistert von meinem Anblick, und sichtlich froh darüber, dass ich ganz ohne ihre Hilfe lebendig davongekommen war. Eine Flut aus aufgeregten Fragen prasselte auf mich nieder.
»Was ist passiert?«, wollte ein älterer Mann mit Hut wissen. »Geht es dir gut, Kind?«, erkundigte sich seine Frau und strich mir besorgt über die Wange. Bevor ich ihnen antworten konnte, wurde ich von einem überschwänglichen Mann in die Höhe gerissen.
»Wie hast du das denn geschafft? Alle Achtung, dieses Mädchen hat was auf dem Kasten, sag ich euch! Unsere Heldin!«, grölte er begeistert. Sein Kumpel schnappte sich meine Beine und gemeinsam hoben sie mich über ihre Köpfe. »Das Mädchen ist zurück! Und sie hat das Gold mitgebracht. Sie hat dem Entführer das Gold abgeluchst!«
Jubelnd trugen sie mich zum Wirtshaus und viele der Passanten folgten uns. Am Ort meiner Entführung hatte sich neben den üblichen Stammgästen eine ganze Menge Leute angesammelt, die die Ereignisse heftig diskutierten. Als ich durch die kleine Tür ins Innere der Schänke gedrängt wurde, verstummten sie überrascht.
»Zoraya!«, schrie meine Mutter und es klang zornig, nicht erleichtert. Als hätte sie mir schon tausend Mal verboten, mich mit Räubern und Entführern herumzutreiben. Dennoch brach sie in Tränen aus und fiel mir um den Hals. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Ich dachte schon, ich hätte dich verloren«, flüsterte sie in mein Haar und begann unkontrolliert zu schluchzen. Ich klammerte mich an sie und atmete ihren vertrauten Geruch ein. Erst jetzt spürte ich, wie mein Herzschlag langsam zur Ruhe kam.
Nach einer Weile lösten wir uns voneinander. Meine Mutter straffte ihre Schultern, pflückte ein Blatt aus meinen Haaren und schüttelte verächtlich den Kopf. »Man könnte meinen, dass die Wache energischer vorgeht, wenn die Sicherheit der Bürger auf dem Spiel steht.«
Ich entdeckte das Gesicht des Wachmanns in der Menge. Den Ausdruck darauf als erleichtert zu beschreiben, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen. Ich musste lachen, so lebhaft konnte ich mir vorstellen, wie sie den armen Kerl zur Schnecke gemacht haben musste, weil er meine Entführung nicht verhindert hatte.
Erleichtert wirkte auch der Steuereintreiber, der seinen Arm jetzt in einer Schlinge trug; er hatte sich beim Überfall ernsthaft verletzt. Ich überreichte ihm stolz die Goldmünzen und er dankte mir feierlich im Namen des Königreichs und seiner Majestät.
Dann spendierte mir der Wirt ein üppiges Abendessen und einen Krug Wein, den mich meine Mutter, vor Freude von Sinnen, alleine austrinken ließ. Ich wurde den ganzen Abend über von einer wahren Horde Neugieriger umringt, und während ich mir meine wohlverdiente Mahlzeit schmecken ließ, erzählte ich meine Geschichte. Wieder und wieder und wieder. Die Zuhörer wollten mir nicht ausgehen. Jeder verlangte meine Verletzungen sehen, meine Beule, meine blutigen Handgelenke und besonders den Schnitt an der Kehle.
Nach und nach erzählten andere Augenzeugen ihre Versionen des Ereignisses, in denen es hauptsächlich um ihren eigenen Schock und ihre große Sorge um mein Wohl ging. Ein paar stellten sich als nützlich heraus, da sie die Lücken in meiner Erzählung füllten: Sie berichteten über einen Streit im Wirtshaus, da der Entführer seine Rechnung nicht bezahlt hatte, und davon, wie er meinen bewusstlosen Körper in den Wald geschleppt hatte. Die meisten Leute beteuerten dagegen nur, wie es ihre Seelen zerrissen hätte, mir nicht helfen zu können. Sie wären selbstverständlich sofort zu meiner Rettung geeilt, wenn sie sich nicht befürchtet hätten, mich dadurch weitaus schlimmeren Gefahren auszusetzen. Selbst solche scheinheiligen und selbstverliebten Geschichten konnten mir an dem Abend nicht die Laune verderben. Die Stimmung war heiter, der Alkohol floss in Strömen und ich wurde gefeiert wie eine Heldin. »Auf Zoraya!«, schallte es jedes Mal durch den Raum, wenn die Bierkrüge aneinanderstießen.
Damals genoss ich das Ganze. Mein Lieblingsmoment war, als ich mich scherzhaft bei meiner Mutter für die fehlenden Beeren entschuldigte. Fröhliches Gelächter umbrandete mich und der Wirt schickte sogleich einen seiner Jungen in den Wald, um meinen Korb bis zum Rand mit den süßesten und prallsten Beeren zu füllen, die er finden konnte.
An diesem Abend fiel ich völlig erschöpft und berauscht von Wein, Übermut und Jubel in mein Bett. Ich war zufrieden mit mir und der Welt. Nachts träumte ich von weiteren Heldentaten. Ich rettete ganze Legionen von hilflosen Gefangenen und von überall im Land kamen Menschen, um mich zu sehen und mich mit Blumen, Gold und Lobpreisungen zu überhäufen.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass in der Tat einige »Heldentaten« folgen sollten. Und dass sie für mich einem Albtraum gleichen würden.
Es vergingen einige Tage und der Morgen von Samaras brach herein. Ich stand mit der Sonne auf. Es war kühl draußen, das Gras war nass vom Tau, dennoch bildete ich mir damals ein, schon den Frühling in der Luft schmecken zu können.
Ich liebte den Morgen in den Bergen. Wenn die ersten Strahlen der Sonne die schneebedeckten Gipfel erstrahlen ließen, die Vögel zaghaft zu singen begannen und der Nebel sich ins Tal zurückzog, fühlte ich mich am wohlsten. Ganz langsam schälte das sanfte, rosige Licht die Berggipfel aus der Dunkelheit. Die Welt war still und friedlich und die Luft war so frisch wie sonst nur nach langen Regenfällen.
Nur Luna war schon wach.
»Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?«, erkundigte ich mich, als sie sich zu mir gesellte.
Luna war eine bezaubernde, schwarz-weiße, flauschige alte Dame und der beste Schäferhund, den wir je hatten. Ich kannte sie schon aus der Zeit, in der sie auf eine einzige Hand meines Vaters gepasst hatte. Sie begleitete mich jeden Morgen, wenn ich Wasser holen ging. Ruhig trottete sie hinter mir her, still, sanft und verlässlich. Sie war einfach immer da.
Das Wassertragen war eine anstrengende Arbeit, besonders heute, da wir so viel mehr Eimer als sonst brauchten. Ungeachtet dessen war es seit Jahren meine Lieblingsaufgabe. Der Morgen gab mir Raum zum Denken.
Als ich endlich mit dem letzten Eimer zurückkam, Luna auf den Fersen, war bereits Bewegung ins Haus gekommen. Es dauerte sonst länger, bis die anderen auf den Beinen waren – ich war die Einzige in meiner Familie, die die Magie des Morgens schätzte. Heute jedoch scheuchte meine Mutter die anderen schon seit Tagesanbruch durch die Gänge: waschen, anziehen, Vorbereitungen treffen. Ich huschte durchs Treppenhaus nach oben in mein Zimmer und als ich hinunterkam, trug ich mein Festtagskleid. Es war aus herrlich leichtem Stoff, nicht so kratzig wie meine Arbeitskleidung und in einem warmen Rot gehalten. Leider war es ansonsten hauptsächlich alt und kitschig. Überall waren Schleifchen und Spitze angebracht und an den Rändern franste es bereits aus. Ich liebte es trotzdem. Jemand drückte mir eine Schüssel in die Hand und jagte mich nach draußen.
Ich erinnere mich an jedes Detail dieses Tages. Es war wie jedes Jahr, in dem wir Gastgeber spielten. Meine Mutter stand in der Küche, kochte mehrere Gerichte gleichzeitig und wurde dabei von Minute zu Minute unausstehlicher. Man beeilte sich, unbemerkt an der Küchentür vorbeizukommen, und dennoch blieben jedes Mal zwei, drei Aufgaben an einem hängen. Während meine kleine Schwester und ich unablässig Gemüse schnippelten, in Töpfen rührten und Speisen auf die lange Tafel im Garten auftrugen, war mein Vater mit meinen jüngeren Brüdern hinterm Haus. Von dort schleiften sie Holzscheit um Holzscheit herbei und richteten sie zu einem stattlichen Scheiterhaufen auf. Was nicht funktionierte, ohne dass sie sich dabei schrecklich in die Haare gerieten. Jungs in dem Alter schienen von Natur aus zum Streiten gemacht worden zu sein. Jeder wollte der Lautere sein. Ich frage mich, ob sie in dem Jahr, das ich jetzt fort bin, reifer geworden sind.
Entschuldige die Sentimentalitäten. Darum geht es nicht.
Ich kann förmlich sehen, wie du die Augenbraue hochziehst. Gut, ich gebe es ja zu, hier geht es um nichts anderes als um Sentimentalitäten. Warum sonst sollte ich in derartiger Ausführlichkeit von einem heimeligen Familienfest erzählen?
Es gab jemanden, der sich von all dem Trubel nicht beeindrucken ließ. Meine Großmutter. Sie saß auf der Bank vor dem Haus und strickte. Luna lag zu ihren Füßen und gemeinsam gaben sie das perfekte Bild von Gelassenheit ab.
Meine Großmutter tat kaum etwas anderes, als auf ihrer Bank zu sitzen und nachdenklich in die Ferne zu blicken, begleitet vom leisen Klappern ihrer Stricknadeln. Wenn ich mich traurig fühlte, ging ich zu ihr, setze mich neben sie und schüttete ihr mein Herz aus. Sie antwortete nicht auf meine Tränen, sondern strich mir schweigend übers Haar, bis ich mich beruhigte. Und manchmal, wenn ich Glück hatte, sprach sie doch einige Worte. Dann äußerte sie einen Gedanken voll derartiger Klarheit und Bedeutsamkeit, dass er all meine Probleme auf einen Schlag löste. Ich weiß nicht, was wir ohne sie getan hätten. Sie war der ruhende Pol der Familie.
Nach und nach gesellten sich die ersten Gäste zu uns. Entferntere Familienmitglieder, die man nur selten zu Gesicht bekam. Beispielsweise mein Onkel mitsamt Frau und drei Kindern. Wie an Samaras üblich, brachte jeder großzügig Essen mit, einen Nachtisch oder einen Salat. Manchmal sogar einen Braten. Und auch die Kränze und bunten Bänder durften nicht fehlen, mit denen die Gäste das ganze Haus und den Tisch feierlich schmückten. Bis der Letzte eingetrudelt war, war unser beschaulicher Hof kaum wiederzuerkennen. Die Tischplatte beugte sich förmlich unter all den Krügen, Schalen, Platten und Töpfen voll heißem und kaltem, dampfendem und duftendem Essen. Es war endlich Sommer.
Das Festessen zog sich jedes Mal schier endlos hin. Darauf freute ich mich am meisten. Nach so vielen Monaten des Zitterns und Bangens, nach so vielen Tagen der Entsagung, an denen meine Mutter die Vorräte strikt rationierte, nur für den Fall eines späten Frosteinbruchs, kam Samaras. Und mit ihm ein Festschmaus, der sich vom frühen Mittag bis in den späten Nachmittag hineinzog. Es war so viel, dass man Pausen zwischen den Gängen machen musste, in denen sich die Erwachsenen unterhielten und die Kinder über die Wiese tollten.
Ich war erstaunst, dass meine älteren Cousins sich unserem Spiel anschlossen. Ich war damals sechzehn und damit fast im heiratsfähigen Alter und trotzdem war ich nicht die Jüngste, die wie ein übermütiges Lamm durch die Gegend sprang. Selbst Luna machte mit, jagte uns nach wie ein schwarz-weißer Blitz und schmiss jeden um, den sie kriegen konnte. Also jeden Einzelnen von uns. Border Collies werden verdammt schnell.
Nach dem Essen gab es eine recht schläfrige Pause. Nur die Jüngsten tollten herum, einige machten einen gemütlichen Spaziergang, die meisten jedoch entschieden sich für ein Nickerchen. Ich lag im hohen Gras, den Kopf auf Lunas weiches Fell gebettet, und beobachtete die träge vorbeiziehenden Wolken.
Gegen Abend wurde das Feuer entfacht. Obwohl es ewig dauerte, bis die Hände meines Onkels dem riesigen Stapel endlich das erste Züngeln entlockten, loderten pünktlich zum Sonnenuntergang meterhohe Flammen in den Himmel. Viele meiner Verwandten hatten ihre Instrumente mitgebracht, Panflöten, Trommeln und Rasseln, und so tanzten wir zur Musik ums Feuer. Ab und an spielte ich ein fröhliches Liedchen auf meiner Flöte, ansonsten hüpfte ich ausgelassen im Kreis oder unterhielt mich laut schreiend mit einer entfernten Cousine.
Ausnahmsweise gab es für die älteren Kinder so viel Wein, wie sie wollten. Wie es auf Festen so ist, trank einer der Jugendlichen zu viel und landete hinter dem Haus, wo er eine furchtbare Sauerei veranstaltete. An Samaras wurde das mit einem Schulterzucken hingenommen. Während dieser Feier kannte man keine Sorgen. Selbst die Last des schwersten Schicksals wurde leichter und für einen Tag und eine Nacht gab es kein Gestern und kein Morgen mehr.
Es wurde schon fast hell, als ich todmüde und gleichzeitig überglücklich ins Bett fiel. Sofort empfing mich ein tiefer, traumloser Schlaf.
Ich hoffe, ich habe euch nicht allzu sehr gelangweilt. Ich weiß, ich habe euch eine Geschichte über Helden versprochen und dieses Erlebnis ist weit entfernt davon, als spannend durchzugehen. Was mich angeht, würde ich am liebsten ewig in diesem Moment verweilen. Von einem Tag auf den anderen sollte sich mein Leben ändern. Und nicht zum Guten, wie ich finde.
Dies ist meine Geschichte und ich werde sie so erzählen, wie ich es für richtig halte. Ich werde nichts auslassen, das für mich von Bedeutung ist. Und was mich angeht, gab es nichts Wichtigeres als diesen letzten Tag.
Der letzte Tag, den ich zu Hause verbrachte.
Der letzte Tag, an dem ich wusste, wo mein Platz im Leben war.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es schon fast Mittag. Es war ein merkwürdiges Gefühl, erst so spät hinunter zum Bach zu laufen. Die Luft war erstaunlich mild und das Gras unter meinen Füßen warm von der Sonne. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie ich das als Kind für ein Zeichen des Sommerbeginns gehalten hatte. Natürlich war es am Morgen nach Samaras ungewöhnlich warm – ich stand schließlich einige Stunden später auf als sonst. Dadurch wurde das eiskalte Schmelzwasser nur umso erfrischender.
Ich wollte mich gerade mit den gefüllten Eimern zum Gehen wenden, als mir auffiel, wie ungewöhnlich die Situation war. Luna war mir nicht ganz bis zum Bach gefolgt. Sie kauerte einige Meter abseits des schmalen Trampelpfades, der zurück zum Haus führte, im Gras und schnupperte an einem niedrigen Busch.
»Luna!«, rief ich zu ihr hinüber. »Was ist, Mädchen? Komm her, komm!«
Sie sah kurz auf, wandte mir ihren hübschen kleinen Kopf zu und bellte. Es war kein lautes Geräusch, nur ein kurzes, hohes Bellen, fast ein Jaulen. Ich kannte es gut. Ich wusste, was sie mir sagen wollte.
Mit einem lauten Platschen fielen die Eimer links und rechts von mir zu Boden. Ich rannte bereits zu meiner Hündin hinüber.
Luna war überaus klug und verstand es, sich mit mir zu unterhalten. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie die Bedeutung jedes Wortes kannte, das ich zu ihr sprach. Im Gegenzug hatte sie gelernt, sich verständlich zu machen. Ein kurzes Signal, halb Bellen, halb Heulen. »Wolf.«
Hier draußen waren keine Schafe, die es zu beschützen galt und die Wölfe wagten sich normalerweise nicht so weit aufs offene Grasland vor. Das machte mir echte Sorgen. Denn als Schäfer hatte das Wort »Wolf« eine zweite Bedeutung. Höchste Alarmbereitschaft.
Ich ließ mich neben Luna auf die Knie fallen: »Was ist, Mädchen?«
Ich folgte ihrem Blick zur Hecke hinüber.
»Da drin?« Ich stutzte. »Ist es gefährlich? Soll ich nachschauen?«
Eine feuchte Schnauze stupste meinen Arm an. Ich zog die Augenbrauen hoch. »Gut, wenn du das sagst. Falls ich dabei draufgehe, ist das deine Schuld. Ich hoffe sehr, da steckt kein halb verhungerter Wolf drin!«
Ein eindringlicheres Stupsen. Ich seufzte und begann, mir auf allen vieren zögerlich einen Weg in die Hecke zu bahnen. Ich kam nur langsam voran, die Äste waren dicht und sperrig und ich blieb überall hängen. Bald entdeckte ich vor mir den flachen Schatten eines Körpers. Dort vorne lag ein Tier. Ein großes. Wenn das tatsächlich ein Wolf ist, bring ich dich um …
Ich robbte vorsichtig näher. Nein, es gab keinen Grund zur Sorge. Der Verwesungsgeruch war unerträglich.
Das Tier hatte struppiges, dreckverkrustetes Fell, dessen Farbe irgendwo zischen Grau und Braun anzuordnen war. Vielleicht ein totes Wildschwein? Warum hatte Luna sich dann solche Sorgen gemacht? Ich kroch ein Stück näher und schrie auf. Meine Hand war auf ein Ding gestoßen, das sich anfühlte wie ein armdicker, schuppiger Wurm. Ich sah hinab. Nein. Das war kein Wurm. Das war eindeutig ein Schwanz. Ein Rattenschwanz.
Ich verstand. Und ich schrie erneut. Es ist mir heute fast ein bisschen peinlich, dass ich damals so schreckhaft war, aber das war das erste Monster, das ich in meinem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Ich finde, unter den Umständen kann man nachsichtig sein.
Ein besorgtes Bellen drang von außerhalb der Hecke zu mir durch.
»Schon gut, alles unter Kontrolle! Das Biest ist tot!«
Ja, das war eindeutig ein Monster. Ratten, so groß wie Wildschweine. Ich hatte schon davon gehört: Seit ungefähr einem Jahr häuften sich die Berichte der Händler von Höfen oder sogar kleinen Dörfern, die solchen überdimensionierten Wesen zum Opfer gefallen waren. Doch das geschah weit entfernt. Man wusste, dass die Monster aus dem Düsterwald kamen. Woher sonst? Dafür kam nur dieses verfluchte Stück Natur infrage. Wer in den Düsterwald geht, kehrt nie zurück …
Das war Meilen von hier! Ich hatte kein Wort von Vorkommnissen in den Bergen gehört.
Vielleicht wusste meine Großmutter mehr. Sie war alt, weise und bestens vertraut mit den Sagen und Überlieferungen früherer Generationen. Sie musste nicht erklären, was das Vieh hier machte, Hauptsache sie konnte mir einen Rat geben. Ich wüsste nicht, wen ich sonst fragen sollte, was in so einem Fall zu tun ist. Ich würde ihr die Ratte zeigen müssen.
»Ich bringe es jetzt raus!«
Eine gebellte Zustimmung.
Ich packte das Tier an seinem widerlichen Schwanz und begann mühsam, es aus der Hecke zu zerren. Als der letzte Ast nachgab, fiel ich förmlich aus dem Gestrüpp und purzelte direkt vor die Füße eines königlichen Boten.
Ein Bote? Hier? Das war fast ungewöhnlicher als die Ratte. Königliche Gesandte nahmen sich viel zu wichtig, um sich auf einem provinziellen Hof die Schuhe schmutzig zu machen. Aber es musste ein Bote sein. Er trug die dunkelblaue Uniform, das Abzeichen und selbst den lächerlichen gefederten Hut.
Oh Gott! Jemand musste ein Verbrechen begangen haben. Manchmal schickten sie einen Boten, wenn ein naher Verwandter wegen Hochverrates hängen musste. Das konnte nicht sein! Meine Familie hätte nicht einmal die Chance, das zu tun.
Der Bote lächelte von oben auf mich herab: »Du musst Zoraya sein.«
Ich lag da, mit einem abgebrochenen Zweig im Haar, meinen Kopf vor seinen glänzenden Stiefeln, und nickte verwirrt.
»Es ist mir eine Ehre, dich endlich kennenzulernen. Ich habe schon so viel von dir gehört!«
Er … er hatte schon viel von mir gehört? Er kannte meinen Namen? Es war ihm eine Ehre? Ich hatte absolut keine Ahnung, was hier vor sich ging. Mir war hingegen durchaus bewusst, wie erniedrigend meine momentane Position war. Also beeilte ich mich, aufzustehen, meine Kleidung abzuklopfen und seinen Blick so wenig beschämt wie möglich zu erwidern. Frechheit siegt.
»Wie kommt jemand wie Sie dazu, von einer Hirtentochter zu hören?«
Er lachte. Ein süffisantes Lachen.
»Ach, ich bitte dich. Die ganze Gegend spricht nur von dir und deinen Heldentaten! Gerade konnte ich mich selbst überzeugen, dass du keine gewöhnliche Hirtentochter bist.« Sein Blick schwenkte zu der toten Ratte zu meinen Füßen. »Sieh dich an. Erlegst Monster mit bloßen Händen und bist nicht einmal außer Atem. Das nenne ich beeindruckend!«
Jetzt musste ich lachen. Sein Blick ließ mich sofort verstummen. Man lacht besser keinen königlichen Gesandten aus.
»Entschuldigen Sie«, stammelte ich schnell, »das muss ein Missverständnis sein, mein Herr. Ich habe das Tier nicht getötet.«
»Ich bitte Sie, meine Dame. Ich habe die Schreie und das Fiepen gehört. Und ich zitiere: ›Alles unter Kontrolle. Das Biest ist tot.‹ Klingt für mich unmissverständlich.«
Verdammt! Fiel ihm nicht dieser unerträgliche Gestank nach Verwesung auf? Vielleicht waren meine Aussagen leicht falsch zu verstehen, doch selbst ihm musste klar sein, wie unmöglich das war. Ich sollte ein Monster getötet haben?
»Mein Herr, ich bin nur ein zierliches, kleines Mädchen. Wie könnte ich es schaffen, ein Monster mit bloßen Händen zur Strecke zu bringen?«
Er nickte: »Ich muss gestehen, ich war zunächst skeptisch, als in der Prophezeiung von einem jungen Mädchen die Rede war.«
Prophezeiung? Was zur Hölle ging hier vor?
Der Bote legte den Kopf schief und musterte mich von Kopf bis Fuß.
»Eine Heldin, strahlend wie eine Flamme und tödlich wie ein Pfeil. Du könntest die Richtige sein. Dein Haar ist mehr als passend.«
Er hatte recht. In gewisser Weise traf der erste Teil der Prophezeiung auf mich zu. Ich hatte langes, seidiges Haar, auf das ich sehr stolz war. Es war ein trotziger Stolz, denn es war leuchtend rot. Ich selbst liebte die Farbe – sie erinnerte mich an den Sonnenaufgang –, aber in den Bergen war ein schlichtes Braun die Norm. Während Blond als besonderes und edel angesehen wurde, war Rot über alle Maßen verpönt. Man hatte mich oft als Hexe oder Feenkind beschimpft. Dagegen war der Vergleich mit einer Flamme nicht nur naheliegend, sondern geradezu schmeichelhaft.
Der zweite Teil der Prophezeiung jedoch … »Tödlich wie ein Pfeil?« Das war lächerlich. Ich fühlte mich ja schon schlecht, wenn ich aus Versehen Insekten zertrat.
»Ich bin keine Kriegerin«, erwiderte ich bestimmt.
»Du bestreitest also, was sich die Leute über dich erzählen? Dass du ihre Heldin bist?«
»Ja!«, rief ich entgeistert. Ich hatte keine Ahnung, wo er das aufgeschnappt haben wollte.
»Dann bist du nicht diejenige, die von klein auf unzählige Lämmer vor den Klauen des Wolfes gerettet hat?«
»Gut. Gut, das stimmt schon. Ich habe ungewöhnliche viele Lämmer gerettet, allerdings liegt das …«
»Du hast nicht vor wenigen Tagen einen Riesen bezwungen?«
»Einen Riesen?«
Jetzt redete er völligen Schwachsinn. Es gab keine Riesen. Vielleicht wusste er das ja nicht? Ich glaubte schließlich auch nicht an Prophezeiungen.
»Man hat mir gesagt, dieser Bandit sei ein wahrer Riese gewesen. Ein fürchterliches Monstrum, das dich in den Wald verschleppt hat. Und du hast ihn bezwungen. Völlig unbewaffnet!«
Jetzt verstand ich: »Oh das. Ich bin ihm nur entkommen, nichts weiter.«
»Natürlich«, er lachte. »Fräulein, langsam glaube ich, du willst es mir absichtlich schwermachen. Natürlich bist du ihm nur entkommen. Mitsamt der Beute. Reiner Zufall, dass man ihm am nächsten Morgen auf der Lichtung gefunden hat – genau auf der, von der du erzählt hast! An dem Baum in der Mitte hingen Seile. Und schrecklich soll der Bandit ausgesehen haben. Übel zugerichtet. Ich meine, du selbst hast so einiges abbekommen«, er deutete auf die Kratzer in meinem Gesicht, »aber er? Völlig zusammengeschlagen. Und dabei ist er mindestens zwei Köpfe größer als du. Ich ziehe meinen Hut vor solch einer Kämpferin.«
Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie hatte er mich verfolgen können, wenn er derart verletzt war? Das konnte nicht wahr sein!
»Ich war das nicht!« Meine Stimme klang jetzt fast verzweifelt. »Bitte! Sie müssen mir glauben! Das muss jemand anderes gewesen sein. Ich weiß nichts davon!«
Selbst Luna begann – von meinem schockierten Tonfall alarmiert – zu winseln.
Der Bote winkte nur selig lächelnd ab: »Du musst nicht so bescheiden sein. Keine Sorge! Ich werde dein kleines Geheimnis für mich behalten.« Er zwinkerte mir verschwörerisch zu. Ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. »Als offizielle Geschichte könnten wir verkünden, dass ein Irrer zufällig vorbeigekommen ist, um ihn zusammenzuschlagen. Und seine Heldentat bescheiden für sich behält. Das klingt wirklich plausibel!« Er tätschelte meine Schulter. »Komm schon. Geh und pack deine Sachen! Verabschiede dich von deiner Familie. Wir holen dich vor Sonnenuntergang ab.«
Ich starrte ihn entsetzt an.
»Ich soll … meine Sachen packen?«
»Wie ich gesagt habe. Ich bin überzeugt, endlich die Richtige gefunden zu haben. Die Ratte hat die letzten Zweifel beseitigt. Ich werde dich so schnell wie möglich zum König bringen, damit er entscheiden kann, wie wir fortfahren. Du hast eine Prophezeiung zu erfüllen!«
Er strahlte mich fröhlich an. Mir war nur nach Wegrennen zumute. Ich wollte mein Zuhause nicht verlassen. Ich sollte zum König? Mich von meiner Familie verabschieden? Eine Prophezeiung erfüllen? Weil er dachte, ich könnte Monster mit bloßen Händen erledigen? Das klang für meinen Geschmack viel zu sehr nach einem Abenteuer, bei dem ich früher oder später draufgehen würde.
»Sie haben die Falsche!«, startete ich einen letzten, verzweifelten Versuch.
Langsam wurde sein Tonfall ernster: »Das lass mal meine Sorge sein. Ich wurde beauftragt, die Auserwählte zu finden, die unser Land retten wird. Und das habe ich. Ich werde mir von einem Mädchen, das vor dem Mittagessen schon gigantische Ratten tötet, nicht einreden lassen, sie hätte nicht das Zeug dazu.«
Er warf sich seinen langen Mantel über die Schulter und wandte sich zum Gehen.
Panik flammte in mir auf.
»Und wenn ich mich weigere?«
Er fuhr herum, seine Augen blitzten kalt auf. Ich zitterte, trotzdem hob ich mein Kinn und starrte trotzig zurück. Luna knurrte leise.
»Ich bin ein königlicher Bote.« Seine Stimme war jetzt gefährlich ruhig. »Siehst du das Abzeichen? Ich komme im Auftrag seiner Majestät. Jeder Widerstand gegen meine Anordnungen wird vor dem Gesetz als Hochverrat angesehen. Und das möchtest du nicht, oder?«
Wer hätte das schon gewollt? Andererseits wusste ich nicht, was der König mit mir vorhatte. Ich nahm mal scharf an, dass ich Monster töten sollte. Das klang für mich nach sicherem Selbstmord. Für Hochverrat würde ich vielleicht nur im Kerker landen …
Ich blickte den Boten unschlüssig an.
Sein Gesicht wurde weicher, fast mitleidig.
»Wusstest du, dass sich die Strafe für Hochverrat auf mehrere Generationen der Familie ausweiten lässt?«
Ich schluckte.
»Pack dein Zeug, Mädchen. Ich bin in ein paar Stunden zurück. Es wird ewig dauern, die Männer von der Theke loszueisen.« Er schnaubte leise.
Und als er sich erneut umdrehte und davonging, traute ich mich nicht mehr, ihn aufzuhalten.
Ich brach auf der Stelle zusammen und in Tränen aus.
Den Rest des Tages erlebte ich wie durch dichten Nebel hindurch.
Letztendlich blieb mir nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass die Dinge jetzt eben so waren. Ich beruhigte meine sichtlich besorgte Hündin, stand auf und trocknete meine Tränen. Dann ging ich zum Haus zurück und erzählte, was geschehen war.
Meine Mutter wurde ganz hysterisch und begann zu weinen. Mein Vater stapfte wütend durchs Haus und verfluchte den König, was seine Art war, zu weinen. Meine kleine Schwester verstand nicht ganz, was vor sich ging, sie hatte sich dennoch binnen Sekunden in Rotz und Wasser aufgelöst.
Meine Eltern stritten sich, was zu tun war, während ich teilnahmslos am Küchentisch saß und in die Ferne starrte. Sie wollten mich nicht gehen lassen. Trotzdem waren sie sich schnell einig, dass es keinen Ausweg gab. Zu frisch war die Erinnerung an Papas jüngere Schwester.
Vor vielen Jahren, in einem besonders kalten Winter, hatte ihr Mann sich geweigert, seine jährlichen Abgaben an den Königshof zu leisten. Bald darauf war ein Bote vor seiner Tür aufgetaucht. Und seitdem hatte seine Familie nichts mehr von ihm gehört. Sie wussten nicht, wo er war, nicht einmal, ob er lebte. Alleine hatte meine Tante den Hof nicht halten können und musste mit ihrem Baby in die Stadt ziehen. Wie sie sich dort über Wasser halten wollte, habe ich als Kind nie verstanden. Meine Eltern hatten das Thema stets gemieden und selbst meine Tante hatte sich nie mehr gemeldet. Mittlerweile war mir klar, welcher Beruf ihr geblieben war. Und warum sie sich so dafür schämte.
Einen königlichen Befehl zu ignorieren, konnte das Leben einer ganzen Familie zerstören. Also blieb meinen Eltern nichts anderes übrig, als mir dabei zu helfen, meine Sachen zu packen. Völlig egal, dass es ihnen das Herz brach.
Meine Brüder waren mit der Herde auf der Weide und ich muss gestehen, ich war froh darüber. Heute bedauere ich zutiefst, sie nicht gesucht zu haben, um mich zu verabschieden. Damals war es eine Erleichterung – es hätte den Abschied nur schwerer gemacht. Meine Welt war dabei, aus den Fugen zu geraten. Ich hätte am liebsten gar keinen gesehen.
Zunächst drängte meine Mutter mich unter Tränen, zu ihnen zu gehen, und ich weigerte mich standhaft. Als sie begann, mich anzuschreien, brachen endlich Gefühle an meine Oberfläche. »Ich kann das nicht …«, schluchzte ich, »ich kann das nicht.« So traurig und verzweifelt ich war, es wollten einfach keine Tränen fließen.
Nach einer Weile ließ meine Mutter endlich von mir ab. Stattdessen klammerte sich meine Schwester an mich und weinte und schrie, bis mein Vater sie förmlich von mir wegzerrte. Er musste gemerkt haben, dass ich es nicht ertrug.
Gegen Abend saß ich draußen auf der Bank neben meiner Großmutter und wartete auf den Boten. Mein Gepäck war fein säuberlich aufgeschichtet. Es war erstaunlich zu sehen, wie wenig ich besaß. Mein gesamtes Hab und Gut passte in ein paar Koffer.
Meine Eltern waren verschwunden. Damals dachte ich, sie hätten Dringenderes zu tun. Heute ist mir klar, dass es für sie an diesem Tag nichts Wichtigeres gegeben hatte. Sie wollten mir lediglich Zeit lassen, um mich in Ruhe von meiner Oma zu verabschieden.
Ich saß stumm da und saugte den Blick auf die Berge ein. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich bald keine Möglichkeit mehr haben würde, zu ihren Gipfeln aufzublicken. Es war still, bis auf das monotone Klappern der Stricknadeln. Und dann verstummte selbst das.
»Es tut mir leid, dass du gehen musst.«
Verwundert sah ich meine Großmutter an. Ich hatte nicht erwartet, dass sie von sich aus sprechen würde. Ihr Blick war gesenkt. Sie wirkte nachdenklich, fast traurig.
»Es gibt einen alten Spruch.« Sie zögerte. Dann begann sie flüsternd, fast lautlos, zu sprechen. Es war eine Art Singsang, eine Melodie, die sich tief in meine Erinnerung eingrub:
»Wenn Finsternis kriecht aus den Schatten
in der hellen Hügel Licht,
begonnen mit den dunklen Ratten,
besteht der alte Herrscher nicht.
Das Rot der Morgensonne,
Aufgang oder Untergang –
restez fehouu ra deonne,
wie einst die Gold’ne Drossel sang.«
Eine Weile herrschte tiefes Schweigen.
»Du wirst die Bedeutung verstehen, wenn es an der Zeit ist«, verkündete meine Großmutter. »Bewahre die Worte in deinem Herzen, doch lass sie niemals über deine Lippen gleiten. Denn wie schon die alten Völker wussten: Im Geheimnis liegt die Macht.«
Ich verstand ihre Worte nicht, trotzdem versetzten sie mich in Ehrfurcht. Ich schwor mir, ihren Rat zu befolgen, wie kryptisch er auch sein mochte. Die alte Dame würde abermals recht behalten.
»Eines noch, mein Kind. Du wirst das alleine nicht schaffen. Du wirst einen treuen Begleiter finden müssen, der dir auf deiner Reise helfen kann.«
Sie sagte nichts mehr, das ihre kleine Rede erklärt hätte. Ich dankte ihr und sie beugte sich wieder über ihre Arbeit. Nachdenklich wandte ich mich zurück zu den Bergen und fragte mich, warum sich mein Herz so schwer anfühlte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis der Bote auftauchte. Er kam in einer geschlossenen Reisekutsche, gefolgt von einem Dutzend Soldaten. Meine Eltern kamen aus dem Haus, um mir ein letztes Mal Lebewohl zu sagen. Es war ein sonderbar steifer Abschied. Als würden wir uns bemühen, vor der königlichen Gesandtschaft Haltung zu bewahren.
Als meine Mutter mich umarmte, raunte sie mir eine Frage ins Ohr: »Und? Was hat sie gesagt?«
Ich wollte ihr es erzählen, besann mich aber eines Besseren. Wenn ich den Spruch für mich behalten sollte, würde ich selbst bei meiner eigenen Mutter keine Ausnahme machen. Niemals hieß niemals. Meine Großmutter hatte es geschafft, mir eine Waffe mit auf den Weg zu geben, das wusste ich. Es war nur zu früh, um zu erkennen, wie sie funktionierte.
Also meinte ich nur: »Sie sagte, ich würde einen treuen Begleiter brauchen.«
Meine Mutter schob mich auf eine Armeslänge von sich weg und sah mich lange aus glasigen Augen an. Dann nickte sie bestimmt.
»Du kannst Luna mitnehmen.«
Ich konnte nicht glauben, was sie da sagte.
»Luna?«, wiederholte ich ungläubig. »Mama, das kannst du nicht tun!«
Sie schüttelte nur den Kopf: »Sie gehört zu dir, das weißt du. Sie folgt dir überall hin. Nimm sie mit. Du wirst sie brauchen.«
»Ernsthaft?«
»Ja, Zoraya, ernsthaft.«
Ich fiel ihr um den Hals. Zum ersten Mal seit Stunden liefen mir die Tränen übers Gesicht, Tränen der Rührung allerdings. Ein guter Schäferhund war teuer. Einer wie Luna war unbezahlbar. Meine Mutter hatte mir gerade das Wertvollste geschenkt, das meine Familie besaß.
Als ich Luna zu mir rief, fühlte ich mich schon viel besser. Ich wusste zwar nicht, was mich erwartete oder wie ich es überstehen sollte. Eines jedoch war sicher: Keinen Schritt des Weges musste ich alleine tun. Ein Stück meiner Heimat begleitete mich auf meine Reise ins Ungewisse.
Und ich wusste, dass diese treue Seele niemals von meiner Seite weichen würde.
Die Kutsche schaukelte die holprigen, steilen Wege entlang, die sich durch die Berge schlängelten und nicht enden wollten. Wir waren jetzt schon seit drei Tagen unterwegs und nichts hatte sich verändert. Auf den unebenen Pfaden kam das Pferd nur schleppend voran und ich fragte mich langsam, ob sich mir jemals ein anderer Anblick bieten würde als das Tanaxgebirge.
Ich saß in der Kutsche, auf einer unbequemen, schlecht gepolsterten Bank und starrte aus dem Fenster. Mir gegenüber saß der Bote und studierte seine Schriftrollen, Luna lag auf meinen Füßen und schlief. Ihr bekam die Reise beinahe schlechter als mir. Es mangelte ihr an Bewegung, das spürte ich. Sie wirkte mit jedem Tag unglücklicher und harrte nur mir zuliebe geduldig aus.
Draußen vor dem Fenster zog die gleichbleibende Landschaft vorbei. Es war merkwürdig. Es sah genauso aus wie bei mir zu Hause, und trotzdem waren mir die Hänge, Klippen und Täler fremd. Ich war noch an keinem der Orte gewesen, die mir so vertraut vorkamen.
So verging Stunde um Stunde. Es passierte nichts. Und es war kein Ende in Sicht. Die Berge wurden nicht niedriger, die Pfade nicht flacher. Wir zottelten durch eine endlose Gebirgslandschaft.
Die Nächte brachten keine Abwechslung. Wir hielten wahllos an, entfachten ein Feuer und aßen Eintopf. Genauer gesagt einen grauen, schleimigen Brei, dessen einzelne Bestandteile ich unmöglich ausmachen konnte.
Die Soldaten redeten nicht mit mir. Ihren Blicken zufolge teilten sie nicht die Ansicht des Boten, dass ich ohne Zweifel die gesuchte Heldin sei. Ich nahm es ihnen nicht übel. Ich wirkte weder besonders Furcht einflößend noch in einer anderen Form beeindruckend. Was vielleicht – nur vielleicht – daran lag, dass ich ein kleines, verängstigtes Hirtenmädchen war, das jemand mit einem Helden verwechselt hatte. Gerade deswegen wäre mir ein bisschen Gesellschaft ganz lieb gewesen.
So saß ich alleine am Feuer, löffelte meine Schale aus und versuchte jeden Gedanken auszublenden, der im Entferntesten mit dem Geschmack des Breis zu tun hatte. Oder mit meiner Familie. Tagsüber verdrängte ich das Thema mit Leichtigkeit. Wie beim Abschied lag ein dicker Nebel zwischen mir und meinen Gefühlen. Abends ließ es sich schwerer aushalten.
Ich schlief, wie ich es von lauen Frühlingsnächten gewohnt war – unter freiem Himmel. Über mir die richtigen Sterne und die falschen Felle. Es war nicht der gewohnte Duft von Schaf. Diese Pelze waren alt und fremdartig und sie stanken. Ich lag damals nächtelang wach, starrte in den Himmel und weinte lautlose Tränen. Wenn ich endlich einschlief, dann nur, um mich unruhig hin und her zu wälzen, bis mich das kleinste Geräusch aus dem Schlaf riss.
Seltsamerweise konnte ich tagsüber in der unablässig ruckelnden Kutsche einiges an Schlaf nachholen. Man sollte meinen, in einer Holzkiste herumgeschüttelt zu werden, würde das verhindern. Im Gegenteil beruhigte mich das monotone Getrappel der Hufe und das gleichbleibende Quietschen der Räder. Vielleicht übertönte es meine Gedanken.
Dafür gab es, wenn ich aufwachte, keine einzige Stelle in meinem Körper, die nicht schmerzte.
Mir fehlten meine geliebten Morgenstunden. Die gesamte Truppe stand schon mit dem Sonnenaufgang auf, um einen riesigen Krach zu veranstalten. Die Soldaten machten Frühstück, reinigten ihre Waffen und Rüstungen oder betrieben Kampfübungen. Es gab keine Zeit, Ruhe zu finden. Keine Zeit, mich zu sammeln und die frische Luft einzuatmen, während die Welt um mich herum langsam erwachte. Stattdessen das scharfe Klirren von aufeinanderprallenden Schwertern, das eines Tages mein Schicksal besiegeln würde. Die Stille und Friedlichkeit des Morgens wich dem Lärm.
Lärm und Brot, Trockenfleisch und kalter Eintopf vom Vorabend, bevor man sich auf den ewig gleichen Weg machte.
Ich weiß nicht, wie lange sich das so hinzog, bis ich die erste Veränderung ausmachte. Der Schnee verschwand von den Gipfeln. Dann ging es ganz schnell: die Wege wurden breiter und besser befahrbar, die Dörfer häufiger. Ringsherum wurden die Hänge flacher und immer öfter wichen die Weiden großen Feldern. Zu dieser Jahreszeit waren sie kein schöner Anblick: braune, unebene Flächen, aus denen nur vereinzelt verdorrtes Gestrüpp emporragte. Noch ein paar Monate und dort würden Kartoffeln und Weizen sprießen.
Meistens fuhren wir jedoch durch dichte Wälder. Sie ähnelten dem Wäldchen, in das ich vor gefühlten Ewigkeiten entführt worden war. Hauptsächlich hohe Fichten und Buchen, das Bild wurde zunehmend von Laubbäumen dominiert. Der bemerkenswerteste Unterschied zu den Bergen war die Größe der Wälder. Wir fuhren oft stundenlang auf ihren schattigen Wegen und ich fühlte mich bald viel wohler. Es war beruhigend, von mächtigen Stämmen und frischem Laub umgeben zu sein. Hoch oben zwischen den Gipfeln wurde es erst spät Sommer, hier erstrahlte die Natur bereits in einem zarten Frühlingsgrün. Eine hoffnungsvolle Farbe. Und endlich nicht mehr so schrecklich vertraut. Ab und an sah man Rehe, Vögel oder Eichhörnchen. Ich klebte fast am Fenster, so willkommen war mir jede kleinste Abwechslung.
Bis ich die Schatten sah.
Sie folgten der Kutsche. In dem spärlichen Licht, das so kurz vor der Dämmerung durch das dichte Laubdach sickerte, waren sie nichts als Schemen. Ich glaube, es waren drei, vielleicht vier, man konnte sie kaum ausmachen. Sie waren so groß wie Menschen, bloß viel schneller. Sie huschten zwischen den Stämmen hindurch oder sprangen von Ast zu Ast. Ich fragte mich, ob ich den Boten warnen sollte, doch sie wirkten so unwirklich, dass ich befürchtete, sie würden verschwinden, sobald ich den Blick von ihnen abwandte.
Was wollten sie? Es bestand kein Zweifel, dass sie der Kutsche folgten.
Voller Grauen folgte mein Blick ihren merkwürdig lang gestreckten Körpern. Das mussten Monster sein! In großen Sprüngen hielten sie mit der Kutsche Schritt, ihre buschigen Schweife peitschten hinter ihnen her. Vielleicht riesige Eichhörnchen auf der Jagd nach Menschen? Das klang nicht sonderlich bedrohlich, bis man sich vorstellte, was ihre Nüsse knackenden Zähne mit menschlichen Schädeln anstellen konnten. Ich erschauderte.
Die Gefährlichkeit der Kreaturen zog mich in ihren Bann. Gefangen in dieser unbegreiflichen Faszination hing ich am Fenster und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Bis das umliegende Terrain steiniger wurde und sich zu steil abfallenden Hängen erhob. Die Straße wand sich nach links und in eine Schlucht hinein, die das Gelände zerschnitt. Der Weg der Schatten endete plötzlich an einer steilen Klippe, deren Spitze sich über die Straße neigte. Mit einem großen Satz sprang eines der Wesen dicht an den Rand des Abhangs, sodass wir direkt unter ihm hindurchfahren mussten. Der perfekte Punkt für einen Angriff.
Schockiert starrte ich nach oben. Jetzt, wo es sich aus dem Schutz der Bäume hinaus ins Licht gewagt hatte, konnte man es besser erkennen. Es saß kauernd da, das lange dunkle Fell gesträubt. Das Gesicht erinnerte an einen Wolf, die graubraune Schnauze öffnete sich und zeigte ein glänzendes Raubtiergebiss. Dabei passten weder der flache Körperbau noch die huschenden Bewegungen ins Bild. Die Fremdartigkeit machte das Wesen um einiges beängstigender, als ein übergroßer Wolf es gewesen wäre.
Und es starrte zurück. Es sah mich direkt an, aus seinen dunklen, blitzenden Augen. Sie waren schmal, wirkten angriffslustig und nur auf mich gerichtet. Sein Blick bohrte sich durch meinen Körper und ich wusste, dass es wegen mir hier war. Es und die anderen. Nur wegen mir.