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Das Werk "Das Steckenpferd des alten Derrick" ist ein 1931 veröffentlichter Roman von Edgar Wallace. Der Originaltitel lautet "The Double". Richard Horatio Edgar Wallace (geboren 1. April 1875 in Greenwich, London; gestorben 10. Februar 1932 in Hollywood, Kalifornien) war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Wallace gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.
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Seitenzahl: 261
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Mit dem Titel eines »Dr. phil.« und den armseligen Resten der väterlichen Erbschaft von eintausend Pfund, deren größten Teil er »verstudiert« hatte, verließ Dick Staines die Universität von Cambridge. Keiner war sich klarer als er über die dringende Notwendigkeit, sich schnellstens eine Existenz zu schaffen. Nach einigen Wochen Offertenschreibens auf unzählige Inserate hatten sich ihm vier Möglichkeiten geboten, die ersten Sprossen auf der Leiter zum Erfolg zu erklimmen: als Volontär in einer Autofabrik mit dreißig Schilling Wochenlohn; als Volksschullehrer – akademischer Vorbildung – mit der Aussicht, nach zehn Jahren so viel zu verdienen, daß er einen Hausstand würde gründen können; als Offizier des königlichen Heeres oder der Marine mit der Hoffnung, aus seinen Bezügen mit Mühe und Not die monatlichen Kasinoschulden zu decken, oder – als Polizeibeamter. Nach gründlichem Erwägen aller dieser Aussichten füllte er endlich einen engbedruckten Fragebogen aus und sandte ihn an den Dezernenten für Polizeiangelegenheiten der Stadt London. Der gewünschte Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Nach einigen Wochen finden wir Staines bereits in der kleidsamen blauen Uniform auf den Straßen der Metropole patrouillieren. Er war Schutzmann geworden, blieb es aber nicht lange. Seine Sprachkenntnisse – er beherrschte vier Sprachen von Grund auf, hatte genügend Vorkenntnisse in zwei weiteren und konnte sich in zwei andern gebrochen verständigen – machten seine Vorgesetzten auf ihn aufmerksam. Als er dann noch das Glück hatte, ein Attentat auf den Kriegsminister zu verhindern, war seine Laufbahn gesichert. Nach neun Jahren war er Inspektor bei der Kriminalabteilung geworden.
Wir lernen ihn kennen, als er mit Lord Thomas Weald in dessen eleganten Rolls Royce Brighton zurast. Der schuldtragende Teil an dieser eklatanten Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit war jedoch, wie wohl selbstverständlich ist, der Lord.
»Zum Schießen ist es«, kicherte er vor sich hin und schenkte dabei der Landstraße nur geringe Aufmerksamkeit. »Vor ein paar Jahren – es scheint mir, als wäre es erst gestern gewesen – hat man uns beide wegen nächtlicher Ruhestörung auf die Polizeiwache von Cambridge geschleppt, und heute« – er lachte auf –, »bist du selbst bei der ›Polente‹, Dicky!«
Sie waren während ihrer gemeinsamen Studienzeit gute Freunde geworden. Obwohl sie gleichaltrig waren, sah Tommy bedeutend jünger aus. Die ewig lächelnde Miene, das sorgenfreie Leben, das blühende Gesicht und seine unverwüstliche Laune ließen ihn noch heute als Jüngling erscheinen. Er war groß und breit, reichte Dick jedoch kaum bis an die Schultern. Wenn es so etwas gibt, was man einen »hübschen Mann« nennt, so verdiente Dick Staines unstreitig diese Bezeichnung. Seine Großherzigkeit und sein geradezu kindliches Gemüt, das er sich trotz seines Berufes verstanden hatte zu erhalten, machten ihn allgemein beliebt. Er war, obwohl es an Angriffen auf sein Herz nicht gemangelt hatte, bis heute ein unbekehrbarer Junggeselle geblieben.
Seit Jahren hatten die Freunde einander aus den Augen verloren. Tommy Weald war sofort nach Abschluß seiner Studien auf Großwildjagd gegangen und erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt. Dick hatte ihn zufällig auf dem »Strand« getroffen.
»Ich glaube, ich beginne an Gehirnerweichung zu leiden, Tommy«, meinte er. »Ich fahre hier mit dir in der Weltgeschichte herum, während ich meine schönen Urlaubstage auf dem Landsitz meines Chefs verleben könnte. Da kommst du Unglückswurm und schleppst mich auf eine deiner wilden Eskapaden. Meine Wohnung in London habe ich während meiner Urlaubswochen aus Sparsamkeitsgründen vermietet. Wo soll ich denn eigentlich, wenn ich nach Brighton zurückkomme, in London wohnen, wie?«
»Warum dir Sorgen machen, Jünger der heiligen Hermandad«, erwiderte Tommy und musterte den Freund strengen Blickes. »Du konntest doch gar nicht auf den hirnverbrannten Gedanken kommen, mich allein fahren zu lassen, oder doch? Nun, wo wir uns nach langen Jahren einmal wiedersahen? Deine Einladung vom Chef gilt doch übrigens, wie du mir selbst erzählt hast, erst von nächster Woche ab, nicht wahr? Warum also dir schon jetzt darüber den Kopf zerbrechen? Ich habe dir so viel zu erzählen, daß dir die Zeit wie im Fluge vergehen wird. Du weißt doch, daß ich auf Löwenjagd war?«
»Warst du der Gejagte, oder waren es die Löwen?« fragte Dick sarkastisch.
»Wie du willst, geliebter Sherlock Holmes. Seit wann bist du übrigens leberleidend und hypochondrisch? Brighton soll für derartige Gemütserkrankungen sehr zu empfehlen sein. Deshalb fahre ich dich ja auch jetzt dorthin. Scherz beiseite, Dick: Ein Mädchen habe ich dort kennengelernt – so etwas gibt es überhaupt nicht wieder!«
Er schnalzte mit der Zunge, um seine Mitteilung zu unterstreichen.
»Na, na, Tommy, du Schürzenjäger. Mädchenjagd ist zuweilen gefährlicher als Großwild zu schießen, und viel leichter wirst du dabei der Gejagte. Wer ist denn diese männerherzenmordende Jungfrau von Brighton?«
Tommy musterte ihn vorwurfsvoll von der Seite.
»Das kommt hier gar nicht in Frage, Dick. Wer die Gewisse ist? Von Beruf scheint sie Krankenpflegerin zu sein: Ihren Namen kenne ich leider noch nicht. Und den ausfindig zu machen, habe ich dich, den angehenden Superdetektiv, mitgenommen. Wenn du es nicht herausbekommst, wer soll dann dazu imstande sein?«
»Mein hochachtbarer Beruf ist mir für solche Dinge, wie du sie im Sinne zu haben scheinst, zu schade!« wies Staines das Ansinnen mit gemacht strenger Miene zurück. »Deine Don-Juan-Streiche mußt du selbst ausbaden; ich bin mir zu gut dazu, mich deinetwegen in die Nesseln zu setzen.«
Sie erreichten, noch ehe sich der Lord auf eine passende Antwort besinnen konnte, ihr Fahrtziel, das Metropol-Hotel in Brighton. Gemeinsam schritten sie die Freitreppe hinauf und wollten eben in das Foyer eintreten, als aus dem Hotel ein elegant gekleideter Herr mittleren Alters trat. Einen Augenblick ruhten seine Augen überrascht auf Lord Weald, dann nickte er ihm lebhaft zu.
»Kennst du den Herrn?« wandte sich Tommy an seinen Freund und blickte dem Herrn nach. »Nein? Schade! Der Mann hat einen Humor, der eine Million wert ist. Wie er heißt? Ich glaube Walter Derrick. Er wohnt neben mir in London. Du weißt ja, das Eckhaus auf dem Lowndes Square. Mein Vater und sein Vater kannten sich sehr gut. Der alte Derrick muß ein Original gewesen sein, den Schilderungen nach genau das Gegenteil seines witzigen Sohnes Walter. Eine Type ist der, na, du wirst ihn ja kennenlernen.«
Dick hatte gelogen, als er vorgab, Derrick nicht zu kennen; er kannte ihn und auch den knallgelben Rolls Royce, den er zu fahren pflegte. Eine besonders hohe Meinung hatte er von Mr. Walter Derrick nicht, denn man flüsterte sich über ihn allerlei zu, was nicht zu seiner Beliebtheit beitragen konnte. Er sollte einen armen Verwandten, der dringend der Hilfe bedurfte, aus seinem Haus gewiesen und ihm mit der Polizei gedroht haben. In dieser Beziehung schien er seinem verstorbenen Vater zu ähneln, denn auch der alte Derrick hatte den Ruf eines unverbesserlichen Geizhalses genossen. Sogar der Sohn hatte darunter zu leiden gehabt, denn man erzählte sich, daß er nur deshalb nach Südafrika ausgewandert sei, weil er sich mit dem Vater wegen eines von ihm gekauften, aber unbezahlt gebliebenen Motorrades überworfen habe. Der alte Derrick hatte das Motorrad zu einer Prestigefrage gemacht, und so war Walter Derrick als verlorener Sohn wutschnaubend aus dem Haus und ins Ausland gezogen. Er mochte dort ein ziemlich entbehrungsreiches Leben geführt haben, hatte aber den goldenen Humor, den man ihm zuschrieb, dennoch nicht verloren. Nach dem Tod des Vaters war er als dessen Universalerbe nach Hause zurückgekehrt.
In wenigen Worten hatte Tommy dem Freund die Lebensgeschichte des Mannes geschildert und fügte nun abschließend die Bemerkung hinzu: »Ich kann es ihm nicht verdenken, wenn er sich jetzt sein Leben so angenehm wie möglich macht.«
Der herrliche Sommerabend verleitete die beiden Freunde zu einem Strandspaziergang. Obwohl Dick nur hin und wieder ein Wort einwarf, plauderte Tommy dennoch unverdrossen von diesem und jenem und hatte eben eine bildreiche Darstellung einer seiner Jagden begonnen, als er plötzlich Dick am Ärmel zupfte.
»Dort kommt sie!«
Dick blickte auf. Ihnen entgegen kam in der einfachen Tracht einer Krankenpflegerin ein Mädchen, dessen Schönheit, wie er mit einem einzigen Blick feststellen konnte, tatsächlich außergewöhnlich war. Ehe er sich von seiner Bewunderung erholt hatte, war das Mädchen schon an den beiden Freunden vorübergeschritten.
»Nun?« – unterbrach Tommy den Freund.
»Ohne Zweifel ist sie hübsch.« Es war Dick klar, daß dieses kühle Urteil der klassischen Schönheit der jungen Dame bei weitem nicht gerecht werden konnte.
»Stell dir vor, geliebter Polizist«, begann nun Tommy erneut seine Hymne, »daß sich eine derartige Schönheit als Krankenpflegerin vermietet. Ist das nicht entsetzlich? Im dumpfen, heißen Zimmer jede Laune und Grille eines alten, klapprigen Mannes aushalten zu müssen? Mein Gott, welch ein Dasein! Den ganzen Tag muß das arme Ding neben einem Kinderwagen – ich meine natürlich Krankenwagen – herlaufen und aufpassen, daß der arme Kranke nicht niest. Kannst du dir das vorstellen? Nicht wahr, nein?! Aber ist sie nicht eine wirkliche Perle?«
»Ja, darin kann ich dir zustimmen, Tommy. Wie heißt sie? Ach so, du weißt das nicht ... Oder hast du dich heute etwa schon bemüht, es zu erfahren?«
»Natürlich. Ich war ja überzeugt, daß auch du vor Neugierde brennen würdest, mehr von ihr zu wissen. Ich bin zwar auch erst seit ein paar Stunden da, aber ich habe doch meine Detektiveigenschaften spielen lassen und kann dir daher alles, was du wissen willst, mitteilen. Sie heißt Mary Dane! Mary – Dane –!« Er sprach den Namen aus, als genösse er jede Silbe. »Mary Dane? Klingt das nicht wie aus einem Tonfilm herausgeschnitten?«
»Wie hast du denn den Namen so schnell festgestellt?« erkundigte sich Dick überrascht.
»Indem ich den Stier ganz einfach bei den Hörnern packte«, gab Tommy zu. »Ich bin dort hingegangen, wo sie wohnt, und habe mich nach ihr erkundigt. Der alte Herr, der das Glück hat, den ganzen Tag in ihrer Gesellschaft sein zu dürfen, heißt Cornfort. Sein Dasein verbringt er in Badeorten, von denen er alle möglichen aufsucht. Einmal habe ich mit dem Mädchen sogar gesprochen: Ich wünschte ihr ›guten Morgen‹.« Er strahlte den Freund siegessicher an.
»Und was erwiderte sie auf deine Unverschämtheit?« fragte Dick prosaisch.
»Pfui, Dick! Warum eifersüchtig? Was sie sagte? Natürlich erwiderte sie holdselig lächelnd meinen Gruß. Ich war zwar im ersten Augenblick so platt, daß ich kein weiteres Wort hervorbringen konnte, aber fest bleibt doch die Tatsache bestehen, daß sie meinen Gruß erwiderte. Sie ist eine wirkliche Dame, das verriet mir schon ihre Ausdrucksweise, als sie meinen Gruß zurückgab. Die Worte kamen wie Schlagsahne aus ihrem Munde.«
Obwohl Staines über die bildhafte Schilderung Tommys lachen mußte, konnte er doch nicht umhin, dessen Begeisterung berechtigt zu finden. Sie bummelten noch ein paar Stunden hin und her, ohne sich selbst zuzugeben, daß sie es nur in der Hoffnung taten, der schönen Krankenpflegerin noch einmal zu begegnen. Als es dunkel wurde, mußten sie den ergebnislos bleibenden Spaziergang abbrechen und begaben sich ins Hotel zurück. Um sich von den Anstrengungen des langen Spaziergangs zu erholen, hatten sie sich gerade im Rauchzimmer bei Whisky und Soda niedergelassen, als auch Derrick hereintrat und sich auf ein kurzes Nicken Tommys an ihrem Tisch niederließ.
»'n Abend, meine Herren«, begrüßte er sie. »Wenn ich Lord Weald nicht sehe, ist mir immer, als fehle mir mein zweites Ich. Wir sind die reinen siamesischen Zwillinge; sogar unsere Häuser in London sind Zwillinge. Brighton ist nicht groß genug, uns zu trennen.« Er belachte seinen eigenen Witz und bestellte sich eine Erfrischung. Dann wandte er sich an Dick: »Nun, Herr Inspektor Staines, was hat Sie nach Brighton getrieben? Beruflich? Nein? Sie wundern sich wohl, daß ich Sie kenne, wie? Nun, ich habe Sie schon oft im Gerichtssaal gesehen, wo Sie als Zeuge auftraten. Ich bin ziemlich oft zu Verhandlungen gegangen, weil ich mich für kriminalistische Fragen lebhaft interessiere. Ich scheine diese Eigenschaft von meinem Vater geerbt zu haben. Meine Büchersammlung über Kriminaltechnik steht in ihrer Reichhaltigkeit in England wohl einzig da.«
Tommy schien die Zeit gekommen, Derrick über sein Freundschaftsverhältnis zu Staines aufzuklären.
»Dick und ich sind Studienfreunde, Mr. Derrick«, sagte er. »Sie sehen in ihm ein Schulbeispiel, wie tief ein Mensch sinken kann. Polizist zu werden! Ist das nicht schrecklich?«
Derrick schien, durchaus keine Lust zu haben, auf den scherzenden Ton einzugehen.
»Eigentlich merkwürdig«, richtete er seine Worte weiter an Dick, »daß wir uns heute abend hier kennenlernen. Vor wenigen Tagen erst fiel während einer Unterhaltung mit einem Freund auch Ihr Name. Wir unterhielten uns über den berühmten Mord von Slough, dessen Sie sich wohl kaum werden erinnern können, Mr. Staines. Ich hielt mich damals gerade in Südafrika auf, und Zeitungen erreichten mich nur in unregelmäßigen Zeitabständen. Der Mann, der den Kassierer der Textilgesellschaft von Slough am hellichten Tage auf offener Straße erschoß und beraubte, wurde, wie mein Freund behauptete, niemals ergriffen, während ich gegenteiliger Ansicht war. Ich glaubte, in der Zeitung gelesen zu haben, daß er verurteilt und hingerichtet worden ist. Der Fall liegt etwa zehn Jahre zurück.«
»Ja, am selben Tag, als ich zur Polizei kam, ereignete sich das Verbrechen«, gab Dick zurück. »Nein, Mr. Derrick, den Täter hat man noch nicht. Allerlei Spuren, ja; aber ihn selbst, nein.«
»Hatte man nicht auf dem Revolverlauf, mit dem der arme Kassierer niedergeschossen worden war, den Abdruck eines Daumens gefunden? Nicht wahr, so war es? Ich erinnere mich jetzt wieder an die Einzelheiten. Ich war mir nur nicht ganz klar, ob man den Täter ergriffen hatte oder nicht.«
»Das Schlußkapitel dieses brutalen Verbrechens ist noch lange nicht geschrieben«, meinte Dick.
»Das heißt also, daß ich meine Wette verloren habe«, stellte Derrick nachdenklich fest. »Ich hätte schwören mögen, daß ich im Recht war. Mag sein, ich habe diesen Fall mit einem andern verwechselt. Sie wundern sich, warum ich mich für derartige Fälle so interessiere? Nun, ich sagte Ihnen ja schon, daß ich dieses Interesse wohl von meinem Vater geerbt haben muß; er war ja, wie Sie vielleicht wissen werden, der Besitzer einer der komplettesten Fingerabdrucksammlungen der ganzen Welt. Er war nämlich sein ganzes Leben lang der Meinung, daß die Theorie, wonach es keine zwei sich völlig gleichenden Fingerabdrücke gäbe, falsch sei. Er stützte sich darauf, daß ja die Polizei nur die Abdrücke derjenigen Leute habe, die einmal mit ihr in unangenehme Berührung gekommen waren. Die Millionen anderen – und das ist die Mehrzahl –, die ihr Dasein verbringen und beenden, ohne jemals mit der Polizei in Konflikt gekommen zu sein, hätte man bei dem jetzt üblichen Verfahren überhaupt nicht erfassen können. Mein Vater bestach Fabrikwerkmeister, Geschäftsführer und auch Arbeiter, ihm die Fingerabdrücke ihrer Kollegen zu liefern, die er dann sorgfältig registrierte. Als er endlich durch den Tod seine Aufgabe unerfüllt lassen mußte, fiel die ganze Sammlung als Erbschaft mir zu.«
»Vielleicht war es sogar die Enttäuschung, die Berechtigung seiner Theorie nicht nachweisen zu können, die Ihren Vater so frühzeitig ins Grab gebracht hat?« meinte Dick.
»Ich weiß ja nicht einmal, ob er nicht doch erfolgreich war, Mr. Staines«, gab der Sohn zurück. »Vielleicht steckte doch ein Körnchen Wahrheit in seiner Auffassung, und es gibt tatsächlich vollkommen gleiche Abdrücke verschiedener Herkunft. Die Polizei würde jedenfalls kaum behaupten können, daß dem nicht so sei, denn sie hat ja nur einen minimalen Bruchteil der Fingerabdrücke aller Menschen im Besitz.«
»Nun, setzen Sie die Nachforschungen Ihres Vaters fort?« wollte Dick wissen.
»Ich werde mich schwer hüten«, lachte Derrick. »Ich habe andere Sorgen. Die ganze Sammlung, so wie ich sie fand, verbrannte ich. Die Polizei wollte sie ja nicht haben.«
Die Unterhaltung wandte sich den Jagdabenteuern Tommys zu, und aus dem Verlauf des Gesprächs schöpfte Staines die Gewißheit, daß Walter Derrick die Gegend um den Tanganjika-See sehr genau aus eigener Anschauung kennen müsse. Endlich erhob sich Derrick.
»Der Schlaf vor Mitternacht ist der gesündeste«, sagte er. »Ich bin gewohnt, früh ins Bett zu gehen. ›Zeitig ins Bett und zeitig heraus‹ – das ist mein Wahlspruch.« Er verabschiedete sich, und Tommy blickte ihm nach.
»Einen Humor hat der Mann, der nicht mit Gold aufzuwiegen ist«, meinte er. »Ich erzählte ihm vor einigen Tagen den Witz, der mir auf ...«
»Wenn du jetzt etwa beabsichtigen solltest, den Witz aufzuwärmen, den man dir auf der Fahrt nach Beira erzählt hat, dann wirst du mein Leben auf dem Gewissen haben«, unterbrach ihn Dick. »Noch einmal würde ich einen derartigen Kalauer nicht überstehen können.« Er erhob sich: »Gute Nacht, geliebter Lord, träume süß.«
Am nächsten Morgen blühte dem mutigen Dick das Glück, der jungen Krankenpflegerin einen kleinen Dienst leisten zu können. Der alte Krankenstuhlführer bemühte sich auf der Promenade vergebens, den schweren Stuhl mit dem Kranken über eine kleine Anhöhe hinaufzuschieben, und auch die schwachen Kräfte Miss Danes reichten dazu nicht aus. Den Muskeln Staines' war die Arbeit ein Kinderspiel, und nach wenigen Augenblicken befand sich mit seiner Hilfe der Krankenstuhl auf der Höhe des kleinen Hügels. Miss Dane lächelte ihm dankbar zu, und Dick bemerkte nicht, wie er bei seiner hastigen Verbeugung einen goldenen Füllbleistift, ein Geschenk Lord Tommys, verlor. Die Kappe des Stiftes bestand aus siegellackrotem Kautschuk, wodurch das Geschenk eine individuelle Note bekam.
Dick setzte seinen Spaziergang fort. Kurz vor ein Uhr saß er auf dem Promenadengeländer und ließ das lebhafte Treiben auf dem Strandweg an sich vorüberziehen. Plötzlich fesselte eine Szene seine Aufmerksamkeit, und er sprang blitzschnell auf.
Die Straße entlang brauste ein knallgelber Rolls Royce und wollte eben um die Ecke biegen, als vor dem Wagen plötzlich der von Miss Dane und dem Fahrer begleitete Krankenfahrstuhl auftauchte, in dem Mr. Cornfort weltvergessen schlummerte. Im letzten Augenblick noch gelang es dem Insassen des Wagens, Mr. Derrick, zu bremsen, aber von der Eigengeschwindigkeit des Fahrzeugs getrieben, stellte sich das schwere Auto quer über die Straße. Dick hatte den drohenden Zusammenstoß vorausgesehen und war an die Stelle geeilt, wo er sich nun dem erschrockenen Mädchen widmete. Im Nu hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, und während ein Verkehrspolizist dem schuldigen Fahrer eine Standpredigt hielt, sprach Staines die glücklich der Gefahr entronnene Miss Dane an.
»Sie sind sehr leichtsinnig, meine Dame«, sagte er. »Wenn es jetzt nach Recht und Gesetz zugegangen wäre, müßten Sie eigentlich in den Gefilden der Seligen weilen.«
Miss Dane lächelte dem Ritter von heute morgen, den sie sofort wiedererkannt zu haben schien, verschmitzt zu.
»War das nicht zum Schießen?« fragte sie.
»Sie scheinen einen stark entwickelten Sinn für Humor zu haben, wenn Sie der Gefahr, der Sie eben mit Gottes und der Bremse Hilfe entronnen sind, etwas Lachhaftes abzugewinnen vermögen.«
Das Mädchen schien nicht gehört zu haben, denn sie antwortete nicht. Aufmerksam starrte sie auf den Schuldigen, der sich eben der Fragen des Polizisten zu erwehren versuchte.
»Ist das nicht Mr. Derrick?« wandte sie sich fragend an Dick. »Natürlich, ich erkenne ihn; seinen gelben Wagen habe ich schon oft vor dem Metropol stehen sehen. Wohnen Sie auch dort?«
»Ja, aber nur als Gast eines Freundes«, erwiderte er. »Aus eigenen Mitteln vermag ich leider nicht, mir ein derartig teures Hotel zu leisten.«
»Wie und warum Sie dort wohnen, ist ja ganz gleich: Die Hauptsache ist, daß Sie etwas vom Leben haben«, meinte das Mädchen. Sie verabschiedete sich freundlich lächelnd von Dick und setzte mit dem Krankenfahrstuhl den unterbrochenen Weg fort.
Auch auf der Rückfahrt nach London verließ Dick die Erinnerung an die hübsche Krankenpflegerin nicht. Ihr Bild verfolgte ihn und hatte in seinem Herzen anscheinend schon einen festen Platz erobert. Tommy war in Brighton zurückgeblieben, da er noch einige alte Tanten besuchen mußte. Er hatte den Freund gebeten, seine Wohnung in London zu beziehen.
»Ich habe auf dem Lowndes Square das ganze Haus leerstehen, Dick«, hatte er gesagt. »Du würdest mir einen Gefallen tun, wenn du es, solange du deine eigene Wohnung untervermietet hast, beziehen wolltest. Ich werde meinem Diener Bescheid sagen, daß du kommst. Auch meine Garage mit allen Wagen steht dir zur Verfügung.«
Dick hätte zwar ein gutes Hotel vorgezogen, wollte Tommy aber nicht kränken und hatte den Vorschlag angenommen. Der Diener des Lords erwartete ihn bei seiner Ankunft auf dem Bahnhof.
»Leider hat Seine Lordschaft zu spät angerufen«, teilte er dem Gast seines Herrn mit, »so daß sich beinahe die ganze Dienerschaft schon auf Urlaub begeben hatte. Entschuldigen Sie, bitte, dieses Durcheinander, Sir, aber Lord Weald hatte uns vor seiner Abreise alle beurlaubt.«
Dick beeilte sich, den Verstörten zu beruhigen.
»Ich brauche niemand, Minns«, sagte er. »Ich kann mich ganz gut selbst versorgen. Meine Mahlzeiten werde ich in einem Restaurant einnehmen.«
Ein kalter Imbiß stand jedoch bereit. Das Dick angewiesene Zimmer lag im dritten Stock, in dessen Höhe sich an der ganzen Hausfront ein breiter Balkon entlangzog, zu dem man vom Zimmer aus durch drei Fenstertüren Zutritt hatte. Zwei dieser Türen waren durch Rolladen verschlossen, während die dritte offenstand.
»Dieser Laden ist ein wenig schadhaft, Sir«, wies der Diener auf das offenstehende Fenster hin. »Der Gurt ist gerissen, und ich mußte den Laden durch einen kleinen Keil vor dem Herunterfallen schützen. Diesen Schlüssel hier, Mr. Staines«, Minns wies auf einen kleinen Schlüssel, der auf dem Tisch lag, »lasse ich Ihnen hier. Er gehört zur Haustür; für den Fall, daß Sie spazierengehen wollen.«
Der Mann verabschiedete sich, und Dick befand sich allein in dem großen Haus. Er kleidete sich aus und legte einen bequemen Schlafanzug an. Halb unbewußt schob er den ihm zurückgelassenen Hausschlüssel in die Jackentasche und trat auf den Balkon hinaus. Lange blickte er auf die Straße hinunter, bis er endlich durch leise fallende Tropfen aus seinem Nachsinnen herausgerissen wurde. Erstaunt blickte er zum Himmel empor, der sich mit tiefhängenden Wolken dicht überzogen hatte. Im selben Augenblick erscholl auch schon ein heftiger Donnerschlag, und das freundlich scheinende Licht aus seinem Schlafzimmer war wie ausgewischt. Durch die Erschütterung hatte sich der Keil, der nur behelfsmäßig den Rolladen offenhielt, aus der Laufrinne gelöst, und der Laden war zugefallen. Damit war dem Ausgeschlossenen der einzige Rückweg in das Zimmer versperrt. Alle Bemühungen Dicks, den Laden wieder zu öffnen, blieben vergeblich. Der Regen war inzwischen immer heftiger geworden, und Dick war nach wenigen Minuten bis auf die Haut durchnäßt. Tief unter ihm lag öde und leer der Platz; nirgends eine Menschenseele, die er hätte zur Hilfe herbeirufen können! Nur das einsame Schlußlicht eines Autos leuchtete von unten herauf. Da Staines keine Lust hatte, die ganze Nacht im Regen zu verbringen, blickte er sich nach einem Ausweg um. Am Nebenhaus, das, wie er wußte, Mr. Derrick gehörte, zog sich ein gleicher Balkon hin wie der, auf dem er sich befand. Etwa zwei Meter unüberbrückter Zwischenraum trennte die beiden Balustraden voneinander; keine zu große Entfernung, doch unüberwindlich genug, da darunter das harte Asphaltpflaster des Lowndes Square lag. Aber was half es? Er mußte versuchen, aus diesem Dilemma herauszukommen. Obwohl Staines, sportgestählt, wie er war, Schwindelanfälle nur dem Namen nach kannte, wollte ihm doch das Herz stocken, als er am Haussims entlang die kurze, aber gefährliche Kletterpartie zum Balkon des Derrickschen Hauses begann. Als er endlich schweratmend auf dem Nebenbalkon stand, schien es ihm, als hätte er eine meilenweite Kletterpartie hinter sich.
Auch von diesem Balkon aus führten verschiedene Fenstertüren in das Hausinnere, und zu Dicks Freude stand eine offen. Er trat in den dahinterliegenden Raum, der wohl Bürozwecken diente, denn auf einem Schreibpult stand eine Schreibmaschine. Ein an der Wand hängender Abreißkalender wies verschiedene Notizen auf, die von der Sekretärin Derricks stammen mochten. Auch die Tür nach dem Treppenhaus war unverschlossen. Es lag jedoch in tiefstem Dunkel, und erst nach langem Suchen entdeckte der Eindringling den Lichtschalter. Kurz darauf verbreitete die Deckenbeleuchtung genügend Helligkeit, um Dick seinen Weg nach unten finden zu lassen. Er hatte die Absicht, durch die vielleicht nur verriegelte Haustür des Derrickschen Hauses auf die Straße und von da durch die Tür zu Wealds Haus, dessen Schlüssel er rein zufällig zu sich gesteckt hatte, wieder in sein eigenes Zimmer zu gelangen. Zu seinem Schrecken war jedoch die Haustür nicht nur verriegelt, sondern auch verschlossen, so daß er sich jetzt in der unangenehmen Lage befand, Gefangener in einem fremden Haus zu sein. Nach einem andern Ausweg suchend, begab er sich ins Kellergeschoß, in der leisen Hoffnung, wenigstens den Lieferanten- und Dienereingang offen zu finden. Zu seinem Erstaunen brannte im Kellergeschoß über einer Tür eine Lampe, und als er nun die Tür öffnete, befand er sich in Derricks Garage, in der ein einziger Wagen stand. Mit raschem Blick vergewisserte sich Dick, daß dessen Tanks wohlgefüllt und der Wagen fahrbereit war. Dick trat wieder auf die kleine Diele hinaus und öffnete eine zweite Tür, auf deren Schwelle er wie vom Blitz getroffen stehenblieb.
Der Anblick, der sich ihm bot, genügte, um auch einen noch unerschrockeneren Menschen zu verblüffen: Auf dem Fußboden lag ein gefesselter und geknebelter Mann, über den sich eine elegant gekleidete Dame beugte und seine Taschen durchsuchte. Etwas abseits auf einem Stuhl lag, achtlos hingeworfen, ein kostbarer Pelzmantel, augenscheinlich das Eigentum der Dame. Auf der Tischplatte aber lag eine kleine blinkende Schußwaffe. Erst als Dick, von dem Anblick überrascht, einen Schritt näher trat, hörte ihn die Frau und blickte erschrocken auf.
»Mein Gott!« entfuhr es Staines.
Die schöne Frau, die eben damit beschäftigt gewesen war, einen gefesselten und geknebelten Mann zu durchsuchen, war – Mary Dane.
Nicht die geringste Bewegung verriet, daß sie Dick wiedererkannt hatte. Nur Furcht und Haß spiegelten sich in ihren Augen wider.
»Mary Dane?« fragte Dick, und seine Stimme klang wie geborstenes Glas.
Das Mädchen stand wie aus Stein gemeißelt; nur die Hand schlich sich langsam der auf dem Tisch liegenden Pistole näher. Ehe sie aber die Waffe erreichen konnte, verlosch plötzlich das Licht. Dick wollte sich auf das Mädchen stürzen, um es festzuhalten, als er selbst sich von hinten erfaßt und zu Boden geworfen fühlte. Während er sich bemühte, schnell wieder auf die Füße zu kommen, hörte er hinter sich die Küchentür und gleich darauf die Haustür zuschlagen. Endlich hatte er sich wieder soweit gefaßt, um den Flüchtenden nachzueilen. Aber sie waren wie vom Erdboden verschwunden, und nur das fortwährende Auf- und Zuschlagen der Haustür, die sich in der Zugluft bewegte, verriet ihm den Weg, den sie eingeschlagen hatten. Auch auf der Straße war von ihnen weit und breit keine Spur mehr zu sehen. Langsam begab sich der Inspektor wieder zu dem Gefesselten zurück und befreite ihn rasch von den Fesseln.
Der Befreite erholte sich zusehends.
»Ich bin Larkin, Sir«, stellte er sich vor. »Mr. Derrick hat mich als Wächter seines leerstehenden Hauses engagiert.« Er schien sich des Aufzuges seines Befreiers erst jetzt bewußt zu werden, denn er starrte Dick verwundert an: »Ja, ich bin den ganzen Tag hier und gehe nur abends kurz vor dem Essen ein wenig an die Luft, niemals aber so weit, daß ich nicht die Haustür im Auge behalten könnte. Es kann niemand, ohne von mir gesehen zu werden, ins Haus.«
Auf dem Tisch standen die Überreste eines einfachen Abendessens und eine halbgefüllte Bierflasche. Auch ein Glas mit einem Rest des Getränkes war vorhanden. Dick blickte nachdenklich auf die Gefäße.
»Hatten Sie das Glas schon vor Ihrem üblichen Abendspaziergang gefüllt oder erst nach Ihrer Rückkehr?« fragte er den Mann.
Larkin schüttelte jedoch zweifelnd den Kopf.
»Das kann ich Ihnen wirklich nicht genau sagen, Sir. Ich glaube, ich habe das Bier erst nach meiner Rückkehr eingeschenkt.« Er griff nach dem Gefäß, um einen Schluck zu nehmen. Aber Staines fiel ihm in den Arm.
»Lassen Sie das Glas stehen, Larkin,« warnte er ihn. »Man hat Ihnen offenbar ein Schlafmittel ins Bier geschüttet. Kannten Sie das Mädchen? Hat man Ihnen etwas gestohlen?«
Der andere griff suchend in die Tasche, der er eine lederne Brieftasche und einen Schlüsselbund entnahm. Aufmerksam prüfte er den Inhalt der Tasche nach. Dann sagte er: »Nein, mir fehlt nichts; es ist alles noch, wie es war. Und die Dame – nein, ich kenne sie nicht; sie fesselte mich ja auch nicht, sondern ihr Begleiter.«
»Ein Begleiter?!« rief Dick verwundert aus. »War denn auch der Mann mit hier?«
»Gewiß. Als man mich fesselte, bin ich einen Augenblick aus meiner Betäubung erwacht und sah die beiden zusammen, während sie sich über etwas unterhielten.« Er beschrieb den Einbrecher als von hagerer Gestalt und hellblonder Haarfarbe. Dick mußte unwillkürlich lächeln, als er die verwunderten Blicke bemerkte, die der nun wieder mißtrauisch gewordene Wächter auf seinen triefenden Schlafanzug warf.
»Ich wohne nebenan bei Lord Weald«, klärte er ihn endlich auf. Dann berichtete er, wie er in diesem Aufzug in ein fremdes Haus gelangt war. Als er die Neugierde Larkins befriedigt hatte, setzte er die unterbrochene Untersuchung des Raumes fort, ohne jedoch bemerkenswerte Feststellungen machen zu können.
»Sie haben doch Telefon im Haus, nicht wahr?« wandte er sich an den Wächter. »Gut, benachrichtigen Sie also die Polizei und rühren Sie hier nichts an.«
Er selbst trat durch die noch immer offenstehende Haustür auf die von Nässe spiegelnde Straße hinaus und befand sich wenige Augenblicke später wieder in Lord Wealds Haus. Nach einem heißen Bad kleidete er sich völlig an und ging wieder ins Freie. Vor dem Tor des Nebenhauses sah er jetzt ein Motorrad stehen. Die Polizei war eingetroffen.
Was sollte er nun beginnen? Hatte er nicht die Pflicht, wenn nicht als Bürger, so doch als Polizeibeamter, der Behörde das mitzuteilen, was er von der Person des einen der Eindringlinge wußte? Was aber konnte er sagen? Daß er ein Mädchen, das er ein- oder zweimal flüchtig gesehen, in der Person der Einbrecherin wiederzuerkennen geglaubt hatte? Hatte er einen ausschlaggebenden Beweis, daß es sich wirklich um Mary Dane handelte? Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Unglaublich? Ja! Aber war nicht vieles im Leben eines Kriminalbeamten unglaublich? Er glaubte sich nicht getäuscht zu haben, als er Mary Dane wiedererkannte, aber ... Nein, sie konnte es nicht gewesen sein! Ein Mädchen, wie Mary Dane es war, würde sich niemals einer gesetzwidrigen Handlung schuldig machen!
Endlich gab er den inneren Kampf auf. Er schloß Wealds Garage auf und fuhr den Wagen, der ständig fahrbereit darinstand, auf die Straße hinaus. Nun erst wurde er sich eines leisen Hungergefühls bewußt. Ein kurzer Weg in die Küche, deren Lage er nach der Beschreibung des abwesenden Minns kannte, versorgte ihn mit allem Notwendigen, um den Hunger zu stillen. Dann stand er lange vor dem Auto, das geduldig seiner harrte.
»Du bist wirklich ein sentimentaler Idiot«, tadelte er sich selbst. »Nicht nur, daß du deine Pflicht, das Mädchen anzuzeigen, vergißt, verhinderst du auch die Polizei, eine Verbrecherin dingfest zu machen. Das nennt man Pflichtvergessenheit, Dick!«
Eine innere Stimme suchte ihn zu beruhigen: »Wenn ich jetzt nach Brighton fahre«, sagte er sich, »dann tue ich das, weil ich mich vergewissern will, ob Mary Dane tatsächlich die Einbrecherin gewesen sein kann. Nur so kann ich herausbekommen, ob mein Verdacht richtig ist.«
Der Sturm, der bei seiner Abfahrt in London tobte, brach auf seiner Fahrt nach Brighton wieder mit voller Gewalt los. In Dorking holte er das Gewitter ein; wie mit Kübeln schüttete der Regen herunter und trommelte auf die Scheiben und Verschläge des dahinrasenden Wagens. Punkt ein Uhr fünfzehn war er vor dem Metropol in Brighton angelangt, in dessen Räumen gerade ein Maskenball seinen Höhepunkt erreicht hatte. Bereitwillig gab der Pförtner dem Ankömmling Auskunft, daß Tommy sich in den Festräumen befände. Dick legte seine triefende Lederjacke ab und betrat nach wenigen Minuten die festliche Veranstaltung. Eine der ersten Personen, die ihm entgegentraten, war eine Dame im Kostüm einer Krankenpflegerin. Mit einer raschen Bewegung zog sie die verhüllende Maske vom Gesicht und blieb vor Dick stehen.
»Ich habe Sie überall gesucht, Mr. Staines«, begrüßte sie ihn. »Woher ich Sie kenne? Lord Weald hat mir Ihren Namen genannt.«
Dick traute seinen Augen kaum; es war wirklich Miss Dane, die da vor ihm stand.
»Waren Sie schon den ganzen Abend hier, Miss Dane?« fragte er stotternd.
Erstaunt runzelte sie die Stirn.
»Ja. Aber warum fragen Sie mich?«
»Sagen Sie mir erst, warum Sie mich eigentlich suchten?« umging er die Beantwortung ihrer Frage.
Sie öffnete die kleine Tasche, die sie in der Hand trug, und zog einen goldenen Füllstift heraus, dessen Kappe aus rotem Kautschuk bestand.
»Dieser Stift muß Ihnen heute, oder vielmehr gestern morgen, verlorengegangen sein, als Sie mir beim Weiterschieben des Krankenstuhls behilflich waren. Ich fand den Stift in den Decken Mr. Cornforts. Bringen Sie mir nun als Belohnung eine Portion Eis; ich habe einen entsetzlichen Durst.«
Er beeilte sich, den verlorenen Gegenstand in Empfang zu nehmen, und holte ihr dann die gewünschte Erfrischung. Sie nahm das Tellerchen dankbar lächelnd entgegen.
»Sie werden eine schöne Meinung von mir als Krankenschwester bekommen haben, als Sie mich auf einem Maskenball wiederfanden, wie? Ich kam aber nur deshalb her, weil ich Ihnen Ihr Eigentum wiedergeben wollte. Mr. Cornfort wird von der Nachtschwester betreut, und so konnte ich mich frei machen. Jemand erzählte mir, daß hier ein Maskenball stattfinde, ich borgte mir eine Maske und benutzte meine Berufskleidung als Kostüm. Wie spät ist es denn eigentlich?«
Dick nannte ihr die Stunde. Sie verzog ihr Gesicht voll Erstaunen: »Gott, schon so spät?«
»Haben Sie Tommy gesprochen?« fragte er.
»Tommy? Ach so, Sie meinen Lord Weald? Ja, ich traf ihn. Er ist wirklich ein netter Mensch. Er wollte zu gern einen Blick hinter meine Maske werfen und durchaus wissen, wer ich sei. Er ist Ihr Freund, nicht wahr?« Erst jetzt schien sie zu bemerken, daß er in wenig salonfähiger Kleidung erschienen war: »Lord Weald sagte mir aber doch, Sie seien nach London zurückgefahren?«
»Stimmt, aber ich kehrte gleich wieder um. Ich habe Tommy etwas Dringendes mitzuteilen.«
Er vergaß dabei ganz, daß die Ereignisse, die sich in London abgespielt hatten, eher den Besitzer des Hauses, Mr. Walter Derrick, interessieren mußten als den Lord. Nun erst erinnerte er sich auch seines unfreiwilligen Gastgebers und erkundigte sich bei Miss Dane nach ihm.
»Mr. Derrick?« fragte sie verwundert. »Ach so! Sie meinen den Mann, der mich heute beinahe überfahren hätte? Nein, den habe ich hier nicht gesehen. Wahrscheinlich wird er auch irgendwo in einer unkenntlichen Maske herumturnen. Vielleicht ist es jener Kannibale dort.«