Das Schicksal der Zwerge - Markus Heitz - E-Book
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Das Schicksal der Zwerge E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Das Warten auf den neuen »Zwerge«-Bestseller ist vorüber: Viele Zyklen sind vergangen, seit der tapfere Zwerg Tungdil Goldhand in der Schwarzen Schlucht verschwand. Das Geborgene Land treibt unaufhaltsam dem Untergang entgegen. Drachen, Magier und die grausamen Albae haben das Reich unter sich aufgeteilt. Die Zwergenstämme wurden in die finsteren Stollen zurückgedrängt oder fast völlig vernichtet. Dann kehrt ein Zwergenkrieger in einer schwarzen Rüstung zurück, der sich Tungdil nennt. Für seinen treuesten Freund Ingrimmsch und seine Gefährten bedeutet das neue Hoffnung. Doch bald mehren sich Zweifel – ist es wirklich Tungdil, oder führt der Zwerg etwas ganz anderes im Schilde? Es geht um die Zukunft des Geborgenen Landes – und um das Schicksal aller Zwerge.

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Seitenzahl: 1015

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

8. Auflage 2009

ISBN 978-3-492-95003-9

© Piper Verlag GmbH, München 2008

Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.de

Karte: Markus Heitz 2005

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Gewidmet allen Freunden der »Kleinen«.Ihr habt es euch verdient!

»Es geht die Kundt, dass dye Zwerke gar grosse Berychter von Wytzen seyen.Eyner der beruehmtesten Spaesse sey der Wytz, wo ein Ork eynen der Zwerke nach dem Wege frug, und der Zwerke habe geantwortet.Und der Wytz gynge derley:Eynes Umlaufes Zy Umlaufs schlenderte ein Ork eyne Strasse entlang, die Aougen aouf den Weg gerychtet und dennoch nycht wyssend, wohyn er gehe.Da traf es sych, dass eyn Zwerk just an eyner Kreutzung stunde und sehet, was sych durch das Lande beweget. Seyne Axt war aus reynem Vraccasium, sein Kettenhämd voller Schoenheyt und Hartygkeyt, sodass es Pfeylen, Schneyden und Klyngen Stand hyelt.Und seyne Statuere machte jedem deutelyg, dass er sycherlych eyner der ueberragendsten Kryeger des Volkes der Zwerke war!Und seynen Bart hatte er geflochten, gezwyrbelt und gefettet, daryn kleyne Goldstueckylchen eyngebunden, yhn mit Sylberdraht in Form gewyckelet. Ein Meysterzwerk, ganz und gar, mit Haut und Haar und Waffen und Ruestung!Und so kummet der Ork zu yhm und sah den Zwerk …Und so kimmet der Zwerk …Und so lyef der Ork zu dem Tswek Zwerk und fragte yhn, wo denn wie wye denne der Weg«

entnommen aus den »Aufzeychnungen über die Voelker des Geborgenen Landes, deren Eygenheyten und Sonderbarkeyten«, Großarchiv zu Viransiénsis, verfasst von Tanduweyt, gesammelt von Magister Folkloricum M.A. Het im Jahr des 4300sten Sonnenzyklus, unfertiges Fragment, zerstört bei einem Brand 

»Um ehrlich zu sein, mir gefällt der Witz überhaupt nicht. Bis heute habe ich nicht verstanden, weswegen alle Welt erfahren möchte, wie er endet. Zeitverschwendung, durch und durch! Und doch lachen alle. Das begreife, wer möchte.«

Hargorin Todbringer, Anführer der Schwarzen Schwadron 

»Wenn ich noch einmal den Witz mit dem Ork und dem Zwerg erzählen muss, noch EIN EINZIGES MAL, werde ich rettungslos in Kampfwahn verfallen und nicht eher rasten, bis alle in ihrem Blut liegen, welche diese alte Zote hören wollen. Das schwöre ich bei meinem Krähenschnabel! Und wenn es gar ein zwanzigköpfiger Drache oder ein sprechendes, tanzendes Einhorn oder eine leuchtende Fee mit eintausend freien Wünschen für mich sein sollte, die mich darum bitten: ES IST MIR GLEICH! Ich mache jedes, jede und jeden nieder! Keine Witze mehr, verstanden?«

Boïndil »Ingrimmsch« Zweiklinge aus dem Clan der Axtschwinger vom Stamm der Zweiten, beim Bankett zu Ehren der Komödianten und Rodarionachfahren in Mifurdania

DRAMATIS PERSONAE

Die Zwergenstämme

DIE ERSTEN

Xamtor Trotzstirn aus dem Clan der Trotzstirne vom Stamm des Ersten, Borengar, auch nur »die Ersten« genannt, König

DIE ZWEITEN

Boïndil Zweiklinge, auch Ingrimmsch gerufen, aus dem Clan der Axtschwinger, Krieger

Boëndalin Machtschlag, sein ältester Sohn

DIE DRITTEN

Tungdil Goldhand, Krieger und Gelehrter

Goda Feuermut, Kriegerin

Sanda und Bandaál, zwei ihrer Kinder

Hargorin Todbringer, Anführer der Schwarzen Schwadron

Jarkalín Schwarzfaust, Reiter der Schwarzen Schwadron

Rognor Sterbenshieb, König der Dritten

DIE VIERTEN

Frandibar Juwelengreif aus dem Clan der Goldschläger, König der Vierten

Goïmslîn Schnellhand aus dem Clan der Saphirfinder vom Stamme Goïmdil des Vierten

DIE FÜNFTEN

Balyndis Eisenfinger aus dem Clan der Eisenfinger, Königin

Balyndar Eisenfinger aus dem Clan der Eisenfinger, ihr Sohn

DIE FREIEN ZWERGE

Gordislan Sternenfaust, König von Goldhort

Barskalín, Sytràp (Kommandant) der Zhadár (alb. für Die Unsichtbaren)

Die Menschen

Der Unerreichbare Rodario, Mime

Rodario der Siebte, Mime

Mallenia, Widerstandskämpferin

Königin Wey XI., entthronte Herrscherin über das Königreich Weyurn

Prinzessin Coïra Weytana, ihre Tochter

Graf Loytan Loytansberg, weyurnischer Adliger

Herzog Amtrin, Vasall der Albae in Gauragar

Enslin Rotha, Bürgermeister von Hangenturm

Tilda Küferstein, Ratsfrau von Hangenturm

Tilman Berbusch, Aufständischer

Hindrek, Wildhüter

Cobert, sein ältester Sohn

Ortram, sein jüngster Sohn

Qelda, seine Frau

Graf Pawald, Vasall der Albae

Wislaf, Gerobert, Vlatin und Diderich, Pawalds Leute

Frederik, Fleischer in Hochheiligstadt

Zedrik, Torwache in Hochheiligstadt

Uwo, Fischhändler in Hochheiligstadt

Arnfried, Schmied in Hochheiligstadt

Girín, Präses im Auftrag von Lohasbrand

Rilde, Großbäuerin

Xara, ihre Tochter

Mila, Bäuerin

Grolf und Lirf, Knechte

Lombrecht, Altbauer

Franek, Famulus

Droman, Vot und Bumina, zwei Famuli und eine Famula

Die anderen

Aiphatòn, Kaiser der Albae

Sisaroth, Tirîgon und Firûsha, Albae-Drillinge, auch die Dsôn Aklán genannt, die Götter von Dsôn (Bhará)

Ùtsintas, Alb in Dsôn Bhará

Wielgar, Lohasbrander

Pashbar, Ork-Wache

Yagur, Ubari-Anführer in Übeldamm

Pfalgur, Ubari-Anführer in Übeldamm

Fanaríl und Alysante, Elben

Ilahín, Elb Fiëa, Elbin und seine Gemahlin

PROLOG

Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht,6491. Sonnenzyklus, Winter

Der Geruch von Knochenstaub, eiskaltem Stein und feuchtem Frost lag in der Luft. Das Wesen mit den langen, dünnen Armen trat vorsichtig aus dem Schatten des Felsvorsprungs und blinzelte. Zehn Schritte vor ihm erhob sich ein Flimmern und machte die Umgebung jenseits davon undeutlich. Wie immer.

Das Wesen, das keinen Namen trug, leckte sich mit seiner dünnen grünen Zunge über die hundeartige Schnauze, sodass nadelspitze Zähne zum Vorschein kamen. Dann fuhr es mit zweien seiner insgesamt sechzehn Finger unter die von Schmutz überzogene Rüstung und kratzte sich gähnend über das kurze, dunkle Fell. Es zerrte ein wenig an seiner Rüstung, die im Schritt unangenehm auf sein Gemächt drückte.

Erleichtert atmete er auf und gähnte ein weiteres Mal.

Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang musste er auf Befehl des Stärksten Wacht halten und hatte sofort Meldung zu machen, wenn die Luft nicht mehr zitterte und vibrierte. Er mochte seine Aufgabe nicht, weil sie langweilig und undankbar war.

Nach einer Weile bückte er sich, hob einen gelben Käfer vom Boden auf, der unter einen halb verrotteten Oberschenkelknochen kriechen wollte, und steckte ihn ins Maul. Kauend dachte er einmal mehr, dass niemand unter den Hunderten seinesgleichen sich daran entsann, wann die Luft überhaupt nicht geflimmert hatte.

Knurrend trat er gegen die schwarze Felswand, schlenderte vorwärts bis zum Rand; in der Rechten hielt er den Griff eines überlangen Schwertes, das achtlos hinter ihm herschleifte. Das von einer rostbraunen Schicht überzogene Metall schabte über den Stein, die Schneide bekam weitere Scharten.

Er setzte sich neben dem Flimmern auf den Boden, gähnte wieder und warf ein Steinchen. Zischelnd flammte die Luft auf, wurde für einen winzigen Augenblick milchig wie trübes Wasser und ließ das Geschoss nicht weiterfliegen. Das Steinchen prallte ab und landete vor seinen Stiefelspitzen. Er seufzte; dies war ein Ritual, wie es – seit er denken konnte – stets gleich vonstattenging. Weshalb er Steine schleuderte, lag auf der Hand: Sie vergingen nicht sofort, wenn sie auf das Flimmern trafen.

Es hatte Zeiten gegeben, da war die unsichtbare Barriere nichts anderes gewesen als eine unzerstörbare Wand. Es war schmerzhaft gewesen, gegen sie anzurennen, aber mehr hatte sich nicht ereignet. Dann plötzlich hatte sie alles vernichtet, was mit ihr in Berührung kam: Mit einem Knistern wurde derjenige, der sie anfasste, mit Feuer überzogen und zu hellem Pulver verbrannt, das der Wind davontrug. Aber seit ungefähr sieben Weltaltern dauerte es sehr lange, bis man durchs Anfassen starb. Wer schnell war und sich rechtzeitig vom Flimmern lösen konnte, kam mit einer Verbrennung davon.

Auf der anderen Seite erkannte er eine seltsame, aufrecht stehende Konstruktion aus eisernen Ringen, in deren Mittelpunkt es schimmerte, wenn die Sonne hoch am Himmel stand. Von Zeit zu Zeit liefen kleine, dickliche Zweibeiner zu diesem Konstrukt, gingen drumherum und verschwanden wieder. Das hatte er ebenso mit eigenen Augen gesehen wie die mächtigen, hohen Mauern mit den eckigen Türmen, über denen bunte Fahnen wehten, doch das Flimmern verzerrte die Umrisse. Er wusste, dass sie weiter entfernt standen.

Wenn er sich sehr anstrengte, konnte er Zweibeiner sehen, die auf den Befestigungen hin und her gingen. Sie sahen anders aus als diejenigen, welche zum Konstrukt marschierten und es in Augenschein nahmen. Auch deren Aufgabe war gewiss sehr langweilig – bis die Luft irgendwann nicht mehr solche Wellen schlug wie an einem sehr heißen Sommertag.

Darauf wartete der Stärkste ebenso wie zahllose andere, Große und Kleine, Zweibeinige und Vielbeinige, Kreischgeister, Seelenreißer – und der Kordrion! Vor ihm hatte sogar der Stärkste Angst, und deswegen gehorchten alle dem fliegenden Schrecken.

Wenn das Flimmern endete, würde sich ihnen ein neues Reich öffnen, hatte ihnen der Stärkste versprochen, mit frischem, leckerem Fleisch und Schätzen für alle. Das hatte schon der Stärkste vor ihm versprochen, und der Stärkste davor, und wiederum der Stärkste vor dem Stärksten.

Er glaubte den Worten schon lange nicht mehr, aber er wagte nicht, sich zu widersetzen. Man starb, wenn man sich widersetzte. Ein Leben war nichts, der Stärkste befehligte Tausende namenloser Fußsoldaten.

Wieder hob er das Steinchen auf und schleuderte es lustlos gegen das Flimmern. Der braune, handtellergroße Käfer, der sich aus seinem Felsversteck gewagt hatte, war wesentlich interessanter.

Mit einer schnellen Bewegung schnappte er das Insekt, riss ihm die giftigen Mandibeln heraus und sog die nach fauligen Wanko-Beeren schmeckenden Innereien heraus. Er schmatzte genüsslich und warf die leere Hülle weg, dann bückte er sich, um nach dem Stein zu greifen.

Die langen Finger tasten auf dem Boden herum, ohne ihn zu finden.

Jetzt hob er neugierig den Kopf und – sah den Stein im Sonnenschein liegen.

Mit einem ungläubigen Schnauben erhob er sich und starrte hinaus: Das Flimmern war verschwunden!

Er wagte es nicht, sich zu bewegen. Es kribbelte ihm im ganzen Leib. Seine Nasenlöcher blähten sich, und er schnupperte. Er roch das Land jenseits des Flimmerns nun zum allerersten Mal ohne einen störenden Filter: Fleisch, Eisen, Staub, Stein – die Düfte von unterschiedlichen Kreaturen drangen in seine Nase und ließen die Aufregung weiter steigen. Freiheit! Beute! Fleisch! Und sagenhafte Schätze!

Er sah hinter sich, wo der Eingang zum unterirdischen Reich des Stärksten und des Kordrion lag. Nun müsste sein Weg schnellstens zu ihm führen, um Bericht zu erstatten, doch … Er wandte den schmalen Kopf wieder nach vorn, und seine langen, spitzen Ohren richteten sich auf. Warum nicht einen Blick wagen, bevor andere kamen? Wie mochte die Umgebung ohne die Verzerrungen aussehen? Konnte er vielleicht Beute für sich allein sichern?

Und er musste alles genau sehen, sagte er sich, um seine Schilderung noch glaubhafter zu machen. Immerhin stand zu befürchten, durch vage Beschreibungen für einen Lügner gehalten zu werden. Und Lügnern geschah das Gleiche wie denen, die sich widersetzten. Das war ein sehr guter Grund, nicht auf der Stelle in die Schlucht zum Stärksten zu rennen, einmal ganz abgesehen von der Beute.

Behutsam machte das Wesen einen Schritt nach dem anderen, bis es den Felsschatten verlassen hatte und im Schein der Sonne stand.

Seine Hoffnungen auf einen heimlichen Raubzug starben. Alleine würde er die gewaltigen Befestigungen niemals überwinden, dazu benötigte er die Hilfe des Stärksten und des Kordrion. Ein harter Brocken … Ohne die Verzerrungen sahen die eckigen Türme noch uneinnehmbarer aus und stemmten sich seinen Wünschen nach Reichtum und Fleisch entgegen; von der Steinmetzkunst, die er sah, konnten er und seinesgleichen nur träumen.

Er war jedoch nicht unbemerkt geblieben: Plötzlich hörte er das Klirren unzähliger Waffen, die aufgebrachten Rufe der Kreaturen auf den Mauern und lautes, unheilvolles Dröhnen von Hörnern.

Sofort bekam er Angst und duckte sich.

Rasch prägte er sich alles ein, bis hin zu den Farben und Mustern der Banner, wandte sich um und rannte auf den Felsen zu – da bekam er einen Schlag gegen den Rücken und wurde auf den Boden geworfen; das Schwert glitt ihm aus den Fingern.

Das Atmen fiel ihm schwer, er spuckte aus und sah sein eigenes grünes Blut aus dem Mund tropfen! Dann erst rannten die Schmerzen durch seinen Körper, deren Ursprung in seinem Kreuz steckte.

Er jammerte und heulte laut auf, versuchte, hinter sich zu greifen, und spürte einen dünnen Holzschaft zwischen den Fingern.

Etwas zischte von rechts heran, bohrte sich durch seine Schnauze und zerschmetterte den langen, dünnen Oberkiefer, was seine Qualen weiter steigerte. Sein Jaulen wurde lauter und endete unvermittelt, als gleich ein Dutzend Pfeile aus den verschiedensten Richtungen angeflogen kam und ihn spickte.

Ein Arm war durch die Geschosse mit der Flanke verbunden worden, und dennoch kroch er röchelnd weiter. Der Stärkste musste den Bericht erhalten, um seinen Tod zu rächen. Der Sturm sollte losbrechen!

Als er in den Schatten gelangte und die Stelle passierte, wo das Flimmern gewöhnlich begann, fühlte er Erleichterung. Nun war er sich sicher, Meldung machen zu können.

Plötzlich veränderte sich der Geruch der Luft.

Trotz des ganzen Blutes und der zerschmetterten Nase roch er es deutlich: Es war wie kurz vor einem Blitzschlag, unsichtbare Energien sammelten sich knisternd um ihn herum.

Er kreischte vor Furcht auf, die Hand krallte sich in den Dreck aus Staub und zerstampften Knochen, um ihn vorwärtszuziehen …

Da flammte die magische Sperre wieder auf und teilte ihn auf Höhe der Hüfte entzwei.

Ein letztes, gellendes Kreischen entstieg seiner Kehle, dann starb er; die Beine zuckten noch eine Weile, ehe auch sie still lagen.

»Vraccas sei Lob und Dank! Der Schild ist wieder da!« Boïndil Zweiklinge, von seinen Freunden und Feinden wegen seiner Raserei, die ihn im Kampf befiel, auch Ingrimmsch genannt, hatte das Ende der Kreatur genau beobachtet. Er legte das Fernrohr auf die steinerne Brüstung und betrachtete den flackernden Schirm aus magischer Energie, der um die Schwarze Schlucht lag. »Das Artefakt scheint bald am Ende seiner Kraft zu sein.« Fragend sah er zu Goda. »Kannst du mir mehr sagen?«

Er und seine geliebte Gefährtin standen auf dem Nordturm der Festung Übeldamm, die sich seit zweihunderteinundzwanzig Zyklen rund um diesen Ort erhob.

Erbaut von Zwergen, Untergründigen, Ubariu und Menschen, umschlossen die im Viereck angeordneten Mauern die Schwarze Schlucht. Dreißig Schritt erhoben sie sich in die Höhe, und an ihrer dicksten Stelle hatten sie eine Stärke von fünfzehn Schritt. Die Bauweise war schlicht, doch von unübertroffener Meisterhaftigkeit. Das Zusammenspiel der verschiedenen Völker hatte Besonderes geschaffen, auch wenn der zwergische Anteil überwog. Ingrimmsch war stolz darauf, und die Runen an den Türmen lobten Vraccas, Ubar und Palandiell.

Auf den breiten Wehrgängen, den Türmen und in den Stockwerken unter den überdachten Plattformen standen Katapulte, die bei Bedarf Steine, Pfeile und Speere schleudern konnten; in den Kammern lagerten genügend Geschosse, um es mit hundertfacher Überzahl aufzunehmen. Darüber hinaus hielt sich eine Besatzung von zweitausend Kriegern in Übeldamm auf, um jederzeit zu den Waffen greifen und finstere Heere zurückschlagen zu können.

Doch seit zweihunderteinundzwanzig Zyklen war dies nicht notwendig gewesen.

Die Kreatur, die ausblutend auf der Erde lag, war das erste Wesen, welches sein Gefängnis verlassen hatte: Ein finsterer Einschnitt von einer halben Meile Länge und einhundert Schritt Breite zerstörte die Schönheit der umgebenden Landschaft und markierte die Stelle, aus der das Böse quellen würde, wenn die magische Barriere und die Festung es zuließen.

Goda blickte den Krieger an – ein stattlicher Zwerg aus dem Stamm der Zweiten und von derartiger Kampferfahrung sowie solchem Ruhm, dass er zum Befehlshaber der Festungstruppen erhoben worden war. Sie legte den Kopf schief; dunkelblonde Haare spitzten unter ihrer Kappe hervor.

»Hast du Angst davor, dass der Schild zusammenbricht, oder hoffst du darauf?« Im Gegensatz zu Ingrimmsch, der ein mit Eisenplatten verstärktes Kettenhemd angelegt hatte, trug sie ein langes hellgraues Kleid, das außer dem mit Goldfäden bestickten Gürtel schlicht und schmucklos war. Goda hatte nicht einmal einen Dolch im Gürtel stecken und bewies unumwunden, dass sie dem herkömmlichen Kampf abgeschworen hatte. Ihre Waffen waren magischer Natur.

»Ho, ich habe keine Angst vor dem, was in der Schwarzen Schlucht lauert! Viel schlimmer als das, was im Geborgenen Land umgeht, kann es nicht sein«, grummelte er gespielt beleidigt und strich sich durch den schwarzen Bart, in dem dicke, grausilberne Haare aufschimmerten und von seinem fortgeschrittenen Alter kündeten. Im Grunde war es das beste Alter. Ingrimmsch schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Und die Hoffnung habe ich niemals aufgegeben, seit er auf die andere Seite gegangen ist.« Er wandte den Kopf nach vorn und blickte entschlossen auf den Eingang in die Schwarze Schlucht, die hinter dem Schild zu sehen war. »Deswegen harre ich hier aus. Bei Vraccas, sobald ich ihn hinter dem Schild auch nur erahnen kann, will ich ihm zu Hilfe eilen! Mit allem, was ich aufbieten kann.« Er schlug mit beiden Fäusten auf die Mauerkrone.

Goda sah hinüber zum Artefakt, das eine undurchdringbare Sphäre um die Schlucht wob. Es erhob sich vor dem Eingang zur Schwarzen Schlucht und bestand aus vier aufrecht stehenden, ineinander verschlungenen Eisenringen, die andeutungsweise eine Kugel formten, deren Durchmesser vielleicht zwanzig Schritt betrug. Runen, Zeichen, Kerben und Punkte befanden sich auf den metallenen Kreisen; unzählige Querstreben führten in den Mittelpunkt, wo sich eine mit Symbolen verzierte Halterung befand. Und genau dort saß die Quelle seiner Macht: Die Kraft bezog es von einem Diamanten, in dem enorme Mengen an magischer Energie gespeichert waren.

Doch der Stein bekam mehr und mehr Risse, mit jedem Umlauf einen. Das dabei entstehende laute Knistern hallte von den Mauern wider. Inzwischen wusste jeder Soldat davon.

»Ich kann dir nicht sagen, wie viele Risse er noch verkraftet«, meinte Goda leise, und ihre Brauen zogen sich zusammen. »Es könnte jeden Augenblick geschehen oder aber noch Zyklen halten.«

Ingrimmsch seufzte und nickte den Wachen zu, die an ihnen vorbeigingen. »Was meinst du damit?«, brummte er und fuhr sich mit den Händen über die ausrasierten Schädelseiten; anschließend richtete er seinen dunklen Zopf, der von ebenso vielen silbernen Strähnen durchzogen war wie der Bart und seinen Rücken hinab bis zum Gürtel hing. »Geht es nicht deutlicher?«

»Das, was ich immer meine, wenn du mich danach fragst, mein Gemahl: Ich weiß es nicht.« Goda verzieh ihm seinen unfreundlichen Ton, da sie wusste, dass er der Sorge entsprang. Über zweihundertfünfzig Zyklen Sorge. »Vielleicht hätte dir Lot-Ionan eine Antwort geben können.«

Ingrimmsch stieß ein kurzes, hartes und freudloses Lachen aus. »Ich weiß, was er mir heute geben würde, wenn wir uns träfen. Vermutlich einen vernichtenden Zauberspruch zwischen die Augen.« Er nahm den Krähenschnabel, den einst sein Zwillingsbruder Boëndal Pinnhand im Kampf geführt hatte, schulterte ihn und schritt den Wehrgang entlang. Boëndal zu Ehren nutzte er die langstielige Waffe, an deren Ende auf der einen Seite ein schwerer flacher Kopf und auf der anderen ein unterarmlanger gekrümmter Sporn saßen. Es gab keine Rüstung, die dem Krähenschnabel in der Hand eines Zwerges standhielt.

Goda folgte ihm. Es war Zeit für den Rundgang.

»Hättest du gedacht, dass wir eine solch lange Zeit im Jenseitigen Land verbringen müssen?«, fragte er sie nachdenklich.

»Ebenso wenig wie ich gedacht hätte, dass sich die Dinge im Geborgenen Land derart wandeln«, gab sie zurück. Goda wunderte sich über die nachdenkliche Stimmung ihres Gefährten, mit dem sie vor vielen, vielen Zyklen den Ehernen Bund eingegangen war.

Ihrer Liebe waren sieben Kinder entsprungen, zwei Mädchen und fünf Söhne. Das Artefakt hatte sich nicht daran gestört, dass seine Hüterin keine Jungfräulichkeit mehr besaß, solange eine Seelenreinheit bestand. Und Goda bewahrte sich diese Unschuld. Nichts Böses hatte Einzug in ihr Denken gehalten, sie war frei von Heimtücke, List und Machtgier.

Schon allein, dass sie sich von Lot-Ionan abgewandt hatte und ihm nicht wie einige Verblendete gefolgt war, machte dies überdeutlich. Doch ihre Entscheidung hatte ihr einen mächtigen Feind beschert. »Denkst du nicht, es wäre an der Zeit, dass du zurückgehst und ihnen beistehst? Du weißt, dass sie auf dich warten. Auf den letzten großen Helden der Zwergenstämme aus den glorreichen Zyklen.«

»Und dich allein lassen, wo das Artefakt zerspringen kann, und den Befehl über die Festung aufgeben?« Ingrimmsch schüttelte energisch den Kopf. »Niemals! Wenn sich die Ungeheuer und Scheusale aus der Schwarzen Schlucht ergießen, muss ich hier sein, um ihnen zusammen mit dir, meinen Kindern und Kriegern Einhalt zu gebieten.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Würde dieses Übel auch noch ins Geborgene Land schwappen, gäbe es keinerlei Hoffnung mehr. Für niemanden, ganz gleich, welchem Volk er angehört.«

»Warum verbietest du Boëndalin, zu unserem Volk zu gehen? An deiner Stelle«, drängte sie sanft. »Es wäre wenigstens ein Signal an die Kinder des Schmieds …«

»Boëndalin ist ein zu guter Krieger«, unterbrach er sie. »Ich brauche ihn als Ausbilder für die Truppen.« Ingrimmschs Blick wurde hart. »Keiner meiner Söhne und Töchter wird mich verlassen, es sei denn, wir haben die Schwarze Schlucht für alle Zeiten zugeschüttet und mit geschmolzenem Stahl aufgefüllt.«

Goda seufzte. »Heute ist keiner deiner besten Umläufe, Ingrimmsch.«

Er blieb stehen, stellte den Krähenschnabel auf den Boden und fasste ihre Hände. »Verzeih mir, Gemahlin. Aber zu sehen, wie der Schild zusammenbricht und wie lange er benötigt hat, um sich neu zu errichten, wühlt mich auf. Dann neige ich dazu, schnell ungerecht zu werden.« Er lächelte unsicher und bat mit Blicken um Entschuldigung, die sie ihm mit einem Lächeln gewährte.

Sie marschierten zum Turm und nahmen den Fahrstuhl nach unten, der über Gegengewichte und Seilwinden bedient wurde.

Am Tor der Festung wurden sie bereits von einhundert schwer gerüsteten Ubariu-Kriegern erwartet.

Ingrimmsch musterte die Gesichter, die ihm trotz der vielen Zyklen immer noch fremd waren. Tiefe Freundschaften mit einem Volk zu schließen, das den Orks täuschend ähnlich sah und sie darüber hinaus noch im Wuchs überragte, behagte ihm nicht.

Ihre Augen schimmerten hellrot wie kleine Sonnen. Im Gegensatz zu Tions Kreaturen pflegten sie sich und unterschieden sich auch von ihrem Wesen her, weil sie sich von dem Bösen und der wahllosen Grausamkeit gegenüber anderen Wesen abgewandt hatten – zumindest behaupteten das die Untergründigen, die Zwerge des Jenseitigen Landes …

Und auch wenn es niemals einen Grund zum Zweifeln gegeben hatte, so vermochte Ingrimmsch es nicht, über seinen Schatten zu springen und sie als gleichberechtigte Freunde anzusehen. Im Gegensatz zu seiner Gemahlin und den Kindern blieben sie lediglich Verbündete.

Goda gab ihm einen sanften Stoß, und er riss sich von seinen Gedanken los. Er wusste, dass seine Vorbehalte unrecht waren, doch dagegen tun konnte er nichts. Vraccas hatte allen Zwergen des Geborgenen Landes den Hass auf Orks und andere Kreaturen Tions eingemeißelt. Die Ubariu hatten einfach das Pech, auszusehen wie das Böse – und dennoch führte an ihnen kein Weg vorbei, wenn es um die Verteidigung der Schwarzen Schlucht ging.

Ingrimmsch gab den Torwachen ein Zeichen.

Rufe hallten, kräftige Arme bewegten Ketten und Seile von Flaschenzügen und brachten die schweren Zahnräder in Schwung, die den Öffnungsmechanismus bildeten. Mit einem eisernen Ächzen schob sich das massive Tor von elf Schritt Höhe und sieben Schritt Breite auf und schuf eine Lücke, durch welche die Kolonne hinaus und auf das Artefakt zumarschierte.

»Wir nehmen uns heute die Ränder entlang des Schirmes vor«, sagte Ingrimmsch zu dem Ubari unmittelbar neben sich, der auf den Namen Pfalgur hörte. »Ich traue den Biestern zu, dass sie irgendwann einen Gang gegraben haben, der sie an dem Schild vorbeiführt. Du führst die eine Hälfte, ich die andere. Ich beginne am Artefakt, du kannst dich auf den Weg machen.«

»Verstanden, General«, sagte der Ubari mit tiefer Stimme und gab den Befehl weiter.

Sie liefen durch die kahle Senke, in deren Mittelpunkt sich die Schwarze Schlucht befand. Die Ränder waren glatt und schwarz wie gefärbtes Glas, steile Wege führten rechts und links aus ihr heraus und endeten vor der schützenden Sphäre.

Ingrimmsch wandte sich nach rechts zum Artefakt, der Ubari schwenkte mit seiner Truppe in die andere Richtung.

Während Goda jede Kleinigkeit des Konstrukts, um das die gleiche Hülle aus Energie lag wie um die Schlucht, und den Diamanten mithilfe eines Fernrohrs inspizierte, ging Ingrimmsch zum Leichnam des Scheusals. Auf seiner Seite lagen die hässlichen, dünnen Beine, denen er nicht zutraute, die schweren Stiefel an den Füßen anders als schlurfend zu bewegen; hinter dem Schirm erkannte er verschwommen den von Pfeilen durchbohrten Oberkörper. Grünliches Blut hatte Lachen und kleine Rinnsale gebildet.

»Mistvieh«, meinte er leise und trat gegen die linke Wade des Wesens. »Die Freiheit hat dir den Tod gebracht.« Ingrimmsch hob den Blick und starrte in die Schlucht. »Warst du allein, als du die Schwäche des Schirms erkanntest, oder nicht?«, sprach er leise, als könnte die Kreatur ihn verstehen.

»Boïndil!«, hörte er Godas Ruf, und in ihrer Stimme lag schlecht verborgene Aufregung.

Etwas mit dem Diamanten schien nicht in Ordnung zu sein! Er wollte sich zu ihr umdrehen – da dachte er, in der Finsternis eine Bewegung ausgemacht zu haben.

Ingrimmsch verharrte und starrte ohne ein Blinzeln in die Schwärze.

Die Kraft der Sphäre brachte seine kurzen Barthaare über der Oberlippe dazu, sich aufzurichten. Oder sollte es am Ende ein ungutes Gefühl sein, das ihn befiel?

»Boïndil, so komm doch!«, versuchte es seine Gefährtin erneut. »Ich muss dir was …«

Ingrimmsch hob den rechten Arm, um zu zeigen, dass er sie vernommen hatte, doch Ruhe wünschte. Seine braunen Augen zuckten hin und her, er suchte im Zwielicht nach schemenhaften Gestalten.

Wieder bemerkte er ein einzelnes Huschen, von einem Felsen zum nächsten, gleich darauf noch eins und dann wieder eines!

Es gab für ihn keinen Zweifel, dass sich weitere Monstren anschlichen. Fühlten sie den Verfall der Barriere? Waren sie mit ihren tierhaften Bestiensinnen ihnen gegenüber am Ende im Vorteil?

»Ich möchte …«, rief er über die Schulter und schwieg vor Überraschung: Hatte er eben tatsächlich einen Zwergenhelm gesehen?

»Verfluchte Verzerrungen!«, rief er und machte einen Schritt nach vorne. »Tungdil!«, brüllte Ingrimmsch erwartungsvoll und stand gefährlich dicht vor der Sphäre, sodass er ihr leises Rauschen vernahm, das mal heller und mal dunkler klang. »Vraccas, lass meine Augen sich nicht getäuscht haben«, betete er und hätte beinahe eine Hand gegen den Energieschirm gelegt; er schluckte, und niemals war ihm seine Kehle derart eng erschienen.

Da zuckte eine bleiche Klaue, so breit wie drei Burgtore, aus dem Schatten und drosch mit ganzer Kraft gegen die Sphäre, dass es einen dumpfen Schlag gab und der Boden erbebte.

Mit einem Fluch sprang Ingrimmsch rückwärts und schlug in einem Reflex aus der Bewegung mit dem Krähenschnabel zu. Der Stahl prallte gegen die Barriere, ohne etwas auszurichten. »Der Kordrion ist zurück!«, schrie er und bemerkte voller grimmiger Zufriedenheit, dass die Warnhörner auf den Wehrgängen die Besatzung unverzüglich zu den Katapulten riefen. Die vielen Übungen machten sich bezahlt.

Die bleiche Klaue krümmte sich, die langen Nägel fuhren an der Innenseite des Schirmes entlang und ließen hellgelbe Funken aufstieben. Gleich darauf zog sie sich zurück, und eine Woge aus weißem Feuer rollte heran, schwappte wassergleich gegen die Barriere und verteilte sich gleichmäßig nach allen Seiten.

Ingrimmsch wich geblendet bis zum Artefakt zurück, ohne sich umzuwenden. »Sie wird nicht mehr lange halten«, rief er Goda zu. »Die Bestien wissen es und sammeln sich!«

»Der Diamant!«, schrie sie zurück. »Er zerbricht!«

»Was? Nicht jetzt, Vraccas!« Endlich sah er wieder etwas: Hinter der Wand aus Energie standen die unterschiedlichsten Scheusale und schwangen die Waffen! »Oh, ihr widerlichen …«

Die meisten von ihnen glichen dem Wesen, das von der Barriere in der Mitte zerschnitten worden war; doch es gab zahlreiche andere Exemplare, wesentlich breiter, stärker und von einschüchterndem Äußeren, wie sie ein Albtraum nicht besser hätte schaffen können.

»Bei Vraccas«, stieß er aus und bedauerte sehr, sich getäuscht zu haben. Sein Freund war nicht erschienen. Er gab den Ubariu knappe Befehle, sich vor dem Artefakt zu verteilen, um Goda zu beschützen. Die Krieger bildeten eine Mauer aus Körpern, Eisen und Schilden, die Lanzen reckten sich wie starre, wehrhafte Tentakel nach vorn. Ingrimmsch wandte sich zu ihr um und sah, dass sie eine Hand gegen den schimmernden Schild gelegt hatte. »Was ist geschehen?«, rief er ihr zu.

Sie war bleich wie der Tod. »Es … ist ein Stückchen aus … dem Diamanten gebrochen«, wiederholte sie stammelnd. »Ich kann es nicht aufhalten …«

Ein lautes Knistern ertönte, das an berstendes Eis erinnerte, und alle sahen nach dem Edelstein. Er hatte sich schlagartig dunkel eingefärbt; ein deutlich sichtbarer Riss ging mitten hindurch, während die Barriere grell surrte und flackerte. An den Rändern des Diamanten löste sich Schleiffläche um Schleiffläche und fiel zu Boden. Es ging zu Ende.

»Zurück!«, ordnete Ingrimmsch an. »Wir müssen in die Festung! Hier können wir nicht bestehen.« Er nahm Goda bei der Hand und rannte los. Schon seit vielen Zyklen konnte er zwischen Mut und Wahnsinn unterscheiden, wie er ihn früher in den Kämpfen an den Tag gelegt hatte. Auch seine Söhne hatten diese harte Lektion lernen müssen. Kein Erbe, auf das er stolz war.

Die Ubariu folgten ihnen und blieben mit ihnen gleichauf, auch wenn es den großen Kriegern ein Leichtes gewesen wäre, die Zwerge um Längen hinter sich zu lassen. Goda, die sich nicht vom Artefakt abzuwenden vermochte, wurde von ihrem Gefährten vorwärtsgezerrt.

Mit einem gleißenden Lichtblitz und einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst der Diamant; die Detonation riss das Konstrukt mit brachialer Gewalt auseinander. Teile der aufrecht stehenden Eisenkreise wurden abgesprengt und flogen pfeifend etliche Schritte weit durch die Luft; dort, wo sie aufschlugen, bohrten sie sich tief in die Erde. Goda sah, dass die Enden rot glühten. Die Explosion musste mit ungeheurer Hitze einhergegangen sein.

Gleichzeitig – fiel die Barriere um die Schwarze Schlucht!

Die Maga nahm das Heer der Bestien deutlich wahr, es gab keine Kraft mehr, die sich ihnen unüberwindbar entgegenstemmte. Der Wind wehte ihr einen unglaublichen Gestank zu, eine Mischung aus Exkrementen, altem Blut und saurer Milch. Grauweiße Wolken aus Staub und Knochenmehl wurden aufgewirbelt und wirkten vor dem düsteren Gestein wie Nebel, aus dem die Gestalten traten.

Hinter dem Heer reckte sich der bleiche, drachenähnliche Schädel des Kordrion aus der Schlucht; seine Hörner und Dornen ragten in die Höhe. Die vier oberen grauen Augen musterten die Mauern der Festung, als versuche der Kordrion einzuschätzen, was sich ihm und seinen Dienern entgegenwerfen konnte. Die Blicke der zwei blauen Augen unterhalb der langen, knochigen Schnauze verfolgten die flüchtenden Ubariu und die Zwerge.

»Vraccas!«, entfuhr es Goda, die ihre magischen Kräfte sammelte, um sich zur Abwehr bereitzuhalten. Sie hatte in der ersten Reihe der kleineren Scheusale einen Helm entdeckt, wie er von den Kindern des Schmieds getragen wurde.

Dann trat ein Zwerg nach vorne, von Kopf bis Fuß in eine düstere Rüstung aus Tionium gehüllt; schimmernde Intarsien glommen eine nach der anderen auf. Die Kreaturen wichen ehrfürchtig vor ihm zurück.

In der rechten Hand hielt er eine Waffe, die sowohl im Geborgenen als auch im Jenseitigen Land Legende war: Sie war schwarz wie die schwärzesten Schatten und die Klinge etwas länger als der Arm eines Menschen. Auf der einen Seite war sie dicker und besaß lange, dünne Spitzen, die an einen Kamm erinnerten, auf der anderen verjüngte sie sich wie bei einem Schwert.

»Blutdürster«, raunte Goda und blieb stehen.

Notgedrungen hielt Ingrimmsch an und drehte sich um – und er erstarrte. Ihm fehlten die Worte.

Der Zwerg in der nachtfarbenen Rüstung legte die Linke an das Visier des Helmes und schob es nach oben. Ein bekanntes Gesicht mit einer goldenen Augenklappe kam darunter zum Vorschein, doch die Züge waren hart und unerbittlich geworden. Sein kaltes, grausames Lächeln versprach den Tod. Dann hob er die Waffe, schaute nach rechts und links; sofort erklang lautes Geschrei unter den Kreaturen.

»Vraccas, steh uns bei: Er ist zurück!«, wisperte Goda entsetzt. »Als der Feldherr des Bösen!«

In diesem Augenblick schmetterten grelle Hörner hohl und echohaft aus der Schlucht, und der Kordrion öffnete das Maul zu einem wütenden Schrei.

I

Das Jenseitige Land, die Schwarze Schlucht,6491. Sonnenzyklus, Winter

Ingrimmsch starrte auf den lange vermissten und sehnsüchtig erwarteten Freund, der nun an der Spitze eines Heeres voller Ausgeburten des Schreckens stand. Mit der schwarzen Rüstung am Leib, Blutdürster in der Hand und der eisigen Miene wirkte Tungdil auf ihn, als hätte es niemals einen besseren Platz für ihn gegeben. Er passte dorthin.

»Aber das kann nicht sein«, rief er fassungslos. »Das ist er nicht! Vraccas sei mein Zeuge: Das ist nicht mein Tungdil!« Hilflos sah er zu Goda. »Das ist er nicht«, wiederholte er, als müsse er sich selbst überreden. »Ein Trugbild, um uns zu täuschen und bange zu machen.« Aus seiner Verzweiflung wurde jähe Wut. Ingrimmsch hob den Krähenschnabel; der Wahnsinn griff nach langer Zeit wieder mit ungewohnter Stärke nach ihm, und er hatte nicht vor, dagegen anzukämpfen. »Ich werde gehen und es zerschlagen!«

Dieses Mal war es an Goda, ihn zu packen. »Nein, Boïndil!« Sie stellte sich mutig vor ihn, nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und schaute in die braunen Augen, in denen es blitzte und irre funkelte. »Höre mir zu, Gemahl: Es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Wir müssen in die Festung. Im Freien …«

Ihre Worte wurden vom Rumpeln und Knarren der Katapulte verschlungen. Steine, Pfeile und Speere schossen von den Wehrgängen und den Turmplattformen, flogen über die Ubariu und Zwerge hinweg. Sie verdunkelten die Wintersonne und warfen ihre Schatten kurz auf das Häuflein Verteidiger vor dem Tor, ehe sie in der Schwarzen Schlucht niedergingen.

Ein metallisches Prasseln brandete auf, Eisenspitzen durchschlugen Schilde, Helme und Rüstungen; darunter mischte sich das Aufkreischen der Getroffenen, das von dem Scheppern der in die Linie der Bestien einschlagenden Geschosse beinahe überlagert wurde. Alles zusammen ergab den martialischen Klang einer Schlacht, und bald lag der Geruch von Blut in der Luft.

Goda wusste: Dies war lediglich der Auftakt zu Schlimmerem. Bald würden auch die Stimmen der Verteidiger im Chor des Sterbens erklingen.

»Komm mit mir«, bat sie Ingrimmsch und küsste seine Stirn, während über sie hinweg unentwegt die Geschosse flogen. Rauchende Brandkugeln stiegen fauchend in die Höhe und zerbarsten an den aufragenden Steilhängen der Schwarzen Schlucht, brennende Flüssigkeiten ergossen sich über die Ungeheuer und den tobenden Kordrion.

Die Zwergin meinte zu spüren, wie Boïndils Anspannung wich, und sie ließ ihn los. Da stieß er sie zur Seite und spurtete mit einem lauten Brüllen und hoch erhobenem Krähenschnabel auf die Feinde zu.

Für Goda war es zu überraschend gekommen, sie fiel auf die Erde. »Nein!«, schrie sie ängstlich und versuchte vergebens, nach ihm zu greifen. Sie wandte sich um. »Yagur, ihm nach! Beschützt ihn!«, befahl sie dem Anführer der Ubariu, die sich ohne zu zögern an die Verfolgung ihres Generals machten, um ihm beizuspringen. Angesichts der Unzahl der Feinde keine leicht lösbare Aufgabe.

Goda aber erhob sich und sammelte die magischen Kräfte, um ihrem Gemahl aus der Entfernung beizustehen.

Ingrimmsch dachte nichts mehr.

Er sah seine Welt durch eine blutrote Maske, und der einzige Punkt in der Umgebung vor sich, den er deutlich erkannte, war das widerliche Trugbild seines besten Freundes Tungdil. Diese Schmähung durfte er nicht auf sich beruhen lassen. Du darfst nicht Tungdil sein! Nicht auf deren Seite!

Es rauschte in seinen Ohren, die Laute rund um ihn herum vernahm er nur gedämpft. Der Drang, die Illusion zu zerstören und sich danach gegen die übrigen Gegner zu werfen, um sie in Stücke zu schlagen, löschte seinen Verstand aus. Es war zu überwältigend für einen Krieger wie ihn, dessen Blut heißer in den Adern pulsierte als flüssiges Gestein in unterirdischen Bergkanälen. Und er wollte sich auch gar nicht beherrschen.

Rechts und links von ihm gingen zu kurz gezielte Speere und Pfeile nieder. Die Besatzung der Festung Übeldamm hielt sich an die Anweisungen ihres Befehlshabers, der irrwitzigerweise selbst gegen sämtliche seiner Erlasse verstieß: Er suchte den Kampf im offenen Feld, anstatt sich auf die sicheren Mauern zu verlassen und die anrennenden Bestien abzuschießen.

Ingrimmsch befand sich weniger als zehn Schritte von der gegnerischen Front entfernt, die sich noch immer nicht bewegt hatte und am Ausgang der Schlucht verharrte.

Der Nachschub der Scheusale stieg achtlos über die Gefallenen hinweg, lodernde Feuer wurden mit Sand und Knochenstaub zugescharrt. Sobald einer von ihnen fiel, trat eine neue Hässlichkeit aus der Schlucht, die einen unerschöpflichen Vorrat bereitzuhalten schien. Eine Brutstätte des Abscheulichen.

Was Ingrimmsch deutlich sah: Die Feinde hielten Abstand zum falschen Tungdil, als sei er von einer unsichtbaren Glocke umgeben, geschaffen aus Ehrfurcht und Angst. »Was immer du bist, ich vernichte dich!« Mit einem lauten, zornigen Schrei schwang er den Krähenschnabel hoch über den Kopf.

Die zwei blauen Augen an der Unterseite der Schnauze des Kordrions richteten sich auf ihn und danach auf den schwarz gerüsteten Tungdil, der sich soeben von Ingrimmsch abwandte und zu dem gigantischen Scheusal drehte; die Runen erstrahlten.

Das Wesen kreischte auf, und es klang … furchtsam?

Bevor Boïndil ihn erreichen konnte, sprang Tungdil nach vorne auf einen Leichnam, von da auf einen nächsten und nutzte den herausstehenden Schaft eines dicken Speeres als Sprungbrett, um mit einem Satz auf einen großen Katapultstein zu gelangen. Von da ging es auf einen weiteren und den nächsten über die Köpfe des Heeres hinweg wie über Trittstufen in einem Bach. Er war dem kurzen Hals des kauernden Kordrion nun ganz nahe, der zurückzuckte und grell zischte.

Ingrimmsch konnte seinen begonnenen Schlag nicht mehr aufhalten und ließ ihn kurzerhand gegen ein entgegeneilendes Scheusal krachen. Es erinnerte ihn an eine Kreuzung aus übergroßem Reptil und sehr fetter Schweineschnauze, der man die Ärmchen eines Gnoms verpasst hatte. Dennoch schwang es Schwert und Schild mit Leichtigkeit.

Die flache Seite des Krähenschnabels zerschmetterte den Schild mitsamt dem dünnen Arm, der ihn gehalten hatte, zerbrach die Rippen und quetschte den Brustkorb zusammen; tot fiel die Bestie in den Staub.

Die nun auf ihn eindringenden Feinde hielt Ingrimmsch mit kreiselnden Bewegungen seiner Waffe auf Abstand und verteilte Verderben und Verletzungen großzügig unter ihnen, während er den vermeintlichen Tungdil nicht aus den Augen ließ. Noch immer weigerte er sich anzunehmen, dass es doch der Kampfgefährte aus alten Zyklen war, aber die Zweifel bröckelten. Was, bei Vraccas, tut er?

Plötzlich waren Yagur und die Ubariu an seiner Seite und standen ihm gegen die Ausgeburten des Bösen bei, die trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit ausharrten und auf den Befehl warteten, als Masse loszustürmen und sich gegen die Mauern der Festung zu werfen. Nur Vereinzelte attackierten sie und bezahlten dies mit ihrem Leben; Pfeile prallten an den überschweren Schilden der Ubariu ab, andere blieben in der Luft stehen und fielen wirkungslos zu Boden. Godas Magie.

»Wir müssen zurück, General!«, verlangte Yagur und spaltete seinen Gegner mit einem wilden Hieb vom Schlüsselbein bis zum Nabel; er stach durch die niedersinkende Leiche und durchbohrte einen weiteren Feind dahinter. Die zweite Ubariu-Patrouille stieß zu ihnen und verstärkte ihre Kampfkraft.

Ingrimmsch sah zu dem schwarz gerüsteten Zwerg hinauf, der Blutdürster mit beiden Händen gegen den Körper des Kordrion führte. Die merkwürdig geformte Klinge durchschnitt die ungesunde weiß-gräuliche Haut, und ein breiter Blutstrom ergoss sich.

Der Kordrion brüllte auf. Ingrimmsch war von dem Klang vom Kopf bis zu den Füßen regelrecht gelähmt. Das Gefecht erlahmte unter der donnernden Stimme, und auch die Schwarze Schlucht erzitterte unter dem Dröhnen.

Alles stand still …

… bis auf den Zwerg in der Tioniumrüstung!

Er klappte das Visier seines Helmes schwungvoll herab und scherte sich nicht um das Blut, das über ihn schwappte.

Er ist es doch! Er hat nur auf den rechten Augenblick gewartet, um sich uns zu erkennen zu geben! Ingrimmsch fragte sich bei dem Anblick nicht länger, ob es sich um seinen vermissten Freund handelte. Er wollte zu gern glauben, dass er es war. Vom heldenhaften, selbstlosen Handeln her stand der Angriff auf den Kordrion dem Kämpfer unzähliger Schlachten um das Geborgene Land gut zu Gesicht. Und warum Tungdil eine ganz andere Rüstung trug, die ihn mehr und mehr an Djeru°n erinnerte, dafür würde es sicherlich eine gute Erklärung geben. Dafür und für alles andere auch. Nach dem Kampf.

Als Tungdil jedoch vom weißen Feuer des aufgebrachten Wesens eingehüllt wurde und in dem glühend grellen Ball verschwand, gab Boïndil ihn auf. Der Zwerg wusste noch zu genau, was die gleißenden Flammen anrichteten, auch wenn die Schlacht mehr als zweihundertfünfzig Zyklen zurücklag. Sollte die Rüstung aus Tionium widerstehen, so reichte die Hitze im Innern aus, um den Zwerg bei lebendigem Leib zu rösten. Der Anblick seines getöteten Zwillingsbruders stieg aus seinen Erinnerungen empor …

»Nein!«, schrie Ingrimmsch verzweifelt und hackte einem weiteren Gegner das lange, gebogene Ende des Krähenschnabels von oben durch Helm und Schädel. Es knackte laut, dann trat die Spitze unterhalb der Kehle aus dem Brustbein aus. Boïndil riss den Toten zu Boden, stellte den rechten Fuß auf dessen Schulter und zog das lange Ende durch das hässliche Gesicht. »Vraccas, lass es nicht zu, dass ich ihn finde und gleich wieder verliere!«

Der Feuerball verteilte sich und quoll zu einer Wolke auf, in der ein schwarzer Umriss erkennbar war. Tungdil schien die Attacke überstanden zu haben!

Der Zwerg in der schwarzen Rüstung war auf ein Knie gesunken. Blutdürster hielt er schützend mit der breiten Seite voraus vor den Kopf, der andere Arm lag auf dem Rücken. Als der Flammenstoß verebbte, federte er in die Höhe und stach nach den unteren Augen des überrumpelten Kordrion.

Tungdil erwischte eines, und ein Geräusch erklang, das dem eines berstenden Lederbeutels ähnelte, der prall gefüllt war.

Blaues Wasser ergoss sich daraus, dem gleich darauf schwarzrotes Blut folgte. Armdicke Adern und Sehnen baumelten herab, noch mehr Flüssigkeiten sprühten umher, und die Kreatur wand sich vor Schmerzen.

Ingrimmsch wollte nicht glauben, was er sah: Der Kordrion zog sich mit blutsprühenden Wunden in seiner Flanke und am Kopf in die Schlucht zurück!

Die titanischen Füße zermalmten Dutzende Scheusale und pressten sie in den Boden, Körperflüssigkeiten spritzten nach allen Seiten davon, dann war er verschwunden und hinterließ eine feuchte Spur auf den Felsen. Ein lautes Heulen erklang, und das Heer verschwand unter Geschrei in der Dunkelheit der aufragenden Felswände. Letzte Pfeil- und Speerschauer begleiteten ihren Abzug, dann schwiegen die Katapulte der Festung.

Ruhe senkte sich herab, in der das Säuseln des Windes, der sich an den Zinnen der Festung und den Hängen der Schwarzen Schlucht brach, überlaut erklang. Vorher hatte ihm niemand Beachtung geschenkt.

Ingrimmsch gab den Ubariu den Befehl, hinter ihn zu treten und den Weg nach unten in die Tiefe der Finsternis genau zu beobachten, während er selbst einen Schritt nach vorn machte und den blutverschmierten Krähenschnabel neben seinem Fuß abstellte.

Er sah zu dem gerüsteten Zwerg und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, nach unten zu kommen. »Zeig dich, damit ich sehe, ob ich einen alten Freund oder einen neuen Feind vor mir habe«, rief er. Er vermochte seine Erregung kaum mehr zu zügeln und schwankte zwischen Freude und sehr, sehr viel Misstrauen. Der Glaube allein, seinen Freund vor sich zu haben, reichte noch nicht aus.

Von den Wehrgängen erklangen Hornsignale, das große Tor wurde geöffnet, und eine Streitmacht von zweihundert Zwergenkriegern und Untergründigen eilte unter der Führung von Goda heran. Sie nahmen hinter Ingrimmsch und den Ubariu Aufstellung und warteten. Kampfbereit.

Der gewappnete Zwerg und mögliche Tungdil sprang mit einer Behändigkeit, die man ihm in dieser Rüstung nicht zugetraut hätte, auf seinen Trittsteinen entlang, bis er mit einem Satz auf die Erde zurückkehrte; weißer Staub wirbelte um seine Füße auf und stieg bis zu den von schwarzen Metallschienen geschützten Knien. Blutdürster hielt er in der Rechten und hatte ihn mit dem Zacken nach hinten locker gegen die Schulter gelehnt. Schritt für Schritt näherte er sich der Abordnung. Der Helm blieb geschlossen.

Boïndil schluckte, sein Hals war trocken. »Visier in die Höhe«, blaffte er, die Rechte spannte sich um den Griff des Krähenschnabels und drückte zu. Die Lederummantelung knirschte leise. »Ich möchte dein Gesicht im Tageslicht sehen.« Hinter ihm zogen die Zwerge ihre Waffen, als der Gerüstete seinen Weg fortsetzte, ohne sich um die Aufforderung zu scheren.

Ingrimmsch konnte die Rüstung nun ganz genau erkennen. Sie war übersät mit Zeichen, Runen und Symbolen, die er noch niemals in seinem Leben gesehen hatte.

Ein kurzer Blick zu Goda zeigte ihm, dass auch die Maga vor einem Rätsel stand. Sie schüttelte knapp den Kopf. Sie vermochte mit den silbrig schimmernden Intarsien und Gravuren ebenfalls nichts anzufangen.

Was Boïndil sehr irritierte: Es gab darauf keinen einzigen Hinweis auf Vraccas oder die Herkunft als Kind des Schmieds, auch wenn die Rüstung an sich ohne Frage aus der Hand eines Meisterschmieds stammte. Eines Zwergenmeisterschmieds.

Würde Tungdil das tun? Seine Art verleugnen? »Bleib stehen und zeige dich!«, befahl er resolut und hob seine Waffe. »Bist du Tungdil Goldhand, dann weise uns dein Gesicht. Wenn nicht«, Ingrimmsch ließ den Krähenschnabel kreisen, »zerschlage ich es dir im Helm!«

Jetzt blieb der Zwerg stehen. Breitbeinig und selbstbewusst präsentierte er sich der Übermacht. Dann ging der linke Arm nach oben, langsam und überlegen, keinesfalls hastig oder gar furchtsam. Stückchen für Stückchen wurde das dunkle Gitter in die Höhe geschoben, nicht einmal ein leises Schleifen war zu hören.

Boïndil schluckte aufgeregt, sein Herz schlug bis zum Hals. Vraccas, lass das Wunder geschehen sein!, bat er und schloss die Lider, um das Gebet noch inbrünstiger an seinen Gott senden zu können. Er wagte es fast nicht, die Augen zu öffnen und in das Gesicht seines Gegenübers zu blicken. Dass er Goda laut einatmen hörte, machte es nicht besser.

Schließlich traute er sich.

Er sah einen kurzen, braunen Bart um die sehr vertrauten Züge eines Zwerges, der deutlich gealtert war. Doch er hätte das Gesicht unter Tausenden erkannt.

Über dem linken Auge lag eine Klappe aus purem Gold, die mit Gravuren durchzogen war und von goldenen Fäden an Ort und Stelle gehalten wurde. Das verbliebene braune Auge des Freundes ruhte auf ihm. Ingrimmsch las darin in erster Linie Neugier, wenig Freude und … etwas, das er nicht einzuordnen vermochte.

Die Falten um Tungdils Mund und Nase waren, wie man durch den dichten Bart sah, tief geworden und verliehen ihm etwas Gebieterisches, um das ihn mancher Zwergenkönig beneiden würde. Auf der Stirn verlief eine gut verheilte, doch dunkle Narbe, die oberhalb des rechten Auges unter dem Helmrand verschwand.

Ingrimmsch seufzte tief. Rein äußerlich war es sein alter Freund, der nach all der Zeit vor ihm stand. Er machte einen Schritt auf ihn zu, doch vermeinte er, die Ablehnung geradezu spüren zu können, die von Tungdil ausging.

»Welche Beweise benötigst du, um dich davon zu überzeugen, dass ich Tungdil Goldhand bin?«, sprach er, löste den Kinnriemen und zog den Helm mit einer raschen Bewegung vom braunen Schopf. Die Narbe verlief von der Stirn weiter durch das schulterlange Haar bis zum Scheitelpunkt des Kopfes. Er warf den Helm auf den Boden und schüttelte einen Handschuh ab, danach zeigte er das goldene Mal, das er an seiner Hand trug. »Berühre es, wenn du möchtest, Boïndil. Es ist mein ewiges Andenken im Kampf um den Thron des Großkönigs, obwohl ich niemals wirklich Anspruch darauf gehabt hatte.« Auffordernd streckte er die Hand aus.

Ingrimmsch strich über die gelbgoldenen Sprenkel, dann sah er erkundend in Tungdils Antlitz.

Der Zwerg lächelte, und es war das alte Lächeln! Das wohlbekannte und so unendlich lange nicht mehr gesehene Lächeln!

»Vielleicht soll ich dir erzählen, wie du mich glauben machen wolltest, dass man Zwerginnen mit stinkendem Ziegenkäse einreibt, um sie von sich einzunehmen?« Er beugte sich langsam nach vorne und zwinkerte. »Ich habe es niemals angewandt. Hast du es bei Goda tun müssen?«

Die Maga lachte auf.

»Du bist es wirklich!«, brach es aus Ingrimmsch hervor. Er ließ den Griff des Krähenschnabels los, breitete die Arme aus und riss Tungdil an sich. »Bei Vraccas, du bist es!« Es wurde heiß in seinen Augen, und Tränen schossen ein. Gegen die Rührung vermochte er nichts zu unternehmen. Er drückte Tungdil an sich, und dabei fiel es ihm vor lauter Freude nicht auf, dass seine Umarmung nicht erwidert wurde.

Schließlich löste er sich von Tungdil und wandte sich den Zwerginnen und Zwergen zu, die ihn gespannt beobachtet und belauscht hatten. »Seht!«, rief er beschwingt und hob den Kopf, damit seine Stimme bis zu den Zinnen von Übeldamm schallte. »Seht, der Held ist zu uns zurückgekehrt! Das Geborgene Land wird bald schon vom Joch des mannigfachen Bösen befreit werden!« Er klopfte auf die schwarze Rüstung. »Ho, Lohasbrand, Lot-Ionan und ihr anderen Ausgeburten Tions: Jetzt gibt es keine Gnade und keinen Ausweg mehr für euch!«

Goda strahlte und wischte sich Tränen der Freude und Erleichterung aus den Augen, und die Zwergenkriegerinnen und Krieger hinter ihr starrten den Helden, den die meisten von ihnen nur aus Erzählungen kannten, unverwunden und in tiefer Ehrfurcht an. Eine Legendengestalt war zu ihnen zurückgekehrt und hatte darüber hinaus bei seinem Erscheinen das furchterregendste Wesen der Schwarzen Schlucht in die Flucht geschlagen.

Die Worte von Ingrimmsch waren bis zu der Besatzung der Festung gedrungen. Hörner und Trommeln erklangen und verkündeten die Nachricht. Es waren besondere Tonfolgen, eigens komponiert für den bedeutungsvollen Umlauf, an dem Tungdil zurückkehrte, damit es alle erfuhren.

»Ich kann mir sehr gut vorstellen«, sagte Ingrimmsch feixend, »dass einige glauben werden, die Fanfarenbläser hätten sich vertan und wollten eigentlich einen ganz anderen Befehl spielen.« Er schlug Tungdil auf die Schulter und bekam das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. »Lass uns in die Festung einziehen und die Schwarze Schlucht hinter uns lassen. Es ist Zeit, dich gebührend willkommen zu heißen. Und dann musst du uns berichten, was sich in all den Zyklen zugetragen hat! Auch wir haben viel zu erzählen.« Er bückte sich und reichte ihm Helm und Handschuh. Dabei sah er ihm fest ins Auge. »Du kannst nicht ermessen, wie glücklich ich bin, dich zu sehen, Gelehrter.«

Tungdil nahm seine Sachen an sich und wandte sich halb um, den Blick zur Schwarzen Schlucht gewandt. »Sie werden zurückkehren, Ingrimmsch. Der Kordrion war zu überrascht; sobald seine Wunden geheilt sind, wird er sich wieder aus seinem Versteck wagen. Zudem wird bald die Kunde vom Ende der Barriere umgehen. Die Scheusale werden ein Heer aufstellen, um auszubrechen …«

Boïndil hob den Arm und wies auf die hohen, dicken Mauern der Festung. »Deswegen steht sie hier und trägt den Namen Übeldamm«, unterbrach er seinen Freund. »Sie werden nicht entkommen, kein einziges hässliches Exemplar. Und den Kordrion pieksen wir hübsch so lange mit unseren besonders schweren Speeren, bis er aussieht wie ein Igel und tot umfällt.« Er sah stolz zu Goda. »Aus ihr ist eine echte Maga geworden. Sie ist unsere stärkste Waffe.«

Tungdil betrachtete die Zwergin, die einen Schritt nach vorn gemacht hatte, mit einem Blick, in dem Befremden lag. »Ihr werdet sie brauchen«, meinte er leise und sah wieder zur Felsspalte.

Ingrimmsch lächelte. »Wir sind mehr als zuversichtlich, Gelehrter. Da du jetzt unter uns bist, kann die Kinder des Schmieds nichts mehr schrecken.« Er setzte sich in Bewegung, und die Menge der Ubariu, Untergründigen und Zwergenkrieger teilte sich vor ihnen, um ein Spalier zu bilden.

Goda fixierte Tungdil, als er dicht an ihr vorüberging. Sie hatte den Eindruck, dass er sie gar nicht erkannte; das braune Auge war voller Gleichgültigkeit geblieben, als er sie angesehen hatte. »Er hat noch nicht einmal nach Sirka gefragt«, sagte sie leise zu sich selbst, und ihre Miene verdüsterte sich. Auch wenn ihr Gemahl im Überschwang der Gefühle leicht zu überzeugen gewesen war, in ihr erwachte ein Verdacht.

Goda folgte ihnen, und die Krieger sicherten ihren Rückzug hinter die gewaltigen Tore des Bollwerks. In den kommenden Umläufen würde sie den Zwerg, den die Mehrheit sicherlich für Tungdil Goldhand hielt, einer intensiven Prüfung unterziehen. Während sie unter lautem Hörnerklang und dem Jubel der Truppen einzogen, dachte sie sich bereits Fragen aus. Denn wenn das Böse ihnen einen falschen Helden gesandt hatte, trachtete es gewiss nach Schrecklichem.

Die schwarze Rückenpanzerung Tungdils mit den funkelnden Intarsien vor Augen, wurde sich die Zwergenmaga mit jedem Schritt, den sie tat, sicherer, dass es nicht der alte Freund war, den sie bei sich empfingen. Sie nahmen das Böse bei sich auf und feierten es sogar!

Sie sah nach rechts und links, die Türme hinauf, von wo die begeisterten Rufe auf sie herabstürzten, sodass eine Unterhaltung unmöglich wurde.

In diesem Augenblick wurde sie sich bewusst, dass sie vermutlich die Einzige in der Festung war, die sich Sorgen machte. Alle anderen befanden sich in einem Freudentaumel, den der lange erwartete Erlöser von allem Bösen unter ihnen ausgelöst hatte. Ohne dass er überhaupt ein Wort zu ihnen gesprochen hatte.

Goda seufzte; ihr Blick streifte zufällig Yagur, den Anführer der Ubariu – und sie entdeckte auf seinem Antlitz eine allzu bekannte Sorge.

Das Geborgene Land, das einstige Königinnenreich Weyurn, Stadt Mifurdania,6491. Sonnenzyklus, Winter

Und hier, hochgeschätzte Spectatores, hier, zu meiner Linken und ganz außen, haben wir einen weiteren legitimen Spross des einmaligen, unerreichten, seit Dekaden von Zyklen niemals überbotenen Unglaublichen Rodario!«, rief der Mann in opulenter weißer Kleidung von der hohen Bühne herab, die vor wenigen Umläufen noch als Hinrichtungsstätte gedient hatte. Wer genau hinsah, erkannte ein Büschel Haare, das an der Kante des von Kerben übersäten Holzklotzes im getrockneten Blut haftete, auf dem der Mann stand; es störte niemanden.

Besser gesagt: Es durfte niemanden stören.

Auf dem Platz in der Mitte der Stadt vor dem Rundtheater namens Neues Curiosum gab es kaum eine freie Stelle mehr, und auch die kleine überdachte Tribüne für Adlige und Kaufleute oder andere Bürger mit Privilegien war gefüllt.

Nur die erste Reihe, die ausgesuchten Zuschauern vorbehalten war, blieb leer. Sie kamen selten zu solchen heiteren Veranstaltungen, meistens gar nicht. Sie bevorzugten die Enthauptungen, öffentlichen Bestrafungen und Zurschaustellungen, was eine andere Bezeichnung für Demütigung war.

In der zweiten Reihe saß eine hübsche junge Frau mit wachen, leicht orangefarbenen Augen und schönen schwarzen Haaren, die bis an den Gürtel reichten und unter einem durchsichtigen Schleier lagen. Sie hatte einen Mantel aus schwarzem Wolfsfell um sich gelegt, in der Linken hielt sie einen Becher mit heißem Gewürzwein.

Der Marktplatz war zugestellt mit allen möglichen Buden, in denen die Händler verschiedenerlei Dinge zum Essen anboten, von heißen Würsten über geräucherte Schinkenstücke bis hin zu Waffeln und süßen Maronen in Sahne. Wer es kalt hatte, griff gern auf warmes Bier und erhitzten Wein zurück, je nach Vorliebe bekam man beides mit verschiedenen Gewürzen und Honig. Weiße Dampfschwaden standen über dem Marktplatz, ausgestoßen von den zahllosen kleinen Öfen in den Läden; aus einem Wirtshaus drangen gedämpfte Musik und Gesang.

Die junge Frau atmete den Geruch ein und lächelte. Endlich ein Grund zur Freude in den traurigen Zyklen der Besatzung durch Lohasbrand und seine Spießgesellen.

»Möchtet Ihr noch etwas, Prinzessin Coïra?«, fragte ihr Begleiter sie, der vom Alter her ihr Bruder hätte sein können. Unter seinem offenen braunen Fellmantel lag eine Lederrüstung, am Gurt trug er ein Kurzschwert. Die flache, gefütterte Kappe aus Wolle verdeckte das Haar und ließ ihn harmlos erscheinen. Mit Absicht.

»Nicht diesen Titel!«, zischte Coïra und blitzte ihn vorwurfsvoll an. »Du weißt, was sie mit dir tun, wenn sie hören, wie du mich angesprochen hast, Loytan.«

Ihr Begleiter ließ seine Blicke über die leere Reihe schweifen. »Nun, es ist keiner da, der mich dafür zur Rechenschaft ziehen könnte, dass ich die Wahrheit sage«, antwortete er leise, aber fest. »Ihr seid die Prinzessin, und Eure Mutter wäre die Königin von Weyurn, wenn es den verfluchten Drachen …«

Coïra legte ihre Hand auf seinen Mund. »Sei still! Du redest dich um dein Leben! Sie haben ihre Augen und Ohren überall.«

Vor dem inneren Auge sah sie ihre Mutter, die im eigenen Palast als Gefangene lebte und den Ring der Schande um den Hals trug. Den gesamten Umlauf über stand sie unter Bewachung, gedemütigt und ihrer Macht beraubt. Wenn der Drache beschloss, sie nicht mehr am Leben zu lassen, konnten seine Diener den Ring zuziehen und sie qualvoll ersticken lassen.

Coïra würde vieles geben, um sie befreien zu können. Sie atmete langsam aus. »Schau nach vorn und genieße, was uns die Nachfahren des Unglaublichen in diesem Zyklus bieten, wenn sie den Besten unter sich suchen.«

Loytan roch an ihrer Hand, lächelte sie ergeben an und wandte sich der Bühne zu.

Der Ausrufer deutete mit seinem Rohrstock ans Ende der Reihe, die aus nicht weniger als elf Männern und sechs Frauen bestand.

Sie trugen auffällige, extravagant geschnittene Kleidung; das Wort bunt wäre für die Stoffe sicherlich erfunden worden, wenn es nicht schon vorher existiert hätte. Und doch dienten die Röcke, Kleider, Hosen, Hüte, Stiefel und anderen Dinge einzig und allein dazu, ihren Besitzer oder ihre Besitzerin noch mehr von den anderen abzuheben.

Nur der Letzte von ihnen fiel aus der Reihe.

Er war der Einzige, dem der Schneider Sachen genäht hatte, die nicht passten. Oder seine Haltung war derart miserabel, dass die Falten und Säume ungünstig fielen.

Wie es sich für einen Spross des Unglaublichen gehörte, wuchsen ihm braune Haare, die er nackenlang trug, und er hatte wenigstens im Ansatz aristokratische Züge; allerdings wölbten sich seine Wangen nach vorne und raubten dem Vornehmen etwas von der Wirkung. Sein Kinnbärtchen, das Markenzeichen des Unglaublichen Rodario und Begründers zahlreicher Dynastien von Schauspielerlegenden in vielen Regionen des Geborgenen Landes, hing traurig herab und wirkte zerzaust.

»Er nennt sich – und ich gebe zu, dass es einfallsloser nicht mehr gehen kann – Rodario der Siebte! Applaus, bitte!« Der Ausrufer hob ruckartig die Arme, um die Menschen anzufeuern, doch das Klatschen erfolgte nur vereinzelt und verstummte rasch.

»Bei den Göttern«, meinte Loytan amüsiert. »Welch eine traurige Gestalt unter so vielen Pfauen! Er wird nicht einmal einen Trostpreis gewinnen.«

»Ich finde es … sehr geschickt«, verteidigte Coïra ihn auf der Stelle. Sie hatte Mitleid mit dem Rodario-Nachfahren, der eine schon tragische Bekanntheit innehatte. »Er … hebt sich ab.«

»Als das schlechte Beispiel, gewiss.« Loytan lachte laut auf. »Er ist meiner Meinung nach wie in jedem Zyklus der Erste unter den Letzten. Wollen wir wetten, Prinzessin?« Er strahlte sie an, dann sah er an ihr vorbei, und sein Gesicht verlor die Fröhlichkeit.

Breite Schatten fielen über sie; Coïra drehte sich erschrocken um.

Hinter ihnen hatten von ihnen unbemerkt vier Lohasbrander die Tribüne betreten und waren auf dem Weg zur ersten Reihe. Sie trugen schwere Lamellenrüstungen unter ihren Mänteln, die Helme waren einem Drachenleib mit angelegten Flügeln nachempfunden. Um ihren Hals hing jeweils eine Silberkette mit dem Splitter einer dunkelgrünen Drachenschuppe, das Zeichen ihrer unbestrittenen Macht in Weyurn. Damit standen sie über allem und jedem, außer ihrem Meister.

Coïra neigte sich zur Seite und blickte suchend über den Platz, bis sie die Orks entdeckt hatte. Die Kreaturen gehörten zu den Lohasbrandern und waren deren gefügige Diener. Jetzt harrten sie in einer Seitenstraße aus und stopften Fleisch in sich hinein. Wegen der Kälte dampfte es, und sie wollte lieber nicht wissen, ob es rohe warme Brocken oder frisch zubereitetes Kesselfleisch waren.

Der vorderste der Männer grinste Loytan an. Er war feist und muskulös zugleich, im breiten Gesicht wucherte ein hellblonder Bart. »Habe ich da eben etwas gehört, was besser unausgesprochen bleiben sollte? Ihr kennt das Gesetz, Graf Loytan von Loytansberg. Es gilt auch oder gerade für Adlige wie Euch.« Er sammelte Rotz im Mund und spie dem jungen Mann einen dicken, grüngelblichen Klumpen ins Gesicht. »Aber ich lasse noch einmal Gnade walten. Ich habe keine Lust, mir die gute Laune zu verderben.« Er polterte die Stufen hinab und setzte sich genau vor Loytan, sodass sein Helm die Sicht auf die Bühne einschränkte. »Ich empfehle Euch, nicht mehr da zu sein, wenn ich mich später erhebe. Solltet Ihr immer noch dasitzen, werde ich die Befehle von Meister Lohasbrand umsetzen.« Seine Begleiter lachten lauthals und nahmen ebenfalls Platz.

»Die erste Disziplin, geschätzte Spectatores, ist bei euch hochbeliebt und möchte zuallererst ausgetragen sein«, rief der weiß gekleidete Mann auf der Bühne weithin hörbar. »Es ist der Wettbewerb der schnellen, bissigen Worte, der vor den Ohren Mifurdanias, dem Ort, an dem der Unglaubliche so lange weilte, beginnen soll.« Er blickte in die Runde und stemmte die Arme in die Hüften. »Oh, man sieht an so manchem Gesicht auf dem Marktplatz, wohin die Ahnin gerne gegangen ist: ins Curiosum … und zwar hinter die Bühne!«

Die Menge jubelte.

Coïra hielt Loytans Hand fest, die an den Gürtel zum Kurzschwert gewandert war. »Nein«, flüsterte sie eindringlich.

Er zitterte vor Zorn am ganzen Körper. »Aber …«

»Du magst ihn vielleicht bezwingen, aber die Orks werden zu deiner Familie gehen und sie abschlachten. Der Drache bestraft alle, nicht nur einen Einzelnen – hast du das in deinem Stolz vergessen?« Coïra nahm ihr Taschentuch und wollte ihm den Speichel des Lohasbranders abwischen, aber er wandte sich zur Seite und nahm seinen Ärmel.

»Eines Umlaufs wird ihn nichts mehr vor mir retten«, knurrte Loytan.

Die Frau ließ ihn vorsichtig los. Die Gefahr war vorerst gebannt. »Überlass die Aufstände anderen«, sagte sie leise. »Menschen ohne Angehörige.«

Er richtete den Blick nach vorn. »Ihr meint diesen feigen Zeilenreimer?«

»Er ist Poet