Das Seminar - Thomas May - E-Book

Das Seminar E-Book

Thomas May

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Beschreibung

"Du bist ein Träumer," sagte sie und strich ihm nachsichtig lächelnd über das Haar. Spätestens in diesem Moment hätte er aufwachen müssen. Doch Philipp lässt die Liebe seines Lebens nicht los. Und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Ich stehe am Fenster.

Über die Hügel trägt meine Sehnsucht.

Du stehst am Fenster.

Über die Ferne spannt sich ein Band.

Ein Band so fest und so stark wie unsere Liebe,

geflochten aus vielen glücklichen Stunden

mit Dir.

Aus dem Dunst des Morgens

kommst Du mir entgegen

wie eine wunderschöne Ballerina

auf dem Drahtseil.

Weiter, weiter, ruft mein Herz,

trau dem Band unserer Liebe.

Hinter Deinen zögernden Schritten

verliert sich langsam die Angst.

Ich öffne das Fenster.

Du taumelst mir entgegen.

Ich fange Dich auf.

Philipp schreckte aus dem Halbschlaf hoch. Einen Moment brauchte er, um in die Wirklichkeit zu finden. Ihr Platz auf der Decke neben ihm war leer. Er blinzelte in die Sonne, die mittlerweile tief über der flach abfallenden Wiese stand. In einiger Entfernung entdeckte er sie in dem Meer von Gänseblümchen, die wie flüchtig gestreuter Puderzucker das satte Grün überzogen. Die Hände auf dem Rücken verschränkt und den Kopf gesenkt, lief sie in ihrem langen Sommerkleid durch das Gras. „Hey, was machst du da,“ rief er amüsiert. Sie hielt inne und schaute zu ihm hinauf. „Ich suche das Glück.“ Er lachte, sprang auf und eilte über den holprigen, mit Maulwurfshügeln übersäten Boden zu ihr hinunter. „Hast du das nicht schon gefunden?“, forschte er und steppte übermütig neben ihr her. Sie stoppte kurz und schaute ihn tadelnd an. „Du Dummer. Ich suche ein vierblättriges Kleeblatt.“ Sie setzte ihre Suche fort und er folgte ihr. “Was ist für dich Glück?“, fragte sie sanft. „Glück ist für mich, für immer mit dir zusammen zu sein.“ Sie blieb wieder stehen und schaute in die Ferne, wie immer, wenn sie über etwas intensiv nachdachte. „Mir genügt ein vierblättriges Kleeblatt, ein bisschen Glück für die Stunde, den Tag. Das muss mir genügen.“ In ihre Stimme war eine trotzige Bestimmtheit getreten. „Ja,“ sagte er zögerlich und einen Augenblick lang war ein unbeherrschbares Nichts in seinem Kopf. Dann umfasste er sie von hinten, zog sie ins Gras und sie rollten eng umschlungen die Wiese hinunter, begleitet von ihrem unbekümmerten Jauchzen.

I.

Lange Zeit hatte er die Erinnerung an diesen Ausflug mit ihr verdrängt. Jetzt, in dem Moment, wo er diese Straße vielleicht das letzte Mal langfuhr, war die Situation plötzlich wieder präsent. Gleichzeitig erfasste ihn eine Leichtigkeit, die im völligen Widerspruch zum Grund seiner Anwesenheit stand. Er erschrak darüber so heftig, dass er beinahe die Abbiegung verpasst hätte. Das weiße Hinweisschild war aber auch kaum zu sehen hinter dem dichten Geäst der Trauerweide neben dem Bach, der die Straße schon seit einigen Kilometern begleitete. Am Ende der Allee, die sich hügelwärts zog, war sein Ziel deutlich zu erkennen. Er fuhr langsam die enge Straße hinauf, sorgsam darauf bedacht, mit seinem Auto so wenig Lärm wie möglich zu machen.

Der Parkplatz neben dem Friedhof war bereits voll. Von der kleinen Kapelle zog die lange Reihe der Menschen schon zu ihrem traurigen Terminus irgendwo in der Reihe der Gräber. Neben der Kapelle, an der Seite, die dem Friedhof abgewandt war, entdeckte er einen schmalen Streifen Wiese. Dorthin lenkte er seinen Sportwagen. Niemand würde an dieser Stelle das auffällige, vielen bekannte Cabrio bemerken. Philipp kämpfte sich das Stoppelfeld hinauf, das von außen an die Friedhofsmauer grenzte. Dort angelangt, hielt er an. Die Schuhe voller Dreck und etwas außer Atem, postierte er sich hinter der fast mannshohen Mauer und schaute hinüber. Die Trauergemeinde war inzwischen am Grab angekommen und hatte sich zu einem Halbkreis mit dem Rücken zu ihm formiert.

Wahrscheinlich vermissten ihn heute manche der ehemaligen Arbeitskollegen. Er konnte einige von ihnen deutlich ausmachen in der Gruppe der schwarz gekleideten Menschen. Ein leichter Duft von Weihrauch stieg ihm in die Nase. Dort zwischen den zwei Frauen, das musste er sein. Die beiden Frauen stützten ihn. Philipp konnte es deutlich sehen. Wahrscheinlich waren es Gertruds Tochter Carolin und die Schwester. Er versuchte, den gedrungenen Mann in dem langen Mantel aus dem Bild wegzudenken. Gerade wurde der Sarg in den Boden abgesenkt. Wortfetzen drangen zu ihm. Das war der Pfarrer. Und trotz des kräftigen Windes, der von der Seite kam und goldgelbe, welke Blätter über den Boden trieb, glaubte er manches Schluchzen zu hören. "Tschüs Prinzessin,“ murmelte er. Im selben Moment fühlte er einen schmerzlichen Drang hinüber zu laufen, sich durch die schwarze Wand der Trauernden bis ans Grab durchzuwühlen und ihr ein Lebewohl hinterher zu rufen. Plötzlich war sie wieder da, diese Verzweiflung, die er in den letzten Wochen fast abgestreift hatte. Ein wüstes Szenario aus Gedanken und Erinnerungen hämmerte in seinen Schläfen. In der Ferne zogen Krähen mit klagenden Rufen über die kahlen Felder. Er wandte sich abrupt vom Geschehen ab und stolperte über die Wiese in Richtung Parkplatz.

Erst im Auto beruhigte er sich wieder etwas. Der geteerte Feldweg führte vom Friedhof am Dorf vorbei direkt auf die Hauptstraße. An der Kreuzung wusste er nicht, für welche Richtung er sich entscheiden sollte. Links von ihm lag Gedersdorf. Am Hang, wie auf der Schnur gezogen, reihte sich Haus an Haus. Zerrissene Rauchfahnen standen am schwach grauen Himmel. Die Leute hatten schon mit dem Heizen begonnen. Er blickte hinauf und spürte das gleiche Gefühl der Unsicherheit, das ihn befallen hatte, als er zum ersten Mal durch die Straßen des kleinen Ortes gefahren war.

Die Konturen der Häuser verschwammen im milchigen Licht des Herbsttages zu einer abstrakten, unwirklichen Kulisse. In einem dieser an diesem Tag so seltsam verformten Gebilde, von der Bundesstraße nicht sichtbar, hatte sie gewohnt. Ein altes verwinkeltes Bauernhaus mit angebauter Scheune, das sich mitsamt einem kleinen gepflasterten Hof zwischen andere Anwesen gezwängt hatte. Drei Zimmer für sie und ihren Mann. Die Tochter oben in den eigenen vier Wänden. Und irgendwo wohnte da auch noch der Opa. Nur zweimal hatte Philipp das Haus betreten. Nein, so weit hatte er es gar nicht geschafft. Beide Male war er tatsächlich bloß die steinerne Treppe davor hochgestiegen und auf dem von einem angerosteten Geländer umsäumten und von einem Vordach aus Holz geschützten Absatz stehen geblieben. Beim ersten Mal hatte er geläutet, um sie abzuholen. Zum Seminar für Betriebsräte. Sie hatte ihm geöffnet. Er erinnerte sich an den Blick in den engen, dunklen Flur. Speedy, ihr geliebter Cockerspaniel war ihm entgegen gesprungen. Ein bisschen zu dick war sie gewesen, die um die Schnauze bereits ergraute Hundedame. An diesem Tag hatte eigentlich alles begonnen.

Tuuut. Das aggressive Signal einer Hupe schreckte Philipp aus den Gedanken. Er stand immer noch an der Kreuzung und ein Auto war hinter ihm. „Is ja gut,“ brummte er und bog nach links ab. Nachdenklich fuhr er Richtung Heimat. Einige Wochen nach dem Seminar hatte sie ihm von ihrem Leben in Gedersdorf erzählt. Ein Gespräch, das ihn die ganze Zeit ihrer Beziehung begleitete, sein Handeln bestimmte und für vieles ursächlich war, was nachher geschah. Sie hatte vom Tag nach der Hochzeit mit ihrem Bernd erzählt, als sie auf dem Balkon der zukünftigen Wohnung gestanden war. "Und das soll jetzt alles gewesen sein?", hatte sie sich damals gefragt, wie sie ihm einmal erzählte. Wenn er jetzt, in diesem Moment, daran dachte, kam ihm ihre Äußerung fast ein wenig kitschig vor. So, wie ein Satz aus einem schlechten Film. Doch es war die zeitliche Distanz, die ihn so kritisch machte. In dem Augenblick, in dem sie es sagte, hatte es seine Wirkung bei ihm getan. Es war eine seltsame Regung so kurz nach der Hochzeit. Da musste doch alles rosarot sein. Und wenn nicht, warum hatte sie es dann immerhin fast zwanzig Jahre ausgehalten? In diesem trostlosen Dorf. Sie, diese Frau mit dem Chic einer Städterin. Und einer unbekümmerten Lebensfreude, wie sie den als selbstgenügsam bekannten Leuten aus Gedersdorf eher fremd war. Es blieb ein Geheimnis, das sie mit ins Grab nahm. Grab. Er zuckte zusammen bei diesem Wort. Die Wirklichkeit war zurückgekehrt. Seine Finger gruben sich ins Lenkrad. So fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Gleich würde er in Sulzheim sein. Fast jeden Tag war sie diese Strecke gefahren. Achtzehn Jahre lang. Jeden Werktag der Woche. So lang, wie sie als Buchhalterin in dem kleinen Städtchen gearbeitet hatte. Bei einer Selbsthilfeorganisation für körperbehinderte Menschen. Genau wie er auch. Gerade passierte er das Ortsschild. Es war ein Ortsschild, mit dem Philipp eine ganz besondere Geschichte verband. Tief in der Nacht war er aus Brodersheim unter einem dummen Vorwand hierher gefahren. Er hatte vergessen, was er damals Regina, seiner Frau, gesagt hatte. Im Kofferraum mit dabei war ein pinkfarbenes, aufblasbares Plastikherz mit der Aufschrift "Ich liebe Dich". Darunter hatte er das Wort "Prinzessin" gesprüht. Es war ein riesiges Herz und er hatte es an einem Nylonfaden am Ortsschild festgebunden. Philipp hatte noch das Bild vor Augen, wie es prall und trotz der Dunkelheit als grell leuchtender Ballon im Mondlicht in die Höhe stieg. Gertrud hatte es am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit bemerkt. So, wie er sich das vorgestellt hatte. Nur ein paar Minuten, nachdem er in seinem Büro angekommen war, läutete bereits das Telefon. „Wie kannst du so etwas machen,“ hatte sie in die Muschel geflüstert. Mit dieser scheinbar vorwurfsvollen Stimme, in der ein Hauch von Abenteuerlust schwang.

Gertrud war nicht die atemberaubende Schönheit, bei deren Anblick einem Mann auf der Party das Glas aus der Hand fällt. Aber sie war durchaus attraktiv, schlicht das, was man sinnlich nennt. Mit ihrer betörend weiblichen Ausstrahlung, ihrem gepflegten Äußeren und ihrer sanften Stimme. Mit den großen, ausdrucksstarken Augen, die so wundervoll hilfesuchend schauen konnten. Dieser adrett frisierte, blonde Pagenkopf. Bescheiden und manchmal fast schüchtern war sie. Eine Frau, die nicht wirken wollte und es doch tat. Ohne diese Abgeklärtheit, die Frauen ihres Alters sonst eigen ist. Stattdessen mit der Scheu eines jungen Mädchens gesegnet, die ihm das verrückte und gleichzeitig berauschende Gefühl gab, der erste zu sein. So war dieses Prickeln entstanden, das ihn später nie mehr losgelassen hatte. Diese rauschhafte Schwerelosigkeit, deren ungehemmtes Ausleben ihm Kopfschütteln und Unverständnis in seiner Umgebung einbrachte. Nie zuvor war er derart verliebt gewesen. Aber hatte er überhaupt jemals geliebt? Alles vorher war ein Nichts gewesen, ein Umherirren für jemanden, dessen ganzes Leben bis dahin aus Suchen bestanden hatte. Als er sie kennenlernte, wusste er, dass er angekommen war. Gertrud war eine überirdische Erscheinung, der er sich nicht widersetzen konnte.

Dabei kannten sie sich schon lange, bevor der Blitz einschlug. In dem weitläufigen Bürotrakt liefen sie sich aber nicht oft über den Weg. Sie saß oben in der Buchhaltung, er unten in der Redaktion. Auch ihre völlig unterschiedlichen Tätigkeiten trugen dazu bei, dass es wenig Kontakte gab. Und doch hatte es sie gegeben. Allerdings ohne dass irgendetwas passierte. Bis es dann plötzlich geschah. Doch was war eigentlich der Auslöser gewesen? War es eine Sitzung des Betriebsrates? Oder nur eine Berührung mit der Hand, irgendwann? Eine Kleinigkeit vielleicht nur. Ja, er erinnerte sich daran, wann es war. Sie kam die Treppe herunter in die Redaktion und hatte dieses knapp knielange, graue Kleid an. Plötzlich war da dieser Duft ihres Parfums. Und er war gerade allein. Und dann hatte er diesen einen Satz heraus geplappert. Danach lief nur noch alles in eine Richtung. „Wach auf, das bist nicht mehr du,“ hatte seine Frau beschwörend auf ihn eingeredet, als sie merkte, dass er ohne nach links und rechts zu schauen, seinen Weg ging. Natürlich, sie hatte Recht. Das war nicht mehr der eher besonnene Philipp. Aber damals hatte sie bereits verloren.

Philipp bog rechts ab zum Behindertenzentrum. Es war schon nach fünf Uhr. Er würde niemanden mehr antreffen in den Büros. Die meisten waren noch auf dem Begräbnis. Sie würden nicht mehr hierher kommen. Feierabend. Es war ihm recht so. Er wollte niemanden sehen. Wie sollte er auch mit ihnen über Gertruds Tod reden? Mit Menschen, die im Grunde nichts wussten über sie und ihn. Über einen Schmerz, den nur zwei Männer auf diesem Globus fühlen konnten. Er hielt vor dem Verwaltungsgebäude. Gute vier Jahre hatte er hier in der Redaktion gearbeitet. Nichts hatte sich seitdem geändert. Der kleine Fischteich neben dem Plattenweg, die Tür, die mit einer Lichtschranke gekoppelt war und sich knarrend wie von Geisterhand öffnete. Er trat ein und atmete schwer durch. An der Wand gegenüber sah er das schwarze Brett. Auch eine Mitteilung des Betriebsrates hing daran. Es war eine Betriebsvereinbarung. Unterschrieben vom Geschäftsführer und von ihr. Mit dieser beschwingten Schrift, die so viel Tatendrang ausdrückte. Ihm hatte sie nur selten geschrieben. Einmal ein paar Worte, als sie zusammen im Hotel waren. Da hatte sie ihm ein Kärtchen aufs Bett gelegt. "Ich liebe Dich", stand darauf. Später noch ein paar kurze Zeilen und einmal einen Brief, den sie ihm aus Amerika geschickt hatte. Beim Schreiben hatte sie auf der Toilette gesessen, weil sie Angst hatte, entdeckt zu werden.

Philipp probierte die Tür zur Mitgliederverwaltung und fand sie offen. Niemand war da. Nicht einmal die Putzfrauen. Die kamen wohl erst später. Er durchquerte das Büro zielstrebig in Richtung der Glastür, hinter der die Buchhaltung lag. Behutsam drückte er die Klinke. Auch diese Tür war offen. Eine fast heilige Stille lag über dem Raum. Alles schön ordentlich, wie es sich für die Buchhaltung gehört. Da vorn war ihr Schreibtisch. Perfekt aufgeräumt wie immer. Hier hatte sie gesessen, oft an ihn gedacht, wie sie ihm erzählt hatte. Hier war sein Ankerplatz gewesen. Rechts ihr Telefon, durch dessen Hörer so viele Bekenntnisse gehaucht, verzweifelte Hilferufe gesandt und so viel Leid, Lust und Freude an das sehnsüchtig wartende andere Ende geschickt worden waren. So viele Anrufe, die alle nur ein Thema kannten: die Liebe. Hier in der Buchhaltung konnte er sie erreichen, mit ihr sprechen, sich verabreden, wenn die Kollegin, die ihr gegenüber saß, gerade einmal nicht im Raum oder in der Mittagspause war.

Manchmal, wenn ihn die Sehnsucht allzu sehr plagte, hatte er sie spontan angerufen. "Bist du allein?", hatte er dann gefragt, so wie es verabredet war. Er spürte einen Kloß im Hals bei diesem Gedanken. Nie mehr würde es diese Situation geben. Diese Erlösung nach den quälend langen Wochenenden zu Hause ohne Kontakt zu ihr. Jedes Mal hatte er Herzklopfen bekommen, wenn es um Viertel nach Acht bei ihm im Büro klingelte. Mit einem langgezogenen "Hallo“, hatte sie ihn begrüßt in der ihr eigenen, dezenten und fröhlichen Art. In diesem Augenblick war er stets von einem Gefühl des Glücks durchflutet worden. Mehr hatte es tatsächlich nicht bedurft. Er ließ sich kraftlos auf ihren kargen Bürostuhl mit dem gehäkelten, bunt gestreiften Sitzkissen fallen. Wie oft hatten sie sich beide in die Ecke verdrückt, wo der automatische Aktenordner, der Rotomat, stand, weil sie an dieser Stelle durch die Glastür nicht zu sehen waren. Hier war ihr Rückzugsort für kleine Zärtlichkeiten gewesen. Manchmal hatte er sie vor Verlangen und Lust gegen die Kante der Ablage gedrückt, seine Arme um sie geschlungen und sich mit dem Kopf in ihren Blusenausschnitt gewühlt, den Duft von Chanel aufgesogen und sich hochgeschaukelt bis zu einem Moment, wo ihm alles egal gewesen wäre. „Nicht hier,“ hatte sie ihn abgewehrt und ihn mit dieser Bemerkung nur noch mehr erregt. Hier und jetzt wollte er sie lieben und dann ging die Tür auf. Sie fuhren erschreckt auseinander und er spürte die Hitze in seinem Gesicht und schaute auf sie und ihr zerzaustes Haar und das Erschrecken in ihren Augen und dann auf die Kollegin, in deren Miene zu erkennen war, dass sie Bescheid wusste.

Doch er und Gertrud waren so überzeugt von ihrer Liebe und davon, dass ihnen niemand etwas anhaben konnte, dass ihnen die Situation irgendwann nicht einmal mehr peinlich gewesen war. Und die Kollegin? Sie wusste alles und sagte doch kein Wort. Es war eine Liebe, die von allen akzeptiert war, weil sie so intensiv war wie ein Wirklichkeit gewordener Schnulzenfilm. Jeder hatte Respekt vor dieser Liebe und irgendwie erlebten wohl alle braven Damen, die in der Verwaltung nebenan saßen und diese Szenen hautnah mit erlebten, in dieser Liebe die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche und Träume.

Die dicke Stolzenbach, die sich mit ihrem Mann schon über mehr als zwanzig Ehejahre langweilte oder die Frau Neubauer, diese etwas hüftschwere aber adrette Sachbearbeiterin, die manchmal Tränen trocknete hinter ihrem Computerbildschirm. Oder die penible aber konzentrationsschwache junge Frau Sebener, die unter ihrem Schreibtisch ganze Stapel von Liebesromanen hortete. Sie alle schenkten ihm oft ein Lächeln, wenn er in der Buchhaltung verschwand. Es lag ein Zauber auf dieser Liebe, den sich niemand anmaßte anzurühren. Und so kam es, dass sich so manches Mal eine schwungvoll in die Buchhaltung eingetretene, nicht vorgewarnte Kollegin nach dem Erkennen einer eindeutigen Situation wieder wortlos zurückzog und leise, fast andächtig die Tür hinter sich schloss.

Der Blick von Philipp wanderte über die vielen kleinen Utensilien der Büroorganisation. Die alte Rechenmaschine, die er so oft hatte rattern hören, wenn er sich unter irgendeinem Vorwand bei ihr im Zimmer herumdrückte. Die grüne Schreibunterlage, unter der sie manchmal Sinnsprüche verwahrte, die sie in der Zeitung gefunden hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie kein Bild ihrer Familie auf dem Tisch hatte. Überhaupt gab es keine persönlichen Dinge. In vielem ist sie mir rätselhaft geblieben, dachte er. Nicht fremd, nur rätselhaft. Er stand auf und ging zum Fenster. Diesen Blick hatte sie immer gehabt. Hinaus auf die angrenzende, leicht verwilderte Gärtnerei, die Blockhäuser für die Feriengäste und die üppige Wiese, die sanft bergab bis zum Fluss verlief, an dessen anderem Ufer sich die Weiden mit ihren Wurzeln kunstvoll verdreht an die unterspülte Böschung klammerten. Ein idyllisches Fleckchen Erde. Fast könnte man glauben, in einer solchen Umgebung sei keine Schlechtigkeit möglich. Doch damit war ihre gemeinsame Geschichte untrennbar verbunden.

"Hallo, Philipp". Philipp wurde jäh aus seinen Erinnerungen gerissen. Als er sich umdrehte, erblickte er Manfred. Der war sein Nachfolger auf dem Platz des Redakteurs der Verbandszeitung. Er hatte ihn nicht kommen hören. Manfred hatte ihn sanft angesprochen, so als wollte er ihn nicht stören. Philipp fühlte sich ertappt wie ein Einbrecher. „Du bist noch hier?“ „Du weißt doch, dass ich ein Nachtarbeiter bin.“ Manfred wusste von ihm und ihr. "Tut mit Leid,“ sagte der kleine Mann in der ausgewaschenen Jeans und dem Dritte-Welt-Laden-Pullover und sein Gesicht verfärbte sich dunkel vor lauter Betroffenheit. Philipp ging auf ihn zu, griff an seine linke Schulter und schüttelte sie leicht in einem Ausdruck von Hilflosigkeit. "Hey, ich habe sie verdammt lieb gehabt,“ sagte er leise und blickte zu Boden. Er musste schlucken, um seine Emotionen im Griff zu behalten. "Ich weiß,“ erwiderte Manfred ernst.

Was weiß er denn schon, schoss es Philipp durch den Kopf. Dass er eine Geliebte hatte? Dass er mit ihr im Bett war? All diese Lächerlichkeiten, die nichts, aber auch gar nichts über diese Beziehung aussagten. Diese dümmlichen Vorstellungen, wie sie in Liebschaften hinein interpretiert werden. Aber vielleicht tat er ihm auch unrecht. Der Redakteur hatte jedenfalls gut reagiert, als ihm Philipp von ihr erzählt hatte. Damals. Manfred, der immer so aussah, als sei er gerade aus dem Bett gefallen, war ein ausgeschlafener Bursche. Er hatte es bestimmt schon vorher gemerkt. Die vielen Heimlichkeiten hinter verschlossener Tür. Die verweinten Augen von Gertrud nach den Krisentreffen. Das Geschäker in der Küche. Es war einfach nicht zu übersehen gewesen.

„Ich bin gleich wieder da,“ sagte Manfred. „Muss schnell was faxen“ Philipp murmelte ihm ein lapidares „Okay“, hinterher. Hier, in diesen Räumen war Gertrud überall noch präsent. Viele Bilder lebten wieder auf. Dieser eiskalte Januar vor zwei Jahren. Er hatte sich auf Glatteis bei einem Sturz die Schulter ausgekugelt und war für längere Zeit krank geschrieben. Plötzlich konnte er keinen Einfluss mehr auf die Dinge im Büro nehmen. Und die Entwicklung war gefährlich. Der neue Vorsitzende des Verbandes hatte sich in den Kopf gesetzt, die bestehenden Strukturen zu zerschlagen und zentrale Personen durch seine Hausmacht zu ersetzen. Auch Philipp stand im Fadenkreuz. Als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit war er dem neuen, skrupellosen Verbandschef besonders im Wege. Die Position des Betriebsratsvorsitzenden schützte ihn nicht vor den Attacken. Dann kam der Unfall und hielt ihn zuhause fest. Was blieb, war der telefonische Kontakt mit seiner Betriebsratskollegin in Sulzheim. Schließlich machte er ihr den Vorschlag, sich mit ihm in Brodersheim zu treffen. Sie erledigte oft in der Kreisstadt Besorgungen, das Ganze war also kein Problem. Ja, sie habe einen Termin beim Masseur, hatte sie gesagt und er war ein wenig verwundert, dass sie so schnell auf seinen Vorschlag einging. Aber das war ihre Art. Sie ging unbekümmert an die Dinge heran, hatte sich wahrscheinlich gar nichts dabei gedacht.

Ihn dagegen hatte auf dem Weg zum Café ein schlechtes Gewissen befallen. Wieso eigentlich? Was war schon dabei, sich mit einer Kollegin zu verabreden, wenn so viel im Betrieb auf dem Spiel stand? War es, weil er Regina nichts gesagt hatte von seinem Treffen mit der Frau Stölzner? Mit dem Arm in der Schlinge war er im Café aufgetaucht. Sie hatten über die Vorgänge in Sulzheim, über die Schikanen des Bundesvorsitzenden geredet. Doch dann war alles gesagt und sie saßen immer noch da. Sie bei ihrem Kaffee, er bei seinem Stück Kuchen. An dem kleinen Bistrotisch, an dem er, der lange Kerl, wirkte, wie ein Elefant in der Puppenstube. Er mit seinem gewaltigen Wintermantel, den er sich wegen der Verletzung nur übergehängt hatte und der deshalb umso voluminöser aussah. Sie dagegen fast zerbrechlich in ihrem schicken Kostüm und einem leichten Rot auf den Lippen. Irgendwie waren sie ins Private gerutscht. Er hatte sie ein bisschen ausgefragt. Einfach, weil sie ihn interessierte. Ob sie immer so fröhlich sei, hatte er wissen wollen. „Nein“, hatte sie gesagt und er hatte weiter gebohrt. Weinen würde sie manchmal, gestand sie. Ganz still und allein würde sie das tun. Philipp hatte sich damit komplett überfordert gefühlt. Es war ein so intimes Geständnis gewesen. Viel zu intim für den nüchternen Anlass ihres Treffens.

Sie hatten sich dann noch mehrere Male in verschiedenen Cafés von Brodersheim getroffen. Immer öfter hatten sie über private Dinge gesprochen, waren sich ein bisschen näher gekommen. Und als er schließlich nach drei Wochen Krankschreibung an die Arbeit zurückgekehrt war, hatte er dies mit einem Gefühl einer inneren Spannung getan. Gertrud Stölzner war zu etwas Zentralen in seinem Leben geworden, zu jemandem, dessen Nähe er für seine Wohlbefinden brauchte.

Durch die offene Tür konnte Philipp in die Küche schauen. Plötzlich hatte er Lust auf einen Kaffee. Er ging hinüber und fand sich sofort wieder zurecht. Stimmt, die Kaffeemaschine war neu. Aber die Löffel waren noch am bekannten Platz zu finden und auch der kleine Einbaukühlschrank, aus dem er sich die Kondensmilch holte, kam ihm gleich wieder vertraut vor. Am Hängeschrank hing noch immer das Formular, das zum Eintragen der Kaffeeentnahme aufforderte. „Bitte für jede Tasse Kaffee einen Strich machen,“ stand handschriftlich darauf. Kaffee ohne Doppel „e“. Rechtschreibfehler ärgerten ihn. Er machte sauber seinen Strich und öffnete dann zielsicher die rechte Seite des Hängeschranks, um sich eine Tasse auszusuchen. Ein buntes Sammelsurium der verschiedensten Modelle bot sich seinen Augen. Welche wohl ihre gewesen war? Er entschied sich für einen großen Pott mit Blümchenmotiv. Der hätte ihr sicher gefallen.

Hier in der Küche hatte sie zum ersten Mal die Worte gesagt, die ihre Beziehung dramatisch ändern sollten. Sie standen zusammen, hatten noch einen leidenschaftlichen Tag in irgendeinem Hotel im Kopf. Ein Blick, eine Berührung, dann waren von ihr die drei Worte ausgesprochen. „Ich liebe dich.“ Endlich hatte er das gehört, auf das er so lange gewartet hatte. Doch während er den Augenblick genoss, sah er das Erschrecken in ihren Augen. Ein Erschrecken, das er erst sehr viel später begriff. Noch in dem Moment, wo sie die Worte aussprach, war ihr klar, welche Unvorsichtigkeit sie da begangen hatte. Vielleicht hatte sie schon vorher zu Hause überlegt, ob sie es sagen sollte. Vielleicht in der Küche bei der sorgfältigen Zubereitung des Mittagessens für ihren Bernd oder beim gemütlichen Fernsehabend mit ihm auf der Couch. So kannte er sie. Besonnen und immer auf der Hut, einen Weg zu beschreiten, der sie in Gewissenskonflikte bringen würde. Und sie hatte lange eisern geschwiegen. Dann war es allerdings doch geschehen. Schlagartig war da nun mehr als ein Verhältnis, aus dem man sich wieder mit einem bedauernden Lächeln verabschieden konnte. Die drei großen Worte ließen sich nicht rückgängig machen, wie man Buchstaben im Computer löscht. Irgendwann hatte sie ihm dieses „Ich liebe Dich“, sogar 15 Mal in 15 Zeilen auf ein Blatt Papier geschrieben. Er hatte die Zeilen akribisch gezählt. Jede Zeile bedeutete für ihn eine Zementierung ihrer Bekenntnis, die er dann in schweren Zeiten einklagte wie einen Schuldschein. „Ich hätte es nie sagen sollen,“ hatte sie später einmal traurig bekannt. Aber es war gesagt und die Dinge hatten ihren Lauf genommen.

Philipp verließ die Küche und trat durch die offene Tür in die Redaktion, seine ehemalige Arbeitsstätte. Über den Flur klangen Schritte. Manfred war zurück. „Ach, hier bist du." „Ich habe es erst heute erfahren,“ sagte Philipp leise. "Durch Zufall. Ich war ein paar Tage geschäftlich unterwegs. Als ich zurückkam, las ich es in der Montagszeitung. Ich lese sonst nie Todesanzeigen.“ Manfred setzte sich auf seinen großen, von Papierstapeln überhäuften Schreibtisch. "Ja, wir waren alle völlig entsetzt,“ sagte er. "Wie ist es passiert, Manfred?" "Ja, sie kam wohl von Gedersdorf,“ begann der Redakteur schleppend. "Am Ende des langen Gefälles zwischen Tierbach und Sulzheim, da wo es nach Wildberg abgeht - Du weißt schon - da ist sie von der Straße abgekommen. und in den Graben gefahren." Manfred schaute ihn an, so als wollte er prüfen, ob er ihm noch mehr zumuten könnte. "Es war sehr tragisch,“ fuhr er fort. "Da war so ein Abflussrohr. Da ist sie wohl drauf geprallt. Sonst hätte sie womöglich überlebt. Eigentlich eine komische Sache. An der Stelle kann man im Grunde gar nicht verunglücken. Ich habe gehört, die Polizei prüft, ob ein technischer Defekt an ihrem Auto die Ursache gewesen sein könnte."

Philipp zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. "War sie sofort tot?", fragte er mit tonloser Stimme. Der Redakteur quälte sich mit der Antwort. "Nein, sie ist ein paar Stunden später im Krankenhaus gestorben." Den Kopf in die Hände gestützt, stierte Philipp vor sich hin. "Soll ich Dich allein lassen?", fragte Manfred. Als keine Reaktion kam, wandte er sich zur Tür. "Ich habe sie geliebt, wie man eine Frau nur lieben kann,“ rief Philipp ihm nach. Manfred blieb stehen. "Sie war mein Leben, Manfred.“ "Ja, Philipp,“ sagte der Redakteur, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Philipp war noch einmal in die Buchhaltung zurückgekehrt. In sich zusammengesackt verharrte er auf dem Bürostuhl. Sein Blick fiel auf die Schubladen ihres Schreibtisches. In einer davon lag gewöhnlich eine Mappe, wo sie seine Briefe und Karten verwahrte. Es musste die zweite von oben sein. Er hatte Recht. Die Mappe kannte er. Gertrud hatte sie ihm einmal gezeigt. Er nahm sie heraus und blätterte sie auf. Rechnungen, irgendwelche Unterlagen. Ganz hinten fand er ihn jedoch. Seinen letzten Brief an sie.

Hallo Gertrud,

ich glaube, es ist inzwischen mehr als ein Jahr her. „Geh Deinen eigenen Weg,“ hast Du mir damals gesagt. Das habe ich getan. Mit schweren Beinen und doch mit kräftigen Schritten, denn Du hattest mich furchtbar verletzt. Ich bin den Weg weitergegangen, habe mich damit abgefunden, weil Du für mich nicht mehr da warst. Dann plötzlich kam Sabine und brachte mich mit einer eher beiläufigen Bemerkung aus dem Gleichgewicht. Du hättest Sehnsucht nach mir, erzählte sie mir. Das machte mich unendlich traurig und zerriss mir fast das Herz. Ich habe lange darüber nachgedacht. Über Dich und mich und über das, was richtig und falsch ist.

Ich weiß nicht, was Du unter „Sehnsucht“ verstehst, ob Du gelernt hast aus der langen Zeit der Trennung und nun bereit bist für einen gemeinsamen Weg. Eins muss Dir jedoch klar sein: Ich werde meinen Weg nicht zurückgehen. Dafür bin ich zu tief verletzt, voller Misstrauen und Unsicherheit. Wenn Du es ernsthaft willst, kannst nur Du unsere Liebe retten. Dieser Brief ist ein letztes Signal. Er bedeutet, dass ich auf dem Weg weg von Dir noch einmal stehengeblieben bin. Ganz in der Ferne sehe ich Dich noch. So, wie ich Dich in den glücklichen Momenten gesehen habe, als ich auf Dich mit pochendem Herzen gewartet habe. Damals bist Du mit einem strahlenden Lächeln auf mich zu gestürmt. Heute kann nur ein mutiger Entschluss die Distanz zwischen uns überwinden. Du musst den Weg zurückgehen auf mich zu, bis wir uns wieder so nah sind, dass wir uns in die Augen sehen können. Und ich muss in diesen Augen Ehrlichkeit entdecken können. Dann könnte alles wie früher sein.

So sicher, wie unter dem kalten Schnee des Winters der Frühling wartet, so sicher verbirgt sich unter einer dicken Schutzschicht in meinem Herzen die Liebe zu Dir. Die warmen Sonnenstrahlen werden die Saat zum Blühen bringen und Dein mutiger Schritt wird meinen Panzer zum Schmelzen bringen. Doch die Sonne muss zu einer gewissen Zeit den Winter ablösen, sonst geht die Saat nie mehr auf. Und Deine Worte müssen mich erreichen, ehe ich meinen Weg so weit gegangen bin, dass ich sie nicht mehr verstehen kann. Sonst wird der Winter ewig sein und die Liebe in unseren beiden Herzen nie mehr einen Platz finden.

Philipp

Damals war bereits alles zu Ende gewesen. Was Gertrud tat, wie sie sich fühlte – er hatte es nur noch von Sabine erfahren. Irgendwann hörte er von ihr, dass sie an Sabines Geburtstag kurz bei ihr vorbei schauen wollte. Deshalb hatte Philipp einen Brief geschrieben. Den Brief, den sie in ihrem Schreibtisch verwahrte. „Ich will ihn nicht lesen,“ hätte sie gesagt. „Es stehen sowieso nur Schuldzuweisungen drin.“ Schließlich hatte sie ihn doch an sich genommen und war zu einem langen Spaziergang aufgebrochen. Als sie wiederkam, waren ihre Augen verweint. So hatte es Sabine ihm nachher erzählt. „Ich kann ihn nicht behalten,“ hatte sie gesagt und Sabine den Brief zurückgegeben. Aber Sabine hatte nicht nachgelassen. Schließlich war sie gegangen – mit dem Brief.

Philipp fing an zu überlegen. Sie würden ihren Schreibtisch aufräumen und den Brief finden. Das durfte nicht sein. Er war weit davon entfernt, Rücksichten zu nehmen. Doch ihre Liebe ging niemanden etwas an. Er nahm den Brief aus der Mappe, faltete ihn zusammen und steckte ihn ein. Dann fiel ihm ein, dass sein Vertuschungsversuch wohl vergeblich sein dürfte. Sie hatte ihm einmal erzählt, wo sie all seine Briefe und Karten zu Hause versteckte. Dort, in einem Karton im Wäscheschrank unter der Unterwäsche würden bald alle anderen gefunden werden. Es müsste ein ganzer Stapel sein. Fast jede zweite Woche hatte er ihr ins Büro geschrieben. An den Betriebsrat und sie persönlich adressiert. Dazu zur Vorsicht das verfängliche Schriftstück in dünne Pappen eingelegt und mit Tesafilm verklebt. Damit wollte er verhindern, dass der Brief gelesen wurde, wenn jemand auf der Poststelle den Umschlag aus Unachtsamkeit öffnete. Philipp hatte sich noch über ihr Versteck amüsiert. Zwischen ihren BHs! Ein komisches Gefühl. Aber ein prickelndes. Und wenn die Carolin auf die Idee käme, die BHs ihrer Mutter auszuprobieren, hatte er sie gefragt. Ihre Tochter sei noch nicht so weit, war ihre Antwort gewesen und sie hatte ihn angelächelt, so wie Frauen eben lächeln, wenn ihre ganz speziellen Geheimnisse im Spiel sind.

Philipp verabschiedete sich von Manfred und verließ das Gebäude. Die Tür fiel knarrend hinter ihm ins Schloss. Oft hatte er dieses Geräusch gehört. Doch an diesem Tag kam es ihm vor wie das Geräusch einer Verliestür: Hässlich, brutal und mit einem Anklang von Endgültigkeit. Philipp ging die Straße hinauf. Die Pizzeria gab es immer noch. Dort hatte er sich mit Gertrud einmal getroffen, als es wieder einmal aus war. Lange vor dem endgültigen Aus. Sabine war dabei gewesen. „Es war wohl ein Missverständnis,“ hatte er bitter über ihre Beziehung gesagt. Sie hatte mit gesenktem Kopf da gesessen und die ganze Zeit geschwiegen. Bei diesen Worten war sie jedoch aufgeschreckt. Er wusste bis heute nicht, was sie daran derart betroffen gemacht hatte. Jedenfalls waren sie bald darauf wieder zusammen gewesen.

Obwohl er ein leichtes Hungergefühl verspürte, entschied sich Philipp für den direkten Heimweg. Mit der Pizzeria verband ihn nichts Besonderes. Im Grunde war es ein dunkles Loch unter der Dominanz von Spielautomaten und einem Stammtisch. Eine Kneipe eben. Passend zu diesem Kaff Sulzheim, das er nach der Arbeit stets verlassen hatte, ohne noch einmal nach links oder rechts zu schauen. .

II.

Philipp fuhr durch Ringshausen. Kurz vor dem Ortsausgang gabelte sich die Straße. Vor ihm tauchte das „Goldene Lamm“ auf. Heute war Hirschbraten im Angebot. So stand es auf dem großen Schild vor dem Eingang. Er kannte dieses Landhotel gut. Es war eine der vielen Stationen gewesen auf seinem gemeinsamen Weg mit Gertrud. Zweifellos gefährlich nah an ihrem Wohnort. Doch ab einem gewissen Zeitpunkt hatte selbst die vorsichtige Gertrud dies nicht mehr gestört. Ja, es hatte tatsächlich einen solchen Zeitpunkt gegeben. Wie leicht hätte alles schief gehen können. „Guten Tag, Frau Stölzner.“ Ein erstaunter Seitenblick auf ihn. Und am nächsten Tag das Desaster. Hier kannte fast jeder jeden. Aber nichts war passiert. Sie hatten sich einlogiert und waren auf ihr Zimmer verschwunden, wo sie sich atemlos ein paar Stunden liebten, ehe sie unter einem Vorwand das Hotel wieder verließen. Wie so oft in den ersten beiden Jahren ihrer Verbindung.

Eigentlich hätte das Verhältnis so weitergehen können. Er hätte sie manchmal gesehen, sie hätten schöne Stunden miteinander verbracht und die seltenen Treffen hätten die Sehnsucht wach gehalten. Er erinnerte sich an einen Hollywood-Streifen, in dem sich ein Liebespaar nur einmal im Jahr traf. Immer am gleichen Tag, am gleichen Ort. Vielleicht war es das, was Sie sich vorgestellt hatte. Ein Termin, vorbereitet mit stiller, weiblicher Raffinesse, die ihm – hätte er es getan – als kühle Berechnung angekreidet worden, aber bei ihr nur ein geheimnisvolles Lächeln gewesen wäre. Ohne Risiko, perfekt organisiert und nach netter Verabschiedung von ihrer Familie und dem schwanzwedelnden Hund, nicht ohne vorher ein paar besorgte Verhaltensregeln gegeben zu haben. Ein Rendezvous in einem Hotel, in der Suite im obersten Stockwerk mit einer riesigen Glasfront und traumhaftem Blick auf die Skyline einer großen Stadt. Der Champagner im silbernen Kühler neben dem herzförmigen Bett. Leise Musik aus den versteckten Lautsprechern. Eine wundervolle Nacht und am nächsten Tag das Frühstück im Bett. Noch eine leidenschaftliche Umarmung und dann die Intimität der vergangenen Stunden unter der Dusche weggespült. Im Foyer ein dezenter Kuss und der Abschied, ohne noch einmal zurückzublicken.

Gut, die teure Suite hätte es wohl nicht sein müssen. Da war sie viel zu bescheiden. Aber die Idee mit dem geregelten Treffen hätte sie sicher mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck quittiert. „Mal sehen,“ hätte sie zunächst gesagt und ihn erst kurz vor dem Jahrestag angerufen. Zu einem Zeitpunkt, wo er schon längst die Hoffnung verloren hätte, vor Sehnsucht keinen klaren Gedanken mehr zu fassen in der Lage gewesen wäre. „Gilt unsere Verabredung noch?“, hätte sie mit unschuldiger Stimme leise durch die Muschel geschmachtet und sein verwirrtes Gestotter mit einem unwiderstehlich zärtlichen „bis bald“ beendet.

Philipp merkte, wie die Vergangenheit, die er verdrängt glaubte, zum wiederholten Male in ihm hochkam. Alles hatte bei ihr geregelt sein müssen. Ihr Mann und dessen labile Gesundheit durften nicht in Gefahr sein. Die Tochter brauchte Zuwendung und der Opa seine Bananen, die sie ihm jede Woche aus dem Supermarkt holte. Bananen. Wenn es ihm nicht so elend gewesen wäre, könnte er lachen darüber. Natürlich sollte auch der Garten gepflegt aussehen. Wegen der Nachbarn. Wenn das alles in Ordnung war, konnte sie sich beruhigt ein paar schöne Stunden leisten. Weg vom langweiligen Alltag mit ihrem Mann, mit dem sie sich kaum noch etwas zu sagen hatte. Weg vom dahinsiechenden Opa, der sich am Leben festkrallte und das Haus mit seinen ewigen Aufträgen auf Trapp hielt. Weg auch von der ganzen Familie, die sie vielleicht nie so recht gewollt hatte.

„Als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, hab ich einen ganzen Tag lang nur geheult,“ hatte sie ihm einmal gestanden. Aber jetzt war es so wie es ist und sie war bereit, ihre Pflicht bis zum Ende zu erfüllen. So war das wohl. Es musste alles im Gleichgewicht bleiben. Sobald die Forderungen ihres Liebhabers zu groß wurden, zog sie sich zurück. „Ich kann nicht gehen,“ hatte sie immer wieder gesagt und damit die Grenze gezogen, wenn er bat und bettelte, sie möge doch zu ihm kommen. Er, der Naive, war das Opfer, hatte alles aufgegeben und nie kapiert, dass es in dieser Beziehung nichts zu gewinnen gab. Höchstens das Jahrestreffen. Aber das war eine Horrorvision für ihn. Während sie in den 364 Tagen dazwischen ein unauffälliges Leben mit ein paar feuchten Gedanken an ihn zu passender Stunde geführt hätte, wäre es für ihn die Hölle gewesen. Wie konnte sie nur ihre Gefühle so kontrollieren, während er wie ein Hündchen hinter ihr her lief? Er schämte sich für seine Schwäche. Warum hatte er es nicht bei von ihr bestimmten Abenteuern bewenden lassen und wäre ansonsten seinen eigenen Weg gegangen, wie sie es ihm geraten hatte?

Während seine Gedanken um Gertrud kreisten, hatte er gar nicht gemerkt, dass er schon fast zuhause war. Philipp entschied sich, sein Auto draußen stehen zu lassen und nicht in der Garage zu parken. Wie spät war es eigentlich? Im diffusen Licht der Gartenleuchten, die auf seinem Weg zum Haus automatisch angingen, konnte er es nicht auf seiner Uhr erkennen. Vielleicht sieben Uhr. Aus einem Fenster drang die Erkennungsmelodie der Tagesschau. Es war doch später geworden als gedacht. Aus dem Briefkasten quollen bunte Werbeblätter. Philipp zog sie mit einem Ruck heraus. Nach der Post schaute er nicht. Morgen würde es früh genug dafür sein. Im Hausflur war es still. Bis zu seiner Wohnung im vierten Stock begegnete er niemandem auf der Treppe. Er kramte nach seinem Schlüsselbund und öffnete mit Nachdruck die Tür. Hatte sich wieder mal verzogen wie meistens, wenn es im Herbst kühler wurde.

Die Wohnung empfing ihn mit Dunkelheit und Kälte. Er knipste das Licht im Wohnzimmer an und wusste im gleichen Moment, dass er einsam war. Ein paar Tage Geschäftsreise hatten ihn davon abgelenkt. Jetzt war das Gefühl wieder da.

Der Anrufbeantworter blinkte. Philipp drückte auf die Wiedergabetaste. Eine vertraute Stimme ertönte. „Philipp, wo bist du denn. Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Sein Versäumnis. Er hatte Sabine vergessen, Bescheid zu geben. Die restlichen drei Anrufe plapperten an seinem Ohr vorbei. Handyangebote, unerlaubte Telefonwerbung.

Er bekämpfte seine leichte Aggression mit dem Gedanken an ein Glas Wein. Im Kühlschrank musste noch ein Roter stehen. Tatsächlich. Philipp holte sich ein Glas aus dem Schrank und goss sich reichlich ein. Er nahm einen Schluck und stellte das Weinglas auf der Vitrine neben der Balkontür ab. Dabei fiel sein Blick auf das Foto seines Cabrios, das dort leicht verstaubt im traurigen Arrangement mit einer kupfernen Gießkanne und einer leeren Vase stand. Er hatte das Foto lange nicht mehr bewusst angeschaut. Es musste vor rund zehn Jahren entstanden sein. Ein schönes Motiv. Sein roter Panther war darauf schräg von vorn zu sehen, im Hintergrund ein See, der tiefblau im Sonnenlicht glänzte. Die Bäume hinter dem ins Wasser führenden Steg waren bereits verfärbt. Es war Herbst gewesen. Ein wunderbarer Tag in den Vogesen. Der Name des Ortes war ihm nicht mehr geläufig. Ein kleiner Kur- und Badeort, idyllisch eingebettet in den Bergen.

Immer mehr Details fielen Philipp ein. Es war ein Kurzurlaub mit seiner Frau. Eine Katastrophe, die schon mit der Ankunft begonnen hatte. Sie waren gleich zum See hinunter gefahren. Auf der Uferpromenade musste er anhalten. Regina war schlecht und sie übergab sich im Auto sitzend aus der Beifahrertür. Ein prima Anfang. Aber der Rest war auch nicht besser. Sie hatten ihre Tennissachen mitgebracht. An der Uferpromenade gab es öffentliche Plätze. Sandplätze, herrlich gelegen und wunderbar gepflegt. Gespielt hatten sie dort aber nur ein einziges Mal. Mit Mühe hatte er sie dazu bewegen können. Sie wollte sich ausruhen, in der Sonne sitzen oder was auch immer. Er dagegen suchte die Aktivität. Immer war ihr Beisammensein belastet und angespannt gewesen. Schon verrückt, welche unguten Erinnerungen hinter einem so schönen Foto stecken konnten. Zur verkleisterten Wirklichkeit fehlte nur noch, dass sie lächelnd mit Sommerkleid und Strohhut vor dem Auto posiert hätte. Philipp nahm einen Schluck Rotwein.

Es gab einige solcher Fotos aus ihrer gemeinsamen Zeit. Bilder, die täuschend echt Glück vorgaukelten. Wie hatten sie das bloß angestellt? Aber vielleicht war die Sichtweise seiner Frau auf ihre Beziehung ja auch ganz anders gewesen als seine. Grundsätzlich akzeptabel und im Übrigen verbesserungsfähig oder zumindest reparabel. Könnte passen, denn Fakt war, dass sie die Hoffnung, ihre Ehe zu retten, tatsächlich bis zum Ende nie aufgegeben hatte. Noch zu der Zeit, wo sie beide schon in getrennte Bereiche der gemeinsamen Wohnung gezogen waren und ihre Ehe bereits ein Haufen Scherben war, hatte sie tapfer um ihn oder was auch immer ihr da wohl erhaltenswert schien gekämpft.

Die Türklingel unterbrach die Gedanken von Philipp Eigentlich war er nicht in der Stimmung, sich auf jemanden einzulassen. Egal, wer es war. Dennoch drückte er die Gegensprechanlage. „Ja?“ „Ich bin`s – Michael.“ Philipp erwiderte nichts, sondern ließ ihn rein. Was sollte er auch sagen, warum er ihn abwies? Einen guten Freund, den er jetzt schon ein paar Wochen lang nicht gesehen hatte. Michael kämpfte sich die vier Stockwerke hoch und stand eine gefühlte Stunde später vor ihm. „Hallo, komm rein,“ meinte Philipp müde und geleitete ihn ins Wohnzimmer. Michael war Künstler. Regina hatte ihn vor vielen Jahren angeschleppt, als sie einen Illustrator für ihr Kinderbuchprojekt suchte. Es ging da um einen Bären namens Kurt. Der erste Entwurf von Michael trug einen sichtbaren Penis, was Regina völlig fassungslos gemacht hatte Michael sah darin die Möglichkeit zu einem Perspektivwechsel im Kinderbuchsegment. Im Übrigen entsprach die Darstellung der starken erotischen Komponente im Schaffen von Michael. Das wurde nicht zuletzt auch im Wohnzimmer von Philipp deutlich, wo ein Werk von Michael hing. Die Kooperation zwischen Michael und Regina endete in einem Desaster. Zwischen Philipp und dem eigenwilligen Künstler entwickelte sich dagegen eine Freundschaft.