Das Sinngedicht - Gottfried Keller - E-Book

Das Sinngedicht E-Book

Gottfried Keller

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Beschreibung

Das Sinngedicht ist ein Novellenzyklus des Schweizer Dichters Gottfried Keller.Die sieben Sinngedicht-Novellen, deren jede eine glückliche oder unglückliche Liebeswahl zum Thema hat, sind in eine Rahmenerzählung eingeflochten, die selbst eine Liebesnovelle ist. Diese spielt im Deutschland der 1850er Jahre in der romantischen Umgebung einer Universitätsstadt.

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Kapitel

Gottfried Keller

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Impressum

Gottfried Keller

Das Sinngedicht

Erstes Kapitel

Ein Naturforscher entdeckt ein Verfahren und reitet über Land, dasselbe zu prüfen

Vor etwa fünfundzwanzig Jahren, als die Naturwissenschaften eben wieder auf einem höchsten Gipfel standen, obgleich das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl noch nicht bekannt war, öffnete Herr Reinhard eines Tages seine Fensterläden und liess den Morgenglanz, der hinter den Bergen hervorkam, in sein Arbeitsgemach, und mit dem Frühgolde wehte eine frische Sommermorgenluft daher und bewegte kräftig die schweren Vorhänge und die schattigen Haare des Mannes.

Der junge Tagesschein erleuchtete die Studierstube eine Doktor Faustus, aber durchaus ins Moderne, Bequeme und Zierliche übersetzt. Statt der malerischen Esse, der ungeheuerlichen Kolben und Kessel gab es da nur feine Spirituslampen und leichte Glasröhren, Porzellanschalen und Fläschchen mit geschliffenem Verschlusse, angefüllt mit Trockenem und Flüssigem aller Art, mit Säuren, Salzen und Kristallen. Die Tische waren bedeckt mit geognostischen Karten, Mineralien und hölzernen Feldspatmodellen; Schichten gelehrter Jahrbücher in allen Sprachen belasteten Stühle und Diwans, und auf den Spiegeltischchen glänzten physikalische Instrumente in blankem Messing. Kein ausgestopftes Monstrum hing an räucherigem Gewölbe, sondern bescheiden hockte ein lebendiger Frosch in einem Glase und harrte seines Stündleins, und selbst das übliche Menschengerippe in der dunklen Ecke fehlte, wogegen eine Reihe von Menschen- und Tierschädeln so weiss und appetitilich aussah, dass sie eher den Nippsachen eines Stutzers glichen als dem unheimlichen Hokuspokus eines alten Laboranten. Statt bestaubter Herbarien sah man einige feine Bogen mit Zeichnungen von Pflanzengeweben, statt schweinslederner Folianten englische Prachtwerke in gepresster Leinwand.

Wo man ein Buch oder Heft aufschlug, erblickte man nur den lateinischen Gelehrtendruck, Zahlensäulen und Logarithmen. Kein einziges Buch handelte von menschlichen oder moralischen Dingen, oder, wie man vor hundert Jahren gesagt haben würde, von Sachen des Herzens und des schönen Geschmackes.

So wollte also Reinhard sich wieder an eine stille, subtile Arbeit begeben, die er schon seit Wochen betrieb. In der Mitte des Zimmers stand ein sinnreicher Apparat, allwo ein Sonnenstrahl eingefangen und durch einen Kristallkörper geleitet wurde, um sein Verhalten in demselben zu zeigen und womöglich das innerste Geheimnis solcher durchsichtigen Bauwerke zu beleuchten. Schon viele Tage stand Reinhard vor der Maschine, guckte durch eine Röhre, den Rechenstift in der Hand, und schrieb Zahlen auf Zahlen.

Als die Sonne einige Spannen hochgestiegen, verschloss er wieder die Fenster vor der schönen Welt mit allem, was draussen lebte und webte, und liess nur einen einzigen Lichtstrahl in den verdunkelten Raum durch ein kleines Löchlein, das er in den Laden gebohrt hatte. Als dieser Strahl sorgfältig auf die Tortur gespannt war, wollte Reinhard ungesäumt sein Tagewerk beginnen, nahm Papier und Bleistift zur Hand und guckte hinein, um da fortzufahren, wo er gestern stehengeblieben.

Da fühlte er einen leise stechenden Schmerz im Auge; er rieb es mit der Fingerspitze und schaute mit dem andern durch das Rohr, und auch dieses schmerzte; denn er hatte allbereits angefangen, durch das anhaltende Treiben sich die Augen zu verderben, namentlich aber durch den unaufhörlichen Wechsel zwischen dem erleuchteten Kristall und der Dunkelheit, wenn er in dieser seine Zahlen schrieb.

Das merkte er jetzt und fuhr bedenklich zurück; wenn die Augen krank wurden, so war es aus mit allen sinnlichen Forschungen, und Reinhard sah sich dann auf beschauliches Nachdenken über das zurückgeführt, was er bislang gesehen. Er setzte sich betroffen in einen weichen Lehnstuhl, und da es nun gar so dunkel, still und einsam war, beschlichen ihn seltsame Gedanken.

Nachdem er in munterer Bewegung den grössten Teil seiner Jugend zugebracht und dabei mit Aufmerksamkeit unter den Menschen genug gesehen hatte, um von der Gesetzmässigkeit und dem Zusammenhange der moralischen Welt überzeugt zu werden, und wie überall nicht ein Wort fällt, welches nicht Ursache und Wirkung zugleich wäre, wenn auch so gering wie das Säuseln des Grashalms auf einer Wiese, war die Erkundung des Stofflichen und Sinnlichen ihm sein all und eines geworden.

Nun hatte er seit Jahren das Menschenleben fast vergessen, und dass er einst auch gelacht und gezürnt, töricht und klug, froh und traurig gewesen. Jetzt lachte er nur, wenn unter seinen chemischen Stoffen allerlei Komödien und unerwartete Entwicklungen spielten; jetzt wurde er nur verdriesslich, wenn er einen Rechnungsfehler machte, falsch beobachtete oder ein Glas zerbrach; jetzt fühlte er sich nur klug und froh, wenn er bei seiner Arbeit das grosse Schauspiel mitgenoss, welches den unendlichen Reichtum der Erscheinungen unaufhaltsam auf eine einfachste Einheit zurückzuführen scheint, wo es heisst, im Anfang war die Kraft, oder so was.

"Die moralischen Dinge", pflegte er zu sagen, "flattern ohnehin gegenwärtig wie ein entfärbter und heruntergekommener Schmetterling in der Luft; aber der Faden, an dem sie flattern, ist gut angebunden, und sie werden uns nicht entwischen, wenn sie auch immerfort die grösste Lust bezeigen, sich unsichtbar zu machen."

Jetzt aber war es ihm, wie gesagt, unbehaglich zumut geworden; in der Besorgnis um seine Augen stellte er sich alle die guten Dinge vor, welche man mittels derselben sehen könne, und unvermerkt mischte sich darunter die menschliche Gestalt, und zwar nicht in ihren zerlegbaren Bestandteilen, sondern als Ganzes, wie sie schön und lieblich anzusehen ist und wohllautende Worte hören lässt. Es war ihm, als ob er sogleich viele gute Worte hören und darauf antworten möchte, und es gelüstete ihn plötzlich, auf das durchsichtige Meer des Lebens hinauszufahren, das Schifflein im reizenden Versuche der Freiheit da- und dorthin zu steuern, wo liebliche Dinge lockten. Aber es fiel ihm nicht der geringste Anhalt, nicht das kleinste Verhältnis ein zur Übung menschlicher Sitte: er hatte sich vereinsamt und festgerannt, es blieb still und dunkel um ihn her, es ward ihm schwül und unleidlich und er sprang auf und warf die Fensterläden wieder weit auseinander, damit es hell würde. Dann eilte er in eine Bodenkammer hinauf, wo er in Schränken eine verwahrloste Menge von Büchern stehen hatte, die von den halbvergessenen menschlichen Dingen handelten. Er zog einen Band hervor, blies den Staub davon, klopfte ihn tüchtig aus und sagte: "Komm, tapferer Lessing! es führt dich zwar jede Wäscherin im Munde, aber ohne eine Ahnung von deinem eigentlichen Wesen zu haben, das nichts andres ist als die ewige Jugend und Geschicklichkeit zu allen Dingen, der unbedingte gute Wille ohne Falsch und im Feuer vergoldet!"

Es war ein Band der Lachmannschen Lessingausgabe, und zwar der, in welchem die Sinngedichte des Friedrich von Logau stehen, und wie Reinhard ihn aufschlug, fiel ihm dieser Spruch in die Augen:

Wie willst Du weisse Lilien zu roten Rosen machen?Küss' eine weisse Galatee: sie wird errötend lachen.

Sogleich warf er das Buch weg und rief: "Dank dir, Vortrefflicher, der mir durch den Mund des noch älteren Toten einen so schönen Rat gibt! O, ich wusste wohl, dass man dich nur anzufragen braucht, um gleich etwas Gescheites zu hören!"

Und das Buch wieder aufnehmend, die Stelle nochmals laut lesend, rief Reinhard: "Welch ein köstliches Experiment! Wie einfach, wie tief, klar und richtig, so hübsch abgewogen und gemessen! Gerade so muss es sein: errötend lachen! Küss' eine weisse Galatee, sie wird errötend lachen!"

Das wiederholte er beständig vor sich her, während er Reisekleider hervorsuchte und seinen alten Diener herbeirief, dass er ihm schleunig helfe, den Mantelsack zu packen, und das erste beste Mietpferd bestelle auf mehrere Tage. Er anbefahl dem Alten die Obhut seiner Wohnung und ritt eine Stunde später zum Tore hinaus, entschlossen, nicht zurückzukehren, bis ihm der lockende Versuch gelungen.

Er hatte die artige Vorschrift auf einen Papierstreifen geschrieben, wie ein Rezept, und in die Brieftasche gelegt.

Zweites Kapitel

Worin es zur einen Hälfte gelingt

Als Reinhard eine Weile in den tauigen Morgen hineingezogen, wo hier und da Sensen blinkten und frische Heuerinnen die Mahden auf den Wiesen ausbreiteten, kam er an eine lange und breite, sehr schöne Brücke, welche der Frühe wegen noch still und unbegangen war und wie ein leerer Saal in der Sonne lag. Am Eingange stand ein Zollhäuschen von zierlichem Holzwerk, von blühenden Winden bedeckt, und neben dem Häuschen klang ein klarer Brunnen, an welchem die Zöllnerstochter eben das Gesicht gewaschen hatte und sich die Haare kämmte. Als sie zu dem Reiter herantrat, um den Brückenzoll zu fordern, sah er, dass es ein schönes, blasses Mädchen war, schlank von Wuchs, mit einem feinen, lustigen Gesicht und kecken Augen. Das offene braune Haar bedeckte die Schultern und den Rücken und war wie das Gesicht und die Hände feucht von dem frischen Quellwasser.

"Wahrhaftig, mein Kind!" sagte Reinhard, "Ihr seid die schönste Zöllnerin, die ich je gesehen, und ich gebe Euch den Zoll nicht, bis Ihr ein wenig mit mir geplaudert habt!"

Sie erwiderte: "Ihr seid beizeiten aufgestanden, Herr, und schon früh guter Dinge. Doch wenn Ihr mir noch einigemal sagen wollt, dass ich schön sei, so will ich gern mit Euch plaudern, solang es Euch gefällt, und Euch jedesmal antworten, dass Ihr der verständigste Reiter seid, den ich je gesehen habe!"

"Ich sage es noch einmal; der diese schöne neue Brücke gebaut und das kunstreiche Häuschen dazu erfunden, muss sich erfreuen, wenn er solche Zöllnerin davor sieht!"

"Das tut er nicht, er hasst mich!"

"Warum hasst er Euch?"

"Weil ich zuweilen, wenn er in der Nacht mit seinen zwei Rappen über die Brücke fährt, ihn etws warten lasse, eh' ich herauskomme und den Schlagbaum aufziehe; besonders wenn es regnet und kalt ist, ärgert ihn das in seiner offenen Kalesche."

"Und warum zieht Ihr den Schlagbaum so lange nicht auf?"

"Weil ich ihn nicht leiden kann!"

"Ei, und warum kann man ihn nicht leiden?"

"Weil er in mich verliebt ist und mich doch nicht ansieht, obgleich wir miteinander aufgewachsen sind. Ehe die Brücke gebaut war, hatte mein Vater die Fähre an dieser Stelle; der Baumeister war eines Fischers Sohn da drüben, und wir fuhren immer auf der Fähre mit, wenn Leute übersetzten. Jetzt ist er ein grosser Baumeister geworden und will mich nicht mehr kennen; er schämt sich aber vor mir, die ich hübsch bin, weil er immer eine buckelige, einäugige Frau im Wagen neben sich hat."

"Warum hat er, der so schöne Werke erfindet, eine so hässliche Frau?"

"Weil sie die Tochter eines Ratsmannes ist, der ihm den Brückenbau verschaffen konnte, durch den er gross und berühmt geworden. Jener sagte, er müsse seine Tochter heiraten, sonst solle er die Brücke nicht bauen."

"Und da hat er es getan?"

"Ja, ohne sich zu besinnen; seitdem muss ich lachen, wenn er über die Brücke fährt; denn er macht eine sehr traurige Figur neben seiner Buckligen, während er nichts als schlanke Pfeiler und hohe Kirchtürme im Kopf hat."

"Woher weisst du aber, dass er in dich verliebt ist?"

"Weil er immer wieder vorüberkommt, auch wenn er einen Umweg machen muss, und dann mich doch nicht ansieht!"

"Habt Ihr denn nicht ein wenig Mitleid mit ihm, oder seid Ihr am Ende nicht auch in ihn verliebt?"

"Dann würde ich Euch nichts erzählen! Einer, der eine Frau nimmt, die ihm nicht gefällt, und dann andere gern sieht, die er doch nicht anzuschauen wagt, ist ein Wicht, bei dem nicht viel zu holen ist, meint Ihr nicht?"

"Sicherlich! Und um so mehr, als dieser also recht gut weiss, was schön ist; denn je länger ich Euch und diese Brücke betrachte, desto lauter muss ich gestehen, dass es zwei schöne Dinge sind! Und doch nahm er die Hässliche nur, um die Brücke bauen zu dürfen!"

"Aber er hätte auch die Brücke fahren lassen und mich nehmen können, und dann hätte er auch etwas Schönes gehabt, wie Ihr sagt!"

"Das ist gewiss! Nun, er hat den Nutzen für sich erwählt, und Ihr habt Eure Schönheit behalten! Hier seid Ihr gerade an der rechten Stelle; viele Augen können Euch da sehen und sich an dem Anblick erfreuen!"

"Das ist mir auch lieb und mein grösstes Vergnügen! Hundert Jahre möchte ich so vor diesem Häuslein stehen und immer jung und hübsch sein! Die Schiffer grüssen mich, wenn sie unter der Brücke durchfahren, und wer darüber geht, dreht den Hals nach mir. Das fühl' ich, auch wenn ich den Rücken kehre, und weiter verlang' ich nichts. Nur der Herr Baumeister ist der einzige, der mich nie ansieht und es doch am liebsten täte! Aber nun gebt mir endlich den Zoll und und zieht Eure Strasse, Ihr wisst nun genug von mir für die schönen Worte, die Ihr mir gegeben!"

"Ich gebe dir den Zoll nicht, feines Kind, bis du mir einen Kuss gegeben!"

"Auf die Art müsste ich meinen Zoll wieder verzollen und meine eigene Schönheit versteuern!"

"Das müsst Ihr auch, wer sagt etwas anderes? Würde bringt Bürde!"

"Zieht mit Gott, es wird nichts daraus!"

"Aber Ihr müsst es gern tun, Allerschönste! So ein bisschen von Herzen!"

"Gebt den Zoll und geht!"

"Sonst tu' ich es selbst nicht; denn ich küsse nicht eine jede! Wenn du's recht artig vollbringst, so will ich das Lob deiner Schönheit verkünden und von dir erzählen, wo ich hinkomme; und ich komme weit herum!"

"Das ist nicht nötig, alle guten Werke loben sich selbst!"

"So werde ich dennoch reden, auch wenn ihr mich nicht küsst, liebe Schöne! Denn Ihr seid zu schön, als dass man davon schweigen könnte! Hier ist der Zoll!"

Er legte das Geld in ihre Hand; da hob sie den Fuss in den Steigbügel, er gab ihr die Hand und sie schwang sich zu ihm hinauf, schlang ihren Arm um seinen Hals und küsste ihn lachend. Aber sie errötete nicht, obgleich auf ihrem weissen Gesicht der bequemste und anmutigste Platz dazu vorhanden war. Sie lachte noch, als er schon über die Brücke geritten war und noch einmal zurückschaute.

"Fürs erste", sagte er zu sich selbst, "ist der Versuch nicht gelungen; die notwendigen Elemente waren nicht beisammen. Aber schon das Problem ist schön und lieblich, wie lohnend müsste erst das Gelingen sein!"

Drittes Kapitel

Worin es zur andern Hälfte gelingt

Hierauf durchritt er verschiedene Gegenden, bis es Mittag wurde, ohne dass ihm eine weitere günstige Gelegenheit aufgestossen wäre. Jetzt erinnerte ihn aber der Hunger daran, dass es Zeit zur Einkehr sei, und eben als er das Pferd zu einem Wirtshaus lenken wollte, fiel ihm der Pfarrherr des Dorfes ein, welcher ein alter Bekannter von ihm sein musste, und er richtete seinen Weg nach dem Pfarrhause. Dort erregte er ein grosses Erstaunen und eine unverhehlte Freude, die alsobald nach Schüsseln und Tellern, nach Töpfchen und Gläsern, nach Eingemachtem und Gebackenem auseinander lief, um das gewöhnliche Mittagsmahl zu erweitern. Zuletzt erschien eine blühende Tochter, deren Dasein Reinhard mit den Jahren vergessen hatte; überrascht erinnerte er sich nun wohl des artigen kleinen Mädchens, welches jetzt zur Jungfrau herangewachsen war, deren Wangen ein feines Rot schmückte und deren längliche Nase gleich einem ernsten Zeiger andächtig zur Erde wies, wohin auch der bescheidene Blick fortwährend ihr folgte. Sie begrüsste den Gast, ohne die Augen aufzuschlagen, und verschwand dann gleich wieder in der Küche.

Nun unterhielten ihn Vater und Mutter ausschliesslich von den Schicksalen ihres Hauses und verrieten eine wundersame Ordnungsliebe in diesem Punkte; denn sie hatten alle ihre kleinen Erfahrungen und Vorkommnisse auf das genaueste eingereiht und abgeteilt, die angenehmen von den betrübenden abgesondert und jedes einzelne in sein rechtes Licht gesetzt und in reinliche Beziehung zum andern gebracht. Der Hausherr gab dann dem Ganzen die höhere Weihe und Beleuchtung, wobei er merken liess, dass ihm die berufliche Meisterschaft im Gottvertrauen gar wohl zustatten käme bei der Lenkung einer so wunderbarlichen Lebensfahrt. Die Frau unterstützte ihn eifrigst und schloss Klagen wie Lobpreisungen mit dem Ruhme ihres Mannes und mit dem gebührenden Danke gegen den lieben Gott, der in dieser kleinen, friedlich bewegten Familie ein besonderes, fein ausgearbeitetes Kunstwerk seiner Weltregierung zu erhalten schien, durchsichtig und klar wie Glas in allen seinen Teilen, worin nicht ein dunkles Gefühlchen im Verborgenen stürmen konnte.

Dem entsprachen auch die vielen Glasglocken, welche mannigfache Familiendenkmale vor Staub schützten, sowie die zahlreichen Rähmchen an der Wand mit Silhouetten, Glückwünschen, Liedersprüchen, Epitaphien, Blumenkränzen und Landschaften von Haar, alles symmetrisch aufgehängt und mit reinlichem Glase bedeckt. In Glasschränken glänzten Porzellantassen mit Namenszügen, geschliffene Gläser mit Inschriften, Wachsblumen und Kirchenbücher mit vergoldeten Schlössern.

So sah auch die Pfarrerstochter aus, wie wenn sie eben aus einem mit Spezereien durchdufteten Glasschranke käme, als sie, sorgfältig geputzt, wieder eintrat. Sie trug ein himmelblau seidenes Kleidchen, das knapp genug einen rundlichen Busen umspannte, auf welchen die liebe, ernsthafte Nase immerfort hinab zeigte. Auch hatte sie zwei goldene Löcklein entfesselt und eine schneeweisse Küchenschürze umgebunden; und sie setzte einen Pudding so sorgfältig auf den Tisch, wie wenn sie die Weltkugel hielte. Dabei duftete sie angenehm nach dem würzigen Kuchen, den sie eben gebacken hatte.

Ihre Eltern behandelten sie aber so feierlich und gemessen, dass sie ohne sichtbaren Grund oftmals errötete und bald wieder wegging. Sie machte sich auf dem Hofe zu schaffen, wo Reinhards Pferd angebunden war, und in eifriger Fürsorge fütterte sie das Tier. Sie rückte ihm ein Gartentischchen unter die Nase und setzte ihm in ihrem Strickkörbchen einige Brocken Hausbrot, halbe Semmeln und Zwiebäcke vor, nebst einer guten Handvoll Salatblätter; auch stellte sie ein grünes Giesskännchen mit Wasser daneben, streichelte das Pferd mit zager Hand und trieb tausend fromme Dinge. Dann ging sie in ihr Zimmerchen, um schnell die unverhofften Ereignisse in ihr Tagebuch einzutragen; auch schrieb sie rasch einen Brief.

Inzwischen ging auch Reinhard hinunter, um das Pferd vorläufig bereit zu machen. Dieses hatte sich das Giesskännchen an die Nase geklemmt, und am Giesskännchen hing das Strickkörbchen, und beide Dinge suchte das verlegene Tier unmutvoll abzuschlenkern, ohne dass es ihm gelingen wollte. Reinhard lachte so laut, dass die Tochter es augenblicklich hörte und durch das Fenster sah. Als sie das Abenteuer entdeckte, kam sie eiligst herunter, nahm sich ein Herz und bat Reinhard beinahe zitternd, dass er ihren Eltern und niemand etwas davon sagen möchte, da es ihr für lange Zeit zum Aufsehen und zur Lächerlichkeit gereichen würde. Er beruhigte sie höflich und so gut er konnte, und sie eilte mit Körbchen und Kanne wie ein Reh davon, sie zu verbergen. Doch zeigte sie sich bald wieder hinter einem Fliederbusche und schien ein bedeutendes Anliegen auf dem Herzen zu haben. Reinhard schlüpfte hinter den Busch; sie zog einen sorgfältig versiegelten, mit prachtvoller Adresse versehenen Brief aus der Tasche, den sie ihm mit der geflüsterten Bitte überreichte, das Schreiben, welches einen Gruss und wichtigen Auftrag enthielte, doch ja unfehlbar an eine Freundin zu bestellen, die unweit von seinem Reisepfade wohne.

Ebenso flüsternd und bedeutsam teilte ihr Reinhard mit, dass er sie infolge eines heiligen Gelübdes ohne Widerrede küssen müsse. Sie wollte sogleich entfliehen; allein er hielt sie fest und lispelte ihr zu, wenn sie sich widersetze, so würde er das Geheimnis von der Giesskanne unter die Leute bringen, und dann sei sie für immer im Gerede. Zitternd stand sie still, und als er sie umarmte, erhob sie sich sogar auf die Zehen und küsste ihn mit geschlossenen Augen, über und über mit Rot begossen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr so ernst und andächtig, als ob sie das Abendmahl nähme. Reinhard dachte, sie sei zu sehr erschrocken und hielt sie ein kleines Weilchen im Arm, worauf er sie zum zweiten Male küsste. Aber ebenso ernsthaft wie vorhin küsste sie ihn wieder und ward noch viel röter; dann floh sie wie ein Blitz davon.

Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr heiter entgegen und zeigte ihm sein Tagebuch, in welchem sein Besuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt war, und die Pfarrfrau sagte: "Auch ich habe einige Zeilen in meine Gedenkblätter geschrieben, lieber Reinhard, damit uns Ihre Begegnung ja recht frisch im Gedächtnisse bleibe!"

Er verabschiedete sich aufs freundlichste von den Leuten, ohne dass sich die Tochter wieder sehen liess.

"Wiederum nicht gelungen!" rief er, nachdem er vom Pfarrhofe weggeritten, "aber immer reizender wird das Kunststück, je schwieriger es zu sein scheint!"

Viertes Kapitel

Worin ein Rückschritt vermieden wird

Da das Pferd noch hungrig sein musste, stieg er unweit des Dorfes nochmals ab, vor einem einsamen Wirtshause, welches am Saume eines grossen Waldes lag und und ein goldenes Waldhorn im Schilde führte. Aus dem Wald erhob sich ein schöner, grün belaubter Berg, hinein aber führte die breite Strasse in weitem Bogen.

Unter der schattigen Vorhalle des Wirtshauses sass ein stattliches Frauenzimmer und nähte. Sie war nicht minder hübsch als die Pfarrerstochter und die Zöllnerin, aber ungleich handfester. Sie trug einen schwarzen, fein gefalteten Rock mit roten Säumen und blenden weisse Hemdärmel, deren gestickte weitläufige Ränder offen auf die Handknöchel fielen. In den Flechten des Haares glänzte ein silberner Zierat, dessen Form zwischen einem Löffel und einem Pfeile schwankte.

Sie grüsste lächelnd den Reisenden und fragte, was ihm gefällig wäre.

"Etwas Hafer für das Pferd," sagte er, "und da es sich hier kühl und lieblich zu leben scheint, auch ein Glas Wein für mich, wenn Ihr so gut sein wollt!"

"Ihr habt recht," sagte sie, "es ist hier gut sein, still und angenehm und eine schöne Luft! So lasst's Euch gefallen und nehmt Platz!"

Als sie den Wein zu holen ging und mit der klaren Flasche wieder kam, bewunderte Reinhard ihre schöne Gestalt und den sicheren Gang, und als sie rüstig ein Mass Hafer siebte und dem Pferd aufschüttete, ohne an Reiz zu verlieren, sagte er sich: Wie voll ist doch die Welt von schönen Geschöpfen und sieht keines dem andern ganz gleich! - Die Schöne setzte sich hierauf an den Tisch und nahm ihre Arbeit wieder zur Hand. "Wie ich sehe," sagte Reinhard, "seid Ihr allein zu Haus?"

"Ganz allein," erwiderte sie voll Freundlichkeit, blanke Zahnreihen zeigend, "unsre Leute sind alle auf den Wiesen, um Heu zu machen."

"Gibt es viel gutes Heu dies Jahr?"

"So ziemlich; wenn das Frühjahr nicht so trocken gewesen wäre, so gäbe es noch mehr; man muss es eben nehmen, wie's kommt, alles kann nicht geraten!"

"So ist es! Der schöne Frühling war dagegen für andre Dinge gut, zum Beispiel für die Obstbäume, die konnten vortrefflich verblühen."

"Das haben sie auch redlich getan!"

"So wird es also viel Obst geben im Herbst?"

"Wir hoffen es, wenn das Wetter nicht ganz schlecht wird."

"Und was das Heu betrifft, was gilt es denn gegenwärtig?"

"Jetzt, ehe das neue Heu gemacht ist, steht es noch hoch im Preise, denn das letzte Jahr war es unergiebig; ich glaube, es hat vor acht Tagen noch über einen Taler gekostet. Es muss aber jetzt abschlagen."

"Verkauft Ihr auch von Eurem Heu, oder braucht Ihr es selbst, oder müsst Ihr noch kaufen, da Ihr ein Gasthaus führt?"

"In der Wirtschaft wird kein Heu, sondern fast nur Hafer verfüttert; für unser Vieh aber brauchen wir das Heu, und das ist es verschieden, das eine Jahr kommen wir gerade aus, das andre müssen wir dazukaufen, das dritte reicht es so gut, dass wir etwas auf den Markt bringen können; dies hängt von vielen Umständen ab, besonders auch, wie die andern Sachen und Kräuter geraten!"

"Das lässt sich denken! Das lässt sich denken! Und also über einen Taler hat der Zentner Heu noch vor acht Tagen gekostet?"

"Quälen Sie sich nun nicht länger, mein Herr!" sagte die Schöne lächelnd, "und sagen Sie mir die drolligen Dinge, die Ihnen auf der Zungenspitze sitzen, ohne Umschweif! Ich kann einen Scherz ertragen und weiss mich zu wehren!"

"Wie meinen Sie das?"

"Ei, ich seh' es Ihren Augen die ganze Zeit an, dass sie lieber von anderm sprechen als von Heu und mir ein wenig den Hof machen möchten, bis Ihr Pferd gefressen hat! Da ich einmal die arme Wirtstochter hier vorstelle, so wollen wir die wundervollen Dinge nicht verschweigen, welche man sich unter solchen Umständen sagt, und der Welt den Lauf lassen! Fangen Sie an, Herr! und seien Sie witzig und vorlaut, und ich ich werde mich zieren und spröde tun!"

"Gleich werd' ich anfangen, Sie haben mich nur überrascht!"

"Nun, lassen Sie hören!"

"Nun also - beim Himmel, ich bin ganz verblüfft und weiss nichts zu sagen!"

"Das ist nicht viel! Sollen wir etwa gar die verkehrte Welt spielen und soll ich Ihnen den Hof machen und Ihnen angenehme Dinge sagen, während Sie sich zieren? Gut denn! Sie sind in der Tat der hübscheste Mann, welcher seit langem diese Strasse geritten, gefahren oder gegangen ist!"

"Glauben Sie etwa, ich höre das ungern aus Ihrem Munde?"

"Das befürchte ich nicht im geringsten! Zwar, wie ich Sie vorhin kommen sah, dacht ich: Gelobt sei Gott, da nahet sich endlich einer, der nach was Rechtem aussieht, ohne daran zu denken! Der reitet fest in die Welt hinein und trägt gewiss keinen Spiegel in der Tasche, wie sonst die Herren aus der Stadt, denen man kaum den Rücken drehen darf, so holen sie den Spiegel hervor und beschauen sich schnell in einer Ecke! Wie Sie aber das Heugespräch führten und dabei Augen machten wie die Katze, die um den heissen Brei herumgeht, dacht' ich: es ist doch ein Schulmeister von Art!"

"Sie fallen ja aus der Rolle und sagen mir Unhöflichkeiten!"

"Es wird gleich wieder besser kommen! Sie haben eine so tüchtige Manier, dass man froh ist, Sie zu nehmen, wie Sie sind, da wir armen Menschen uns ja doch unser Leben lang mit dem Schein begnügen müssen und nicht nach dem Kern fragen dürfen. So betrachte ich Sie auch als einen schönen Schein, der vorübergeht und sein Schöppchen trinkt, und ich benutze sogar recht gern diesen Scherz, um Ihnen in allem Ernste zu sagen, dass Sie mir recht wohlgefallen! Denn so steht es in meinem Belieben!"

"Dass ich Ihnen gefalle?"

"Nein, dass ich es sagen mag!"

"Sie sind ja der Teufel im Mieder! Ein starker Geist mit langen Haaren?"

"Sie glaubten wohl nicht, dass wir hier auch geschliffene Zungen haben?"

"Ei, als Sie vorhin den Hafer siebten, sah ich, dass sie eine handfeste und zugleich anmutige Dame sind! Ihre Ausdrucksweise dagegen kann ich nicht mit den ländlichen Kleidern zusammenreimen, die Ihnen übrigens vortrefflich stehen!"

"Nun, ich habe vielleicht nicht immer in diesen Kleidern gesteckt - vielleicht auch doch! Jeder hat seine Geschichte, und die meinige werde ich Ihnen bei dieser Gelegenheit nicht auf die Nase binden! Vielleicht beliebt es mir, Ihnen zu sagen, dass Sie mir wohlgefallen, ohne dass Sie wissen, wer ich bin, wie ich dazu komme, dies zu sagen, und ohne dass Sie einen Nutzen davon haben. So setzen Sie Ihren Weg fort als ein Schein für mich, wie ich als ein Schein für sie hier zurückbleibe!"

Diese Grobheiten und seltsamen Schmeicheleien sagte die Dame nicht auf eine unangenehme Weise, sondern mit grossem Liebreiz und einem fortwährenden Lächeln des roten Mundes, und Reinhard enthielt sich nicht, endlich zu sagen: "Ich wollte, Sie blieben nun ganz bei der Stange und es beliebte Ihnen, Ihr schmeichelhaftes Wohlgefallen auch mit einem Kusse zu bestätigen!"

"Wer weiss!" sagte sie, "in Betracht, dass ich in vollkommenem Belieben Sie küssen würde und nicht Sie mich, könnte es mir vielleicht einfallen, damit Sie zum Dank für die angenehme Unterhaltung mit dem Schimpf davonreiten, geküsst worden zu sein wie ein kleines Mädchen!"

"Tun Sie mir diesen Schimpf an!"

"Wollen Sie stillhalten?"

"Da werden Sie sehen!"

Sie machte eine Bewegung, wie wenn sie sich ihm nähern wollte; in diesem Augenblick wallte aber ein kalter Schatten über sein Gesicht, die Augen funkelten unsicher zwischen Lust und Zorn, um den Mund zuckte ein halb spöttisches Lächeln, so dass sie mit fast unmerklicher Betroffenheit die angehobene Bewegung nach dem Pferd hin ablenkte, um dasselbe zu tränken. Reinhard eilte ihr nach und rief, er könne nun nicht mehr zugeben, dass Sie sein Pferd bediene! Sie liess sich aber nicht abhalten und sagte, sie würde es nicht tun, wenn sie nicht wollte, und er solle sich nicht darum kümmern.

Sie war aber in einiger Verlegenheit, denn die Sachen standen nun so, dass sie doch warten musste, bis Reinhard ihr wieder Anlass bot, ihn zu küssen, dass sie aber beleidigt war, wenn es nicht geschah. Er empfand auch die grösste Lust dazu; wie er sie aber so wohlgefällig ansah, befürchtete er, sie möchte wohl lachen, allein nicht rot werden, und da er diese Erfahrung schon hinter sich hatte, so wollte er als gewissenhafter Forscher sie nicht wiederholen, sondern nach seinem Ziele vorwärtsstreben. Dieses schien ihm jetzt schon so wünschenswert, dass er bereits eine Art Verpflichtung fühlte, keine unnützen Versuche mehr zu unternehmen und sich des lieblichen Erfolges im voraus würdig zu machen.

Er stellte sich daher, um auf gute Manier wegzukommen, als ob er den höchsten Respekt fühlte und von der Furcht beseelt wäre, mit zu weitgehenden Scherzen ihr zu missfallen. In dieser Haltung bezahlte er auch seine Zeche, verbeugte sich höflich gegen sie und sie tat das gleiche, ohne dass etwas weiteres vorfiel. Sie nahm alles wohl auf und entliess den Reiter in guter Fassung.

"Auf diesem Waldhörnchen wollen wir nicht blasen!" sagte er zu sich selbst, als ihm beim Wegreiten das Schild des Hauses in die Augen fiel, "vielleicht führt uns der Auftrag der Pfarrerstochter auf eine Spur, wie das Gute stets zum Bessern führt! Ich will den schalkhaften Seitenpfad aufsuchen, der irgend hier herum zu jenem Schloss oder Landsitz führen soll, wo die unbekannte Freundin haust!"

Fünftes Kapitel

Herr Reinhard beginnt die Tragweite seiner Unternehmung zu ahnen

Er fand bald diesen Seitenpfad; es war aber wirklich ein schalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, so verlor er sich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrockenten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düsterer Tannennacht, bald unter dichtem Buschwerke. Er geriet immer höher hinauf und sah zuletzt, dass er an der Nordseite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang schlug er sich im wilden Forste herum und sah sich oft genötigt, das Pferd am Zügel zu führen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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