Das Sinngedicht - Gottfried Keller - E-Book

Das Sinngedicht E-Book

Gottfried Keller

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Gottfried Keller (19.07.1819–15.07.1890) war ein Schweizer Dichter und Staatsbeamter. Man kann ohne Zweifel sagen, dass Gottfried Keller der wichtigste Autor der Schweiz im 19. Jahrhundert war. Wegen eines Dummejungenstreiches von einer höheren Schulbindung oder gar einem Studium ausgeschlossen, fand der Halbwaise über den Umweg der Lehre zum Landschaftsmaler doch noch zur Literatur. Er hinterlässt ein großes Werk an Gedichten, Dramen, Novellen und Romanen. Null Papier Verlag

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Gottfried Keller

Das Sinngedicht

Gottfried Keller

Das Sinngedicht

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-962812-63-8

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel – Ein Na­tur­for­scher ent­deckt ein Ver­fah­ren und rei­tet über Land, das­sel­be zu prü­fen

Zwei­tes Ka­pi­tel – Wo­rin es zur einen Hälf­te ge­lingt

Drit­tes Ka­pi­tel – Wo­rin es zur an­de­ren Hälf­te ge­lingt

Vier­tes Ka­pi­tel – Wo­rin ein Rück­schritt ver­mie­den wird

Fünf­tes Ka­pi­tel – Herr Rein­hart be­ginnt die Trag­wei­te sei­ner Un­ter­neh­mung zu ah­nen

Sechs­tes Ka­pi­tel – Wo­rin eine Fra­ge ge­stellt wird

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Von ei­ner tö­rich­ten Jung­frau

Ach­tes Ka­pi­tel – Re­gi­ne

Neun­tes Ka­pi­tel – Die arme Baro­nin

Zehn­tes Ka­pi­tel – Die Geis­ter­se­her

Elf­tes Ka­pi­tel – Don Cor­rea

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Die Ber­lo­cken

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – In wel­chem das Sinn­ge­dicht sich be­währt

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Erstes Kapitel – Ein Naturforscher entdeckt ein Verfahren und reitet über Land, dasselbe zu prüfen

Vor etwa fünf­und­zwan­zig Jah­ren, als die Na­tur­wis­sen­schaf­ten eben wie­der auf ei­nem höchs­ten Gip­fel stan­den, ob­gleich das Ge­setz der na­tür­li­chen Zucht­wahl noch nicht be­kannt war, öff­ne­te Herr Rein­hart ei­nes Ta­ges sei­ne Fens­ter­lä­den und ließ den Mor­genglanz, der hin­ter den Ber­gen her­vor­kam, in sein Ar­beits­ge­mach, und mit dem Früh­golde weh­te eine fri­sche Som­mer­mor­gen­luft da­her und be­weg­te kräf­tig die schwe­ren Vor­hän­ge und die schat­ti­gen Haa­re des Man­nes.

Der jun­ge Ta­ges­schein er­leuch­te­te die Stu­dier­stu­be eine Dok­tor Faus­tus, aber durch­aus ins Mo­der­ne, Be­que­me und Zier­li­che über­setzt. Statt der ma­le­ri­schen Esse, der un­ge­heu­er­li­chen Kol­ben und Kes­sel gab es da nur fei­ne Spi­ri­tus­lam­pen und leich­te Glas­röh­ren, Por­zel­lan­scha­len und Fläsch­chen mit ge­schlif­fe­nem Ver­schlus­se, an­ge­füllt mit Tro­cke­nem und Flüs­si­gem al­ler Art, mit Säu­ren, Sal­zen und Kris­tal­len. Die Ti­sche wa­ren be­deckt mit geo­gno­s­ti­schen Kar­ten, Mi­ne­ra­li­en und höl­zer­nen Feld­spat­mo­del­len; Schich­ten ge­lehr­ter Jahr­bü­cher in al­len Spra­chen be­las­te­ten Stüh­le und Di­wans, und auf den Spie­gel­tisch­chen glänz­ten phy­si­ka­li­sche In­stru­men­te in blan­kem Mes­sing. Kein aus­ge­stopf­tes Mon­strum hing an räu­che­ri­gem Ge­wöl­be, son­dern be­schei­den hock­te ein le­ben­di­ger Frosch in ei­nem Gla­se und harr­te sei­nes Stünd­leins, und selbst das üb­li­che Men­schen­ge­rip­pe in der dunklen Ecke fehl­te, wo­ge­gen eine Rei­he von Men­schen- und Tier­schä­deln so weiß und ap­pe­tit­lich aus­sah, dass sie eher den Nipp­sa­chen ei­nes Stut­zers gli­chen als dem un­heim­li­chen Ho­kus­po­kus ei­nes al­ten La­bo­ran­ten. Statt be­staub­ter Her­ba­ri­en sah man ei­ni­ge fei­ne Bo­gen mit Zeich­nun­gen von Pflan­zen­ge­we­ben, statt schweins­le­der­ner Fo­li­an­ten eng­li­sche Pracht­wer­ke in ge­pres­ster Lein­wand.

Wo man ein Buch oder Heft auf­schlug, er­blick­te man nur den la­tei­ni­schen Ge­lehr­ten­druck, Zah­len­säu­len und Lo­ga­rith­men. Kein ein­zi­ges Buch han­del­te von mensch­li­chen oder mo­ra­li­schen Din­gen, oder, wie man vor hun­dert Jah­ren ge­sagt ha­ben wür­de, von Sa­chen des Her­zens und des schö­nen Ge­schmackes.

So woll­te also Rein­hart sich wie­der an eine stil­le, sub­ti­le Ar­beit be­ge­ben, die er schon seit Wo­chen be­trieb. In der Mit­te des Zim­mers stand ein sinn­rei­cher Ap­pa­rat, all­wo ein Son­nen­strahl ein­ge­fan­gen und durch einen Kris­tall­kör­per ge­lei­tet wur­de, um sein Ver­hal­ten in dem­sel­ben zu zei­gen und wo­mög­lich das in­ners­te Ge­heim­nis sol­cher durch­sich­ti­gen Bau­wer­ke zu be­leuch­ten. Schon vie­le Tage stand Rein­hart vor der Ma­schi­ne, guck­te durch eine Röh­re, den Re­chen­stift in der Hand, und schrieb Zah­len auf Zah­len.

Als die Son­ne ei­ni­ge Span­nen hoch ge­stie­gen, ver­schloss er wie­der die Fens­ter vor der schö­nen Welt mit al­lem, was drau­ßen leb­te und web­te, und ließ nur einen ein­zi­gen Licht­strahl in den ver­dun­kel­ten Raum, durch ein klei­nes Löch­lein, das er in den La­den ge­bohrt hat­te. Als die­ser Strahl sorg­fäl­tig auf die Tor­tur ge­spannt war, woll­te Rein­hart un­ge­säumt sein Ta­ge­werk be­gin­nen, nahm Pa­pier und Blei­stift zur Hand und guck­te hin­ein, um da fort­zu­fah­ren, wo er ges­tern ste­hen­ge­blie­ben.

Da fühl­te er einen lei­se ste­chen­den Schmerz im Auge; er rieb es mit der Fin­ger­spit­ze und schau­te mit dem an­de­ren durch das Rohr, und auch die­ses schmerz­te; denn er hat­te all­be­reits an­ge­fan­gen, durch das an­hal­ten­de Trei­ben sich die Au­gen zu ver­der­ben, na­ment­lich aber durch den un­auf­hör­li­chen Wech­sel zwi­schen dem er­leuch­te­ten Kris­tall und der Dun­kel­heit, wenn er in die­ser sei­ne Zah­len schrieb.

Das merk­te er jetzt und fuhr be­denk­lich zu­rück; wenn die Au­gen krank wur­den, so war es aus mit al­len sinn­li­chen For­schun­gen, und Rein­hart sah sich dann auf be­schau­li­ches Nach­den­ken über das zu­rück­ge­führt, was er bis­lang ge­se­hen. Er setz­te sich be­trof­fen in einen wei­chen Lehn­stuhl, und da es nun gar so dun­kel, still und ein­sam war, be­schli­chen ihn selt­sa­me Ge­dan­ken.

Nach­dem er in mun­te­rer Be­we­gung den größ­ten Teil sei­ner Ju­gend zu­ge­bracht und da­bei mit Auf­merk­sam­keit un­ter den Men­schen ge­nug ge­se­hen hat­te, um von der Ge­setz­mä­ßig­keit und dem Zu­sam­men­hange der mo­ra­li­schen Welt über­zeugt zu wer­den, und wie über­all nicht ein Wort fällt, wel­ches nicht Ur­sa­che und Wir­kung zu­gleich wäre, wenn auch so ge­ring wie das Säu­seln des Gras­halms auf ei­ner Wie­se, war die Er­kun­dung des Stoff­li­chen und Sinn­li­chen ihm sein all und ei­nes ge­wor­den.

Nun hat­te er seit Jah­ren das Men­schen­le­ben fast ver­ges­sen und dass er einst auch ge­lacht und ge­zürnt, tö­richt und klug, froh und trau­rig ge­we­sen. Jetzt lach­te er nur, wenn un­ter sei­nen che­mi­schen Stof­fen al­ler­lei Ko­mö­di­en und un­er­war­te­te Ent­wick­lun­gen spiel­ten; jetzt wur­de er nur ver­drieß­lich, wenn er einen Rech­nungs­feh­ler mach­te, falsch be­ob­ach­te­te oder ein Glas zer­brach; jetzt fühl­te er sich nur klug und froh, wenn er bei sei­ner Ar­beit das große Schau­spiel mit­ge­noss, wel­ches den un­end­li­chen Reich­tum der Er­schei­nun­gen un­auf­halt­sam auf eine ein­fachs­te Ein­heit zu­rück­zu­füh­ren scheint, wo es heißt, im An­fang war die Kraft, oder so was.

Die mo­ra­li­schen Din­ge, pfleg­te er zu sa­gen, flat­tern oh­ne­hin ge­gen­wär­tig wie ein ent­färb­ter und her­un­ter­ge­kom­me­ner Schmet­ter­ling in der Luft; aber der Fa­den, an dem sie flat­tern, ist gut an­ge­bun­den, und sie wer­den uns nicht ent­wi­schen, wenn sie auch im­mer­fort die größ­te Lust be­zei­gen, sich un­sicht­bar zu ma­chen.

Jetzt aber war es ihm, wie ge­sagt, un­be­hag­lich zu­mut ge­wor­den; in der Be­sorg­nis um sei­ne Au­gen stell­te er sich alle die gu­ten Din­ge vor, wel­che man mit­tels der­sel­ben se­hen kön­ne, und un­ver­merkt misch­te sich dar­un­ter die mensch­li­che Ge­stalt, und zwar nicht in ih­ren zer­leg­ten Be­stand­tei­len, son­dern als Gan­zes, wie sie schön und lieb­lich an­zu­se­hen ist und wohl­lau­ten­de Wor­te hö­ren lässt. Es war ihm, als ob er so­gleich vie­le gute Wor­te hö­ren und dar­auf ant­wor­ten möch­te, und es ge­lüs­te­te ihn plötz­lich, auf das durch­sich­ti­ge Meer des Le­bens hin­aus­zu­fah­ren, das Schiff­lein im rei­zen­den Ver­su­che der Frei­heit da- oder dort­hin zu steu­ern, wo lieb­li­che Din­ge lock­ten. Aber es fiel ihm nicht der ge­rings­te An­halt, nicht das kleins­te Ver­hält­nis ein zur Übung mensch­li­cher Sit­te; er hat­te sich ver­ein­samt und fest­ge­rannt, es blieb still und dun­kel um ihn her, es ward ihm schwül und un­leid­lich, und er sprang auf und warf die Fens­ter­lä­den wie­der weit aus­ein­an­der, da­mit es hell wür­de. Dann eil­te er in eine Bo­den­kam­mer hin­auf, wo er in Schrän­ken eine ver­wahr­los­te Men­ge von Bü­chern ste­hen hat­te, die von den halb­ver­ges­se­nen mensch­li­chen Din­gen han­del­ten. Er zog einen Band her­vor, blies den Staub da­von, klopf­te ihn tüch­tig aus und sag­te: »Komm, tap­fe­rer Les­sing! es führt dich zwar jede Wä­sche­rin im Mun­de, aber ohne eine Ah­nung von dei­nem ei­gent­li­chen We­sen zu ha­ben, das nichts andres ist als die ewi­ge Ju­gend und Ge­schick­lich­keit zu al­len Din­gen, der un­be­ding­te gute Wil­le ohne Falsch und im Feu­er ver­gol­det!«

Es war ein Band der Lach­mann­schen Les­sin­g­aus­ga­be, und zwar der, in wel­chem die Sinn­ge­dich­te des Fried­rich von Lo­gau ste­hen, und wie Rein­hart ihn auf­schlug, fiel ihm die­ser Spruch in die Au­gen:

Wie willst Du wei­ße Li­li­en zu ro­ten Ro­sen ma­chen? Küss’ eine wei­ße Gala­tee: sie wird er­rö­tend la­chen.

So­gleich warf er das Buch weg und rief: »Dank dir, Vor­treff­li­cher, der mir durch den Mund des noch äl­te­ren To­ten einen so schö­nen Rat gibt! Oh, ich wuss­te wohl, dass man dich nur an­zu­fra­gen braucht, um gleich et­was Ge­schei­tes zu hö­ren!«

Und das Buch wie­der auf­neh­mend, die Stel­le noch­mals laut le­send, rief Rein­hart: »Welch ein köst­li­ches Ex­pe­ri­ment! Wie ein­fach, wie tief, klar und rich­tig, so hübsch ab­ge­wo­gen und ge­mes­sen! Gera­de so muss es sein: er­rö­tend la­chen! Küss’ eine wei­ße Gala­tee, sie wird er­rö­tend la­chen!«

Das wie­der­hol­te er be­stän­dig vor sich her, wäh­rend er Rei­se­klei­der her­vor­such­te und sei­nen al­ten Die­ner her­bei­rief, dass er ihm schleu­nig hel­fe, den Man­tel­sack zu pa­cken, und das ers­te bes­te Miet­pferd be­stel­le auf meh­re­re Tage. Er an­be­fahl dem Al­ten die Ob­hut sei­ner Woh­nung und ritt eine Stun­de spä­ter zum Tore hin­aus, ent­schlos­sen, nicht zu­rück­zu­keh­ren, bis ihm der lo­cken­de Ver­such ge­lun­gen.

Er hat­te die ar­ti­ge Vor­schrift auf einen Pa­pier­strei­fen ge­schrie­ben, wie ein Re­zept, und in die Brief­ta­sche ge­legt.

Zweites Kapitel – Worin es zur einen Hälfte gelingt

Als Rein­hart eine Wei­le in den taui­gen Mor­gen hin­ein­ge­zo­gen, wo hier und da Sen­sen blink­ten und fri­sche Heue­rin­nen die Mah­den auf den Wie­sen aus­brei­te­ten, kam er an eine lan­ge und brei­te, sehr schö­ne Brücke, wel­che der Frü­he we­gen noch still und un­be­gan­gen war und wie ein lee­rer Saal in der Son­ne lag. Am Ein­gan­ge stand ein Zoll­häus­chen von zier­li­chem Holz­werk, von blü­hen­den Win­den be­deckt, und ne­ben dem Häu­schen klang ein kla­rer Brun­nen, an wel­chem die Zöll­ner­s­toch­ter eben das Ge­sicht ge­wa­schen hat­te und sich die Haa­re kämm­te. Als sie zu dem Rei­ter her­an­trat, um den Brücken­zoll zu for­dern, sah er, dass es ein schö­nes, blas­ses Mäd­chen war, schlank von Wuchs, mit ei­nem fei­nen, lus­ti­gen Ge­sicht und ke­cken Au­gen. Das of­fe­ne brau­ne Haar be­deck­te die Schul­tern und den Rücken und war wie das Ge­sicht und die Hän­de feucht von dem fri­schen Quell­was­ser.

»Wahr­haf­tig, mein Kind!« sag­te Rein­hart, »Ihr seid die schöns­te Zöll­ne­rin, die ich je ge­se­hen, und ich gebe Euch den Zoll nicht, bis Ihr ein we­nig mit mir ge­plau­dert habt!«

Sie er­wi­der­te: »Ihr seid bei­zei­ten auf­ge­stan­den, Herr, und schon früh gu­ter Din­ge! Doch wenn Ihr mir noch ei­ni­ge­mal sa­gen wollt, dass ich schön sei, so will ich gern mit Euch plau­dern, so­lang es Euch ge­fällt, und Euch je­des Mal ant­wor­ten, dass Ihr der ver­stän­digs­te Rei­ter seid, den ich je ge­se­hen habe!«

»Ich sage es noch ein­mal: der die­se schö­ne neue Brücke ge­baut und das kunst­rei­che Häu­schen dazu er­fun­den, muss sich er­freu­en, wenn er sol­che Zöll­ne­rin da­vor sieht!«

»Das tut er nicht, er hasst mich!«

»Wa­rum hasst er Euch?«

»Weil ich zu­wei­len, wenn er in der Nacht mit sei­nen zwei Rap­pen über die Brücke fährt, ihn et­was war­ten las­se, eh’ ich her­aus­kom­me und den Schlag­baum auf­zie­he; be­son­ders wenn es reg­net und kalt ist, är­gert ihn das in sei­ner of­fe­nen Ka­le­sche.«

»Und warum zieht Ihr den Schlag­baum so lan­ge nicht auf?«

»Weil ich ihn nicht lei­den kann!«

»Ei, und warum kann man ihn nicht lei­den?«

»Weil er in mich ver­liebt ist und mich doch nicht an­sieht, ob­gleich wir mit­ein­an­der auf­ge­wach­sen sind. Ehe die Brücke ge­baut war, hat­te mein Va­ter die Fäh­re an die­ser Stel­le; der Bau­meis­ter war ei­nes Fi­schers Sohn da drü­ben, und wir fuh­ren im­mer auf der Fäh­re mit, wenn Leu­te über­setz­ten. Jetzt ist er ein großer Bau­meis­ter ge­wor­den und will mich nicht mehr ken­nen; er schämt sich aber vor mir, die ich hübsch bin, weil er im­mer eine bu­cke­li­ge, ein­äu­gi­ge Frau im Wa­gen ne­ben sich hat.«

»Wa­rum hat er, der so schö­ne Wer­ke er­fin­det, eine so häss­li­che Frau?«

»Weil sie die Toch­ter ei­nes Rats­man­nes ist, der ihm den Brücken­bau ver­schaf­fen konn­te, durch den er groß und be­rühmt ge­wor­den. Je­ner sag­te, er müs­se sei­ne Toch­ter hei­ra­ten, sonst sol­le er die Brücke nicht bau­en.«

»Und da hat er es ge­tan?«

»Ja, ohne sich zu be­sin­nen; seit­dem muss ich la­chen, wenn er über die Brücke fährt; denn er macht eine sehr trau­ri­ge Fi­gur ne­ben sei­ner Buck­li­gen, wäh­rend er nichts als schlan­ke Pfei­ler und hohe Kirchtür­me im Kopf hat.«

»Wo­her weißt du aber, dass er in dich ver­liebt ist?«

»Weil er im­mer wie­der vor­über­kommt, auch wenn er einen Um­weg ma­chen muss, und dann mich doch nicht an­sieht!«

»Habt Ihr denn nicht ein we­nig Mit­leid mit ihm, oder seid Ihr am Ende nicht auch in ihn ver­liebt?«

»Dann wür­de ich Euch nichts er­zäh­len! Ei­ner, der eine Frau nimmt, die ihm nicht ge­fällt, und dann an­de­re gern sieht, die er doch nicht an­zu­schau­en wagt, ist ein Wicht, bei dem nicht viel zu ho­len ist, meint Ihr nicht?«

»Si­cher­lich! Und um so mehr, als die­ser also recht gut weiß, was schön ist; denn je län­ger ich Euch und die­se Brücke be­trach­te, de­sto lau­ter muss ich ge­ste­hen, dass es zwei schö­ne Din­ge sind! Und doch nahm er die Häss­li­che nur, um die Brücke bau­en zu dür­fen!«

»Aber er hät­te auch die Brücke fah­ren las­sen und mich neh­men kön­nen, und dann hät­te er auch et­was Schö­nes ge­habt, wie Ihr sagt!«

»Das ist ge­wiss! Nun, er hat den Nut­zen für sich er­wählt, und Ihr habt Eure Schön­heit be­hal­ten! Hier seid Ihr ge­ra­de an der rech­ten Stel­le; vie­le Au­gen kön­nen Euch da se­hen und sich an dem An­blick er­freu­en!«

»Das ist mir auch lieb und mein größ­tes Ver­gnü­gen! Hun­dert Jah­re möch­te ich so vor die­sem Häus­lein ste­hen und im­mer jung und hübsch sein! Die Schif­fer grü­ßen mich, wenn sie un­ter der Brücke durch­fah­ren, und wer dar­über geht, dreht den Hals nach mir. Das fühl ich, auch wenn ich den Rücken keh­re, und wei­ter ver­lang ich nichts. Nur der Herr Bau­meis­ter ist der ein­zi­ge, der mich nie an­sieht und es doch am liebs­ten täte! Aber nun gebt mir end­lich den Zoll und und zieht Eure Stra­ße, Ihr wisst nun ge­nug von mir für die schö­nen Wor­te, die Ihr mir ge­ge­ben!«

»Ich gebe dir den Zoll nicht, fei­nes Kind, bis du mir einen Kuss ge­ge­ben!«

»Auf die Art müss­te ich mei­nen Zoll wie­der ver­zol­len und mei­ne ei­ge­ne Schön­heit ver­steu­ern!«

»Das müsst Ihr auch, wer sagt et­was an­de­res? Wür­de bringt Bür­de!«

»Zieht mit Gott, es wird nichts dar­aus!«

»Aber Ihr müsst es gern tun, Al­ler­schöns­te! So ein biss­chen von Her­zen!«

»Gebt den Zoll und geht!«

»Sonst tu’ ich es selbst nicht; denn ich küs­se nicht eine jede! Wenn du’s recht ar­tig voll­bringst, so will ich das Lob dei­ner Schön­heit ver­kün­den und von dir er­zäh­len, wo ich hin­kom­me; und ich kom­me weit her­um!«

»Das ist nicht nö­tig, alle gu­ten Wer­ke lo­ben sich selbst!«

»So wer­de ich den­noch re­den, auch wenn ihr mich nicht küsst, böse Schö­ne! Denn Ihr seid zu schön, als dass man da­von schwei­gen könn­te! Hier ist der Zoll!«

Er leg­te das Geld in ihre Hand; da hob sie den Fuß in den Steig­bü­gel, er gab ihr die Hand, und sie schwang sich zu ihm hin­auf, schlang ih­ren Arm um sei­nen Hals und küss­te ihn la­chend. Aber sie er­rö­te­te nicht, ob­gleich auf ih­rem wei­ßen Ge­sicht der be­quems­te und an­mu­tigs­te Platz dazu vor­han­den war. Sie lach­te noch, als er schon über die Brücke ge­rit­ten war und noch ein­mal zu­rück­schau­te.

»Fürs ers­te«, sag­te er zu sich selbst, »ist der Ver­such nicht ge­lun­gen; die not­wen­di­gen Ele­men­te wa­ren nicht bei­sam­men. Aber schon das Pro­blem ist schön und lieb­lich, wie loh­nend müss­te erst das Ge­lin­gen sein!«

Drittes Kapitel – Worin es zur anderen Hälfte gelingt

Hier­auf durch­ritt er ver­schie­de­ne Ge­gen­den, bis es Mit­tag wur­de, ohne dass ihm eine wei­te­re güns­ti­ge Ge­le­gen­heit auf­ge­sto­ßen wäre. Jetzt er­in­ner­te ihn aber der Hun­ger dar­an, dass es Zeit zur Ein­kehr sei, und eben als er das Pferd zu ei­nem Wirts­haus len­ken woll­te, fiel ihm der Pfarr­herr des Dor­fes ein, wel­cher ein al­ter Be­kann­ter von ihm sein muss­te, und er rich­te­te sei­nen Weg nach dem Pfarr­hau­se. Dort er­reg­te er ein großes Er­stau­nen und eine un­ver­hehl­te Freu­de, die al­so­bald nach Schüs­seln und Tel­lern, nach Töpf­chen und Glä­sern, nach Ein­ge­mach­tem und Ge­ba­cke­nem aus­ein­an­der­lief, um das ge­wöhn­li­che Mit­tags­mahl zu er­wei­tern. Zu­letzt er­schi­en eine blü­hen­de Toch­ter, de­ren Da­sein Rein­hart mit den Jah­ren ver­ges­sen hat­te; über­rascht er­in­ner­te er sich nun wohl des ar­ti­gen klei­nen Mäd­chens, wel­ches jetzt zur Jung­frau her­an­ge­wach­sen war, de­ren Wan­gen ein fei­nes Rot schmück­te und de­ren läng­li­che Nase gleich ei­nem erns­ten Zei­ger an­däch­tig zur Erde wies, wo­hin auch der be­schei­de­ne Blick fort­wäh­rend ihr folg­te. Sie be­grüß­te den Gast, ohne die Au­gen auf­zu­schla­gen, und ver­schwand dann gleich wie­der in der Kü­che.

Nun un­ter­hiel­ten ihn Va­ter und Mut­ter aus­schließ­lich von den Schick­sa­len ih­res Hau­ses und ver­rie­ten eine wun­der­sa­me Ord­nungs­lie­be in die­sem Punk­te; denn sie hat­ten alle ihre klei­nen Er­fah­run­gen und Vor­komm­nis­se auf das ge­naues­te ein­ge­reiht und ab­ge­teilt, die an­ge­neh­men von den be­trü­ben­den ab­ge­son­dert und je­des ein­zel­ne in sein rech­tes Licht ge­setzt und in rein­li­che Be­zie­hung zum an­de­ren ge­bracht. Der Haus­herr gab dann dem Gan­zen die hö­he­re Wei­he und Be­leuch­tung, wo­bei er mer­ken ließ, dass ihm die be­ruf­li­che Meis­ter­schaft im Gott­ver­trau­en gar wohl zu­stat­ten käme bei der Len­kung ei­ner so wun­der­bar­li­chen Le­bens­fahrt. Die Frau un­ter­stütz­te ihn eif­rigst und schloss Kla­gen wie Lob­prei­sun­gen mit dem Ruh­me ih­res Man­nes und mit dem ge­büh­ren­den Dan­ke ge­gen den lie­ben Gott, der in die­ser klei­nen, fried­lich be­weg­ten Fa­mi­lie ein be­son­de­res, fein aus­ge­ar­bei­te­tes Kunst­werk sei­ner Welt­re­gie­rung zu er­hal­ten schi­en, durch­sich­tig und klar wie Glas in al­len sei­nen Tei­len, worin nicht ein dunkles Ge­fühl­chen im Ver­bor­ge­nen stür­men konn­te.

Dem ent­spra­chen auch die vie­len Glas­glo­cken, wel­che man­nig­fa­che Fa­mi­li­en­denk­ma­le vor Staub schütz­ten, so­wie die zahl­rei­chen Rähm­chen an der Wand mit Sil­hou­et­ten, Glück­wün­schen, Lie­der­sprü­chen, Epi­ta­phien, Blu­men­krän­zen und Land­schaf­ten von Haar, al­les sym­me­trisch auf­ge­hängt und mit rein­li­chem Gla­se be­deckt. In Glas­schrän­ken glänz­ten Por­zel­lan­tas­sen mit Na­mens­zü­gen, ge­schlif­fe­ne Glä­ser mit In­schrif­ten, Wachs­blu­men und Kir­chen­bü­cher mit ver­gol­de­ten Sch­lös­sern.

So sah auch die Pfar­rers­toch­ter aus, wie wenn sie eben aus ei­nem mit Spe­ze­rei­en durch­duf­te­ten Glas­schran­ke käme, als sie, sorg­fäl­tig ge­putzt, wie­der ein­trat. Sie trug ein him­mel­blau sei­de­nes Kleid­chen, das knapp ge­nug einen rund­li­chen Bu­sen um­spann­te, auf wel­chen die lie­be, ernst­haf­te Nase im­mer­fort hin­ab­zeig­te. Auch hat­te sie zwei gol­de­ne Löck­lein ent­fes­selt und eine schnee­wei­ße Kü­chen­schür­ze um­ge­bun­den; und sie setz­te einen Pud­ding so sorg­fäl­tig auf den Tisch, wie wenn sie die Welt­ku­gel hiel­te. Da­bei duf­te­te sie an­ge­nehm nach dem wür­zi­gen Ku­chen, den sie eben ge­ba­cken hat­te.

Ihre El­tern be­han­del­ten sie aber so fei­er­lich und ge­mes­sen, dass sie ohne sicht­ba­ren Grund oft­mals er­rö­te­te und bald wie­der weg­ging. Sie mach­te sich auf dem Hofe zu schaf­fen, wo Rein­hards Pferd an­ge­bun­den war, und in eif­ri­ger Für­sor­ge füt­ter­te sie das Tier. Sie rück­te ihm ein Gar­ten­tisch­chen un­ter die Nase und setz­te ihm in ih­rem Strick­körb­chen ei­ni­ge Bro­cken Haus­brot, hal­be Sem­meln und Zwiebä­cke vor, nebst ei­ner gu­ten Hand­voll Salat­blät­ter; auch stell­te sie ein grü­nes Gieß­känn­chen mit Was­ser da­ne­ben, strei­chel­te das Pferd mit za­ger Hand und trieb tau­send from­me Din­ge. Dann ging sie in ihr Zim­mer­chen, um schnell die un­ver­hoff­ten Er­eig­nis­se in ihr Ta­ge­buch ein­zu­tra­gen; auch schrieb sie rasch einen Brief.

In­zwi­schen ging auch Rein­hart hin­un­ter, um das Pferd vor­läu­fig be­reit zu ma­chen. Die­ses hat­te sich das Gieß­känn­chen an die Nase ge­klemmt, und am Gieß­känn­chen hing das Strick­körb­chen, und bei­de Din­ge such­te das ver­le­ge­ne Tier un­mut­voll ab­zu­schlen­kern, ohne dass es ihm ge­lin­gen woll­te. Rein­hart lach­te so laut, dass die Toch­ter es au­gen­blick­lich hör­te und durch das Fens­ter sah. Als sie das Aben­teu­er ent­deck­te, kam sie ei­ligst her­un­ter, nahm sich ein Herz und bat Rein­hart bei­na­he zit­ternd, dass er ih­ren El­tern und nie­mand et­was da­von sa­gen möch­te, da es ihr für lan­ge Zeit zum Auf­se­hen und zur Lä­cher­lich­keit ge­rei­chen wür­de. Er be­ru­hig­te sie höf­lich und so gut er konn­te, und sie eil­te mit Körb­chen und Kan­ne wie ein Reh da­von, sie zu ver­ber­gen. Doch zeig­te sie sich bald wie­der hin­ter ei­nem Flie­der­bu­sche und schi­en ein be­deu­ten­des An­lie­gen auf dem Her­zen zu ha­ben. Rein­hart schlüpf­te hin­ter den Busch; sie zog einen sorg­fäl­tig ver­sie­gel­ten, mit pracht­vol­ler Adres­se ver­se­he­nen Brief aus der Ta­sche, den sie ihm mit der ge­flüs­ter­ten Bit­te über­reich­te, das Schrei­ben, wel­ches einen Gruß und wich­ti­gen Auf­trag ent­hiel­te, doch ja un­fehl­bar an eine Freun­din zu be­stel­len, die un­weit von sei­nem Rei­se­pfa­de woh­ne.

Eben­so flüs­ternd und be­deut­sam teil­te ihr Rein­hart mit, dass er sie in­fol­ge ei­nes hei­li­gen Ge­lüb­des ohne Wi­der­re­de küs­sen müs­se. Sie woll­te so­gleich ent­flie­hen; al­lein er hielt sie fest und lis­pel­te ihr zu, wenn sie sich wi­der­set­ze, so wür­de er das Ge­heim­nis von der Gieß­kan­ne un­ter die Leu­te brin­gen, und dann sei sie für im­mer im Ge­re­de. Zit­ternd stand sie still, und als er sie nun um­arm­te, er­hob sie sich so­gar auf die Ze­hen und küss­te ihn mit ge­schlos­se­nen Au­gen, über und über mit Rot be­gos­sen, aber ohne nur zu lä­cheln, viel­mehr so ernst und an­däch­tig, als ob sie das Abend­mahl näh­me. Rein­hart dach­te, sie sei zu sehr er­schro­cken und hielt sie ein klei­nes Weil­chen im Arm, wor­auf er sie zum zwei­ten Male küss­te. Aber eben­so ernst­haft wie vor­hin küss­te sie ihn wie­der und ward noch viel rö­ter. Dann floh sie wie ein Blitz da­von.

Als er wie­der ins Haus trat, kam ihm der Pfarr­herr hei­ter ent­ge­gen und zeig­te ihm sein Ta­ge­buch, in wel­chem sein Be­such be­reits mit er­bau­li­chen Wor­ten vor­ge­merkt war, und die Pfarr­frau sag­te: »Auch ich habe ei­ni­ge Zei­len in mei­ne Ge­denk­blät­ter ge­schrie­ben, lie­ber Rein­hart, da­mit uns Ihre Be­geg­nung ja recht frisch im Ge­dächt­nis­se blei­be!«

Er ver­ab­schie­de­te sich aufs freund­lichs­te von den Leu­ten, ohne dass sich die Toch­ter wie­der se­hen ließ.

»Wie­de­r­um nicht ge­lun­gen!« rief er, nach­dem er vom Pfarr­ho­fe weg­ge­rit­ten, »aber im­mer rei­zen­der wird das Kunst­stück, je schwie­ri­ger es zu sein scheint!«

Viertes Kapitel – Worin ein Rückschritt vermieden wird

Da das Pferd noch hung­rig sein muss­te, stieg er un­weit des Dor­fes noch­mals ab, vor ei­nem ein­sa­men Wirts­hau­se, wel­ches am Sau­me ei­nes großen Wal­des lag und und ein gol­de­nes Wald­horn im Schil­de führ­te. Aus dem Wald er­hob sich ein schö­ner, grün be­laub­ter Berg, hin­ein aber führ­te die brei­te Stra­ße in wei­tem Bo­gen.

Un­ter der schat­ti­gen Vor­hal­le des Wirts­hau­ses saß ein statt­li­ches Frau­en­zim­mer und näh­te. Sie war nicht min­der hübsch als die Pfar­rers­toch­ter und die Zöll­ne­rin, aber un­gleich hand­fes­ter. Sie trug einen schwar­zen, fein ge­fal­te­ten Rock mit ro­ten Säu­men und blen­den wei­ße Hem­d­är­mel, de­ren ge­stick­te weit­läu­fi­ge Rän­der of­fen auf die Hand­knö­chel fie­len. In den Flech­ten des Haa­res glänz­te ein sil­ber­ner Zie­rat, des­sen Form zwi­schen ei­nem Löf­fel und ei­nem Pfei­le schwank­te.

Sie grüß­te lä­chelnd den Rei­sen­den und frag­te, was ihm ge­fäl­lig wäre.

»Et­was Ha­fer für das Pferd«, sag­te er, »und da es sich hier kühl und lieb­lich zu le­ben scheint, auch ein Glas Wein für mich, wenn Ihr so gut sein wollt!«

»Ihr habt recht«, sag­te sie, »es ist hier gut sein, still und an­ge­nehm und eine schö­ne Luft! So lasst’s Euch ge­fal­len und nehmt Platz!«

Als sie den Wein zu ho­len ging und mit der kla­ren Fla­sche wie­der kam, be­wun­der­te Rein­hart ihre schö­ne Ge­stalt und den si­che­ren Gang, und als sie rüs­tig ein Maß Ha­fer sieb­te und dem Pferd auf­schüt­te­te, ohne an Reiz zu ver­lie­ren, sag­te er sich: Wie voll ist doch die Welt von schö­nen Ge­schöp­fen und sieht kei­nes dem an­de­ren ganz gleich! – Die Schö­ne setz­te sich hier­auf an den Tisch und nahm ihre Ar­beit wie­der zur Hand.

»Wie ich sehe«, sag­te Rein­hart, »seid Ihr al­lein zu Haus?«

»Ganz al­lein«, er­wi­der­te sie voll Freund­lich­keit, blan­ke Zahn­rei­hen zei­gend, »uns­re Leu­te sind alle auf den Wie­sen, um Heu zu ma­chen.«

»Gibt es viel gu­tes Heu dies Jahr?«

»So ziem­lich; wenn das Früh­jahr nicht so tro­cken ge­we­sen wäre, so gäbe es noch mehr; man muss es eben neh­men, wie’s kommt, al­les kann nicht ge­ra­ten!«

»So ist es! Der schö­ne Früh­ling war da­ge­gen für and­re Din­ge gut, zum Bei­spiel für die Obst­bäu­me, die konn­ten vor­treff­lich ver­blü­hen.«

»Das ha­ben sie auch red­lich ge­tan!«

»So wird es also viel Obst ge­ben im Herbst?«

»Wir hof­fen es, wenn das Wet­ter nicht ganz schlecht wird.«

»Und was das Heu be­trifft, was gilt es denn ge­gen­wär­tig?«

»Jetzt, ehe das neue Heu ge­macht ist, steht es noch hoch im Prei­se, denn das letz­te Jahr war es un­er­gie­big; ich glau­be, es hat vor acht Ta­gen noch über einen Ta­ler ge­kos­tet. Es muss aber jetzt ab­schla­gen.«

»Ver­kauft Ihr auch von Eu­rem Heu, oder braucht Ihr es selbst, oder müsst Ihr noch kau­fen, da Ihr ein Gast­haus führt?«

»In der Wirt­schaft wird kein Heu, son­dern fast nur Ha­fer ver­füt­tert; für un­ser Vieh aber brau­chen wir das Heu, und das ist es ver­schie­den, das eine Jahr kom­men wir ge­ra­de aus, das and­re müs­sen wir da­zu­kau­fen, das drit­te reicht es so gut, dass wir et­was auf den Markt brin­gen kön­nen; dies hängt von vie­len Um­stän­den ab, be­son­ders auch, wie die an­de­ren Sa­chen und Kräu­ter ge­ra­ten!«

»Das lässt sich den­ken! Das lässt sich den­ken! Und also über einen Ta­ler hat der Zent­ner Heu noch vor acht Ta­gen ge­kos­tet?«

»Quä­len Sie sich nun nicht län­ger, mein Herr!« sag­te die Schö­ne lä­chelnd, »und sa­gen Sie mir die drol­li­gen Din­ge, die Ih­nen auf der Zun­gen­spit­ze sit­zen, ohne Um­schweif! Ich kann einen Scherz er­tra­gen und weiß mich zu weh­ren!«

»Wie mei­nen Sie das?«

»Ei, ich seh’ es Ihren Au­gen die gan­ze Zeit an, dass sie lie­ber von an­derm spre­chen als von Heu und mir ein we­nig den Hof ma­chen möch­ten, bis Ihr Pferd ge­fres­sen hat! Da ich ein­mal die arme Wirt­s­toch­ter hier vor­stel­le, so wol­len wir die wun­der­vol­len Din­ge nicht ver­schwei­gen, wel­che man sich un­ter sol­chen Um­stän­den sagt, und der Welt den Lauf las­sen! Fan­gen Sie an, Herr! und sei­en Sie wit­zig und vor­laut, und ich ich wer­de mich zie­ren und sprö­de tun!«

»Gleich werd’ ich an­fan­gen, Sie ha­ben mich nur über­rascht!«

»Nun, las­sen Sie hö­ren!«

»Nun also – beim Him­mel, ich bin ganz ver­blüfft und weiß nichts zu sa­gen!«

»Das ist nicht viel! Sol­len wir etwa gar die ver­kehr­te Welt spie­len und soll ich Ih­nen den Hof ma­chen und Ih­nen an­ge­neh­me Din­ge sa­gen, wäh­rend Sie sich zie­ren? Gut denn! Sie sind in der Tat der hüb­sche­s­te Mann, wel­cher seit lan­gem die­se Stra­ße ge­rit­ten, ge­fah­ren oder ge­gan­gen ist!«

»Glau­ben Sie etwa, ich höre das un­gern aus Ihrem Mun­de?«

»Das be­fürch­te ich nicht im ge­rings­ten! Zwar, wie ich Sie vor­hin kom­men sah, dacht ich: Ge­lobt sei Gott, da na­het sich end­lich ei­ner, der nach was Rech­tem aus­sieht, ohne dar­an zu den­ken! Der rei­tet fest in die Welt hin­ein und trägt ge­wiss kei­nen Spie­gel in der Ta­sche, wie sonst die Her­ren aus der Stadt, de­nen man kaum den Rücken dre­hen darf, so ho­len sie den Spie­gel her­vor und be­schau­en sich schnell in ei­ner Ecke! Wie Sie aber das Heu­ge­spräch führ­ten und da­bei Au­gen mach­ten wie die Kat­ze, die um den hei­ßen Brei her­um­geht, dacht’ ich: es ist doch ein Schul­meis­ter von Art!«

»Sie fal­len ja aus der Rol­le und sa­gen mir Un­höf­lich­kei­ten!«

»Es wird gleich wie­der bes­ser kom­men! Sie ha­ben eine so tüch­ti­ge Ma­nier, dass man froh ist, Sie zu neh­men, wie Sie sind, da wir ar­men Men­schen uns ja doch un­ser Le­ben lang mit dem Schein be­gnü­gen müs­sen und nicht nach dem Kern fra­gen dür­fen. So be­trach­te ich Sie auch als einen schö­nen Schein, der vor­über­geht und sein Schöpp­chen trinkt, und ich be­nut­ze so­gar recht gern die­sen Scherz, um Ih­nen in al­lem Erns­te zu sa­gen, dass Sie mir recht wohl ge­fal­len! Denn so steht es in mei­nem Be­lie­ben!«

»Dass ich Ih­nen ge­fal­le?«

»Nein, dass ich es sa­gen mag!«

»Sie sind ja der Teu­fel im Mie­der! Ein star­ker Geist mit lan­gen Haa­ren?«

»Sie glaub­ten wohl nicht, dass wir hier auch ge­schlif­fe­ne Zun­gen ha­ben?«

»Ei, als Sie vor­hin den Ha­fer sieb­ten, sah ich, dass Sie eine hand­fes­te und zu­gleich an­mu­ti­ge Dame sind! Ihre Aus­drucks­wei­se da­ge­gen kann ich nicht mit den länd­li­chen Klei­dern zu­sam­men­rei­men, die Ih­nen üb­ri­gens vor­treff­lich ste­hen!«

»Nun, ich habe viel­leicht nicht im­mer in die­sen Klei­dern ge­steckt – viel­leicht auch doch! Je­der hat sei­ne Ge­schich­te, und die mei­ni­ge wer­de ich Ih­nen bei die­ser Ge­le­gen­heit nicht auf die Nase bin­den! Vi­el­leicht be­liebt es mir, Ih­nen zu sa­gen, dass Sie mir wohl­ge­fal­len, ohne dass Sie wis­sen, wer ich bin, wie ich dazu kom­me, dies zu sa­gen, und ohne dass Sie einen Nut­zen da­von ha­ben. So set­zen Sie Ihren Weg fort als ein Schein für mich, wie ich als ein Schein für Sie hier zu­rück­blei­be!«

Die­se Grob­hei­ten und selt­sa­men Schmei­che­lei­en sag­te die Dame nicht auf eine un­an­ge­neh­me Wei­se, son­dern mit großem Lieb­reiz und ei­nem fort­wäh­ren­den Lä­cheln des ro­ten Mun­des, und Rein­hart ent­hielt sich nicht, end­lich zu sa­gen: »Ich woll­te, Sie blie­ben nun ganz bei der Stan­ge und es be­lieb­te Ih­nen, Ihr schmei­chel­haf­tes Wohl­ge­fal­len auch mit ei­nem Kus­se zu be­stä­ti­gen!«

»Wer weiß!« sag­te sie, »in Be­tracht, dass ich in voll­kom­me­nem Be­lie­ben Sie küs­sen wür­de und nicht Sie mich, könn­te es mir viel­leicht ein­fal­len, da­mit Sie zum Dank für die an­ge­neh­me Un­ter­hal­tung mit dem Schimpf da­von­rei­ten, ge­küsst wor­den zu sein wie ein klei­nes Mäd­chen!«

»Tun Sie mir die­sen Schimpf an!«

»Wol­len Sie still­hal­ten?«

»Da wer­den Sie se­hen!«

Sie mach­te eine Be­we­gung, wie wenn sie sich ihm nä­hern woll­te; in die­sem Au­gen­blick wall­te aber ein kal­ter Schat­ten über sein Ge­sicht, die Au­gen fun­kel­ten un­si­cher zwi­schen Lust und Zorn, um den Mund zuck­te ein halb spöt­ti­sches Lä­cheln, so­dass sie mit fast un­merk­li­cher Be­trof­fen­heit die an­ge­ho­be­ne Be­we­gung nach dem Pferd hin ab­lenk­te, um das­sel­be zu trän­ken. Rein­hart eil­te ihr nach und rief, er kön­ne nun nicht mehr zu­ge­ben, dass Sie sein Pferd be­die­ne! Sie ließ sich aber nicht ab­hal­ten und sag­te, sie wür­de es nicht tun, wenn sie nicht woll­te, und er sol­le sich nicht dar­um küm­mern.

Sie war aber in ei­ni­ger Ver­le­gen­heit, denn die Sa­chen stan­den nun so, dass sie doch war­ten muss­te, bis Rein­hart ihr wie­der An­lass bot, ihn zu küs­sen, dass sie aber be­lei­digt war, wenn es nicht ge­sch­ah. Er emp­fand auch die größ­te Lust dazu; wie er sie aber so wohl­ge­fäl­lig an­sah, be­fürch­te­te er, sie möch­te wohl la­chen, al­lein nicht rot wer­den, und da er die­se Er­fah­rung schon hin­ter sich hat­te, so woll­te er als ge­wis­sen­haf­ter For­scher sie nicht wie­der­ho­len, son­dern nach sei­nem Zie­le vor­wärts­s­tre­ben. Die­ses schi­en ihm jetzt schon so wün­schens­wert, dass er be­reits eine Art Ver­pflich­tung fühl­te, kei­ne un­nüt­zen Ver­su­che mehr zu un­ter­neh­men und sich des lieb­li­chen Er­fol­ges im vor­aus wür­dig zu ma­chen.

Er stell­te sich da­her, um auf gute Ma­nier weg­zu­kom­men, als ob er den höchs­ten Re­spekt fühl­te und von der Furcht be­seelt wäre, mit zu weit­ge­hen­den Scher­zen ihr zu miss­fal­len. In die­ser Hal­tung be­zahl­te er auch sei­ne Ze­che, ver­beug­te sich höf­lich ge­gen sie und sie tat das glei­che, ohne dass et­was wei­te­res vor­fiel. Sie nahm al­les wohl auf und entließ den Rei­ter in gu­ter Fas­sung.

»Auf die­sem Wald­hörn­chen wol­len wir nicht bla­sen!« sag­te er zu sich selbst, als ihm beim We­g­rei­ten das Schild des Hau­ses in die Au­gen fiel, »viel­leicht führt uns der Auf­trag der Pfar­rers­toch­ter auf eine Spur, wie das Gute stets zum Bes­sern führt! Ich will den schalk­haf­ten Sei­ten­pfad auf­su­chen, der ir­gend hier her­um zu je­nem Schloss oder Land­sitz füh­ren soll, wo die un­be­kann­te Freun­din haust!«

Fünftes Kapitel – Herr Reinhart beginnt die Tragweite seiner Unternehmung zu ahnen

Er fand bald die­sen Sei­ten­pfad; es war aber wirk­lich ein schalk­haf­ter; denn kaum hat­te er ihn be­tre­ten, so ver­lor er sich in ei­nem Net­ze von Holz­we­gen und aus­ge­trock­en­ten Bach­bet­ten, bald auf und ab, bald in düs­te­rer Tan­nen­nacht, bald un­ter dich­tem Buschwer­ke. Er ge­riet im­mer hö­her hin­auf und sah zu­letzt, dass er an der Nord­sei­te des aus­ge­dehn­ten Ber­ges um­her­ir­re. Stun­den­lang schlug er sich im wil­den Fors­te her­um und sah sich oft ge­nö­tigt, das Pferd am Zü­gel zu füh­ren.

»Was mir in die­ser Wild­nis er­sprie­ßen wird«, rief er un­mu­tig aus, »muss wohl eher eine stach­lich­te Dis­tel als eine wei­ße Gala­tee sein!«

Aber un­ver­merkt ent­wirr­te sich zu­gleich das Wirr­sal in er­sicht­lich künst­li­che An­la­gen, wel­che auf die West­sei­te des Ber­ges hin­über­führ­ten. Der Weg ging zwar im­mer noch durch den Wald, auf und nie­der, en­ger oder wei­ter, hier einen Blick in die Fer­ne er­lau­bend, dort in dunkle Bu­chen­gän­ge füh­rend. Al­lein im­mer deut­li­cher zeig­ten sich die An­la­gen und ver­rie­ten eine fei­ne kun­di­ge Hand; da er aber durch­aus nicht wuss­te, wo er war, und nir­gends einen Über­blick ge­win­nen konn­te, muss­te er nun auch be­fürch­ten, als ein Ein­dring­ling und Park­ver­wüs­ter zum Vor­schein zu kom­men. Das Pferd zer­riss un­barm­her­zig mit sei­nen Hu­fen den fein ge­hark­ten Bo­den, zer­trat Gras und wohl­ge­pfleg­te Wald­blu­men und zer­stör­te die Ra­sen­stu­fen, die über klei­ne Hü­gel führ­ten. In­dem er sich sehn­te, der traum­haf­ten Ver­wir­rung zu ent­rin­nen, fürch­te­te er zu­gleich das Ende und ver­wünsch­te die Stun­de, die ihn in sol­che Not ge­bracht.

Plötz­lich lich­te­ten sich die Bäu­me und Laub­wän­de, ein schma­ler Pfad führ­te un­mit­tel­bar in einen of­fe­nen Blu­men­gar­ten, wel­cher von dem jen­sei­ti­gen Ho­frau­me nur durch ein dün­nes ver­gol­de­tes Draht­git­ter ab­ge­schlos­sen war. Gern hät­te er sich über Gar­ten und Zaun mit ei­nem Sat­ze hin­weg­ge­hol­fen; da dies aber nicht mög­lich war, so ritt er mit dem Mute der Verzweif­lung und trot­zig, ohne ab­zu­stei­gen, zwi­schen den Zier­bee­ten durch, die Schne­cken­li­ni­en ver­fol­gend, de­ren wei­ßen Sand der Gaul lus­tig stäu­ben ließ.

End­lich war er hin­ter dem leich­ten Git­ter­chen an­ge­langt, das den Gar­ten ver­schloss, und das Pferd an­hal­tend, über­sah er sich zu­erst den Platz, gleich­gül­tig, ob er in die­ser bar­ba­ri­schen Lage nun ent­deckt wür­de oder nicht; denn sich zu ver­ber­gen schi­en un­mög­lich.

Er be­fand sich auf ei­ner großen Ter­ras­se am Ab­hange des Ber­ges, auf wel­cher ein schö­nes Haus stand; vor dem­sel­ben lag ein ge­räu­mi­ger, ge­vier­ter Platz, durch stei­ne­re Ba­lus­tra­den ge­gen den jä­hen Ab­hang ge­schützt. Der Platz war mit ei­ni­gen ge­wal­ti­gen Pla­ta­nen be­setzt, de­ren edle Äste sich schat­tend über ihn aus­brei­te­ten. Un­ter den Pla­ta­nen und über das Stein­ge­län­der hin­weg sah man auf einen in Win­dun­gen sich weit­hin zie­hen­den brei­ten Fluss und in ein Abend­land hin­aus, das im Glan­ze der sin­ken­den Son­ne schwamm. An den zwei üb­ri­gen Sei­ten war der Platz von Blu­men­grün­den be­grenzt, auf de­ren ei­nem der ver­le­ge­ne Rei­nahrd hielt. Er sah nun zu sei­nem Ver­drus­se, dass vorn an der Ba­lus­tra­de zwei statt­li­che Auf­fahr­ten auf den Hof mün­de­ten.

Un­ter den Pla­ta­nen aber er­blick­te er einen Brun­nen von weißem Mar­mor, der sich ei­nem vier­e­cki­gen Mo­nu­men­te gleich mit­ten auf dem Plat­ze er­hob und sein Was­ser auf je­der der vier Sei­ten in eine fla­che, eben­falls ge­vier­te, von Del­phi­nen ge­tra­ge­ne Scha­le er­goss. Teils auf dem Ran­de ei­ner die­ser Scha­len, teils auf dem kla­ren Was­ser, das kaum hand­tief den Mar­mor deck­te, lag und schwamm ein Hau­fen Ro­sen, die zu rei­ni­gen und zu ord­nen eine weib­li­che Ge­stalt ru­hig be­schäf­tigt war, ein schlan­kes Frau­en­zim­mer in weißem Som­mer­klei­de, das Ge­sicht von ei­nem brei­ten Stroh­hu­te über­schat­tet.

Die un­ter­ge­hen­de Son­ne be­streif­te noch eben die­se Höhe samt der Fon­tä­ne und ru­hi­gen Ge­stalt, über wel­che die Pla­ta­nen mit ih­ren saft­grü­nen Laub­mas­sen ihr durch­sich­ti­ges und doch kräf­ti­ges Hell­dun­kel her­nie­der­senk­ten.

Je un­ge­wohn­ter der An­blick die­ses Bil­des war, das mit sei­ner Zu­sam­men­stel­lung des Mar­mor­brun­nens und der wei­ßen Frau­en­ge­stalt eher der idea­len Er­fin­dung ei­nes mü­ßi­gen Schön­geis­tes als wirk­li­chem Le­ben glich, um so ängst­li­cher wur­de es dem ge­fan­ge­nen Rein­hart zu­mut, der wie eine Bild­säu­le stau­nend zu Pfer­de saß, bis die­ses, ein gu­tes Un­ter­kom­men wit­ternd, ur­plötz­lich auf­wie­her­te. Stut­zend forsch­te die schlan­ke Dame nach al­len Sei­ten und ent­deck­te end­lich den ver­le­ge­nen Rei­ters­mann hin­ter dem gol­de­nen Ge­we­be des leich­ten Git­ter­p­fört­chens. Er be­weg­te sich nicht, und nach­dem sie eine Wei­le ver­wun­de­rungs­voll hin­ge­se­hen, eil­te sie zur Stel­le, wie um zu er­fah­ren, ob sie wa­che oder träu­me. Als sie sah, dass sich al­les in bes­ter Wirk­lich­keit ver­hielt, öff­ne­te sie mit un­mu­ti­ger Be­we­gung das Gat­ter und sah ihn mit fra­gen­dem Blick an, der ihn ein­lud: ob es ihm viel­leicht nun­mehr be­lie­ben wer­de, mit den vier Hu­fen sei­nes Pfer­des aus dem miss­han­del­ten Gar­ten her­aus­zu­spa­zie­ren? Zu­gleich aber zog sie sich ei­lig an ih­ren Brun­nen zu­rück, eine Hand­voll Ro­sen er­fas­send und der Din­ge ge­wär­tig, die da kom­men soll­ten.

End­lich stieg Rein­hart ab, und sei­nen Miet­gaul de­mü­tig hin­ter sich her­füh­rend, über­reich­te er der reiz­vol­len Er­schei­nung, sie fort­wäh­rend an­schau­end, ohne zu re­den, mit ei­ner Ver­beu­gung den Brief der Pfar­rers­toch­ter.

Oder viel­mehr war es nicht der Brief, son­dern der Zet­tel, auf wel­chen er das Sinn­ge­dicht ge­schrie­ben:

Wie willst du wei­ße Li­li­en zu ro­ten Ro­sen ma­chen? Küss’ eine wei­ße Gala­tee: sie wird er­rö­tend la­chen.

Den Brief hielt er samt der Brief­ta­sche in der Hand und ent­deck­te sein Ver­se­hen erst, als die Dame das Pa­pier schon er­grif­fen und ge­le­sen hat­te.

Sie hielt es zwi­schen bei­den Hän­den und sah den ganz ver­wirr­ten und er­rö­ten­den Herrn Rein­hart mit großen Au­gen an, wäh­rend es zwei­fel­haft, ob bös oder gut ge­launt, um ihre Lip­pen zuck­te. Stumm gab sie den Pa­pier­strei­fen hin und nahm den Brief, den der um Nach­sicht Bit­ten­de oder Stam­meln­de da­für über­reich­te. Als sie das große Sie­gel er­blick­te, ver­brei­te­te sich eine Hei­ter­keit über das Ge­sicht, wel­ches jetzt in der Nähe wie ein schö­nes Hei­mat­land al­ler gu­ten Din­ge er­schi­en. Ein klu­ger Blick ih­rer dunklen Au­gen blitz­te auf, und als sie rasch ge­le­sen, lach­te sie und sag­te mit schalk­haft be­weg­ter Stim­me:

»Ich muss ge­ste­hen, mein Herr, das ist mir das selt­sams­te Er­eig­nis! Ein Un­be­kann­ter fällt, Mann und Pferd, vom Him­mel und fängt sich wie eine Dros­sel an den schwa­chen Git­ter­chen mei­nes Gar­tens, Bee­te und Wege zer­wüh­lend! Er über­bringt mir ein Schrei­ben, das mit dem Amts­sie­gel ei­nes ehr­wür­di­gen Geist­li­chen, mit Bi­bel, Kelch und Kreuz ge­sie­gelt ist und in wel­chem mich mei­ne Freun­din im Tale, die Pfar­rers­toch­ter, in den fle­hends­ten Aus­drücken be­schwört, ja nicht zu ver­ges­sen, ihr von dem dies­jäh­ri­gen Ret­tich­sa­men zu sen­den! Wenn Sie in ei­ni­ger Ver­fas­sung sind, sich zu ver­tei­di­gen, und Ihre wun­der­ba­re Her­kunft zu er­klä­ren, so sol­len Sie in die­ser hoch­ge­le­ge­nen Be­hau­sung will­kom­men sein, und ich, die ich zur­zeit das Wort füh­re, da mein gicht­kran­ker Oheim das Zim­mer hü­tet, will ernst und wei­se mit Ih­nen zu Rat ge­hen über die fer­ne­re Ent­wick­lung Ihres merk­wür­di­gen Le­bens­pfa­des!«

Nicht nur vom Ab­glanz der Abend­son­ne, son­dern auch von ei­nem hel­len in­ne­ren Lich­te war die zier­vol­le Dame der­ma­ßen er­leuch­tet, dass der Schein dem über­rasch­ten Rein­hart sei­ne Si­cher­heit wie­der­gab. Aber in­dem er sich sag­te, dass er hier oder nir­gends das Sprüch­lein des al­ten Lo­gau er­pro­ben möch­te, und erst jetzt die tiefe­re Be­deu­tung des­sel­ben völ­lig emp­fand, merk­te er auch, mit welch weit­läu­fi­gen Vor­ar­bei­ten und Schwie­rig­kei­ten der Ver­such ver­bun­den sein dürf­te.

Sechstes Kapitel – Worin eine Frage gestellt wird

Er ver­beug­te sich aber­mals mit al­ler Ehr­er­bie­tung und sag­te: »Ich bin über mein Ge­schick nicht we­ni­ger er­staunt als Sie, mein Fräu­lein! nur dass ich in un­ga­lan­ter­wei­se im Vor­teil und auf das an­ge­nehms­te be­trof­fen bin, wäh­rend ich auf ih­rem Ge­bie­te bis jetzt nichts als Scha­den und Un­heil an­ge­rich­tet habe. Seit heu­te früh im Frei­en, um ei­ner na­tur­wis­sen­schaft­li­chen Beo­b­ach­tung nach­zu­ge­hen, habe ich den Tag da­mit zu­ge­bracht, einen Brief von ei­ner Dame zur an­de­ren zu tra­gen, worin, wie Sie sa­gen, um Ret­tich­sa­men ge­be­ten wird; ich habe mich an die­sem Ber­ge ver­irrt, Gär­ten ver­wüs­tet und mich zu­letzt da ge­fan­gen ge­se­hen, wo ich schon frei­wil­lig habe hin­ge­hen wol­len! Wel­cher Meis­ter hat die­se schö­nen und wit­zi­gen An­la­gen ge­baut?«

»Ich selbst habe sie er­fun­den und an­ge­ge­ben, es sind eben Mäd­chen­lau­nen!« sag­te die Dame.

»Alle Ach­tung vor Ihrem Ge­schmack! Da Sie aber so kunst­rei­che Net­ze aus­brei­ten, so ha­ben Sie es sich selbst zu­zu­schrei­ben, wenn Sie ein­mal einen gro­ben Vo­gel fan­gen, auf den Sie nicht ge­rech­net ha­ben!«

»Ei, man muss neh­men, was kommt! Zu­dem freue ich mich, zu se­hen, dass mei­ne An­la­gen zu was gut sind; denn hät­ten Sie sich nicht dar­in ge­fan­gen, so wä­ren Sie viel frü­her an­ge­kom­men und wahr­schein­lich längst wie­der weg­ge­rit­ten; so aber, da es spät und weit bis zur nächs­ten Gasther­ber­ge ist, habe ich das Ver­gnü­gen, Ih­nen eine Un­ter­kunft an­zu­bie­ten. Denn Sie sind mir an­ge­le­gent­lich emp­foh­len von mei­ner Freun­din, und sie schreibt, Sie sei­en ein sehr be­ach­tens­wer­ter und ver­nünf­ti­ger Rei­sen­der, wel­cher mit ih­ren El­tern die er­bau­lichs­ten Ge­sprä­che füh­re!«

»Das wun­dert mich! Ich habe kaum zwei- oder drei­mal das Wort er­grif­fen und ei­ni­ge Mi­nu­ten lang ge­führt!«

»So muss das we­ni­ge, das Sie sag­ten, um so herr­li­cher ge­we­sen sein, und ich hof­fe, der­glei­chen auch mit Be­schei­den­heit zu ge­nie­ßen!«

»O mein Fräu­lein, es wa­ren im Ge­gen­teil zu­letzt sol­che Dumm­hei­ten, die ich be­son­ders der jun­gen Dame sag­te, dass sie den gü­ti­gen Emp­feh­lungs­brief schwer­lich mehr ge­schrie­ben hät­te, wenn es nicht schon ge­sche­hen wäre!«

»So scheint es denn bei Ih­nen in kei­ner Wei­se mit rech­ten Din­gen zu­zu­ge­hen! Wenn ich mei­nen Zweck er­rei­chen will, Sie hier zu be­hal­ten, muss ich am Ende, da al­les ver­kehrt bei Ih­nen ein­trifft, Sie vom Hofe ja­gen, da­mit Sie um so si­che­rer von der an­de­ren Sei­te wie­der zu­rück­kom­men!«

»Nein, schöns­tes Fräu­lein, ich möch­te jet­zo mit Ih­rer Hil­fe ver­su­chen, der Din­ge wie­der Meis­ter zu wer­den! Wei­sen Sie mir mei­nen Auf­ent­halt an, und ich wer­de ohne Ab­wei­chung stracks hin­zu­kom­men trach­ten und mich so fest­hal­ten wie eine Klet­te!«

»Das will ich tun! Aber dann hal­ten Sie sich ja tap­fer und las­sen sich we­der rechts noch links ver­schla­gen, und wenn Sie sich nicht recht si­cher trau­en, so blei­ben Sie lie­ber auf ei­nem Stuh­le sit­zen, bis ich Sie ru­fen las­se! Auf kei­nen Fall ent­fer­nen Sie sich vom Hau­se, und wenn Ih­nen den­noch et­was Un­ge­heu­er­li­ches oder Ver­kehr­tes auf­sto­ßen soll­te, so ru­fen Sie mich gleich zu Hil­fe! Läuft es aber glück­lich ab und hal­ten Sie sich gut über Was­ser, so se­hen wir uns bald wie­der.«

Mit die­sen Wor­ten grüß­te sie den Gast und eil­te mit ih­rem Ro­sen­kor­be in das Haus, um Leu­te zu sen­den. Es er­schi­en bald dar­auf ein al­ter Die­ner mit wei­ßen Haa­ren, der, als er das Pferd ge­se­hen, einen Stall­knecht aus dem wei­ter rück­wärts ge­le­ge­nen Wirt­schafts­ho­fe her­beihol­te. Dann ka­men zwei Mäd­chen in der ma­le­ri­schen Lan­des­tracht, die er schon im »Wald­horn« ge­se­hen, und führ­ten ihn in das Haus. Als Rein­hart in dem ihm an­ge­wie­se­nen Zim­mer ei­ni­ge Zeit ver­weilt und sein Äu­ße­res in Ord­nung ge­bracht hat­te, er­schi­en das eine der Mäd­chen wie­der mit ei­ner brei­ten Scha­le voll Ro­sen, im Auf­tra­ge der Herr­schaft die Her­ber­ge et­was freund­li­cher zu ma­chen, und das and­re folg­te auf dem Fuße mit ei­ner schö­nen Kris­tall­fla­sche, die mit ei­nem dun­keln süd­li­chen Wein halb ge­füllt war, ei­nem Gla­se und ei­ni­gen Zwiebä­cken, al­les auf ei­nem Bret­te von alt­mo­dig ge­form­tem Zinn tra­gend.

Über­rascht von dem An­blick der Grup­pe, so­wie auch et­was über­mü­tig von den fort­ge­setzt an­mu­ti­gen Be­geg­nis­sen die­ses Ta­ges, ver­hin­der­te er die Mäd­chen, ihre Ga­ben auf den Tisch zu set­zen, und führ­te sie mit wich­ti­ger Mie­ne vor einen großen Spie­gel, der den Fens­ter­pfei­ler vom Bo­den bis zur De­cke be­klei­de­te. Dort stell­te er sie, den Rücken ge­gen das Glas ge­wen­det, auf, und die Jung­frau­en lie­ßen ihn ei­ni­ge Au­gen­bli­cke ge­wäh­ren, da sie nicht wuss­ten, worum es sich han­del­te. Mit Wohl­ge­fal­len be­trach­te­te er das Bild; denn er sah nun vier Fi­gu­ren statt zwei­er, in­dem der Spie­gel den Na­cken und die Rück­sei­te der schmu­cken Trä­ge­rin­nen wie­der­gab. Um sie fest­zu­hal­ten, frag­te er sie nach dem Tauf­na­men ih­rer Ge­bie­te­rin, ob­schon er den­sel­ben be­reits kann­te, und bei­de sag­ten: »Sie heißt Lu­cia!« Zu­gleich aber ver­spür­ten die Mäg­de den Mut­wil­len, stell­ten die Sa­chen auf den Tisch und lie­fen er­rö­tend aus dem Zim­mer; drau­ßen lie­ßen sie ein kur­z­es schnip­pi­sches Ge­läch­ter er­schal­len, das gar lus­tig durch die ge­wölb­ten Gän­ge er­klang. Bald aber guck­ten ihre zwei Ge­sich­ter wie­der zu ei­ner an­de­ren Türe des Zim­mers her­ein, und die eine ver­kün­de­te mit so ziem­li­chen Wor­ten, als ob sie nicht eben laut ge­lacht hät­te: noch sol­len sie dem Herrn sa­gen, dass er un­be­denk­lich in den nächs­ten Zim­mern her­umspa­zie­ren möge, falls ihm die Zeit zu lang wer­den soll­te; es sei­en Bü­cher und der­glei­chen dort zu fin­den. Dann ver­schwan­den sie, in­dem sie einen Türflü­gel halb ge­öff­net lie­ßen.

Rein­hart tat ihn ganz auf und trat in das an­sto­ßen­de Ge­mach, das je­doch au­ßer ei­ner ge­wöhn­li­chen Zim­meraus­stat­tung nichts ent­hielt; er öff­ne­te da­her die nächs­te, bloß an­ge­lehn­te Türe und ent­deck­te einen ge­räu­mi­gen Saal, wel­cher eine Art Ar­beits­mu­se­um der Dame Lu­cia zu bil­den schi­en. Ein Bü­cher­schrank mit Gla­stü­ren zeig­te eine statt­li­che Biblio­thek, die in­des­sen durch ihr Aus­se­hen be­wies, dass sie schon äl­te­ren Her­kom­mens war. An an­de­ren Stel­len des Saa­l­es hing eine An­zahl Bil­der oder war zur be­que­men Be­trach­tung auf den Bo­den ge­stellt. Es schie­nen meis­tens gut ge­dach­te und ge­mal­te Land­schaf­ten oder dann ein­zel­ne schö­ne Por­trät­köp­fe, bei­des aber nicht von und nach be­kann­ten Meis­tern, son­dern von sol­chen, de­ren Gestirn nicht in die Wei­te zu leuch­ten pflegt oder wie­der ver­ges­sen wird. Öf­ter sieht man in al­ten Häu­sern der­lei An­schaf­fun­gen ver­gan­ge­ner Ge­schlech­ter; kunst­lie­ben­de Fa­mi­li­en­häup­ter un­ter­stütz­ten lands­män­ni­sche Ta­len­te, oder brach­ten von ih­ren Rei­sen dies oder je­nes löb­li­che, durch­aus tüch­ti­ge Ge­mäl­de nach Hau­se, von des­sen Ur­he­ber nie wie­der et­was ver­nom­men wur­de. Denn wie vie­le ster­ben jung, wie man­che blei­ben bei al­lem Fleiß und al­ler Be­ga­bung ihr Le­ben lang un­ge­sucht und un­ge­nannt. Um so ach­tens­wer­ter er­schi­en die Bil­dung des Fräu­leins, da sie ohne maß­ge­ben­de Na­men die­se un­be­kann­ten Wer­ke zu schät­zen wuss­te und so eif­rig um sich sam­mel­te. Die weiß, wie es scheint, sich an die Sa­che zu hal­ten, dach­te er, als er be­merk­te, dass alle die äl­te­ren oder neue­ren Schil­de­rei­en ent­we­der durch den Ge­gen­stand oder durch das Mach­werk ei­nem ed­le­ren Geis­te zu ge­fal­len ge­eig­net wa­ren. Ei­ni­ge große Sti­che nach Nic­laus Pous­sin und Clau­de Lor­rain hin­gen in schlich­ten höl­zer­nen Rah­men über ei­nem Schreib­tisch; auf die­sem lag eine Schicht treff­li­cher Ra­die­run­gen von gu­ten Nie­der­län­dern fried­lich ne­ben ei­nem Zu­sam­men­sto­ße von Bü­chern, wel­che flüch­tig zu be­se­hen Rein­hart kei­nen An­stand nahm. Nicht ei­nes tat ein Ha­schen nach un­nö­ti­gen, nur Staat ma­chen­den Kennt­nis­sen kund; aber auch nicht ein ge­wöhn­li­ches so­ge­nann­tes Frau­en­buch war dar­un­ter, da­ge­gen man­che gute Schrift aus ver­schie­de­ner Zeit, die nicht ge­ra­de an der großen Le­ser­stra­ße lag, ne­ben ed­len Meis­ter­wer­ken auch ehr­li­che Dumm­hei­ten und Sach­lich­kei­ten, an de­nen dies Frau­en­we­sen ir­gend­wel­chen An­teil nahm als Zei­chen ei­ner frei­en und groß­mü­ti­gen See­le.

Was ihm je­doch am meis­ten auf­fiel, war eine be­son­de­re klei­ne Bü­cher­samm­lung, die auf ei­nem Re­ga­le über dem Ti­sche nah zur Hand und von der Be­sit­ze­rin selbst ge­sam­melt und hoch­ge­hal­ten war; denn in je­dem Band stand auf dem Ti­tel­blat­te ihr Name und das Da­tum des Er­wer­bes ge­schrie­ben. Die­se Bän­de ent­hiel­ten durch­weg die ei­ge­nen Le­bens­be­schrei­bun­gen oder Brief­samm­lun­gen vie­ler­fah­re­ner oder aus­ge­zeich­ne­ter Leu­te. Ob­gleich die Bü­cher­rei­he nur ging, so­weit das Ge­stell­te nach der Län­ge des Ti­sches reich­te, um­fass­te sie doch vie­le Jahr­hun­der­te, über­all kein andres als das ei­ge­ne Wort der zur Ruhe ge­gan­ge­nen Le­bens­meis­ter oder Lei­dens­schü­ler ent­hal­tend. Von den Blät­tern des hei­li­gen Au­gus­ti­nus bis zu Rous­seau und Goe­the fehl­te kei­ne der we­sent­li­chen Be­kennt­nis­fi­beln, und ne­ben dem wil­den und prah­le­ri­schen Ben­ve­nu­to Cel­li­ni duck­te sich das from­me Ju­gend­büch­lein Jung Stil­lings. Arm in Arm rausch­ten und knis­ter­ten die Frau von Sévi­gné und der jün­ge­re Pli­ni­us ein­her, hin­ter­drein wan­der­ten die ar­men Schwei­zer­bur­schen Tho­mas Plat­ter und Ul­rich Brä­cker, der arme Mann im Tog­gen­burg. Der ei­ser­ne Götz schritt klir­rend vor­über, mit stil­lem Geis­ter­schritt kam Dan­te, sein Buch vom neu­en Le­ben in der Hand. Aber in den Auf­zeich­nun­gen des lu­the­ri­schen Theo­lo­gen und Got­tes­man­nes Jo­han­nes Va­len­tin An­dreä rauch­te und schwelte der Drei­ßig­jäh­ri­ge Krieg. Ihn bil­de­ten Not und Lei­den, hohe Ge­lahrt­heit, Gott­ver­trau­en und der Fleiß der Wi­der­sa­cher so treff­lich durch und aus, dass er zu­letzt, auf der Höhe kirch­li­cher Äm­ter ste­hend, ein nur in La­tein wür­dig zu be­schrei­ben­des Da­sein ge­wann. In sei­nem Hau­se ver­kehr­ten Her­zo­ge, Prin­zes­sin­nen und Gra­fen; er mehr­te und ver­zier­te das ge­deih­lichs­te Haus­we­sen trotz der Bos­heit, mit wel­cher eine nei­di­sche Ver­wal­tung stets sei­ne Be­sol­dun­gen ver­kür­zen woll­te. End­lich kauf­te er so­gar zwei kost­ba­re Uhren, »die der Künst­ler Hab­recht ge­macht hat­te«, und einen herr­li­chen sil­ber­nen Po­kal, wel­chen vor­dem der Kai­ser Ma­xi­mi­li­an der Zwei­te sei­nem Groß­va­ter zum Gna­den­zei­chen ge­schenkt und die Un­gunst der Zei­ten der Fa­mi­lie ge­raubt. Aber dem hoch­wür­di­gen Präla­ten er­laub­te das Wohl­er­ge­hen, das Ehren­denk­mal wie­der an sich zu brin­gen und auf­zu­rich­ten. Als er zum Ster­ben kam, emp­fahl er sei­ne See­le in­mit­ten von sie­ben hoch­ge­lehr­ten, glau­bens­star­ken Geist­li­chen in die Hän­de Got­tes. Un­lang vor­her hat­ter er frei­lich den letz­ten Ab­schnitt sei­ner Selbst­bio­gra­fie mit den Wor­ten ge­schlos­sen: »Was ich üb­ri­gens durch die tücki­schen Füch­se, mei­ne treu­lo­sen Ge­fähr­ten, die Schlan­gen­brut, litt, wird das Ta­ge­buch des nächs­ten Jah­res, so Gott will, er­zäh­len.« Gott schi­en es nicht ge­wollt zu ha­ben.

Die­se er­götz­li­che Wen­dung muss­te der Be­sit­ze­rin des Bu­ches ge­fal­len; denn sie hat­te ne­ben die Stel­le ein zier­li­ches Ver­giss­mein­nicht an den Rand ge­malt. Aus al­len Bän­den rag­ten zahl­rei­che Pa­pier­streif­chen und be­wie­sen, dass jene flei­ßig ge­le­sen wur­den.

Auf ei­nem an­de­ren Tisch la­gen in der Tat die Plä­ne zu den An­la­gen, in wel­chen Rein­hart sich ver­irrt hat­te, und an­de­re neu an­ge­fan­ge­ne.

Die­se Plä­ne wa­ren nicht etwa auf klei­ne ängst­li­che Blät­ter, son­dern mit fes­ter Hand auf zwei große Bo­gen von dickem Pack­pa­pier ge­zeich­net, und Rein­hart wur­de von al­lem, was er sah, zu ei­ner un­frei­wil­li­gen Ach­tung und Ver­wun­de­rung ge­bracht. Noch mehr ver­wun­der­te er sich, als er in ei­ner Fens­ter­cke noch einen klei­ne­ren Tisch ge­wahr­te, wie­der­um mit Bü­chern und Schrif­ten be­deckt, näm­lich mit Sprach­leh­ren und Wör­ter­bü­chern und ge­schrie­be­nen Hef­ten, die müh­se­lig mit Vo­ka­beln und Über­set­zungs­ver­su­chen an­ge­füllt wa­ren. Sie schi­en nicht nur Alt­deutsch und Alt­fran­zö­sisch, son­dern auch Hol­län­disch, Por­tu­gie­sisch und Spa­nisch zu be­trei­ben, Din­ge, die Rein­hart nur zum klei­ne­ren Tei­le ver­stand und da auch man­gel­haft; und die Sa­che be­rühr­te ihn um so selt­sa­mer, als es sich in die­ser vor­neh­men Ein­sam­keit schwer­lich um den Ge­wer­be­fleiß ei­nes so­ge­nann­ten Blau­strump­fes han­del­te.

Wie er so mit­ten in dem Saa­le stand, bei­nah ei­fer­süch­tig auf all die un­ge­wöhn­li­chen und im Grun­de doch an­spruchs­lo­sen Stu­di­en, un­ge­wiss, wie er sich dazu ver­hal­ten sol­le, trat Lu­cie her­ein und ent­schul­dig­te sich, dass sie ihn so lan­ge al­lein ge­las­sen. Sie habe sei­ne Ge­gen­wart dem kran­ken Oheim ge­mel­det, der be­dau­re, ihn jetzt nicht se­hen zu kön­nen, je­doch die Ver­säum­nis noch gutz­u­ma­chen hof­fe. Als Rein­hart die schön ge­reif­te und fri­sche Er­schei­nung wie­der er­blick­te, trat ihm un­will­kür­lich die Fra­ge, die sein In­ne­res neu­gie­rig be­weg­te, auf die Lip­pen, und er rief be­dacht­los, in­dem er sich im Saa­le um­sah: »Wa­rum trei­ben Sie alle die­se Din­ge?«

Die Fra­ge schi­en kei­nes­wegs ganz grund­los zu sein, ob­gleich sie ihm kei­ne Ant­wort ein­trug. Viel­mehr sah ihn das schö­ne Fräu­lein groß an und er­rö­te­te sicht­lich, wor­auf sie ihn mit et­was stren­ge­rer Höf­lich­keit ein­lud, sie zu be­glei­ten. Rein­hart tat es nicht ohne Ver­le­gen­heit und eben­falls mit ei­ni­ger Röte im Ge­sicht.

Siebentes Kapitel – Von einer törichten Jungfrau

Denn er fühl­te jetzt, als er sie am Arme da­hin­führ­te, dass sei­ne Fra­ge ei­gent­lich nichts andres sa­gen woll­te als: Schöns­te, weißt du nichts Bes­se­res zu tun? oder noch deut­li­cher: Was hast du er­lebt? Da­rum schritt das sich ge­gen­sei­tig un­be­kann­te Paar in gleich­mä­ßi­ger Ver­blüf­fung nach dem Spei­se­zim­mer, und je­des wünsch­te mei­len­weit vom an­de­ren ent­fernt zu sein, wohl füh­lend, dass sie sich un­vor­sich­tig in eine kri­ti­sche Lage hein­ein­ge­scherzt hat­ten.

Doch ver­lor sich die Ver­le­gen­heit, als sie in das be­reits er­leuch­te­te Zim­mer tra­ten, wo die zwei Mäg­de mit dem Auf­tra­gen des Abendes­sens be­schäf­tigt wa­ren. Man setz­te sich zu Tisch, und die Mäg­de, nach­dem sie ih­ren Dienst vor­läu­fig ge­tan, nah­men des­glei­chen Platz, ver­sa­hen sich ohne wei­te­res mit Spei­se und aßen mit Fleiß und gu­tem An­stand.

»Sie se­hen«, sag­te Lu­cie zu ih­rem Gast, »wir le­ben hier ganz pa­tri­ar­cha­lisch, und hof­fent­lich wer­den Sie sich durch die Ge­gen­wart mei­ner bra­ven Mäd­chen nicht be­lei­digt füh­len!«

»Im Ge­gen­teil«, er­wi­der­te Rein­hart, »sie trägt dazu bei, mei­ne Kur zu be­för­dern!«

»Wel­che Kur?« frag­te Lu­cie, und er ant­wor­te­te: »Die Au­gen­kur! Ich habe mir näm­lich durch mei­ne Ar­beit die Au­gen ge­schwächt und nun in ei­nem al­ten ehr­li­chen Volks­arz­nei­bu­che ge­le­sen: kran­ke Au­gen sind zu stär­ken und ge­sun­den durch flei­ßi­ges An­schau­en schö­ner Weibs­bil­der, auch durch öf­te­res Aus­schüt­ten und Be­trach­ten ei­nes Beu­tels voll neu­er Gold­stücke! Das letz­te­re Mit­tel dürf­te kaum stark auf mich ein­wir­ken; das ers­te­re hin­ge­gen scheint mir al­len Erns­tes et­was für sich zu ha­ben; denn schon schmerzt mich das Se­hen fast gar nicht mehr, wäh­rend ich noch heu­te früh es übel emp­fand!«

Die­se Wor­te äu­ßer­te Rein­hart durch­aus ernst­haft und eben­so ehr­lich, als je­nes Heil­mit­tel in dem al­ten Arz­nei­bu­che ge­meint war. In­dem er da­her an nichts we­ni­ger als an eine Schmei­che­lei dach­te, war es um so mehr eine sol­che, und zwar eine so wirk­sa­me, dass die Frau­ens­leu­te des Spot­tes ver­ga­ßen. Fräu­lein Lu­cie wur­de aufs neue ver­le­gen und wuss­te nicht, was sie aus dem wun­der­li­chen Gas­te ma­chen soll­te, und die Mägd­lein be­äu­gel­ten ihn heim­lich als eine kurz­wei­li­ge und zu­träg­li­che Ab­wechs­lung in die­sem klos­ter­ar­ti­gen Hau­se. In der Tat war es ihm so we­nig um gro­be Schmei­che­lei­en zu tun, dass er das Ge­sag­te schon be­reu­te und, um es zu mil­dern und da­von ab­zu­len­ken, hin­zu­füg­te, er habe auch einen glück­li­chen Tag ge­habt und man­cher­lei Schö­nes ge­se­hen. So er­zähl­te er auch von der hüb­schen Wirt­s­toch­ter im Wald­horn und frag­te, wel­che Be­wandt­nis es mit die­ser ei­gen­tüm­li­chen Per­son habe.

Zu­gleich je­doch be­rich­te­te er mit der un­klu­gen Auf­rich­tig­keit, wel­che ihn seit sei­ner An­kunft plag­te, den voll­stän­di­gen Her­gang und die Be­schaf­fen­heit sei­nes Aus­flu­ges, die Ent­de­ckung des wei­sen Sinn­ge­dich­tes, die Be­geg­nung mit der Zöll­ne­rin und die­je­ni­ge mit der Pfar­rers­toch­ter so­wie end­lich mit der Wald­horn­s­toch­ter. Denn so­lan­ge er un­ter den Au­gen sei­ner jet­zi­gen Gast­ge­be­rin saß oder stand, trieb es ihn wie ein Zau­ber zur Of­fen­her­zig­keit, und wenn er die ärgs­ten Teu­fe­lei­en be­gan­gen, so wür­de ihm das Ge­ständ­nis der­sel­ben über die Lip­pen ge­sprun­gen sein.

Al­lein ob­gleich die­se Wir­kung Lu­ci­en nur zum Ruh­me ge­reich­te, schi­en sie sich den­noch nicht ge­schmei­chelt zu füh­len. Sich des Zet­tels er­in­nernd, den ihr Rein­hart erst statt des Brie­fes in die Hand ge­ge­ben hat­te, rö­te­te sich ihr Ge­sicht in an­mu­ti­gem Zorn, und plötz­lich stand sie auf und sag­te mit ver­däch­ti­gem Lä­cheln:

»So ge­den­ken Sie wohl Ihre ele­gan­ten Aben­teu­er in die­sem Hau­se fort­zu­set­zen, und sind nur in die­ser schmei­chel­haf­ten Ab­sicht ge­kom­men?«

Worauf sie an­fing, ziem­lich rasch im Ge­mach auf und nie­der zu ge­hen, wäh­rend die zwei Mäd­chen als er­bos­te Schlepp­trä­ge­rin­nen ih­res Zor­nes eben­falls auf­spran­gen und ihr folg­ten, höh­ni­sche Bli­cke nach dem un­glück­lich Auf­rich­ti­gen schleu­dernd. Rein­hart säum­te nicht, sich glei­cher­ma­ßen auf die Bei­ne zu stel­len, und nach­dem er mit Be­stür­zung eine klei­ne Wei­le dem Spa­zier­gan­ge zu­ge­se­hen, sag­te er:

»Mein Fräu­lein, wenn Sie es be­feh­len, so wer­de ich ohne Ver­zug das Haus ver­las­sen und mit höf­lichs­tem Dan­ke auch für kur­z­en, aber denk­wür­di­gen Auf­ent­halt au­gen­blick­lich mei­nen Weg fort­set­zen!«

Ohne still­zu­ste­hen, er­wi­der­te die Schö­ne:

»Es ist zwar Nacht und kein Un­ter­kom­men für Sie in der Nähe; aber den­noch geht es un­ter den be­wuss­ten Um­stän­den nicht an, dass Sie hier­blei­ben, in al­lem Frie­den sei es ge­sagt! Auch kann die nächt­li­che Fahrt Ihrem un­ter­neh­men­den Geis­te nur will­kom­men sein, und über­dies wer­de ich Ih­nen einen Weglei­ter samt La­ter­ne mit­ge­ben.«

Dem­nach blieb ihm nichts an­de­res üb­rig, als sich zu ent­fer­nen; be­schei­den ging er der Dame ent­ge­gen, und im Be­griff, sich ehr­er­bie­tig zu ver­beu­gen, be­sann er sich aber ei­nes Bes­se­ren, rich­te­te sich auf und sag­te höf­lich: