Das Steinbett & Der Tote im Schnee - Kjell Eriksson - E-Book
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Das Steinbett & Der Tote im Schnee E-Book

Kjell Eriksson

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Beschreibung

Zwei Fälle für Kommissarin Ann Lindell in einem E-Book.

Das Steinbett.

Josefin Cederén und ihre Tochter Emily sind unterwegs in Uppsala-Näs, als beide von einem Auto erfasst werden. Sie sind sofort tot. Untersuchungen der Polizeit am Unfallort ergeben, dass die Tat geplant war. Unter dringendem Mordverdacht steht Sven-Erik Cederén, der Ehemann und Vater. Fieberhaft wird nach ihm gesucht - ohne Ergebnis. Hat sich Cederén nach der Tat ins Ausland abgesetzt? Ann Lindell, Mitte Dreißig, ein bisschen unordentlich und ziemlich forsch, ist mit den Ergebnissen der Untersuchungskommission unzufrieden. Sie beginnt noch einmal, die Ermittlungsakten zu sichten, und stößt auf widersprüchliche Details ...

Der Tote im Schnee.

Ann Lindell, die forsche und ein bisschen unkonventionelle Kommissarin, steckt mitten in den Weihnachtsvorbereitungen, als Ola Haver bei ihr zu Hause vorbeischaut. Er leitet die Untersuchungen im Mordfall Jonsson und hofft auf den Rat der erfahrenen Kollegin. Lindell, die ihre Arbeit ebenso vermisst wie ihre Kollegen, mischt sich wider besseres Wissen ein und ermittelt auf eigene Faust ...



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Zwei Fälle für Ann Lindell in einem E-Book!

Das Steinbett.

Josefin Cederén und ihre Tochter Emily sind unterwegs in Uppsala-Näs, als beide von einem Auto erfasst werden. Sie sind sofort tot. Untersuchungen der Polizeit am Unfallort ergeben, dass die Tat geplant war. Unter dringendem Mordverdacht steht Sven-Erik Cederén, der Ehemann und Vater. Fieberhaft wird nach ihm gesucht - ohne Ergebnis. Hat sich Cederén nach der Tat ins Ausland abgesetzt? Ann Lindell, Mitte Dreißig, ein bisschen unordentlich und ziemlich forsch, ist mit den Ergebnissen der Untersuchungskommission unzufrieden. Sie beginnt noch einmal, die Ermittlungsakten zu sichten, und stößt auf widersprüchliche Details ...

Der Tote im Schnee.

Ann Lindell, die forsche und ein bisschen unkonventionelle Kommissarin, steckt mitten in den Weihnachtsvorbereitungen, als Ola Haver bei ihr zu Hause vorbeischaut. Er leitet die Untersuchungen im Mordfall Jonsson und hofft auf den Rat der erfahrenen Kollegin. Lindell, die ihre Arbeit ebenso vermisst wie ihre Kollegen, mischt sich wider besseres Wissen ein und ermittelt auf eigene Faust ...

Über Kjell Eriksson

Kjell Eriksson, geboren 1953, hat Erfahrungen in mehreren Berufen gesammelt. Er lebt in der Nähe von Uppsala. Für seinen ersten Kriminalroman um die Ermittlerin Ann Lindell "Den upplysta stigen" erhielt er 1999 den schwedischen "Krimipreis für Debütanten". Sein Roman "Der Tote im Schnee" wurde zum "Kriminalroman des Jahres 2002" gekürt, eine Ehrung, die bereits Autoren wie Liza Marklund, Henning Mankell und Håkan Nesser bekommen hatten.

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Kjell Eriksson

Das Steinbett & Der Tote im Schnee

Zwei Fälle für Ann Lindell in einem E-Book!

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Newsletter

Das Steinbett

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Der Tote im Schnee

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Impressum

Kjell Eriksson

Das Steinbett

Ein Fall für Ann Lindell

Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Prolog

Eidechsen flitzten blitzschnell und rastlos über die Mauerkrone. Sie kündigten die Sonne an, die in einer halben Stunde über dem Meer aufgegangen sein würde. Eine Gewohnheit der Eidechsen.

Die Mauer hätte auch auf Irland stehen können. Es waren zwar andere Steine, aber sie war von gleicher Art. Stein auf Stein, scheinbar achtlos zusammengefügt, dennoch von schöner Zweckmäßigkeit. Anderthalb Meter hoch, umschloss sie den ganzen Garten und endete in einer Ecke des Grundstücks an einer Wand.

Die graue Fläche des Eternitdachs wurde von dunklem Grün umrahmt. Ein paar Palmen, ein Zitronenbaum und andere Gewächse, deren Namen er nicht kannte. Er hatte einige ihrer Samenkapseln aufgelesen, sie geschüttelt, gelauscht und dunkle Samenkörner herausgepult. Sie sahen giftig aus. Glänzend schwarz, fast metallisch, lagen sie in seiner Hand wie geheimnisvolle Botschaften, und einen Moment lang erwog er, sie sich mit einer schnellen Bewegung in den Rachen zu werfen.

Giftig? Na wennschon. Schön waren sie, und er hatte sie aufbewahrt, um sie auszusäen.

Plötzlich begann es zu regnen. In den Wellen des Eternits sammelten sich Tropfen. Es glitzerte, wenn sie vom Dach rollten und auf die Erde platschten. Im Moment des Fallens funkelten sie. Es erschien ihm wie Musik. Er, der vollkommen unmusikalisch war, wurde von der schönen Musik der Tropfen gefangen.

Reiß dich zusammen, dachte er, und im gleichen Moment hörte es auf zu regnen.

Wellen rollten an den Strand. Am Abend zuvor hatte er versucht, ein System in den unaufhörlichen Bewegungen der Wellen auszumachen. Gab es eine bestimmte Frequenz? Sieben kleine und eine große? Einmal war es vollkommen still geworden, ohrenbetäubend still, so als hielte das Meer den Atem an. Zwei, drei Sekunden, nicht länger.

Ableger von Blumen, die wie Ackerwinde aussahen, rankten sich um seine Füße. Er ließ Sand durch die Finger rieseln und blickte auf das Meer hinaus. In weiter Ferne stampfte ein Containerschiff vorbei. Er machte Pläne, war aber zu müde, um noch klar denken zu können, und zu fremd in dieser Landschaft, um sich in ihr geborgen zu fühlen. Ausgesetzt, dachte er, ich bin an diesem Strand ausgesetzt worden, und genau hier muss ich mich entscheiden.

Aber statt Beschlüsse zu fassen, ging er zu dem kleinen Geschäft, das zugleich eine Bar war – eine Hütte aus Brettern und Blech, die sich an einen Baum lehnte. Ramon, von allen nur »der Bäcker« genannt, reichte ihm über die Kaugummipackungen auf der Theke hinweg die Hand.

Ein älterer Mann, weißhaarig und mit tiefen Falten im Gesicht, beobachtete ihn aufmerksam. Dem alten Mann gegenüber saß eine Frau. Sie trug ein enganliegendes, grünes Kleid.

Er bestellte ein Bier, ließ sich an dem zweiten Tisch nieder, nickte dem Alten zu und setzte das kalte Bier an die Lippen. Lass alles so bleiben, wie es ist, dachte er, hier an diesem Tisch. Von den Bergen kam das Wasser und aus dem Meer das Salz.

»Lecker«, sagte er und wusste, dass er sich betrinken würde. Solange er trank, würde der Bäcker seinen Laden offenhalten.

Er gab dem Bäcker einen Wink, auch dem alten Mann und der Frau ein Bier zu servieren.

Wir sind die neuen Konquistadoren, dachte er und seufzte.

»Probleme?«

Sven-Erik Cederén nickte und hob die Flasche. Er war fünf- oder sechsmal in diesem Land gewesen, aber bislang niemals allein. Mit jedem neuen Besuch hatte sich seine Perspektive verschoben. Die ersten Male hatte er die üblichen Touristenlokale besucht, Rum getrunken und die Frauen beobachtet, jedoch nie die Initiative ergriffen. Jetzt ging er zum Bäcker, saß meistens schweigend an seinem Tisch und trank Presidente.

»Wie lange werden Sie bleiben?« fragte der Bäcker.

Das Paar am anderen Tisch drehte sich um und beobachtete ihn neugierig, so als wäre seine Antwort äußerst wichtig.

»Noch eine Woche.«

Der alte Mann hob seine Flasche.

»Ich werde Land kaufen. Gleich hinter Gaspar Hernandez.«

»Das ist ein Dorf voller Idioten«, meinte der Alte.

»Wie sieht Ihr Land aus?« fragte die Frau.

Er gab die üblichen Antworten, erzählte von der Kälte, dem Schnee, von den Wäldern und dem Eis auf den Seen, verstummte dann jedoch. Es gab noch etwas anderes, was er gerne sagen würde.

»Wir leben …«, begann er zögernd, »wir leben ein ziemlich gutes Leben.«

Er fing an, von seiner Tochter zu erzählen, und bestellte noch ein Bier. Der Bäcker öffnete eine Flasche Rum und schenkte ihm ein Glas ein. Seine Arme ruhten auf der Theke. Sven-Erik Cederén sah zu ihm hinüber, und sie lächelten sich an.

»Fehlt sie Ihnen?«

»Natürlich.«

»Ihnen fehlt noch etwas anderes«, sagte der Bäcker.

»Sein Land fehlt einem immer«, meinte der alte Mann.

Der Schwede schüttelte den Kopf.

»Ihnen fehlt eine Frau.«

»Schon möglich.«

Was hatte er nur getan? Ließ es sich wieder in Ordnung bringen? Nein. Er konnte nur notdürftig flicken. Er war der Bekehrte, dessen Bekehrung zu spät kam. Fast vierzig Jahre lang war er im Gleichschritt marschiert. Jetzt tanzte er aus der Reihe. Er hatte Angst. Wenn er doch nur in diesem baufälligen Geschäft sitzen bleiben, Bier trinken und mit den Menschen reden könnte, die zufällig vorbeischauten. Der Bäcker und sein Laden würden ihm Absolution erteilen.

Er hatte Angst, aber nicht um seine eigene Haut. Lügner! Natürlich hatte er Angst vor dem Urteil. Er floh in einen Schuppen voller Bier, Pringles und Kaugummi.

Er erzählte weiter von seinem Land. Was hätte er sonst sagen sollen? Was wusste er eigentlich über Schweden? Hätte er von seinem Leben in Uppsala-Näs erzählen sollen, dem Golfplatz Edenhof, von den Arbeitskollegen, den Vorträgen beim Arbeitgeberverband, den rundum gekachelten Badezimmern und dem Bootsanleger, der für hunderttausend Kronen erneuert worden war?

Während er sprach, schaute er verstohlen zu der Frau hinüber. Sie war zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Ihr Arm lag unmittelbar neben seinem. Er könnte … Mit dem Bündel Geldscheine, das steif in seiner Tasche steckte. Mit dem Schwanz, der in seiner Hose steif wurde.

Er trank noch einen Schluck Bier. Der Bäcker sah ihn an und nickte ihm zu.

1

»Komm auf die Straße! Du machst dir sonst die Schuhe schmutzig.«

Das Mädchen riss noch einen Blumenstengel ab und reichte ihrer Mutter eine Handvoll Kleeblumen.

»Vierblättrige bringen Glück«, sagte das Kind.

»Wir setzen sie aufs Grab.«

Die Frau ordnete die Blumen und zupfte ein welkes Blatt ab.

»Großmutter mochte Klee«, sagte sie nachdenklich, sah zur Kirche hinüber und dann ihre Tochter an, die neben ihr ging. Ein Tag, dachte sie, ein einziger gemeinsamer Tag auf der Welt war euch beiden vergönnt.

Vor sechs Jahren und einem Tag war Emily geboren worden, und am nächsten Tag starb ihre Großmutter. An jedem Todestag spazierten sie nun zur Kirche und legten Blumen auf das Grab. Anschließend setzten sie sich stets noch ein wenig auf die Friedhofsmauer. Die Frau trank Kaffee und ihre Tochter Saft.

Bis zum Friedhof war es eine halbe Stunde zu Fuß. Sie hätten das Auto nehmen können, zogen es aber vor zu gehen. Wenn man sich dem Friedhof langsam nähert, hat man Zeit zum Nachdenken. Sie hatte ihre Mutter über alles in der Welt geliebt, und es kam ihr so vor, als hätte Emily die Großmutter abgelöst. Eine Liebe hörte auf, eine andere begann.

Gleich nach der Entbindung war sie zusammen mit dem Baby durch die Gänge der Universitätsklinik zu der Station geschoben worden, auf der die Großmutter lag und zwischen Wachsein und Schlaf schwebte.

Man hatte das kleine Mädchen auf die Brust der Großmutter hinübergehoben. Anfangs schien es fast, als würde sie glauben, ihrem geplagten Körper wäre eine weitere Bürde auferlegt worden.

Die junge Mutter vermutete, dass die Großmutter durch den Duft des Babys zum Leben erweckt wurde, denn plötzlich weiteten sich ihre Nasenlöcher. Eine magere und von Nadeln zerstochene Hand betastete das kleine Bündel auf der Brust, und sie schlug die vom Morphium dunklen Augen auf.

»Ich will das letzte Stück rennen«, sagte das Mädchen.

»Nein, wir gehen zusammen«, antwortete die Frau; und kurz bevor sie starb, wurde ihr noch klar, dass das Leben der Tochter vielleicht gerettet worden wäre, wenn sie das Mädchen hätte rennen lassen.

Das Auto traf die beiden mit voller Wucht. Das Kind wurde zehn Meter durch die Luft geschleudert und war auf der Stelle tot. Seine Mutter wurde umgerissen, und das linke Vorderrad des Wagens überrollte ihren Körper. Sie lebte noch lange genug, um zu begreifen, was geschehen war. Sie nahm auch noch wahr, wie das Auto etwas ins Schleudern geriet, als der Fahrer Gas gab und Richtung Kirche verschwand.

»Warum tötest du uns«, murmelte sie.

2

Ann Lindell genoss die Heiterkeit ihres Kollegen. Sammy Nilsson hatte mit todernster Miene ihr Horoskop für diesen Tag vorgelesen, aber als er zur letzten Zeile kam, »… und warum nicht einer Einladung zur Liebe nachgeben, die Sie heute erhalten werden«, musste er laut lachen.

»Eine Einladung zur Liebe«, meinte Lindell, »wie das klingt.«

»Vielleicht lädt dich Ottosson zu einer Tasse Kaffee ein«, erwiderte Sammy Nilsson. »Ich glaube, er ist scharf auf dich.«

Ottosson war der Leiter des Kriminalkommissariats für Gewaltdelikte. Er hatte für halb zehn eine Besprechung einberufen, und Lindell und Sammy Nilsson ahnten, dass es um die Neuorganisation der örtlichen Polizei gehen würde.

Alles sollte wieder einmal über den Haufen geworfen werden. Die lokalen Polizeiwachen, die man mit viel Geschrei eingeführt hatte, konnten jeden Moment abgewickelt werden. Es war im Gespräch, die Wachen in Gottsunda und anderen Vororten zu schließen und in das zentraler gelegene Industriegebiet Fyrislund zu verlegen. Das Wort »lokal« würde plötzlich eine ganz neue Bedeutung bekommen, wenn Polizeipräsident Lindberg seinen Willen durchsetzte.

»Wie steht’s? Man hört, dass du ausgegangen bist?«

Lindell sah schnell auf. Sammy Nilsson hatte das Gefühl, dass ihr Blick fast etwas Ängstliches hatte.

»Ausgehen? Nie im Leben.«

»Hast du dich nicht mit einem Mann getroffen?«

»Wir waren aus und haben ein bisschen gefeiert, die Mädels und ich, du weißt schon.«

»Ich habe da aber etwas anderes gehört.«

Lindell lächelte.

»Du darfst nicht alles glauben, was du hörst.«

Ola Haver trat zu ihnen. Lindell sah ihm an, dass etwas passiert war, aber er setzte sich erst, bevor er zu sprechen begann.

»Wir haben einen Fall von Fahrerflucht«, sagte er. »Zwei Tote.«

»Wo?« fragte Sammy Nilsson.

»Uppsala-Näs.«

»Irgendwelche Zeugen?« erkundigte sich Lindell.

Haver schüttelte den Kopf.

»Ein Fuhrunternehmer, der am Unfallort vorbeikam, hat angerufen. Das eine Opfer ist ein Kind, ein Mädchen.«

Havers Gesicht war blass.

»Verdammter Mist«, sagte Sammy Nilsson.

»Ungefähr sechs Jahre alt.«

Lindell sah auf die Uhr: 9:12.

»Ich rufe Ottosson an«, sagte sie und stand auf.

Einladung zur Liebe, dachte Lindell, als sie in Sammys Wagen stieg, wir bekommen eher Einladungen wie diese hier.

Sie schielte zu Sammy Nilsson hinüber, als er in die Salagatan einbog. Er fluchte leise über den Verkehr, fuhr auf die St. Olofsgatan und starrte wütend einen Autofahrer an, der von rechts kam und ihn zum Anhalten zwang.

Haver telefonierte auf dem Rücksitz, und Lindell nahm wahr, dass er von der Streife vor Ort genauere Informationen erhielt.

Mittwoch, der 14. Juni. Einer dieser Tage, die so viel Gutes für den Sommer verhießen. Auf den Heuwiesen stand das Gras hoch. Auf manchen wurde bereits die erste Ernte eingefahren. Bei Högby hatte ein Mann seinen Traktor am Straßenrand stehenlassen und ging mit gemessenen Schritten durch Klee und Thimoteegras, das ihm bis zur Hüfte reichte. Ann Lindell dachte für einen Moment an Edvard. Das hätte auch er sein können, der dort über das Feld ging und mit der Hand über die Halme strich. Das Bild war im nächsten Moment schon wieder verschwunden und blieb dennoch haften. Er war dort. In der Landschaft. Nach einem halben Jahr war Edvard Risberg noch immer wie ein Schatten gegenwärtig. Sie hörte seine Worte und spürte seine Hände. Niemand hatte sie je so angefasst wie er.

Ein Rehbock äugte nervös vom Waldsaum zur Straße hinauf. Die Sonne schien Lindell direkt ins Gesicht, aber sie klappte die Sonnenblende des Wagens nicht herunter, sondern ließ die Strahlen ihr Gesicht wärmen.

Einen Kilometer weiter lagen eine Frau und ihre Tochter am Straßenrand.

Haver sagte etwas, das Lindell nicht verstand.

»Das ist bestimmt Ryde«, meinte Sammy Nilsson. »Nur er fährt einen so verrosteten Mazda.«

Er hatte recht. Eskil Ryde von der Spurensicherung war bereits am Tatort eingetroffen. Er stand über den Straßengraben gebeugt. Mit der einen Hand fuhr er sich durch das schüttere Haar, mit der anderen gestikulierte er.

Einer der uniformierten Kollegen winkte einen Kleinbus vorbei. Lindell erahnte etwas im Straßengraben, als sie aus dem Wagen stieg. Das Kind, dachte sie und schaute hastig zu Sammy Nilsson hinüber. Sie sahen sich einen Moment an. Ryde hob die graue Decke an. Das Stirnbein des Mädchens war gebrochen. Åke Jansson, der zweite uniformierte Kollege, schluchzte. Haver legte seinen Arm um ihn, und Åke ballte seine Hände zu Fäusten. Lindell berührte ihn flüchtig an der Schulter, ehe sie sich über den Körper des Kindes beugte. Sie sah im Grunde nichts, obwohl sie die dünnen Beine registrierte, die rechte Hand, deren Nägel hellrosa lackiert waren, das Muster des roten Kleides und die hellen Haare, die jetzt genauso rot waren wie das Kleid.

Lindell richtete sich so schnell wieder auf, dass ihr schwarz vor Augen wurde.

»Wissen wir, wer die beiden sind?« fragte sie, ohne jemanden direkt anzusprechen.

»Nein«, erwiderte Åke Jansson. »Ich habe nach einem Portemonnaie, einer Tasche oder etwas Ähnlichem Ausschau gehalten, aber sie hatten nichts dergleichen dabei. Sie haben bestimmt in der Nähe gewohnt. Der LKW-Fahrer, der als erster hier war, glaubt, die beiden schon einmal gesehen zu haben. Er befährt die Straße jeden Tag.«

Lindell hatte den Lastwagen registriert, der ungefähr dreißig Meter entfernt stand.

»Du sollst doch keine Leichen anrühren«, schimpfte Ryde.

»Ich wollte ja bloß wissen, wer sie waren«, sagte Jansson beleidigt.

»Vielleicht wollten sie zur Kirche«, überlegte Haver.

»Das Mädchen hat Blumen gepflückt«, meinte Ryde.

»Woher weißt du das?«

»Die Hände«, sagte Ryde.

Vier Polizisten um einen Kinderkörper. Ryde deckte ihn behutsam wieder zu.

»Wir schauen uns mal die Frau an«, sagte er.

Sie war eine schöne Frau gewesen. Ihre Haare, im gleichen Farbton wie die des Mädchens, waren kurzgeschnitten und gaben dem Gesicht einen strengen Rahmen. Von dieser Strenge war nicht mehr viel geblieben, aber Lindell begriff, dass sie eine Frau gewesen war, nach der man sich umsah, der man zuhörte. Sie glaubte, Selbstbewusstsein und Willenskraft in ihren Zügen zu erkennen, auch wenn sich ein scharfer Stein in ihr Kinn gebohrt hatte.

In den Ohrläppchen Gold, am linken Ringfinger ein schwerer Goldring und an der rechten Hand ein silberner Ring mit eingefassten Steinen. Mit ihren gepflegten Fingernägeln hatte sie zwischen dem üppigen Grün des Straßengrabens und dem schwarzen, gesprungenen Asphalt Muster in den Schotter geritzt.

Ihr Kleid war khakifarben und sommerlich leicht. Auf dem schmalen Rücken war der Abdruck eines Autoreifens zu erkennen.

Sie hatte blaue Augen, aber ihr Blick war gebrochen.

Lindell schaute auf und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Es war vollkommen windstill, und vom See schallte das Geräusch eines Motorboots herüber. Auf der Weidenallee, die zum Gut Ytternäs hinaufführte, näherte sich ihnen ein Mann. Er ging langsam, aber Lindell sah, dass er die Gruppe von Autos, die am Straßenrand parkten, bemerkt hatte. Da kommt der erste Schaulustige, dachte sie und drehte sich schnell um.

»Die Identifizierung ist im Moment das wichtigste. Wer ist hier der Pfarrer?« sagte Lindell und sah Sammy Nilsson an, der den Kopf schüttelte.

»Keine Ahnung«, antwortete er. »Ich geh mal zur Kirche. Vielleicht gibt es dort ein Schwarzes Brett.«

Lindell ging zu dem Lastwagen hinüber. Åke Jansson zufolge saß der Fahrer in der Fahrerkabine; als sie näher kam, erblickte sie sein Gesicht im Rückspiegel. Er öffnete die Tür und glitt mit einer geübten, aber dennoch steifen und ungelenken Bewegung vom Sitz herab.

»Guten Tag, Ann Lindell von der Polizei. Sie waren als erster vor Ort?«

Der Mann nickte und ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte.

»Sie haben die beiden schon einmal gesehen?«

»Ich denke schon.«

»Entschuldigung, wie heißen Sie eigentlich? Ich habe vergessen zu fragen.«

»Lindberg, Janne Lindberg. Ich wohne da drüben«, sagte er.

»Sie haben die beiden also wiedererkannt?«

»Ja, sie gehen regelmäßig auf dieser Straße. Ich glaube, sie wohnen drüben bei Vreta udde, aber ich kenne die Frau nicht persönlich.«

»Sie war eine schöne Frau.«

Janne Lindberg nickte.

»Sie kamen von zu Hause und wollten in die Stadt? Wann war das?«

»Ungefähr um neun.«

»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«

»Als erstes habe ich die Mutter gesehen, dann das Mädchen.«

»Sind Sie Brillenträger?«

»Nein, wieso?«

»Sie kneifen die Augen so zusammen.«

»Das ist wegen der Sonne.«

»Was haben Sie dann getan?«

»Ich hab nachgesehen, ob sie noch leben.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Dann habe ich angerufen.«

»Sie haben die beiden also nicht überfahren?«

Die Frage ließ den Fahrer zusammenzucken, und er starrte Lindell an. »Was zum Teufel«, brachte er hervor. »Glauben Sie, ich überfahre eine Mutter mit Kind! Ich bin LKW-Fahrer.«

»Das ist alles schon vorgekommen. Darf ich mal einen Blick auf Ihr Handy werfen?«

»Warum denn das?«

»Ich möchte sehen, wann Sie uns angerufen haben.«

Er seufzte und reichte ihr das Handy. Lindell drückte auf die Speichertaste und stellte fest, dass Lindberg um 9:08 angerufen hatte. Davor hatte er zuletzt um 8:26 telefoniert. Anschließend ging sie auch noch die eingegangenen Anrufe durch, um zu prüfen, ob vielleicht jemand Lindberg angerufen hatte, bevor er die Polizei alarmierte. Tatsächlich. Um 8:47 hatte er einen Anruf erhalten.

»Kurz bevor Sie die 112 gewählt haben, sind Sie selber angerufen worden. Wer war am Apparat?«

»Einer von den Straßenarbeitern. Ich fahre Asphalt, aber heute morgen hatte ich Probleme mit dem Wagen. Er rief an, um zu hören, ob ich schon unterwegs war.«

»Sie hatten es heute morgen also eilig?«

»Ja, ich hätte schon kurz nach sechs am Werk sein sollen.«

»Waren Sie vielleicht abgehetzt, bekamen einen Anruf, wurden abgelenkt und konnten dann nicht mehr ausweichen?«

»Ach Unsinn! Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen überfahren!«

»Können wir den Mann anrufen, der mit Ihnen telefoniert hat?«

Janne Lindberg nickte. »Ich muss immer an das arme Mädchen denken«, sagte er.

Der Mann, den Lindell in der Allee gesehen hatte, war nun fast bis zu dem Lastwagen gelangt, und sie beschloss, auf ihn zu warten. Er hinkte ein wenig. »Was ist passiert?« fragte er. »Hat es einen Wildunfall gegeben?«

»Nein«, erwiderte Lindell. »Es geht um einen Unfall mit Fahrerflucht.«

Der Mann blieb stehen. »Sind das etwa Josefin und Emily?«

Die Stimme versagte ihm. »Ich habe sie auf der Straße gehen gesehen. Sind es die beiden?«

»Wir wissen noch nicht, wer sie sind. Könnten Sie uns vielleicht weiterhelfen?«

Der Mann schluchzte: »Ich sah sie auf der Straße. Ich wusste, dass sie heute vorbeikommen würden.«

»Es handelt sich um eine Frau und ein kleines Mädchen. Könnten das die beiden sein?«

Der Mann nickte.

»Möchten Sie uns vielleicht helfen?«

Lindell trat einen Schritt näher an den Mann heran. Seine unverhüllte Verzweiflung und seine Tränen rührten sie so sehr, dass sie selber dem Weinen nahe war.

»Das ist sie«, sagte der Mann, als Lindell die graue Decke lüftete.

Er war ganz fahl im Gesicht geworden, und Lindell befürchtete, dass er in Ohnmacht fallen könnte.

»Kommen Sie, wir setzen uns in den Wagen, dann können Sie mir erzählen, was Sie wissen.«

»Kannst du mal kommen?« rief Ryde. Er hockte neben der Frau.

»Sprich du mit dem Mann«, sagte Lindell zu Sammy Nilsson, der neben ihr stand, und ging zu Ryde.

»Ich glaube nicht, dass sie sofort tot war«, meinte Ryde. »Sie hat versucht, sich auf der Straße zu ihrem Kind zu schleppen. Siehst du, hier«, sagte er und zeigte auf die Fahrbahn. Dort war eine schwache Blutspur zu erkennen. »Sie wollte zu ihrer Tochter.«

Lindell kniete sich hin und starrte angestrengt auf die Fahrbahn. Die Hand der Frau war schmal. Die Steine des Silberrings funkelten in der Sonne. Lindell bemerkte, dass am Zeigefinger Haut abgeschürft war.

»Es war kein Zufall, dass die beiden überfahren wurden«, sagte Ryde und stand mühsam auf.

»Glaubst du wirklich?«

Ryde sah sich um, ehe er antwortete: »Es war hell, die Straße ist gerade und ziemlich breit.«

»Du meinst, es war Mord?«

Ryde antwortete nicht, sondern fischte sein Handy aus der Tasche. Lindell blieb stehen. Das Mädchen hat Blumen gepflückt, dachte sie. Sie schaute zu der grauen Decke hinüber, mit der die Kleine zugedeckt war. Ihre Mutter hat sie nicht mehr erreicht. Wie viele Meter fehlten? Sieben, acht?

Ein Auto näherte sich. Haver hielt es an, während Lindell ihr Telefon herausholte.

3

Es war kurz nach sechs, als man sich im Polizeipräsidium von Uppsala zu einer ersten Lagebesprechung traf. Etwa ein Dutzend Kriminalbeamte waren anwesend: aus dem Kommissariat für Gewaltdelikte, ein paar von der Fahndungskommission und zwei von der Spurensicherung. Sammy Nilsson leitete die Besprechung.

»Was wissen wir bis jetzt? Josefin Cederén, zweiunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Vreta. Ein Kind, sechs Jahre alt. Es hatte gestern Geburtstag. Wir wissen, dass sie auf dem Weg zu der Kirche waren, an der Josefins Mutter begraben liegt. Sie gehen jedes Jahr an diesem Tag dorthin. Das haben mehrere Zeugen übereinstimmend ausgesagt. Ryde, was sagen die Pathologen?«

»Es war ein PKW. Den Ärzten zufolge sprechen die Verletzungen dafür. Der Tod muss auf der Stelle eingetreten sein, zumindest bei dem Mädchen. Sie wurde weggeschleudert und dürfte beim Aufprall auf die Erde gestorben sein. Bei ihrer Mutter gibt es Anzeichen dafür, dass sie noch kurze Zeit danach gelebt hat.«

»Okay«, sagte Sammy. »Wie ihr wisst, ist ihr Ehemann, Sven-Erik Cederén, wie vom Erdboden verschluckt. Das gleiche gilt für sein Auto. Es handelt sich um einen blauen BMW, Baujahr ’99, mit Schiebedach und Sonderausstattung. Haver hat das bei Novation ermittelt, wo er das Auto gekauft und übrigens bar bezahlt hat.«

»Wo arbeitet er?« fragte Lundin.

»Bei einer Firma namens MedForsk, in der Medikamente entwickelt werden. Forschung auf hohem Niveau. Ein relativ junges Unternehmen, das aus dem Pharmacia-Konzern hervorgegangen ist. Sven-Erik Cederén ist heute nicht zur Arbeit erschienen. MedForsk beschäftigt insgesamt zehn Angestellte, die alle verhört worden sind. Niemand hat ihn gesehen.«

»Aber wir wissen, dass er sein Haus wie gewöhnlich verlassen hat«, ergänzte Norrman, der die Befragung der Nachbarschaft in Vreta geleitet hatte. »Er ist kurz nach acht weggefahren. Wir haben mit etwa zwanzig Anwohnern gesprochen. Der Nachbar gegenüber hat gegen sieben ein paar Worte mit Cederén gewechselt. Sie waren beide draußen, um die Zeitung zu holen.«

»Dabei soll er einen ganz normalen Eindruck gemacht haben«, warf Berglund ein. »Sie haben ein wenig über das Übliche geplaudert, das Wetter und den Wind. Laut Aussage des Nachbarn konnte man nach Cederén die Uhr stellen.«

»Wo ist Lindell?« fragte Beatrice.

»Bei Josefins Vater«, antwortete Ottosson.

»Wohnt er hier in der Stadt?«

Ottosson nickte. »Er wohnt ebenfalls in Vreta. Josefin Cederén ist dort geboren worden.«

»Ansonsten wohnen da vor allem zugezogene Idioten«, meinte Haver.

»Wieso Idioten?« fragte der Leiter des Führungs- und Lagedienstes.

»Okay«, sagte Sammy Nilsson, »wir wissen, dass er Uppsala-Näs wie jeden Morgen verlassen hat, aber auf der Arbeit ist er nie angekommen. Wo ist er hin?«

»Wochenendhaus«, schlug Lundin vor.

»Sie haben keins.«

»Der Flughafen«, sagte Haver. »Er wusste, dass seine Frau und die Tochter zur Kirche spazieren würden, lauerte ihnen auf, überfuhr sie und hat zugesehen, dass er außer Landes kommt.«

»Wir haben das überprüft«, erwiderte Sixten Wende. »Keine Person namens Cederén hat über den Flughafen Arlanda das Land verlassen.«

»Bei einer Geliebten«, meinte Beatrice.

»Wir haben die Fahndung nach ihm und seinem Auto eingeleitet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in den nächsten vierundzwanzig Stunden zumindest herausfinden werden, was aus dem Auto geworden ist. Das ist keine Allerweltskarre«, sagte Ottosson. Seine Zuversicht gründete sich auf fünfunddreißig Jahre Erfahrung als Polizeibeamter, von denen er die letzten zwanzig im Kriminalkommissariat für Gewaltdelikte gearbeitet hatte. Autos tauchten immer wieder auf. Bei Menschen, die verschwanden, war das etwas anderes.

»Vielleicht ist er ja auch überfahren worden«, sagte der Leiter des Führungs- und Lagedienstes. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er seine Familie mit dem Auto niedermäht und anschließend verschwindet.«

»Es sind schon schlimmere Dinge passiert«, widersprach Wende.

»Das weiß ich auch, aber sein eigenes Kind zu überfahren, das geht doch wirklich zu weit.«

»Vielleicht war er nicht ganz bei Sinnen«, sagte Sammy.

»Beatrice wird sich um die finanziellen Verhältnisse der Familie kümmern, Einnahmen und Schulden, Versicherungen und so weiter. Morgen möchte ich einen vollständigen Bericht vorliegen haben. Sixten soll dabei helfen«, bestimmte Ottosson. Wenn Ann Lindell nicht anwesend war, herrschte stets eine gewisse Unsicherheit darüber, wer die Besprechung leiten sollte. Sammy Nilsson eignete sich psychologisch gesehen am besten dafür, da er mit Lindell eng zusammenarbeitete, aber auf der anderen Seite war Ottosson ihr Chef. Meistens saß er bei Besprechungen jedoch nur stumm dabei und verließ sich vorbehaltlos auf Lindells Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen und die Arbeitsaufgaben sinnvoll zu verteilen.

»Wo ist das Motiv?« fragte der Leiter des für Analysen zuständigen Führungs- und Lagedienstes, der als eine Art Motor agierte, die einzelnen Argumente abwog, Gegenfragen stellte und seine Kollegen zwang, gründlicher nachzudenken.

»Eifersucht«, schlug Haver vor. »Vielleicht hatte Josefin einen anderen.«

»Ich glaube, sie war schwanger«, meinte Beatrice plötzlich.

Alle Augen richteten sich auf sie. »Als Ann und ich sie uns angesehen haben, kam es mir jedenfalls so vor.«

»Woran hast du das gesehen?«

»Am Bauch, an ihren Brüsten. Vor allem an den Brüsten. Sie sah ganz einfach wie eine schwangere Frau aus.«

»Was meint Lindell dazu?«

»Sie hat keine Kinder«, erwiderte Beatrice.

»Wir werden bald wissen, wie es sich verhält«, sagte Ottosson und wandte sich an Beatrice. »Fragst du bitte mal nach, ob es dazu schon Informationen gibt?«

Widerwillig stand sie auf und verließ den Raum. Gleichzeitig kam Riis herein. Die beiden begegneten sich an der Tür, ohne sich eines Blickes zu würdigen.

Riis hatte nur wenige Freunde, und die wenigen, die ihm noch geblieben waren, dachten auch darüber nach, ob sie sich weiterhin die Mühe machen sollten, freundlich zu dem mürrischen Kriminalbeamten zu sein. Beatrice hatte als eine der ersten den Gedanken aufgegeben, eine Art kollegialer Freundschaft oder auch nur Zusammenarbeit mit ihm aufrechtzuerhalten. »Riis ist ein griesgrämiger Stinkstiefel in den Wechseljahren«, pflegte sie zu sagen. »Er hasst uns.«

Riis setzte sich, und alle warteten darauf, was er ihnen zu sagen hatte.

»Und?« fragte Ottosson schließlich.

Riis schlug mit einer schwungvollen Bewegung seinen Notizblock auf.

»Cederén ist ein Mann mit Visionen«, sagte er und blickte auf. »Er will etwas aus seinem Leben machen. Er ist erfolgreich mit Betonung auf reich, mit Sicherheit unglücklich und sehr tot.«

»Tot?«

»Mental tot«, sagte Riis und seufzte.

»Bist du etwa neidisch auf seinen Reichtum?« fragte Haver ruhig.

Riis schaute flüchtig zu ihm hin, lächelte und fuhr fort: »Er hat gerade ein Haus in der Dominikanischen Republik gekauft, falls jemand von euch weiß, wo das ist. Das ist ein Land in der Sonne, und da will Herr Cederén hin. Er will nicht mehr in Uppsala-Näs wohnen. Außerdem spielt er Golf. Erster Platz beim letzten Turnier in Edenhof.«

»Komm zur Sache«, ermahnte ihn Ottosson.

»Ich glaube, er hat seine Familie totgefahren und ist abgehauen. Er will in der Karibik Golf spielen.«

»Ich kann hinfahren und der Sache nachgehen«, sagte Wende.

»Zwei Menschen sind umgekommen, und ihr sitzt hier rum und macht Witze«, bemerkte Haver, überzeugt, dass Riis mehr als froh darüber war, in drei Tagen Urlaub zu haben. Er überließ seinen Kollegen nur zu gern die Arbeit an einem Sommermord.

»Meiner Meinung nach«, ergriff Riis wieder das Wort, »war das Ehepaar Cederén wohlhabend, wohlangepasst, wohlerzogen und umgänglich. Keiner der beiden hat jemals mit der Polizei zu tun gehabt. Nichts in ihrem Haus deutet auf etwas Unnormales hin. An den Wänden hängt gute Kunst, oder zumindest sind es Werke, von denen ich glaube, dass sie gut sind, sie stellen nämlich nicht das geringste dar. Wie es sich gehört, mit anderen Worten.«

»Die klassische Frage: Hatten sie einen Anrufbeantworter?«

Ottosson beugte sich vor, um Riis prüfend anzuschauen, der bequem zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß.

»Keine Nachrichten«, antwortete Riis.

»Ein Kalender oder ein Adressbuch?«

»Bis jetzt haben wir nichts dergleichen gefunden. Er trägt ihn wahrscheinlich bei sich.«

»Was wissen wir über seine Arbeit?«

Ottosson versuchte, nach Riis’ Tiraden wieder die Initiative zu ergreifen.

»Nur eines war komisch«, sagte Riis, der den Themenwechsel einfach ignorierte. »Es gab keine Blumen. Keine einzige Topfpflanze. Könnt ihr euch das vorstellen?«

»Allergiker?«

»Wer ist denn allergisch gegen Pflanzen?«

Eine seltsame Stille breitete sich im Raum aus, so als würden alle versuchen, sich ein Zuhause ohne Pflanzen vorzustellen.

Was für eine Truppe, dachte Norrman, hier sitzen wir und schwitzen zusammen mit Ottosson, der mit seinem Bart und seinem sanften Blick wie Jesus aussieht. Wer ist Judas? Wer ist Petrus? Und wer ist Thomas?

»Wir sind dreizehn am Tisch«, brach er das Schweigen.

Alle sahen sich zu ihm um.

»Was ist mit seiner Arbeit«, wiederholte Ottosson.

»MedForsk ist ein High-Tech-Unternehmen, das hochspezialisierte Forschung betreibt. Alle, mit denen wir gesprochen haben, sind natürlich schockiert, aber hinter dem Gefühl von Unwirklichkeit und Besorgnis spürte man ein ungeheures Selbstbewusstsein, nicht wahr, Ola?«

Ola Haver nickte.

»Ja, alle waren vom Gefühl des eigenen Erfolgs erfüllt wie eine Fußballmannschaft, die so oft gewonnen hat, dass sie sich für unschlagbar hält. Ein Team, das ins Finale gekommen ist und fest daran glaubt, es auch zu gewinnen. Ohne jeden Zweifel.«

»Ungefähr wie wir«, meinte Riis. »A winning team.«

»Sie wollen an die Börse gehen. Was bedeutet das? Viel Geld? Es steht sicher einiges auf dem Spiel, aber da kenne ich mich nicht besonders gut aus«, sagte Sammy Nilsson.

»Ausgerechnet jetzt, ist einem der Angestellten rausgerutscht«, sagte Haver.

»Könnte es einen Zusammenhang mit der Firma geben, oder geht es um ein reines Familiendrama?«

Die Frage des Leiters vom Führungs- und Lagedienst blieb unbeantwortet.

»Hatte Josefin Cederén Verbindung zu dem Unternehmen?«

»Das sind ganz schön viele Fragen«, meinte Wende, der in letzter Zeit etwas mutiger geworden war. Früher hatte er bei den Besprechungen die meiste Zeit geschwiegen und immer nur dann gesprochen, wenn eine Frage direkt an ihn gerichtet wurde. Ottosson wollte zwar frische Stimmen hören, aber gleichzeitig irritierte ihn Wendes neue Rolle ein wenig. Ich vermisse Ann, dachte er, so einfach ist das.

»Wir werden einer Frage nach der anderen nachgehen, oder besser noch, allen gleichzeitig«, sagte Sammy Nilsson. »Ich glaube, es ist allen einigermaßen klargeworden, wie die Arbeitsaufgaben verteilt sind. Heute ist Mittwoch. Molin sitzt bei MedForsk und wühlt sich durch Cederéns Computer und Papiere. Fredriksson ist draußen in Vreta. Im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden werden wir über die finanziellen und privaten Verhältnisse von Familie Cederén Bescheid wissen, wir werden Sven-Erik Cederéns Weg am heutigen Tag rekonstruiert und zumindest das Auto gefunden haben.«

Sie brachen auf. Ottosson blieb allein im Besprechungszimmer zurück. Schweigend saß er am Tisch, studierte die Fotos der Spurensicherung, eins nach dem anderen. Er murmelte etwas Unverständliches. Kann man wirklich seine Tochter überfahren? fragte er sich. Nach den Sommerferien wäre sie in die Schule gekommen.

Als er das Bild in die Hand nahm, auf dem die ausgestreckte Hand der Frau und die Furchen, die ihre Finger in den Schotter gegraben hatten, zu sehen waren, stellte er sich vor, wie sie gekämpft haben musste.

Ottosson spürte, dass er Kopfschmerzen bekam. Nicht nur sein Kopf, sein ganzer Körper war schwer. Am Morgen hatte er sich noch über das schöne Wetter gefreut, über den beginnenden Sommer und auf die morgendliche Besprechung mit Sammy Nilsson und Lindell, denn er hatte soeben die Genehmigung erhalten, die Gehälter der beiden zu erhöhen.

4

Auf dem äußersten Rand des Bootsstegs hockte eine Möwe. Es sah fast aus, als betrachte sie ihr Spiegelbild im Wasser und bewundere ihr weißes Gefieder, die sanfte Biegung des Schnabels und den Glanz der Augen. Ihr Kopf drehte sich ein wenig, so als hätte sie Edvards Schritte gehört oder als wolle sie eine andere Perspektive auf ihr Spiegelbild bekommen.

Stolz, dachte Edvard, das ist es, was sie sieht. Er ließ sich auf dem krumm gewachsenen Kiefernstamm nieder. Die hellbraune Rinde pflegte ihm ein wenig zusätzliche Wärme zu schenken, aber heute war das gar nicht nötig. Das Thermometer näherte sich der 25-Grad-Marke. Unbewusst rieb Edvard sich das Knie. Beim Sturz von einer Leiter hatte er sich eine hässliche Wunde zugezogen, er fühlte den Schmerz darin pochen.

Der Möwe schien seine Nähe nichts auszumachen. Vielleicht erkannte sie ihn wieder. Du sitzt auf meinem Platz, dachte er, aber das geht schon in Ordnung. Spiegel dich ruhig und träum ein wenig. Es gab einen Hauch von Nachdenklichkeit bei dem Vogel, der Edvard gefiel. Sie ist vielleicht ganz zufrieden mit diesem Tag, verdaut gerade eine Plötze und genießt die Wärme. Oder es ist genau umgekehrt: Sie trauert, sie hat etwas verloren. Vielleicht hat sie den Fisch fallen lassen.

Edvard wollte sie nicht stören, war jedoch ein wenig irritiert darüber, dass sie so lange auf dem Bootsanleger verharrte. Er hüstelte diskret, aber es nutzte nichts. Die Möwe blieb sitzen.

Edvard wartete. Viola, die alte Frau, der das Haus gehörte, in dem er wohnte, kochte, und sie würden bald essen. Er wollte vorher noch einen Moment auf dem Bootssteg stehen.

Plötzlich hob der Vogel ab, kreiste über der Bucht und ließ seinen Kot über dem mattgrünen Wasser fallen. Edvard stand sofort auf und trat auf den Steg hinaus. Einen Moment lang überlegte er, ob er baden sollte, beschloss jedoch, damit bis zum Abend zu warten. Es würde das erste Bad des Jahres sein.

Die Wassertemperatur vor Gräsö im nördlichen Uppland hatte lange bei bescheidenen fünfzehn Grad gelegen, aber er glaubte, dass sie jetzt gestiegen sein müsste, auf siebzehn, vielleicht sogar achtzehn Grad.

Die Möwe flog schreiend immer weiter fort und war mittlerweile nur noch ein Fleck über dem Wasser. Sie nahm Kurs auf den Sund und die offene See. Edvard wünschte sich, es ihr nachtun und auch abheben zu können.

Das kleinere Boot ruckelte träge an der Achtervertäuung, als eine schwache Brise über das Wasser strich. Der Wind war nicht kräftig, sondern glich eher einem Pusten. Vielleicht war es ja der Flügelschlag der Möwe, der ihn auf diese Weise erreichte.

Edvard Risberg stellte sich wie ein Turmspringer auf den äußersten Rand des Bootsstegs, streckte die Arme zum klarblauen Himmel hinauf, reckte alle Glieder und spähte auf das Wasser hinaus. Von der anderen Seite der Bucht drang das Geräusch menschlicher Aktivitäten zu ihm herüber. Bestimmt der Besitzer eines Sommerhauses, der seinen Rasen mähte. Er senkte die Arme wieder und holte tief Luft.

Es war für ihn eine große Genugtuung, auf diesem Bootssteg zu stehen. Er war sein Werk, gebaut auf dem Eis Ende Februar, jetzt in den Ufermorast gesunken. In den Eingeweiden des Stegs ruhte Granit, teils glatte Steine, die sie am Ufer gesammelt hatten, teils die vom Eis gesprengten kantigen, scharfen Blöcke, die sie an der Wasserlinie aufgehoben hatten.

Der Steg trotzte Wind und Meer und hielt den Nordost in Schach. Hinter seinem schützenden Arm konnten die beiden Boote, Victors und das kleine, friedlich vor sich hin dümpeln. Tonnen von Steinen. Holz. Unverrückbar lag er da, erbaut von Victor und Edvard mit Hilfe von Jens und Jerker, seinen beiden Söhnen im Teenageralter.

Victor hatte im Laufe seines langen Lebens eine ganze Reihe von solchen Bootsanlegern und Steinbetten gebaut; dieser war vermutlich sein letzter gewesen. Der alte Mann war dabei aufgeblüht wie nie zuvor. Seine Gebrechen waren ihm nicht mehr anzumerken, und er war unermüdlich.

Die Arbeit hatte eine Woche gedauert, und die Jungen waren die ganze Zeit über dagewesen, hatten Bretter getragen, Nägel eingeschlagen und Schrauben angezogen, Steine geschleppt und schließlich auf dem letzten Brett vor dem Meer eine Messingplakette mit ihren vier Namen und der Jahreszahl befestigt.

Eines Nachmittags hatten sie sich die Eishockeyschlittschuhe genommen und waren über das graue Eis fast bis zur offenen See gelaufen. Edvard hatte sie stolz und glücklich beobachtet, aber er war auch voller Angst gewesen, wegen der Risse im Eis und der brüchigen Eiskante. Mit glühenden Wangen waren die beiden zurückgekehrt. Edvard machte ein Feuer, und sie grillten Würstchen am Strand. Viola stieß mit Kaffee zu ihnen, und die Jungen tranken warmen Saft, genau wie im Stadion, wenn die Bandymannschaft von Sirius Uppsala ihr Heimspiel hatte.

Jens hatte Edvard an die Bandyspiele erinnert und daran, wie es gewesen war, als sie Großvater Albert in den Wagen bugsiert hatten und in die Stadt gefahren waren. Seine Stimme hatte dabei wie früher geklungen. Zum ersten Mal seit über zwei Jahren hatte der Junge mit Edvard gesprochen, ohne dass ein Schatten über seine Worte fiel. Voller Eifer hatte er erzählt, verstummte jedoch, als er die Miene seines großen Bruders bemerkte. Jerker hatte nichts gesagt, sondern nur auf das Eis hinausgestarrt.

Jens hatte seinen Vater noch einmal flüchtig angeschaut und geschwiegen. Edvard ging zu seinem ältesten Sohn und stellte sich dicht neben ihn. Victor sprach weiter, während er Holz nachlegte, aber auch er verstummte schließlich beim Anblick der beiden. Edvard wollte etwas sagen, zwei Jahre der Isolation beenden. Er sah den Trotz, aber auch die unterdrückte Sehnsucht, die in dem verbissenen Gesicht seines Sohnes standen. Er wusste, dass er den ersten Schritt tun musste, und legte den Arm um seinen Sohn.

So blieben sie stehen, reglos und schweigend. Edvard wusste nur zu gut, dass Worte alles wieder zunichte machen konnten, und er gab sich Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Tränen hatte es schon mehr als genug gegeben. Jetzt wollte er einfach nur seinen Sohn im Arm halten. Selbst wenn später alles zum Teufel ging, würde man ihm diesen Moment nicht mehr nehmen können.

»Du bist gewachsen«, sagte er nur und ließ seinen Sohn wieder los.

Sie aßen noch mehr Würstchen. Viola, die wie immer fror, beklagte sich über den Wind und stellte sich ganz dicht an das Feuer.

»In Gummistiefeln bekommt man immer kalte Füße«, hatte Jens gesagt, und Viola hatte etwas gebrummt. Victor zog einen Kiefernkloben heran und hievte ihn ins Feuer. Die Dämmerung brach allmählich herein, und je mehr es aufklarte, desto kälter wurde es. Sie rückten immer näher an das wärmende Feuer heran.

»Wir könnten uns heute abend die Sterne ansehen«, meinte Jens, und Jerker zuckte zusammen. Er erinnerte sich wohl an Edvards Sternguckerei in Ramnäs und wollte um alles in der Welt nicht an diese Zeit erinnert werden. Hinzu kam, dass Marita, nachdem Edvard ausgezogen oder vielmehr weggelaufen war, als erstes das alte Plumpsklo, sein Observatorium, abgerissen hatte. Seither hasste Jerker sternenklare Abende und Nächte ebenso sehr, wie Marita dies schon immer getan hatte.

Edvard meinte, dass sie lieber Karten spielen sollten, was sie dann auch taten. Eine Ferienwoche hatten sie gemeinsam verbracht und in dieser Zeit einen Bootssteg gebaut, der sicher der stabilste auf der ganzen Insel war, jedenfalls wenn man Victor glauben mochte. Eine Woche. Später waren die Jungen noch an ein paar Wochenenden während des Winters und Frühlings zu ihm herausgekommen. Langsam, aber sicher brach das Eis zwischen ihnen, und Edvard konnte wieder etwas von der alten Freude empfinden, wenn er mit seinen Söhnen zusammen war.

Am Wochenende wollten die beiden wieder nach Gräsö kommen. Edvard wusste, dass sie den Bus zur Insel auch ihm zuliebe nahmen. Hinter Jerkers mürrischer Schale und Jens’ nervösem Geplapper verbarg sich ein rührender Wille, es ihm recht zu machen.

Als Ann ihn verlassen hatte, war er in eine tiefe Krise gestürzt, weil er überzeugt war, nun allein leben zu müssen. Nur Violas Fürsorglichkeit und die viele Arbeit, die ihn nachts tief und fest schlafen ließ, hatten ihn gerettet. Aber jetzt sah er das Leben und seine eigene Existenz in einem etwas hoffnungsvolleren Licht. Er hatte das Gefühl, seinen Platz wiedergefunden zu haben.

Außerdem hatte er den Kontakt zu einigen seiner alten Freunde aufgefrischt, vor allem zu seinen Kameraden in der Gewerkschaft. Fredrik Stark, ein gleichaltriger und sich unermüdlich engagierender Landschaftsgärtner, hatte ihn mehrfach besucht. Er blieb ein paar Tage, schrieb auf seinem Computer und las Edvard lange Sermone vor, wenn dieser nach Hause kam. Er arbeite an einem Roman, behauptete er, und Edvard war wütend darüber und zugleich neidisch auf Starks Zielstrebigkeit. In einem optimistischen Moment und aus der unbestimmten Hoffnung heraus, dass sie immer noch Interesse an ihm haben könnte, hatte er sogar Ann Lindell angerufen und eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen. Er wusste nicht, ob sie ihre Beziehung wieder aufleben lassen, und noch viel weniger, ob sie zusammen leben konnten, aber an den dunklen Winterabenden hatte er begriffen, dass er nicht für immer allein bleiben wollte.

Würde sie zurückrufen? Und wenn nicht, würde er sie noch einmal anrufen?

5

Der Mann ihr gegenüber kratzte sich am Kopf. Das hatte er fast die ganze Zeit getan, seit sie seine Küche betreten hatte.

Eine alte Wanduhr tickte. Lindells Eltern besaßen eine ähnliche. Überhaupt gab es in Holger Johanssons Küche vieles, was sie an ihr Elternhaus in Ödeshög erinnerte. Der Geruch, die Einrichtung aus den fünfziger Jahren, das Muster der Wachstuchdecke, die alte Keksdose auf der Spüle und der gestrickte Tabletthalter.

Vieles war gleich, dennoch gab es einen entscheidenden Unterschied: den Tod. In Holger Johanssons Küche würde es nie wieder wie früher sein. Von jetzt an würden seine Möbel und der Hausrat, die Vasen, die Kunstdrucke an den Wänden und all die kleinen Dinge, die sich im Laufe eines Lebens ansammeln, immer mehr an Bedeutung verlieren. Sie würden von einer Schicht aus Staub und Fett, Trauer und Alter überzogen werden, seine Augen sie kaum noch wahrnehmen. Er war an einem Tag um fünfzehn Jahre gealtert, und Leere und Trauer hatten Besitz von einem Mann ergriffen, der vor Lindells Augen verblich.

»Sie war mein einziges Kind«, sagte er.

Lindell umklammerte ihren Stift und wünschte sich, sie hätte jemanden mitgenommen. Von früheren Gelegenheiten wusste sie, dass sie weicher und gefühlsbetonter wurde, wenn sie mit Menschen in großer Not allein war. Sie konnte dann einfach nicht so gut nachdenken.

»Führten Josefin und Sven-Erik eine glückliche Ehe?«

»Ich denke schon«, flüsterte der Mann.

Er starrte unablässig zum Küchenfenster hinaus.

»Es gab keinen Streit?«

»Wer streitet sich nicht ab und zu.«

»Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Tochter?«

Er nickte. Seine Hand strich fahrig über das Wachstuch.

»Wie fanden Sie Sven-Erik?«

»Er … er hat viel gearbeitet. Josefin hat sich manchmal darüber beklagt. Seit er die neue Stelle hat, ist er oft fortgewesen. Hierhin und dahin gefahren.«

»Sie meinen, dass er Dienstreisen unternommen hat.«

Erneutes Nicken.

»Sie wissen, dass er verschwunden ist. Was denken Sie, wo er jetzt sein könnte?«

Josefins Vater antwortete nicht.

»Gibt es gar keinen Ort, den Sie sich vorstellen könnten?«

»Wenn überhaupt, dann Spanien. Dort fliegt er oft hin.«

»Wohin in Spanien?«

»Das weiß ich nicht. Er hat nur Spanien gesagt.«

Lindell schwieg eine Weile. Holger Johanssons Nachbarin tauchte im Garten auf. Sie war bei ihm im Haus gewesen, als Lindell eintraf. Sie ahnte, dass die beiden mehr als Nachbarn waren, und war froh darüber, dass Josefin Cederéns Vater nicht ganz allein bleiben würde.

Die Frau rupfte Unkraut zwischen den Sommerblumen und schaute ab und zu zum Haus hinauf.

»Ich kann es einfach nicht fassen, dass Emily tot ist.«

Er sah Lindell an, grenzenloses Erstaunen im Blick, und sie wusste bereits, was er als nächstes sagen würde. »Eine Sechsjährige. Sie hat doch nichts Böses getan. Wenn es bloß mich getroffen hätte. Nur gut, dass Inger nicht mehr am Leben ist.«

Lindell begriff, dass er seine Frau meinte.

Er verstummte und sah zum Fenster hinaus. »In letzter Zeit war da was. Sie sind immer vorbeigekommen, nicht jeden Tag, aber oft. Früher hat sie den Kinderwagen genommen. Sie ist gern spazierengegangen. Dann fingen sie an radzufahren. Manchmal sind sie jeden Vormittag hier gewesen. Vera und ich trinken um halb elf immer Kaffee.«

»Und in letzter Zeit hat sich etwas verändert?«

»Ich hatte das Gefühl. Jossan kam mir irgendwie abwesend vor, mehr als sonst, so als hätte sie etwas auf dem Herzen. Ich habe sie einmal darauf angesprochen. Sie hat nur gelächelt und gesagt, es sei alles in Ordnung, aber ein Vater hat Augen …« Holger Johansson sackte über dem Küchentisch zusammen. Anscheinend hatte Vera damit schon gerechnet, denn im gleichen Augenblick öffnete sich die Haustür. Ohne Lindell anzusehen, ging Vera zu dem Mann und legte ihm den Arm um die Schultern. Lindell betrachtete die Hand, die auf der Schulter des Mannes ruhte. Die Frau schmiegte ihren Kopf an seinen ergrauten Schädel. Ihre Hand war voller Leberflecke, und das so ungestüm gejätete Unkraut hatte grüne Streifen und Flecken hinterlassen. Lindell betrachtete die Hand, und ihre Gedanken wanderten zwischen ihrem Elternhaus in Ödeshög und dem kleinen Mädchen am Straßenrand hin und her. Auch Edvard und die alte Viola in ihrem Haus auf Gräsö glaubte sie vor sich zu sehen.

Sie erhob sich ganz langsam und legte die Hand auf die Schulter der Frau. Vera blickte mit ausdruckslosem Gesicht zu ihr hoch. Als Lindell sich ein letztes Mal umschaute, hatte die Frau sich aufgerichtet und sah zum Fenster hinaus. Lindell folgte ihrem Blick. Der falsche Jasmin auf dem Hof blühte.

Der Mann kratzte sich wieder am Kopf, und Lindell entdeckte eine Wunde, die durch das schüttere, nach hinten gekämmte Haar hindurchschien.

Lindell fuhr vom Hof und wäre dabei beinahe mit einem Pfeiler der Toreinfahrt kollidiert. Nach fünfzig Metern bremste sie und hielt an. Sie konnte das Bild nicht von der Netzhaut verbannen und weinte lautlos, während sie an den geschundenen Körper des Mädchens dachte. Sie war aufgewühlt. Kinder, die ermordet wurden, denn mittlerweile ging sie von einem Mord aus, waren für sie schlimmer als alles andere. Erst einmal hatte sie zuvor eine Kinderleiche gesehen. Damals war sie Polizeianwärterin und zwanzig Jahre alt gewesen. Das lag jetzt fünfzehn Jahre zurück. In dem Fall war es um eine geistig verwirrte Mutter gegangen, die ihr Baby in seinem Gitterbettchen erwürgt hatte. Schrecklich genug, aber das hier war schlimmer. Lag es am Sommer, an der idyllischen Landschaft, den zarten Gliedern des Mädchens, die aus ihren Kleidern hervorschauten, oder an der Tatsache, dass sie Blumen gepflückt hatte?

Lindell kurbelte das Seitenfenster herunter. Seit der Kaffeepause am Morgen hatte sie nichts mehr gegessen, und ihr war hundeelend zumute. Es war zwar schon sechs Uhr, aber es war immer noch ein herrlicher Tag. Sie holte ein paarmal tief Luft, und die Übelkeit ließ nach.

Sven-Erik Cederén, wo hielt er sich jetzt auf? Sie sah sich um, so als könne er in ihrer Nähe sein. Versteckte er sich irgendwo? Sah er sich heute abend die Nachrichten an?

Warum ermordet man Frau und Kind? Es gab nur ein denkbares Motiv, und das hieß Eifersucht.

»Ich werde dich finden, wo immer du dich versteckst«, sagte sie verbissen, legte den Gang ein und fuhr den schmalen Kiesweg hinab.

Dann wurde ihr klar, dass es bislang keinerlei Beweise für die Schuld des Mannes gab. Warum seine Schuld voraussetzen? dachte sie. Das blockiert doch nur. Vielleicht ist er auch tot. Sie fuhr langsam, kroch die schmale Straße entlang. Vielleicht hat er gesehen, wie sie überfahren wurden, seine Frau und sein Kind am Straßenrand gefunden, und einen solchen Schock bekommen, dass er abgehauen ist.

Sie war sich nur zu sicher, dass dies relativ unwahrscheinlich klang, aber man durfte nichts außer acht lassen. Allzu viele Fehler waren schon aufgrund vorgefasster Meinungen begangen worden.

Sie wusste, dass die Besprechung bereits begonnen hatte, beschloss aber, noch in Uppsala-Näs zu bleiben. Es war ungewöhnlich, dass sie nicht dabei war. Normalerweise wollte sie keine Informationen verpassen und achtete sehr darauf, Teil eines Teams zu sein; aber im Moment kam ihr das Besprechungszimmer wie ein bedrückender Bunker mit den immer gleichen, müden Gesichtern und immer gleichen Kommentaren vor.

Sie wollte nachdenken, ihre Ruhe haben. Am besten gelang ihr das in der Konditorei Savoy, denn obwohl sie die Einsamkeit suchte, sollten doch gleichzeitig Menschen um sie herum sein. Das Savoy war in dieser Hinsicht perfekt. Sie saß oft dort, trank ihren Kaffee, las die Zeitungen, sah sich vor allem die anderen Gäste an. Menschen waren ihr Arbeitsgebiet, sie galt es zu studieren und zu verstehen. In einem Café fand das Hirn Ruhe, lief aber dennoch auf Hochtouren. Sie konnte sich an mehrere Fälle erinnern, bei denen ihr im Savoy die entscheidenden Ideen gekommen waren, während sich im Hintergrund Tagesmütter unterhielten, Kinder schrien, Handwerker diskutierten und Journale raschelten.

Lindell fuhr zum Haus der Cederéns. Sie vermutete, dass Fredriksson noch dort war, vielleicht auch Berglund. Das war kein Problem. Diese beiden Herren würden sie in Ruhe lassen, wenn sie sich das Haus ansah.

Eine Handvoll Neugieriger hatte sich auf der Straße vor dem Grundstück versammelt. Sie versuchten auszusehen, als wäre alles wie immer, als würden sie dort jeden Tag so herumstehen, aber ihre gierigen Blicke entlarvten sie. Vielleicht bin ich ungerecht, dachte Lindell, vielleicht waren sie gute Freunde von Josefin und Emily, und die kleine Versammlung ist einfach nur ihre Art, den Schock zu verarbeiten.

Sie fuhr auf den Hof, stieg aus und entdeckte etwas, das sie bei ihrem ersten Besuch vor mehreren Stunden nicht bemerkt hatte. Gleich neben dem Fahnenmast, versteckt hinter ein paar Fliederbüschen, stand eine Hundehütte, davor ein Futternapf mit eingetrockneten Futterresten. Lindell hockte sich hin. In der Hütte lagen eine Decke und ein paar Knochen.

Von einem Hund hatte ihr niemand etwas gesagt. Sie blieb vor der Hundehütte stehen. Von der Straße hörte sie die Stimmen der Nachbarn und beschloss, der Frage sofort nachzugehen.

Eine leichte Brise mit den Düften des Frühsommerabends schlug ihr entgegen, als sie auf die Straße hinaustrat. Sie nahm Kurs auf einen Mann, der mit einem Stapel Post in der Hand dastand.

»Ich heiße Lindell, Kriminalpolizei Uppsala.«

Der Mann gab ihr die Hand.

»Schrecklich«, sagte er.

»Sind Sie ein Nachbar der Cederéns?«

Der Mann nickte und ließ gleichzeitig eine Zeitung und einige Briefe fallen. Verlegen hob er die Post wieder auf, während er zu Lindell hinaufschielte.

»Wissen Sie, ob Cederéns einen Hund hatten?«

»Ja, einen Pointer. Sie hieß Isabella.«

»Ab und zu nimmt er sie mit«, mischte sich eine Frau ein.

Der Mann trat einen Schritt näher an Lindell heran, so als wolle er sie von der Frau abschirmen, und berichtete eifrig von dem Hund und den Gewohnheiten der Familie.

Es stellte sich heraus, dass der Hund ein Ärgernis war. Josefin Cederén hatte ihn nie leiden können, und er war eine Plage für die ganze Nachbarschaft. Draußen, an seiner Hütte angekettet, heulte er traurig und lange. Im Haus nagte der Pointer alles an, Teppiche, Gardinen und Blumen. Sven-Erik Cederén nahm ihn deshalb oft mit zur Arbeit. Er war anscheinend der einzige, der mit dem Tier umgehen konnte.

Ich sollte mir die Zeit nehmen, hierzubleiben und ihnen zuzuhören, dachte Lindell, aber weil sie sich so sehr wünschte, endlich ihre Ruhe zu haben, speiste sie die Nachbarn mit einigen wenigen Höflichkeitsfloskeln ab.

Sie kehrte auf den Hof zurück. Fredrikssons Wagen parkte vor dem Hauseingang. Er war fast wieder ganz der alte. Nach einem schweren Herbst und der Mörderjagd im Winter hatte er sich krankschreiben lassen. Niemand glaubte, dass Fredriksson ins Kommissariat zurückkehren würde, aber rechtzeitig zu komplizierten Ermittlungen im Falle einer Gruppenvergewaltigung schlich er sich wieder in das Besprechungszimmer. Selbst Ottosson, der Leiter des Kommissariats, war verblüfft gewesen.

Fredrikssons unangekündigtes Auftauchen bei der morgendlichen Besprechung hatte eine selten erlebte Stille im Raum ausgelöst, als wäre jemand von den Toten auferstanden. Ottosson hatte gehüstelt. Ein kollektives Lächeln hatte sich auf die Gesichter der versammelten Kriminalpolizisten gelegt. Sammy Nilsson hatte Fredrikssons alten Stuhl vorgezogen.

Jetzt saß er über einen Stapel Blätter gebeugt im Wohnzimmer. Er schaute kurz auf und sah erleichtert aus. Vielleicht hatte er befürchtet, Riis wäre zurückgekommen.

»Wie sieht’s aus?«

»Papiere gibt es genug.«

»Was ist das?«

»Alte Unterlagen, was man so ansammelt.« Fredriksson lehnte sich auf dem Sofa zurück und rieb sich die Augen. »Ich glaube, ich muss mir eine Lesebrille zulegen«, sagte er.

Lindell setzte sich ihm gegenüber.

»Wir müssen auch nach Isabella fahnden«, sagte sie und drehte eine Runde im Zimmer.

»Wer ist das?«

»Der Hund.«

Fredriksson machte Anstalten, weiter zu blättern, ließ sich dann aber wieder gegen die Rückenlehne fallen. »Wenn du dich hier umschaust, was für einen Eindruck gewinnst du dann von Familie Cederén?«

»Sie haben Geld«, sagte sie kurz.

»Ja, Geld haben sie, aber da ist noch etwas. Es ist unordentlich und außerdem ganz schön dreckig. Hinter allem Kunstglas liegt dicker Staub, unter den Teppichen ist es grau, in der Küche klebt alles, und die Badewanne ist schmutzig.«

»Soso«, meinte Lindell abwartend.

»Eine fast zweihundert Quadratmeter große, ungeputzte Villa. Wir wissen, dass Josefin Cederén Hausfrau war, seit ihre Tochter geboren wurde. Was immer sie tagsüber gemacht hat, geputzt hat sie jedenfalls nicht.«

»Und das bedeutet?«

»Keine Ahnung. Die Menschen sind so verschieden. Ich würde es keinen einzigen Tag mit all dem Dreck um mich herum aushalten.«

Lindell schwieg. Der Standpunkt ihres Kollegen löste bei ihr keinerlei Assoziationen oder Ideen aus.

»Ich glaube, sie war unglücklich«, sagte Fredriksson. »Sie hat eins der schönsten Häuser von Uppsala-Näs einfach verkommen lassen.«

»Sie hatte eben andere Prioritäten«, erwiderte Lindell. Es gefiel ihr nicht, dass Fredriksson schlecht über die Tote sprach. Sie hatte am Straßenrand gelegen, war auf dem Weg zum Grab ihrer Mutter gewesen, zusammen mit der Tochter, aber dennoch mehrere Meter von ihr entfernt im Augenblick des Todes. Josefin Cederén war es nicht einmal vergönnt gewesen, ihre Tochter ein letztes Mal in die Arme zu schließen. Das Haus mochte unaufgeräumt sein, okay, aber jetzt war sie tot.

»Ich glaube, dass sie sich hier nicht wohl gefühlt hat«, begann Fredriksson von neuem. »Und das hat uns etwas zu sagen.«

»Aber es ist längst nicht gesagt, dass dies etwas mit ihrem Tod zu tun hat«, wandte Lindell ein.

»Das ist richtig, aber es ist ein Fragezeichen.«

»Es gibt sicher Fragezeichen im Leben aller Menschen«, erwiderte Lindell. »Jetzt sind wir eben zufällig hier gelandet.«

Sie stand auf und ging in die Küche. Fredrikssons Beobachtung traf zu: Die Küche war schmutzig. Sie bestand aus einer frei stehenden Küchenzeile, auf deren massiver Arbeitsplatte aus Buchenholz sich Küchengeräte häuften, zwei Teller mit eingetrockneter Sauermilch und eine geöffnete Packung Margarine – und überall Brotkrumen. Sie hat bestimmt nach dem Besuch auf dem Friedhof aufräumen wollen, dachte Lindell versöhnlich, aber es blieb Tatsache, dass es in der Küche fast ein wenig eklig war.

Wer würde nun hier aufräumen? Ihr Vater?

Lindell ging in die obere Etage. Das Zimmer des Mädchens war mit Stofftieren übersät. Das Doppelbett im Schlafzimmer der Eltern war ungemacht. Auf dem Fußboden lag eine weiße Pyjamajacke. Ein Paar Pantoffeln lugte unter dem Bett hervor.

Sie ging zu dem einen Nachttisch und nahm das Buch in die Hand, das darauf lag. Es war ein amerikanischer Roman. Auf dem anderen Nachttisch lag ein Ordner mit Aufzeichnungen, die vermutlich mit MedForsk zu tun hatten. Sie blätterte ein wenig darin. Tabellen mit erklärenden Texten, ein Teil davon war auf englisch, anderes auf spanisch. Manchmal tauchten hingeworfene Kommentare auf, geschrieben mit Bleistift in einer schwer zu lesenden Handschrift, ein Fragezeichen hier und da, ein paar Ausrufezeichen am Rand.

All das musste durchforstet, Blatt für Blatt gesichtet werden, in der Hoffnung, dass es irgendwo etwas gab, was erklären konnte, warum dieser Mann seine Familie getötet hatte. Oder war auch er getötet worden? Gab es eine dritte Kraft, die der ganzen Familie das Leben genommen hatte?

Wo aber war er, wenn es sich so verhielt? Lindell musste wieder an den Hund denken. Ein Pointer. Waren das die mit den Punkten?

Sie blieb mit dem Ordner in der Hand stehen. Die Haustür schlug zu, und sie vermutete, dass die Männer von der Spurensicherung nach einer kurzen Mahlzeit zurückgekehrt waren.

Im oberen Stockwerk gab es noch zwei weitere Zimmer, ein spartanisch eingerichtetes Gästezimmer und ein Nähzimmer mit Nähmaschine, Schneiderpuppe und einem Tisch, auf dem schwarzer Stoff drapiert lag. Lindell starrte die geschlechtslose und mit Nadeln gespickte Puppe an. Sie zog die oberste Schublade einer Kommode heraus, die durch ihre barocken Formen herausstach, die Marmorplatte und die geschwungenen Beine, und kramte vorsichtig in Stoffresten. Die nächste Schublade war voller Blätter. Soweit sie erkennen konnte, waren es Skizzen. Zuunterst, unter ein paar Schnittmustern, lag ein in blaues Leinen eingebundenes Tagebuch. Lindell schlug die erste Seite auf, und ihr geschulter Blick erkannte sofort, dass sie auf etwas gestoßen war, das ihr Josefin Cederén näherbringen würde, denn dieses Tagebuch konnte nur ihr gehört haben, da es in Josefins Revier versteckt lag.

Es war ein Tagebuch, dessen Eintragungen Ende Mai 1998 begannen. Die erste Eintragung lautete: »Nach einem Jahr der Ungewissheit weiß ich nun alles. Ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht bin, aber es tut unheimlich weh. Vielleicht bin ich selber schuld.«

Die Handschrift war gut lesbar. Lindell blätterte weiter. Die intimsten Gedanken eines Menschen, aufgezeichnet in einem Zeitraum von gut zwei Jahren. Die letzte Eintragung war auf den vierten Juni datiert.

Das blaue Buch war von Trauer durchzogen. Josefin Cederén schrieb, statt zu putzen.

Lindell suchte weiter in den Schubladen, um sich zu vergewissern, dass es nicht noch andere Bücher gab, fand aber keine. Entweder existierte nur das eine oder die älteren Tagebücher lagen woanders.

Sie nahm das Buch mit nach unten.

»Heute abend habe ich etwas zu lesen«, sagte sie und zeigte Fredriksson, der immer noch am Tisch saß, ihren Fund.

Er blickte auf.

»Ich wünschte, ich würde auch ein paar persönliche Notizen finden, aber das Ganze ist nur Material von seiner Arbeit. Ich könnte einen Mediziner als Dolmetscher gebrauchen.«

Trotz seiner Nörgelei sah Allan Fredriksson hellwach aus.

»Schön, dass du wieder bei uns bist«, sagte Lindell.

Es gab eine Zeit, in der er ihren Blick nicht erwidert hatte. Jetzt sah er sie mit einem Lächeln auf den Lippen an und nickte.