Das Tor zum Himmel - Eric-Emmanuel Schmitt - E-Book

Das Tor zum Himmel E-Book

Eric-Emmanuel Schmitt

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Beschreibung

Die Reise durch die Zeiten führt Noam nach Babel, wo ein größenwahnsinniger Herrscher einen Turm bis in den Himmel errichtet.

Auf der Suche nach seiner geliebten Nura gelangt Noam, der Zeitreisende, nach Mesopotamien. Hier erlebt er Unerhörtes: die Zähmung der Flüsse, die Bewässerung des Landes, die Gründung der ersten Städte, die Erfindung der Schrift und der Astronomie. Noam erreicht Babel, wo der Tyrann Nimrod einen unermesslich hohen Turm baut. Man erhofft sich dadurch die Entdeckung der Gestirne und den Zugang zu den Göttern – ein echtes »Tor zum Himmel«. Als Heiler kommt Noam mit allen in Kontakt: mit den Bauarbeitern und dem König, mit dessen Architekten und Sternenkundlern, aber auch zu den nomadischen Hirten, die die neue Welt ablehnen. Wofür wird sich Noam entscheiden? Für sein persönliches Glück oder für die Errungenschaften der Zivilisation?

Im zweiten Band der Saga »Noams Reise« verwebt Schmitt den Mythos vom Turmbau zu Babel mit den neuesten Erkenntnissen über den Alten Orient, um uns in eine brodelnde, aufregende Epoche eintauchen zu lassen, der wir bis heute so viel verdanken.

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ZUMBUCH

Die Reise durch die Zeiten führt Noam nach Babel, wo ein größenwahnsinniger Herrscher einen Turm bis in den Himmel errichtet.

Auf der Suche nach seiner geliebten Nura gelangt Noam, der Zeitreisende, nach Mesopotamien. Hier erlebt er Unerhörtes: die Zähmung der Flüsse, die Bewässerung des Landes, die Gründung der ersten Städte, die Erfindung der Schrift und der Astronomie. Noam erreicht Babel, wo der Tyrann Nimrod einen unermesslich hohen Turm baut. Man erhofft sich dadurch die Entdeckung der Gestirne und den Zugang zu den Göttern – ein echtes »Tor zum Himmel«. Als Heiler kommt Noam mit allen in Kontakt: mit den Bauarbeitern und dem König, mit dessen Architekten und Sternenkundlern, aber auch mit den nomadischen Hirten, die die neue Welt ablehnen. Wofür wird sich Noam entscheiden? Für sein persönliches Glück oder für die Errungenschaften der Zivilisation?

Im zweiten Band der Saga »Noams Reise« verwebt Schmitt den Mythos vom Turmbau zu Babel mit den neuesten Erkenntnissen über den Alten Orient, um uns in eine brodelnde, aufregende Epoche eintauchen zu lassen, der wir bis heute so viel verdanken.

ZUMAUTOR

Eric-Emmanuel Schmitt (geb. 1960 in St.-Foy-lès-Lyon) ist ein Dramatiker, Romanautor, Essayist, Filmemacher, dessen Werke in 45 Sprachen übersetzt wurden und in mehr als 50 Ländern der Welt erschienen sind. Er ist einer der meistgelesenen französischsprachigen Autoren weltweit. Seine Theaterstücke stehen regelmäßig auf den Spielplänen deutschsprachiger und anderer internationaler Bühnen. Sein Werk erreicht im deutschsprachigen Raum eine Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren. »Das Tor zum Himmel« ist der zweite Roman seines neuen, opulenten Romanzyklus, der die Geschichte der Menschheit erzählt.

»Eric-Emmanuel Schmitts Zeitreise macht die großen Gründungsmythen lebendig.« La Vie

»Ein Meisterwerk!« Le Point

»Ein echter Pageturner, der uns zeigt, wie die Wissenschaft und das Bewusstsein entstanden sind.« Psychologies

www.cbertelsmann.de

ERIC-EMMANUEL

SCHMITT

Das Tor zum Himmel

ROMAN

AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON

MICHAEL VON KILLISCH-HORN

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel La Porte du Ciel beiAlbin Michel, Paris.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2021 der Originalausgabe

Éditions Albin Michel

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Gerhard Seidl

Umschlaggestaltung: bürosüd, München

Umschlagmotiv: © mauritius images / ClassicStock / Sipley

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-28674-3V001

www.cbertelsmann.de

PROLOG

Ein Schauer.

Wie oft ist Noam schon geflohen?

Er rennt bis zum Umfallen.

Die Flucht bringt keine Lösung, sie gibt eine Methode vor: weglaufen, nachdenken, handeln. Noam verlässt den Schlupfwinkel der Aktivisten. Drei Tage, ihm bleiben drei Tage … Wenn es Noam in dieser Zeit nicht gelingt, der Welt ihren Vernichtungsplan zu enthüllen, werden sie die Atomkraftwerke angreifen und eine Stromknappheit, eine Unterbrechung der Internetverbindung und eine allgemeine Panik auslösen. Und in diesem Durcheinander brauchen sie nur weitere Attentate folgen zu lassen, um die Zivilisation ins Chaos zu stürzen. Die radikalen Survivalisten hassen diese Gesellschaft, sie haben nur einen Gedanken: sie auszulöschen, um eine andere zu errichten, deren Herren sie sein werden.

Er rennt, so schnell er kann. Die Nacht erdrückt ihn schier, sie ist schwer von der Hitze des Tages. Nicht ein Hauch von Kühle. Alles erstarrt, die Bäume, die Gräser, die vertrocknet am Boden liegen, der schwarze, von mineralischen Sternen durchlöcherte Himmel, der gelbliche Mond. Nichts atmet. Kein Schrei durchlüftet den Hochwald, kein Gurren ist zu vernehmen. Noam läuft durch ein erstarrtes Bild, bleibt aber wachsam: Die Männer der Arche können jeden Augenblick hinter ihm auftauchen, und sie werden nicht zögern, ihn zu töten.

Er rennt. Die Angst verleiht ihm Kraft, lockert seine Knöchel, verstärkt den Blutzufluss in seine Schenkel, verhindert, dass er stolpert, wenn er auf Hindernisse stößt, Steine, Wurzeln, Buckel. Er stürmt die Flanke des Anwesens hinunter und wird bald die Straße erreichen.

Plötzlich hört er dumpfe Schläge und Pfeifen: Jemand verfolgt ihn! In Bedrängnis drückt er sich an eine Kiefer. Zwischen zwei zu geräuschvollen Atemzügen, die er nur mit Mühe zu beruhigen vermag, nimmt er irgendwo unterhalb etwas wahr. An den Stamm gedrückt, dessen Harz seine Handflächen klebrig macht, erlangt er die Kontrolle über seinen Atem zurück und erkennt deutlicher das unregelmäßige Hämmern. Woher dringt es zu ihm? Er inspiziert die Umgebung, blickt nach rechts, nach links und wird sich bewusst, dass die Schläge von seinem Herzen kommen und das Zirpen aus seinen Bronchien; er wurde nur von sich selbst verfolgt … Wütend über seine Kopflosigkeit rennt er weiter.

Die Umfriedungsmauer. An diesem Ort sind Sensoren und Kameras deutlich sichtbar.

Er hievt sich hinauf, steigt über die Scherben und landet in einem Graben, der die Straße säumt. Lebe wohl, Arche.

In seinem Rucksack rutscht ein entscheidend wichtiger Gegenstand hin und her, der Computer, den er den Fanatikern gestohlen hat und der die Verbindung zu der libanesischen Zelle und der Hauptorganisation enthält. Wenn Marmoud, Charly und Hugo den Diebstahl feststellen werden, wird sie eine Mordswut packen. Er hat keine Sekunde zu verlieren. Noam läuft zur abschüssigen Seite der Straße und rennt sie hinunter.

Ein Cabrio taucht auf. Die Musik, die aus ihm dringt, knattert lauter als der Motor. Ein Orchester aus Geigen und Blechbläsern, das einen schmalzigen Sänger begleitet, heitert die düstere Landschaft auf und überdeckt den Klang des Fahrzeugs, das trotzdem wie ein hungriger Löwe brüllt.

Noam stellt sich mitten auf die Fahrbahn.

Das Cabrio fährt unbeirrt weiter, mit wahnsinniger Geschwindigkeit.

Er schwankt.

Es wird nicht langsamer, rast direkt auf ihn zu.

Geblendet von den Scheinwerfern, die ihn mit grellem Licht einkreisen, bleibt Noam in der Mitte der Fahrbahn stehen, überaus wachsam, bereit, im letzten Augenblick in den Graben zu springen.

Der Wagen hält weniger als einen Meter vor ihm.

Eine spöttische Stimme ertönt: »He, Mann, genial. Was für ein Mut! Das lieb ich … Woher weißt du, dass ich meine Bremsen hab überprüfen lassen? Hast du mir die Rechnung geschickt?«

Nachdem er Motor und Radio ausgeschaltet hat, schält sich ein langer Lulatsch aus dem Cabrio, völlig begeistert. Eine krause Mähne umrahmt sein knochiges Gesicht mit Hakennase. Wild gestikulierend kommt er auf Noam zu; sein Körper schwankt, durchtränkt von Alkohol.

»Was machst du hier in dieser Wüste?«

»Ich will nach Beirut.«

»Kein Problem, ich nehm dich mit!«

Er geht zum Wagen zurück, bleibt in letzter Sekunde stehen, öffnet die Wagentür und deutet auf die Rückbank. Als er sich setzt, findet Noam sich neben einem jungen Blonden wieder, der sich an den Beifahrersitz klammert.

»Das ist Sören, ein Däne«, ruft der Fahrer. »Wir haben die Nacht, um den Libanon zu besichtigen. Ich bin Joseph.«

Der Motor heult auf, die Bohnenstange löst die Bremse, und das Fahrzeug macht einen Satz nach vorn. Josephs Freude ist äußerst geräuschvoll: Um seiner Fröhlichkeit Ausdruck zu geben, braucht er Dezibel, die seiner Ventile, die seines Radios und die seiner Stimme. Unermüdlich preist er die Schönheit und die Größe des Libanon, erzählt immer neue Anekdoten, prustet los, ergeht sich in Abschweifungen, verliert sich in ihnen, bricht erneut in Gelächter aus.

Während er seine großen Reden schwingt, erzählt der Däne, blass vor Schrecken, Noam, dass er, Kollege eines Abends während einer Konzerttournee, Joseph, den Beleuchter, nicht gebeten hatte, den Reiseführer für ihn zu spielen. Mit hundertfünfzig Stundenkilometern sind sie durch die Gegend gebraust, von Baalbek nach Tyros, vorbei auch an Beit ed-Din, dem Palast, der dem Präsidenten der Republik als Sommerresidenz dient und in den der Raser, vollkommen betrunken, sogar einzudringen versucht hat. Nichts bremst Josephs Hilfsbereitschaft, der seine generöse Begeisterung immer wieder neu entfacht, indem er jede Menge Bier säuft. Mehrfach wäre der Wagen beinahe in einer Schlucht gelandet oder hätte einen Pfosten gerammt, aber der Gott der Säufer wacht über Joseph.

»Leider«, sagt der Däne seufzend, Geisel der Nettigkeit, die den Libanesen entflammt, und er hat nur den einen Wunsch, aus diesem höllischen Coupé zu springen.

Die Gefahr missachtend, schließt Noam die Augen und versucht, eine Taktik zu entwickeln. Wen kann er kontaktieren? Er kennt fast niemanden, hat keine Ahnung, wie diese Gesellschaft funktioniert, in die er nach seinem letzten Winterschlaf, der Jahrzehnte gedauert hat, geraten ist. Ein Name fällt ihm wieder ein: Hassan.

Um neun Uhr entdeckt Noam im Viertel Achrafieh in der Rue Alfred Naccache Hassan, der dem Parkplatzwächter die Schlüssel seines Rennwagens aushändigt. Sobald er in seine Redaktion gegangen ist, stürzt Noam ihm nach.

Hassan wirkt nicht überrascht. Ohne Einleitung macht er Noam Vorwürfe wegen seines wenig freundschaftlichen Verhaltens, dass er ihre Beziehung missbraucht habe, indem er sich mit seinem Cousin in der Arche eingelassen habe. Noam protestiert, entschuldigt sich für seine Gutgläubigkeit und überredet ihn, etwas trinken zu gehen. Hassan schmollt. Dieser luxusversessene Journalist wählt eine uralte, heruntergekommene Bar mit grünlichen Wänden, wo sie sich auf klebrige Stühle setzen und einen Kaffee aus angeschlagenen Tassen trinken.

Noam erzählt, was er entdeckt hat: Die Arche, die Hassans Cousin, ein aufrichtiger Survivalist, als einfachen Unterschlupf für den Fall einer Katastrophe gedacht hatte, beherbergt eine Terroristengruppe, die mit einem weltweiten Netz in Verbindung steht. Er beschreibt den waffenstrotzenden Keller, gibt die Gespräche wieder, die er am Computer belauscht hat, auch das abschließende mit dem Anführer der Verschwörung. Es ist sinnlos, Hassan die Identität des Chefs zu enthüllen, der auf dem Bildschirm erschienen war, er kann ihm nicht begegnet sein, weil die den Menschen bewilligte Zeit nicht Dereks Unsterblichkeit ist. Noam bleibt hartnäckig, geht in die Details und überzeugt Hassan, dass die Katastrophe unausweichlich ist, wenn die gegen die Atomkraftwerke, die Staudämme und die Online-Datenspeicher gerichteten Kommandos nicht aufgedeckt werden. Die Katastrophe steht unmittelbar bevor.

»Drei Tage! Ist dir das klar? Die Zelle Zacharias in den USA wird in drei Tagen zuschlagen.«

Jetzt wird Hassan sich der Gefahr bewusst, aber der Pressemann gesteht seine Ohnmacht. Sein Magazin Happy Few, das monatlich auf Hochglanzpapier erscheint, verfügt weder über das Profil noch über die Schnelligkeit, die eine derartige Enthüllung verlangt.

»Ruf die Tageszeitungen an!«, beschwört Noam ihn.

Hassan schließt aus, dass eine ernsthafte Zeitung sich traut, über eine Angelegenheit solchen Ausmaßes zu berichten ohne ein Minimum an Recherche, die mindestens drei Tage erfordern würde.

»Bring mich mit den Behörden in Kontakt!«

Trotz des Ernstes ihrer Unterhaltung bricht Hassan in Gelächter aus. Als Libanese verfügt er über zwei Gewissheiten bezüglich der Politiker seines Landes: ihre Ineffizienz und ihre Korruptheit. Im vorliegenden Fall würden sie sich damit begnügen, die Sensationsnachricht bei den Amerikanern oder den Europäern zu Geld zu machen.

»Es ist mir egal, ob sie davon profitieren«, erwidert Noam. »Hauptsache, die Nachricht verbreitet sich.«

»Zu lang! Wenn sie ein Gespür für Dringlichkeit hätten, hätten unsere Politiker nicht zugelassen, dass unsere Nation den Bach runtergeht.«

»Die Geheimdienste?«

»Hm …«

»Dann tun wir also nichts und warten auf die Apokalypse?«

»Das habe ich nicht gesagt. Komm!«

Eine Stunde später kommen Hassan und Noam zu einem Lager, das direkt neben dem Hafen liegt. Auf einer Metallkonstruktion bilden graue Bruchsteine Wände, die von einem Dach aus Wellblech gekrönt werden. Außen weder ein Anstrich noch Putz, Urinflecken am Fuß eines Mäuerchens aus Beton. Im Inneren drückende Hitze und Halbdunkel. Hassan drückt einen Schalter; Neonlichter zucken funkenstiebend, bevor sie sich entschließen, ein tristes Licht zu verbreiten, das den Raum nur schlecht erhellt. Die beiden Männer schlängeln sich zwischen großen Sperrholzkisten hindurch. Aasgeruch quält ihre Nasen. Durch eine Falltür gelangen sie auf eine Wendeltreppe aus verrostetem Eisen und stoßen auf eine Panzertür. Hassan tippt einen Code, ein Signal ertönt, ein zweiter Code, das Signal ändert sich, ein dritter Code, und die Tür öffnet sich.

Sie betreten einen Raum, in dem Ventilatoren an der Decke und Lüftungsschächte für kühle Luft sorgen. Auf hohen Hockern vor einer Reihe von Ablageplatten klimpern fünfzehn junge Leute auf ihren Tastaturen vor großen Bildschirmen. Ihre Haltung macht Noam neugierig: Schlaff und träge konzentrieren sie ihre ganze Lebendigkeit auf ihre Fingerspitzen und das Blinzeln. Mollusken mit überhitzten Extremitäten … Versunken in ihre Tätigkeit, nehmen diese Mädchen und Jungen keine Notiz von sich selbst, sie bemerken auch nicht die Besucher, die gerade hereinkommen.

»Hacker«, erklärt Hassan. »Sie hacken sich in jede offizielle oder private Website, die eines Ministeriums, einer Armee, einer Pharmaindustrie, eines Medienkonsortiums, eines Milliardärs. Sobald sie im System sind, schauen sie sich die Daten an, verändern sie, löschen sie, sperren sie.«

»Mit welchem Ziel?«

»Das Spiel. Die Herausforderung. Die Liebe zur Piraterie.«

»Geld?«

»Was würden sie damit machen? Schau dir an, wie sie leben. Eine Kanalratte träumt nicht davon, eine Feldmaus zu werden.«

Hassan geht zur anderen Seite des Raums. Er betätigt das digitale Schloss einer Stahltür, schiebt Noam hindurch und sagt: »Hallo, Stan.«

»Hallo.«

Vor mehreren Monitoren sitzend, hat der junge Mann mechanisch geantwortet, ohne zu artikulieren oder die Augenbrauen zu heben. Er ist unglaublich dick. Zweihundert Kilo. Noam hat noch nie eine solche Körperfülle gesehen. Trotz des feisten Gesichts wirkt sein Kopf winzig über der Fettmasse.

»Das ist Noam.«

»Hallo.«

Der Typ hat keine Miene verzogen. Seine auf die Bildschirme gerichteten Reptilienaugen bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit.

Nach dem Vorstellungsritual rühmt Hassan Noam gegenüber die technische Meisterschaft von Stan, großer Whistleblower, Skandalaufdecker, verantwortlich für so manche heilsame Krise. Er hat als vertraulich eingestufte Dossiers öffentlich gemacht, Staatsgeheimnisse verbreitet, Persönlichkeiten, die unverschämt gelogen haben, der Anprangerung in den Medien ausgeliefert. Niemand ist ihm je begegnet, weil er sich hier verkriecht, und alle, die etwas zu verbergen haben, fürchten ihn. Er operiert unter dem Pseudonym Serpico.

»Ich informiere dich?«, schlägt Hassan dem Fettkloß vor.

»K«, flüstert Stan, immer noch reglos.

Was vermutlich »o. k.« bedeutet.

Während Hassan ihn über das Komplott in Kenntnis setzt, das Noam aufgedeckt hat, sind seine Augen und Finger weiter mit den Konsolen beschäftigt. Bekommt er mit, was man ihm erzählt?, fragt sich Noam beunruhigt.

Am Ende seines Berichts sagt Hassan: »Hilf uns!«

»K.«

»Hast du die Bedeutung der Situation erfasst?«

»K.«

»Er ist eine Frage von Leben oder Tod. Für die Welt wie für dich.«

Stan, ganz auf die Bildschirme konzentriert, zeigt ebenso wenig Interesse wie ein Angestellter, der seine Arbeitszeit überschritten hat.

»Wie viel?«

Hassan protestiert: Der Hacker hat wohl nicht verstanden, dass jeder betroffen ist! Wenn es keinen Strom gibt, wenn das ganze Web blockiert ist, wird der gesamte Globus gelähmt sein und untergehen, auch er hier in seinem Versteck.

»Wie viel?«

Um seine wohlwollende Geduld zu beweisen, greift er nach einer Tüte, reißt sie auf, nimmt eine Handvoll Chips heraus und knabbert sie.

Hassan lässt nicht locker, indem er erneut betont, was für alle auf dem Spiel steht, dass das Chaos unausweichlich ist.

»Wie viel?«, unterbricht ihn Stan. »Ich finanziere ein Team, einen Raum, Material, ich gehe Risiken ein. Wie viel?«

»Stan, wenn wir nichts unternehmen, wird dir dieses Geld in drei Tagen nichts mehr nutzen.«

»Wie viel?«

Noam wird klar, dass Stan, wie alle Fantasten, denen er im Lauf der Jahrhunderte begegnet ist, die Realität nicht mehr klar und deutlich erfasst. In seinen Bildschirmen lebend, trunken von seiner Beherrschung der Algorithmen, stellt er sich vor, dass, wenn die Welt vernichtet wird, ein neues von ihm entwickeltes Programm eine bessere erschaffen würde. Seine irrsinnige Selbstsicherheit führt ihn dazu, die Tatsachen zu vernachlässigen. Den Blick auf die Monitore gerichtet, verkündet Stan: »Vier Millionen Dollar.«

Hassan ist fassungslos. Bevor er seiner Empörung Ausdruck verleiht, macht Noam kurzen Prozess.

»Einverstanden. Vier Millionen.«

Trotz ihrer Schwere zittern Stans Lider vor Freude. Hassan dreht sich zu Noam um.

»Was? Besitzt du etwa vier Millionen Dollar?«

»Nein, aber bald.«

»Wie das?«

»Ich brauche nur zwei Dinge: Erde und einen Ofen. Kannst du mir das besorgen?«

Bei Hassan, der ihn in seinem Gästezimmer beherbergt, stellt Noam den Rucksack auf das Bett und nimmt seine beiden Schätze heraus: den Computer der Terroristen und sein Manuskript. Trotz des Zeitdrucks wirft er einen wehmütigen Blick auf die Hefte, in die er seine Memoiren schreibt. Wird er sie beenden? Er hält sein Zeugnis für notwendiger denn je. Er hat sie begonnen, weil er die Entwicklung der Menschheit fürchtete, weil er den Wunsch hatte, den Weg aufzuzeigen, der ihn bis hierher geführt hat, ihn, der die Zeit durchquert hat, und jetzt beschleunigt sich alles. Das menschliche Genie belastet sich nicht mehr mit dem gesunden Menschenverstand. Es ist ein brillantes, launisches, verwegenes Kind, bar jeder Moral, dessen Macht zu erschaffen, derjenigen zu zerstören, in nichts nachsteht. Zum Besten und zum Schlimmsten fähig, aktiv ohne Weitblick, flirtet es ständig mit dem, was es hasst: dem Tod. Mal weist es ihn zurück, mal fordert es ihn heraus, mal verursacht es ihn, dabei immer in dieser übersteigerten Konfrontation befangen. Unter sich tun die Menschen so, als sprächen sie miteinander; in Wirklichkeit hat jeder nur einen einzigen Gesprächspartner, den Tod, und die anderen beschränken sich auf Kollateralschäden oder -nutzen.

Noam blättert in den mit seiner regelmäßigen Handschrift bedeckten Seiten. Seine Memoiren beschränken sich nicht auf sein Leben, sie bilden das Epos der Menschheit. Gewöhnlich schreibt man, um zu überdauern, er schreibt, um nicht zu verlieren. Im Grunde läuft das aufs Gleiche hinaus: Es geht darum, dem Vergänglichen Ewigkeit zu verleihen.

Dennoch bezweifelt Noam an diesem Morgen, seine Aufzeichnungen abschließen zu können. Die zerstörerischen Kräfte schicken sich an zu triumphieren. Obwohl er diese Tendenz im Lauf der Geschichte oft beobachtet hat, erkennt er diesmal ein neues Element: Indem die Menschheit in ihrer Entwicklung den Schritt von der Macht zur Übermacht vollzieht, bedroht sie sich selbst.

An welcher Stelle seiner Erzählung hat er aufgehört? In der Jungsteinzeit, als er, weil er das Leben satthatte, die Autorität herausgefordert hatte und öffentlich hingerichtet worden war.

Erster Teil

Die Verschwundene

1

Da war zuerst der Lärm. Ein nahes, kompaktes, anhaltendes und ohrenbetäubendes Grollen überfiel mich, bestehend aus tiefen Schichten, manche gedämpft, andere dröhnend, alle durchbohrt von hohen Klängen.

Dann war da die Feuchtigkeit. Wie ein feuchtes Tuch umhüllte mich eine Schicht von Kühle, von der ein Tropfen meine Oberlippe traf; meine Zunge fing ihn reflexartig auf, und diese flüssige Perle stieg hinab in die Schlucht meiner Kehle, schwer, riesig, wohltuender als ein ganzer Schlauch Wein.

Und schließlich war da das Licht oder vielmehr sein Hof, als ich die Augen auf einen Nebel von bläulichen Dämpfen öffnete.

Ich stand auf.

Wo war ich?

Ich inspizierte die Umgebung und kam, während ich mich an den Höllenlärm gewöhnte, der sich in meine Trommelfelle bohrte, zu dem Ergebnis, dass ich mich in einer Felsenhöhle befand, die von einem Wasserfall verschlossen wurde. Träge drang das Tageslicht durch die herabstürzenden Fluten, die das mineralische Schlafzimmer verschlossen.

Wie lange hatte ich auf diesem Moos geschlummert, das samtig die Steine überzog?

Ich massierte mir die Knöchel, die Handgelenke und streckte Arme und Beine. Knacken. Erleichterung. Wonne. Eine honigsüße Flüssigkeit wärmte mich und überschwemmte von den Gelenken aus meine Muskeln und Sehnen mit Wellen des Wohlbefindens. Ich atmete tief ein. Was für eine Freude! In diesem Augenblick versuchte ich nicht zu verstehen, was mir geschah, ich genoss es. Ich atmete tief den berauschenden Duft des Schattens ein, diese Mischung von Pilz- und Humusgerüchen. Ich amüsierte mich, auf der anderen Seite des Wildbachs, der herunterstürzte, die Schreie der Vögel, ihr Flügelschlagen, das Plätschern des Flusses, den unermesslichen Raum, den die Echos erahnen ließen, wahrzunehmen.

Ich betrachtete meinen Körper mit gemischten Gefühlen, als wäre er meiner und doch nicht meiner, ebenso fremd wie vertraut; fremd, weil ich die schlanken Waden eines Athleten, die braunen Haare eines Mannsbilds, die dunkle Haut eines Jägers sah; vertraut, weil ich jedes Detail wiedererkannte.

Ich muss ziemlich lange geschlafen haben, dachte ich gähnend.

Und ich legte mich auf den Rücken. Meine Augen starrten die Decke aus hellem Kalkstein an, auf dem Tropfen glänzten.

Die Erinnerungen strömten herbei, sprudelten nur so, ungeordnet, wie Rowdys, die die Ellbogen benutzen, wenn sie sich in einen Raum drängeln. Da war der See, der See meiner Kindheit, majestätisch, liebevoll, an dessen Ufer ich unbeschwert aufwuchs. Dann war da die Welle gewesen, die der Sintflut, und mit ihr brandeten die Gesichter von Mama, Barak, Nura, Tibor an. Dann der Blitz, der auf uns niedergegangen war, und Nuras Verschwinden. Schließlich mein ungewöhnliches Schicksal: nicht zu altern. Und dann überwältigte mich die Verzweiflung beim Gedanken an meinen Sohn Cham, seinen letzten Atemzug, mein Herumirren … All das tauchte auf mit der Geschwindigkeit der Katastrophe, die unsere alte Welt zerstört hatte. Innerhalb wenigerSekunden überschwemmte mich die Erinnerung, und ich wurde wieder ich.

Ich setzte mich auf. Ich betastete den Boden, schob mich bis zum Rand, tauchte meinen Unterarm in den eiskalten Wasserfall. Wo war ich? Hielt ich mich bei den Toten auf? Dabei wirkte alles ganz und gar real.

Durch welches Wunder hatte ich meine Hinrichtung überlebt?

Ich rekonstruierte die letzten Ereignisse: die Bestattung meines Sohnes, mein Anschluss an eine Soldateska, die Brutalität, mit der ich die Feinde umbrachte, die man mir bezeichnete, mein Verbrechen, meine Verurteilung, den Holzblock, auf den ich meinen Kopf gelegt hatte, das Beil des Henkers, das sich erhoben hatte, die Klinge, die herabgesaust war, unerbittlich, das Pfeifen, der Aufprall, das Brennen im Rückgrat, die Dunkelheit …

»Zu Hilfe!«

Ich brüllte, rief um Hilfe und berührte mit den Händen meinen Hals.

»Zu Hilfe!«

Meine Daumen betasteten meinen Nacken, meinen Kiefer, meinen Adamsapfel: keine Spur von Schmerz. Ich erstickte, vor Schweiß triefend. Mein Herz raste, mein Magen rebellierte, ich war nahe dran, mich zu übergeben. Das Erstaunen verwandelte sich in Schrecken. Wie war das möglich? Man hatte mich verwandelt, und jetzt erwachte ich in einer Höhle, frisch, unversehrt, ohne die geringste Narbe!

Ich stand auf. Das Blut entflammte meine Adern.

»Ist da jemand?«

Das Getöse des Wasserfalls hielt an, gleichgültig.

»Niemand?«

Ich akzeptierte diese Isoliertheit nicht, ich wollte, dass man mich aufnahm, es mir erklärte.

In aller Eile suchte ich nach Möglichkeiten, die Höhle zu verlassen, als würde dies das Geheimnis klären … In der Hocke, tastend, entdeckte ich rechts einen natürlichen Pfad; ich hielt den Atem an, durchquerte den donnernden Wasserfall und stand benommen im hellen Tageslicht, vor einer ungeheuren Landschaft.

Ringsum tosten Stromschnellen, und weiter entfernt, jenseits der Schluchten, schmiegte sich ein steiniger, buschbestandener Hang an die Flanken eines Berges. Darunter, unter der sprühenden Gischt, wirbelten die wütenden Wasser in einem schillernden Becken, das türkisfarben wurde, wo die Strudel sich beruhigten und zu einem Fluss wurden, dessen gewundenen Lauf durch den Nadelholzwald ich verfolgen konnte, so weit das Auge reichte. Darüber glänzte ein klarer grellblauer Himmel, über den Raubvögel flogen. Ein Blick zurück zeigte mir einen schneebedeckten Gipfel mit gezackten Spitzen.

Von Kieselstein zu Felsen, von Pfütze zu Rinnsal kämpfte ich mich ausrutschend, kriechend, springend zur lockeren Erde. Erschöpft stürzte ich mich in den Farn und rollte mich ein wie ein Embryo. Jetzt, da ich mich auf der Uferböschung befand, wurde der Tumult schwächer, ich konnte leichter atmen, besser sehen und ruhiger nachdenken.

Mir fehlte ein Teil meiner Geschichte. Was war passiert nach dem tödlichen Beilhieb? Hatte er mich entzweigehauen? Vermutlich nicht. Der Schlag war abgelenkt worden. Ja, abgelenkt, völlig klar! Ich hatte auf dem Holzblock das Bewusstsein verloren, ich hatte nicht das Leben verloren.

Ich seufzte vor Wohlbehagen …

Ein Schwarm von Alpendohlen mit roten Beinen zog am Himmel seine Kreise. Zwei Füchse bummelten in leichtem Trab nebeneinander her. Ich stand auf und betrachtete das Panorama. Ein blasslila Dunst, eine Art Atem, bedeckte die Bodenablagerungen des Flusses, das Geröll und den dunklen Wald, dessen Nadeldünung im Wind zitterte. Ein Schwarm Drosseln, dicht wie eine Wolke, wechselte die Seite. Ich hatte dieses Gebiet nie betreten, nie diese steilen Hänge erklommen, war nie durch die Tannenwälder gestreift und war nie dem ewigen Schnee so nahe gekommen. Wie weit von Biril, dem Ort meines Unglücks, entfernt hatte man mich gebracht? Mir war zwangsläufig Hilfe zuteilgeworden. Dieser Horizont, der mich mit seiner Wildheit konfrontierte, deutete in Wirklichkeit auf Verbündete hin. Vielleicht sollte ich auf sie warten?

Obgleich gequält von diesen Fragen, klammerte ich mich an zwei Gewissheiten: Menschen hatten mich beschützt, und ich würde auf ihre Rückkehr warten.

Rasender Hunger quälte mich. In dieser verschwenderischen Natur fand ich mühelos essbare Beeren und Tannenzapfen.

Nachdem ich meinen Hunger gestillt hatte, kehrte ich reflexartig zu der verborgenen Höhle zurück. Trotz des Lärms und der Feuchtigkeit zog sie mich an, ein gefälliger, beruhigender Ort, ein Bauch, in dem ich unterschlüpfen konnte.

Eine Szene ließ mir keine Ruhe in der Nacht: Aggressive Raben stürzten sich auf mich und schlugen ihre Schnäbel in meine Augenhöhlen. Jedes Mal riss der Schlag mich aus dem Schlaf; jedes Mal schlief ich wieder ein, beruhigt, dass es nur ein Albtraum war.

Bei Tagesanbruch nahm mich die Pracht der Natur völlig in Beschlag, und ich machte mir keine Sorgen mehr. Ich verbrachte den Vormittag damit, die Umgebung zu erkunden und Nahrung zu sammeln. Als die Sonne den höchsten Punkt der Himmelswölbung erreicht hatte, badete ich in dem Becken, das die Wasserfälle aufnahm, planschte kurz darin herum und widmete viel Zeit meiner Körperpflege, indem ich mich mit Kräutern abrieb, mein Haar entwirrte und meine Nägel mithilfe eines Bimssteins feilte. Aus der Höhlung eines Stamms besorgte ich mir eine Handvoll Honig, mit dem ich mir die Haut einrieb, und dann tauchte ich unter und schwamm bis zur Erschöpfung. Eine köstliche Benommenheit ergriff von mir Besitz. Ich schleppte mich in den Schatten eines Baums und streckte mich auf einem Bett aus trockenen Farnblättern aus.

Ich weiß nicht, was meine Siesta unterbrach. Wie ein aufgeschrecktes Tier richtete ich mich auf und suchte beunruhigt die Umgebung ab.

Irgendetwas war da.

Nicht im Wasser. Nicht in dem Wäldchen. Nicht in den Ästen. Als ich meine Aufmerksamkeit den Wasserfällen zuwandte, sah ich undeutlich, in dem Augenblick, in dem sie verschwand, eine Gestalt, die sich hinter den Wasserfall schlich.

Wunderbar! Meine Retter kehrten zurück.

Ich sprang auf, bereit, die Felsen hinaufzuklettern, die dort oben endeten, als ein verzweifelter Schrei ertönte.

»Noam!«

Ich erschauerte, wollte nicht glauben, dass ich diese Stimme erkannt hatte.

»Noam!«, brüllte diejenige, die in das mineralische Schlafzimmer geschlüpft war.

Von Panik ergriffen, stürzte sie durch die flüssige Wand, suchte die Umgebung mit Blicken ab und bemerkte mich unter sich.

»Noam …«

Und Nura lächelte mich an, aufgewühlt, und breitete die Arme für mich aus.

*

Wir hatten nicht gesprochen. Was mit uns geschah, überstieg mein Fassungsvermögen. Wir verbrachten den Rest des Tages damit, uns anzusehen, uns zu berühren, uns zu liebkosen, uns zu umarmen, uns zu lieben. Wir dürsteten nacheinander; unsere Lippen berührten sich; meine Beine hielten ihre fest; ihre Arme bemächtigten sich meiner. Weil unsere Augen sich weigerten, sich abzuwenden, hätte niemand ein Blatt zwischen uns schieben können. Durch Nuras Gegenwart wurde mein ganzer Körper heiß, leidenschaftlich, vibrierend. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, wann ich eine Erektion bekam und wann nicht; entweder entlud ich mich in Nura, oder ich drückte sie fest an mich.

Wie oft liebten wir uns? Gewöhnlich läutet der Höhepunkt der Lust das Ende des Begehrens ein, trennt die Liebenden, die befriedigt einschlafen, jeder auf seiner Seite. Aber nichts dergleichen geschah! Kein Höhepunkt verringerte unsere Anspannung, nichts minderte unser Verlangen und das Bedürfnis, uns zu umarmen.

Nuras Geruch berauschte mich, all seine Variationen, der fruchtige ihrer Zunge, der holzige ihrer Haare, der salzige ihrer Schultern, der würzige ihrer Achselhöhlen, das nach Moschus duftende Ambra ihres Geschlechts … das war keine Frau, das war eine Landschaft, üppig, vielfältig, Sammelbecken von Wonnen und wunderbarer Überraschungen.

Auch wenn es mir offensichtlich schien, dass ich Nura nicht überdrüssig werden würde, kam es mir wie ein Wunder vor, dass sie mir gegenüber ebenso empfand. Ich hütete mich, zu sehr daran zu denken, und genoss jeden Augenblick wie ein einzigartiges Privileg.

In der Nacht, während der rote Mond mit seinem kupferfarbenen Strich Nuras Taille, Hüften und Schenkel betonte, rief sie: »Ich habe Hunger!«

Entzückt bot ich ihr meine Vorräte vom Morgen an; lachend leerte sie ihre Umhängetasche und fügte unserem Festmahl Nüsse, Mandeln und Äpfel hinzu. Wir kauten glückselig, ohne uns aus den Augen zu lassen. Nachdem wir satt waren, erklärte sie: »Ist dir eigentlich klar, Noam, was mit uns passiert?«

Ich beugte mich zu ihr.

»Das Beste.«

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Oder das Schlimmste …«

»Was meinst du damit?«

Sie sah mich an, verzog das Gesicht, schüttelte den Kopf, blinzelte, hüstelte, zog die Augenbrauen hoch, runzelte die Stirn, schmiegte sich an meine Brust und flehte: »Reden wir nicht, Noam. Noch nicht. Die Worte machen mir Angst.«

Ich warf mich auf sie und presste meinen Mund auf ihren. Nura seufzte, vor Erleichterung ebenso wie vor Wollust, unsere Hände umklammerten sich, und sie setzte sich zärtlich und stolz auf mich und saugte mich in ihre feuchte Tiefe.

Der erste Schimmer des Tages färbte den Wasservorhang silbern und belebte unseren Unterschlupf, dessen Wände aus der Dunkelheit auftauchten, schimmernd, schwitzend, duftend. Wie wir.

Nura stöhnte sanft, löste sich von mir und betrachtete das Licht, das durch den Wasserfall drang. Mit einer mechanischen Geste rieb sie sich Nase und Wangen, bevor sie nach ihren Kleidern griff.

»Ich bin gezwungen, dich zu verlassen, Noam.«

Träge murmelte ich, ohne einen Finger zu rühren: »Warum?«

»Man braucht mich.«

Ich richtete mich auf.

»Man?«

Nura betrachtete mich müde.

»Es gibt viele Dinge, die du nicht weißt, Noam.«

Ich bohrte nach: »Man?«

»Was? Ich spüre Eifersucht.«

»Du spürst richtig.«

Nura sah mich missmutig an, beruhigte sich und hüllte mich in ihre Zärtlichkeit.

»Ich habe dir so viel zu erzählen, Noam.«

Ich ließ mich zu Boden sinken.

»Ich warte geduldig auf dich.«

»Geduldig?«

Der Ausdruck erheiterte sie. Zuerst gluckste sie, dann beherrschte sie sich nicht mehr und lachte laut los.

»›Geduldig‹ … Ich dachte nicht, dass du dieses Wort benutzen würdest! Sehr komisch! Aber das trifft sich gut: Ich bin eine Expertin für Geduld geworden.«

Draußen schickte sie mir einen Kuss von der Handfläche, bevor sie den steilen Pfad, der sich an den Felsen drückte, betrat, um zu vermeiden, nass zu werden. Die Luft stach. Vor uns färbte der Morgen den Himmel und gab den Tannen ihr bläuliches Grün zurück.

»Hab ein paar Dinge zu regeln. Ich bin morgen zurück.«

»Bis morgen, mein Liebling.«

Sie kniff die Lider zusammen unter der Liebkosung meiner Worte und stieg geschmeidig die Felsen hinab. Als sie auf Höhe des Beckens, in das die Säulen aus schäumendem Wasser stürzten, angelangt war, drehte sie sich um.

»Noam, hast du bemerkt, dass du keine Kleidung trägst? Ich bringe dir morgen welche mit.«

Ihr Blick glitt über meinen Oberkörper, meinen Bauch, mein Geschlecht. Sie zitterte und flüsterte errötend: »Na ja, ich werde es versuchen … ich verspreche nichts.«

Sie zwinkerte mir zu und verschwand leichtfüßig unter dem Geäst.

*

Nura hatte mir gestanden, dass die Worte sie erschreckten, und ich versuchte meinerseits, immer derselben Frage auszuweichen: Wie hatte ich meine Hinrichtung überlebt? Zu meiner eigenartigen Besonderheit – nicht altern – gesellte sich ein Rätsel … Mir Fragen zu stellen zwang mich, widersprüchliche Elemente zu vermischen, machte mich schwindlig, nagte an mir. Es war daher besser, mir keine Fragen zu stellen.

Ich wartete auf Nura.

Demjenigen, der es hasst zu warten, kommt die Natur zu Hilfe. Indem ich unter dem stachligen Geäst dem Fluss folgte, begab ich mich zu dem Tal, dessen dichter Wald den Tag verfinsterte. Jeder Teil, den ich betrat, bot mir einen anderen Geruch, den Duft von Heidekraut, Harzgeruch, Blumendüfte, Fäulnisgeruch. Indem sie vor mir Reißaus nahmen, boten die Hasen mir einen Wirbel brauner Felle, und das Auffliegen aufgeschreckter Vögel bezeugte, dass nur wenige Menschen an diesen Orten unterwegs waren. Als der Hang flacher wurde, entdeckte ich Gestrüpp voller Beeren, die akrobatische Ziegen verschlangen, dann schmale, mit dichtem Gras bedeckte Lichtungen, auf denen schwarze Schafe weideten. Ich sah Pferde, die zwischen den Stämmen galoppierten; ihre Fröhlichkeit, Freiheit, Unbeschwertheit verlockten mich, ihnen zu folgen, aber ich entfernte mich nicht von dem Wasserlauf. Wie hätte ich sonst die Höhle wiederfinden sollen. Und Nura …

Bevor ich an eine Konifere gelehnt vor mich hindöste, beobachtete ich das Leben der Insekten, beeindruckt von der Organisation der Ameisen, begeistert von der scharlachroten Schönheit eines Marienkäfers. Die glänzenden Skarabäen, diese Schwerstarbeiter, die sich über einen Kuhfladen hermachten, faszinierten mich: Die einen verschlangen ihn, die anderen benutzten ihre breiten Vorderbeine, um Kugeln herzustellen, die sie anschließend vor sich her rollten, vermutlich mit dem Ziel, ihren Bau damit zu füllen; diejenigen, die einen gehörnten Brustkorb hatten, hoben im Vergleich zu ihrer Größe beträchtliche Gewichte hoch, Beweis für eine kolossale Kraft. Der Mensch, der sich mit ihnen messen wollte, müsste eine Masse heben, die dem Tausendfachen seiner Körpergröße entspräche!

Bei Sonnenuntergang kehrte ich, ohne allzu viel geschlafen zu haben, in meinen Schlupfwinkel zurück. Wie in der ersten Nacht wurde mein Schlaf zerhackt durch Visionen von Raben, die sich auf mich stürzten, direkt auf meine Augenhöhlen …

Am nächsten Tag fiel mir das Warten schwer. Ich sammelte Pflanzen, aber sehr schnell übermannte mich die Müdigkeit, und ich begnügte mich damit, meinen Blick über das Panorama schweifen zu lassen, wie der Adler, der reglos am Zenit schwebte.

An der schwammartigen Rinde einer Zeder sitzend, die wohlig meine Schulterblätter massierte, ließ ich mich von der Natur durchdringen. Die unaufhörliche Flut der Sturzbäche, ohne Unterlass in meinen Ohren und vor meinen Augen, erzeugte ein hypnotisches Wiegenlied, in dem Bilder, die der Umgebung und die meiner Erinnerungen, ebenso unbeständig und flüchtig wie die Oberfläche der Fluten, aufeinanderfolgten und verschwanden, ohne sich festzusetzen, in einer steilen, einfachen und anhaltenden Bewegung, deren Reiz durch die Dauer verstärkt wurde …

Die Sonne ging unter. Der Adler flog schwankend zu der Lichtung hinunter; er hatte eine Beute ausgespäht.

Nura tauchte am Fuß des Wasserfalls auf, und ich lief auf sie zu. Sie bremste meinen Gefühlsausbruch.

»Zieh dich an. Sonst werden wir uns erneut … wie Tiere benehmen.« Schnell verbesserte sie sich: »Glückliche Tiere …«

Darüber mussten wir lachen. Ich nahm die Tunika, die sie mir reichte. Als ich sie angezogen hatte, betrachtete sie mich entzückt.

»Ich habe deine Größe im Auge.«

Der Stoff schmiegte sich perfekt meinem Oberkörper an. Ich verknotete den Wollgürtel, was den Leinenstoff bis zur Mitte meiner Schenkel hinaufschob.

»So viele Mädchen hätten nur zu gern deine Beine ohne jedes Fett oder deine so schmale Taille«, flüsterte sie.

»Sehe ich wie ein Mädchen aus?«

»Ganz und gar nicht.«

Auf den Zehenspitzen stehend, schenkte sie mir einen raschen Kuss.

»Komm. Reden wir endlich.«

»Weil ich angezogen bin?«

»Der Anstand erleichtert die Kunst des Gesprächs.«

Sie nahm einen Pfad, der abschüssig war, im Gegensatz zu dem, der zum Wasserfall führte. Ich verkrampfte mich.

»Wir steigen nicht in unsere Höhle hinauf, Nura?«

»Nein, bitte, nicht in dein Krankenzimmer. Ich habe dort zu viel über dich gewacht.«

Ich, der ich davon geträumt hatte, unser Wiedersehen auf identische Weise zu wiederholen, war überrascht und leicht enttäuscht. Schelmisch nahm sie meine Hand und streichelte sie.

»Was spielt das für eine Rolle?«

Sie ließ meine Finger los und drang in den Hochwald ein. Ich begleitete sie. Auf ihre Bitte hin folgte ich der Frau, die ich liebte, wir gingen zusammen weiter, angetrieben vom Verlangen, erfüllt von tausend Geschichten, die wir uns zu erzählen hatten.

Während wir so dahinschritten, sah ich Nura immer wieder an. Zum x-ten Mal betrachtete ich das Wunder, das sie war. Ganz gleich, welcher Wind wehte, in der glühenden Hitze oder im Regenschauer wirkte sie nie zerzaust, und wenn eine Locke sich aus ihrer Tiara löste, schien das gewollt zu sein. Niemals setzte sich Staub auf eine ihrer Zehen, als trüge sie Sandalen wegen ihrer Eleganz und nicht wegen ihrer Nützlichkeit. Niemals blieb ihr Kleid an einem Strauch hängen oder wurde von Dornen zerrissen. Niemals besudelte ein Essensfleck ihre Stickereien. Nura kannte keine Feinde in der Welt; alles unterwarf sich. Sie zeigte sich so, wie sie es beschlossen hatte. Sie war auf natürliche Weise zurechtgemacht.

Die Sonne verschwand und mit ihr die Hitze, und der Wind, der die Finsternis hasste, begann die Dunkelheit zu durchmischen.

Wir kamen auf einen Hügel bar jeder Vegetation, eine Art kahler Schädel, den der Berg zur Schau stellte. In der Mitte erhoben sich Menhire. Ihre Massen gewannen eine beunruhigende Dichte im Halbdunkel, kompakt, bewohnt, sodass ich zu erkennen versuchte, wo sich die Augen dieser gespenstischen Ungeheuer befanden.

Nura blieb vor den aufgerichteten Felsen stehen und deutete auf sie.

»Sein Abdruck.«

»Wie bitte?«

»Der Abdruck des Mondes auf der Erde.«

Ich betrachtete abwechselnd die perlmuttschimmernde Scheibe in der Höhe und den Kreis der Blöcke am Boden.

Nura fügte hinzu: »Der Mond drückt sein Zeichen nicht in den ordinären Schlamm, er zeichnet es auf Steine.«

Ich bezweifelte, dass der Mond den Granit in einem perfekten Kreis angeordnet, einen Bereich durch ein Mäuerchen aus Lehm und einen äußeren Graben abgegrenzt und Sand drum herum aufgeschüttet hatte, aber ich schwieg, weil ich Nura, die ein finsteres Gesicht machte, wenn ihr eine Bemerkung nicht gefiel, nicht widersprechen wollte.

»Ich liebe diesen Ort«, rief sie. »Ich bin oft hierhergekommen. Ich habe zum Mond gebetet. Man nennt ihn Sera in diesem Land.«

Sie lächelte dem Gestirn zu.

»Der Mond ist mein Gott geworden. Er hat mir Halt gegeben. Wir ähneln uns: Er hat seine Launen, seine Hochs und Tiefs, eine Nacht grau, eine Nacht rosig, eine Nacht milchig, manchmal blutig, schmal, dann rund, jungfräulich oder mütterlich, launenhaft, aber was immer auch geschieht, treu, hartnäckig, die Wolken herausfordernd, die versuchen, ihn auszulöschen.«

Sie setzte sich und lud mich ein, es ihr gleichzutun.

Schulter an Schulter saßen wir da. Angezogen von den Lichtern, wandte sich unser Blick vom dunklen Horizont aus schlafenden, dicht gedrängten Bergen ab, um die Spitze aus Sternen zu betrachten, die den Himmel schmückte.

»Ich habe dir vieles zu sagen, Noam. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Beginn mit der kleinen Insel. Der Insel, wo wir vom Blitz getroffen wurden. Die Insel, die uns getrennt hat.«

Mit halb geschlossenen Augen atmete sie ein und beugte sich zu mir.

»Während der Sintflut auf dem Schiff, als wir trotz der Katastrophe glücklich waren, argwöhnte ich, dass du einen Sohn versteckst, den Säugling, der Derek zugeschrieben wurde. Jetzt, da ich nachgedacht und Abstand gewonnen habe, werfe ich dir nichts vor, Noam, du sollst unbedingt wissen, dass ich dich nicht tadle. Du hast mich nicht betrogen, ich hatte dich freigegeben. Allerdings habe ich an dem Nachmittag, als ich den kleinen Cham in der brennenden Sonne mit der Hungersnot und Angst, die uns fertigmachte, entdeckte, mein Herz der Eifersucht geöffnet. Ja, der Groll hat von mir Besitz ergriffen. Eine wilde, zügellose, heftige Verbitterung, die sich nicht gegen die Frau richtete, die du berührt hattest, sondern gegen die Mutter, die dir einen Nachkommen geschenkt hatte.«

»Nura …«

»Ich wollte alles für dich sein, Noam, und will es immer noch. Aber wir sind nicht verheiratet, und mein Bauch ist unfruchtbar geblieben.«

»Wir hatten keine Zeit gehabt. Wir hatten eine Katastrophe zu bewältigen.«

»Um unsere Kinder zur Welt zu bringen, warteten meine Flanken auf die Erde, dessen bin ich sicher, ein solides Fundament, auf dem ich unser Leben, unsere Familie begründen konnte. Als ich jedoch die Identität dieses Babys, dieses Cham entdeckte, der zwei zusammengewachsene Finger hatte, dein Kennzeichen an der Hand, konnte ich nicht vernünftig denken. Ich litt, also musstest auch du leiden. Deswegen habe ich mich in der Nacht in dem Einbaum versteckt. Sobald du Derek auf der Insel zurückgelassen hattest, tauchte ich auf, und wir haben angefangen, uns zu streiten. Ich zweifelte nicht daran, dass wir uns versöhnen würden, ich war ja deswegen gekommen, aber ich musste vorher schreien, brüllen, dich beschimpfen.«

»Du brauchtest es, dass ich dich hörte …«

»Das Gewitter brach aus. Der Regen prasselte auf uns ein, der Donner grollte, die Blitze zuckten in schneller Folge, und wir rannten, du, ich, Derek, um uns in die Höhle zu flüchten. Ich kam um vor Durst und sprang in die Mitte des Kraters, um mich zu erfrischen. Derek folgte mir. Während wir unseren Durst stillten, war da plötzlich dieses Feuer über ihm … über mir …«

»Ich habe gesehen, Nura, ich habe gesehen, wie der Blitz euch traf. Ich bin losgerannt. Ich habe dich leblos gefunden, kalt.«

Ihre Augen weiteten sich. Diese Episode hatte sie nicht gekannt.

»Und was hast du gemacht, Noam? Du hast mich nicht mit Kräutern behandelt, einem Trank, keine Ahnung?«

»Nichts. Der Blitz hat mich getroffen.«

Nura nickte. Ich hatte ihr gerade das Argument geliefert, das ihr gefehlt hatte. Sie verzog das Gesicht.

»Du hast gedacht, ich wäre tot. Ich war es nicht, da ich wieder zu Bewusstsein kam. Der Orkan hatte aufgehört. Als ich aufstand, sah ich dich auf dem Boden liegend. Ich habe dich gerufen, aber du hast nicht geantwortet. Ich habe dich geschüttelt, aber du hast nicht reagiert. Und da habe ich mein Ohr auf deine Brust gedrückt und keinen Herzschlag wahrgenommen, ich habe mich deiner Nase genähert und keinen Atem gespürt, ich habe deine Haut gestreichelt, und sie war kalt, ich habe deinen Körper hochgehoben, und er war steif. Du warst tot.«

Nura, die mit hervortretenden Augen und gerunzelter Stirn die Szene noch einmal durchlebte, nahm mein Gesicht in ihre Hände und rief: »Ich habe geschrien! Derek hat mich angeschaut, während ich mir die Seele aus dem Leib schrie, bis ich zusammenbrach. Wir haben dich aus der Höhle bis zur Küste geschleppt. Ich habe dich auf den Rücken gelegt, um dir Kompressen aufzulegen.«

»Ich war … tot?«

»Mausetot! In der Ferne kam ein Einbaum vom Schiff aus auf uns zu. Derek hatte dort nur Feinde. Niemand hatte ihm verziehen, dass er uns Menschenfleisch hatte essen lassen. Wenn die Schiffbrüchigen ihn über deinen Leichnam gebeugt gefunden hätten, hätten sie ihren Hass an ihm ausgelassen. Er flehte mich an, ihn mit deinem Einbaum fliehen zu lassen. Ich habe natürlich abgelehnt, ich wollte deine sterbliche Hülle zum Schiff bringen. Ein paar Augenblicke später hat er mich, als ich über dich gebeugt war, bewusstlos geschlagen. Ich bin erst später wieder zu mir gekommen, in der Morgendämmerung, in einem Einbaum, der an einer Insel anlegte. Vor mir Derek, der sich verteidigte und immer wieder sagte, zu zweit würden wir besser zurechtkommen. Ich verzog keine Miene, denn ich hatte einen Plan: Beim ersten Tageslicht wollte ich den Einbaum stehlen und zu unserem Schiff zurückkehren.«

Ihr Nacken entspannte sich plötzlich.

»Doch als ich bei Tagesanbruch, während Derek schlief, die Fluten absuchte, konnte ich es nicht finden. Nirgends.«

Sie verzog das Gesicht, erschlagen von diesen schlimmen Erinnerungen.

»Danach irrten wir umher … Ich weinte, Noam, ich schluchzte andauernd, ich hielt dich für tot, mein Vater fehlte mir, meine Welt war verschwunden, ich hatte zu nichts mehr Lust. Derek ruderte viele Monde, fischte, jagte, sammelte für mich. Er zwang mich zu essen und beschwor mich weiterzuleben. Schließlich gelangten wir zu einer endlosen Küste.«

»Habt ihr euch getrennt?«

»Nicht sofort. Derek war meine Verbindung zu dir. Wenn ich mich von ihm entfernen würde, würde ich dich zum zweiten Mal verlieren. Er erzählte mir von dir, Noam, ich hätte an jedem wie eine Klette gehangen, der mir von dir gesprochen hätte! Nach unserer Landung klopften wir an das Tor eines Dorfes. Derek gab mich für seine Frau aus – ich gestattete ihm diese Lüge, die die Männer fernhielt. Wir lebten wie Geschwister. Und dann …«

»Dann?«

»Derek bleibt Derek. Er fing an zu fabulieren, die Sintflut auszuschmücken, das Schiff zu beschreiben, das er gebaut hatte, die Tierpaare aufzuzählen, die er darin untergebracht hatte, rühmte seine Vorahnungen, seine Hellsicht, seinen Mut, das Vertrauen, das die Götter ihm schenkten. Nach und nach ersetzte er dich, löschte dich aus … Wenn ich ihm das vorwarf, unterließ er es für ein paar Abende, und dann fing er von vorn an. Das Verlangen nach Anerkennung war größer als seine Intelligenz; er begeisterte sich für sich, nicht für dich. Also bin ich ohne Vorwarnung gegangen.«

»Und?«

»Und ich habe versucht zu leben.« Sie packte mein Handgelenk und sagte verängstigt: »Du warst tot, Noam! Tot! Glaubst du mir?«

Meine Hand bedeckte ihre.

»Ich glaube dir, Nura, ich glaube es umso mehr, als ich dich auch für tot gehalten habe.«

Wir schwiegen einen Augenblick, mehr verblüfft als nachdenklich, und versuchten, das Unbegreifliche zu begreifen. Ich sprach als Erster.

»Auf der Insel bin ich auf der Uferböschung aufgewacht, mein Onkel Barak war über mich gebeugt. Er informierte mich, dass ich drei Tage dort gelegen hätte. Als ich wieder auf den Beinen war, lief ich zur Höhle. Ihr wart verschwunden, Derek und du. Ich rief dich, ich stellte alles auf den Kopf, ich suchte zehnmal dieselben Ecken ab, gab keine Ruhe, weigerte mich aufzuhören, aber Barak zwang mich zuzugeben, dass die Strömungen dich während des Sturms mit sich gerissen hatten. Wir kehrten im Einbaum zum Schiff zurück. An das Folgende kann ich mich kaum erinnern … Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, wie Tibor.«

»Papa«, flüsterte sie mitfühlend.

»Tibor fand sich nie damit ab. ›Nicht Nura‹, wiederholte er in einem fort, ›nicht meine Tochter.‹ Bis zum Schluss versicherte ihm eine Intuition, ein immaterielles Band mit dir, dass du lebst. Er hat dich gesucht, sobald wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten, er hat dich überall gesucht, er hat dich jahrelang gesucht, vermutlich ist er über der Suche gestorben.«

Nura stand nervös auf. Mit drei raschen Schritten entfernte sie sich von dem Steinkreis und blieb, ihm den Rücken zuwendend, vor der trüben Landschaft stehen. Der durchdringende Schrei einer Eule zerriss das Halbdunkel.

»Nura …«

»Lass mich, Noam, lass mich einen Augenblick allein … mit der Erinnerung an Papa.«

Ich betrachtete ihre grazile, bläuliche Gestalt, die einsamer als die Menhire wirkte. Während die Nacht die Himmelswölbung immer mehr erobert hatte, hatten sich den Sternen weitere Sterne hinzugesellt, die den Himmel erwärmten und die Erde abkühlten.

Nura hielt den Atem an, aber es rannen keine Tränen. Weinen hätte sie erleichtert, aber sie hatte noch nicht das Stadium erreicht, in dem die Tränen den Kummer wegwaschen. Ihr Leiden war kompakt, ein Leiden, das einen erstarren lässt, ohne befreienden Schrei.

»Mach bitte ein Feuer.«

Sie schickte mich weg. Ich akzeptierte es. Am Rande der Bergkuppe sammelte ich trockene Äste und fette Tannenrinde, die ich anschließend in der Mitte des von den Felsen beschriebenen Kreises anhäufte. Die vorhandene Asche bewies mir, dass ich nicht der Erste war, der daran gedacht hatte. Ich nahm das Feuerhorn aus Nuras Umhängetasche, entnahm ihm etwas Glut und schaffte es, ein Feuer zu entfachen.

Das Knacken entspannte Nura, die sich umdrehte. Sie näherte sich langsam, kauerte sich vor das Feuer und streckte die Hände aus; die Flammen belebten sie.

Ich nahm unser Gespräch wieder auf.

»Warst du bei Derek, als du dir deiner … deiner Absonderlichkeit bewusst wurdest?«

»Meiner Absonderlichkeit?«

»Wie alt bist du, Nura? Du müsstest müde sein, gekrümmt, runzlig.«

Sie lachte. Die Flammen rüttelten am Schatten.

»Wenn man mir Komplimente machte, errötete ich. Natürlich beeinflusste die Lebhaftigkeit meines Geistes mein Aussehen. Innerlich dankte ich Papa; dank dieses Vaters, der ein von Pflanzen besessener Heiler war, benutzte ich seit meiner Geburt heilkräftige Kräuter, Heilsalben und wohltuende Balsame. Es mussten viele Menschen um mich herum altern, bis ich mich wunderte. Und selbst dann … Ich warf ihnen ihren Verfall vor, machte sie dafür verantwortlich, hielt es für Nachlässigkeit. Du weißt ja, Noam, Nettigkeit ist nicht gerade mein spontaner Reflex. Da ich mich immer anders gefühlt hatte, stellte ich mich über die anderen, ohne mir Fragen zu stellen. Eines Tages bemerkte ich jedoch, dass Leute, denen ich als Kind begegnet war, an Altersschwäche starben. An dem Tag schwante mir, dass ich ein ungewöhnliches Privileg genoss. Ich wollte Derek wiedersehen, herausfinden, ob auch er …«

»Er auch, Nura?«

»Ich fand ihn so, wie ich ihn verlassen hatte! Nicht ein Fältchen, keine Erschlaffung, kein Rheuma, noch alle Haare, dieselbe Stimme, lebhafter Blick, die gleiche Kraft. Als wir uns gegenüberstanden, waren wir ebenso verblüfft wie beruhigt. Das hat uns angenähert … Zumindest teilten wir etwas, ein Geheimnis, das wir nicht begriffen, das aber weniger geheimnisvoll wurde, weil es uns beide betraf.«

»Dann ist Derek also nicht gealtert …«

»Nicht mehr als du, Noam …«

Ich sprang auf und ging um das Heiligtum herum.

»Tibor hatte recht! Er hatte bemerkt, dass ich mich nach der Sintflut verändert hatte. Meine Wunden schlossen sich, meine Haut vernarbte ohne jede Spur, ich erholte mich von den Verletzungen. Vor der Katastrophe hatte ich diese Eigenschaften nicht. Daher hatte er über den besonderen Augenblick nachgedacht, den das Schicksal gewählt hatte, um mich anders zu machen. Seine Schlussfolgerungen hatten mich zu der Insel geführt, zu der Höhle, in der wir während des Unwetters vom Blitz niedergemäht worden waren.«

»Du glaubst, dass es das ist?«

»Die drei an dem Abend vom Blitz Getroffenen, Derek, du, ich, wir sind am Leben, und wir sind dieselben geblieben.«

Mit unsicherer Stimme murmelte sie: »Hatte Papa das erraten?«

»Das hat uns getrennt. Tibor ist auf die Suche nach dir gegangen, überzeugt, dass du nicht tot warst, und ich, anstatt ihn zu begleiten, habe ihm diese Hoffnung madig gemacht, ich hielt ihn für einen pathetischen Vater, einen sentimentalen Greis, der das Unbestreitbare leugnete …«

Niedergeschlagen verschloss Nura sich erneut. Ich nahm ihre Finger, streichelte sie und bedeckte sie mit Küssen. Sie erwachte aus ihrer Erstarrung, umschlang meinen Hals und drückte ihre Lippen auf meine. Ihr Kuss hatte die Gewalt eines Gewitters, das alles zerstört.

Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, drückte ich sie aufgewühlt an mich.

»Wie lange wird das noch dauern?«

Nura schob mich sanft von sich weg.

»Hast du denn nicht verstanden?«

»Was verstanden?«

Sie stand auf, zitterte und rieb ihre Ellbogen. Sie kam mir sehr blass vor, ihr Mund war nur eine dünne Linie. Unangenehme Gedanken legten ihre sonst so glatte Stirn in Falten. Sie stellte sich vor mich hin und fragte: »Was ist in Biril geschehen?«

»Da ich nicht den Mut hatte, mich zu töten, beging ich ein Verbrechen, das den Tod verdiente, und wurde verurteilt. Kein Mensch auf Erden ist mit größerer Erleichterung zu seiner Hinrichtung gegangen als ich.«

»Und dann?«

»Ich habe dich gesehen.«

»Vergiss dieses Detail.«

»Ich habe dich an der Seite von Zeboim gesehen.«

»Vergiss dieses Detail, sagte ich!«

»Das ist kein Detail. Ich habe deinen Namen gerufen, du hast meinen gerufen, und das Beil ist auf mich herabgesaust.«

»Und dann?«

»Bin ich hier aufgewacht.«

»Und was schließt du daraus?«

»Ich schließe daraus, dass der Henker mich verfehlt hat oder dass seine Klinge abgelenkt wurde.«

Sie sah mich an, ihr Kinn zitterte.

»Der Henker hat seine Arbeit korrekt gemacht, Noam. Er hat deinen Hals durchtrennt. Ich erinnere mich an den Aufprall, ein kurzes, metallisches, lautes Geräusch, dem leise, schwache, flüssige Töne folgten, die von dir kamen, das Erschlaffen deiner Muskeln und Sehnen, das Hervorspritzen deines Blutes. Du wurdest enthauptet, Noam, du bist in zwei Teile zerbrochen, der Kopf auf der einen Seite, der Körper auf der anderen.«

Sie bedeckte ihr Gesicht.

»Grauenhaft!«

Ihr Bericht verunsicherte mich. Alles in mir sträubte sich gegen das Unwahrscheinliche, aber Nura schummelte nicht, sie beschrieb mir eine Szene, die unerträglich für sie gewesen war.

»Du lagst in zwei Teilen in einer Blutlache. Ich fiel auf die Knie, ich versuchte nicht, mich zu beherrschen oder Würde zu bewahren. Die Söldner hoben rücksichtslos deinen Leichnam auf und schleppten ihn zu einem Massengrab, das man ausgehoben hatte, um die an dem Tag ermordeten Einwohner von Letomi hineinzuwerfen. Was deinen Kopf betrifft, so hat der Henker ihn an den Haaren gepackt, ihn unter dem Beifall der Menge als Trophäe hochgehalten und dann mit ausgestreckten Armen tropfend zum Stadttor, dem Haupteingang, durch den die Besucher gehen, getragen. Wie es der Brauch war, spießte er ihn auf eine Stange und bot ihn den Blicken aller dar.«

Ich reagierte nicht. Dem Ersticken nahe, hätte ich mir gern eingeredet, dass Nura aus irgendeinem Grund, den ich nicht kannte, log. Eine Grimasse verzerrte ihr Gesicht.

»Zeboim regierte durch Einschüchterung. Er wollte, dass du ganz langsam verfaulst, um jeden Aufstand im Keim zu ersticken. Bei Tagesanbruch tauchten Schwärme von Raben um dich herum auf, schmutzig, zornig, krächzend, und da bin ich eingeschritten.«

Als sie das sagte, zitterte ich: Jeden Abend hatten mir meine Träume in der Höhle einen Angriff von Raben gezeigt.

»Sie hatten es auf deine Augen abgesehen, Noam, deine schönen braunen Augen, sie wollten sie verschlingen. Die Augen sind köstlich, wie es scheint, sogar für den Geschmack der Menschen. Als die Vögel sich anschickten, sich auf dich zu stürzen, befahl ich, ein Feuer unter dem Pranger anzuzünden, unter dem Vorwand einer Opfergabe für die Götter, und ich verteilte Kiefernteer darauf, um einen schwarzen, dichten, stinkenden Rauch zu erzeugen, der die Aasfresser vertrieb. Im Mondlicht kletterte ich so diskret wie möglich auf die Stadtmauer und nahm den Kopf ab.«

Sie erschauerte bei diesen Worten.

»Hätte ich mir jemals etwas so Grauenhaftes vorstellen können? Ich lief mit deinem Kopf, Noam, unter dem Arm, wie mit einem Sack schmutziger Wäsche! Außer Atem kam ich in mein Zimmer, griff nach einem Tonkrug, in dem Wildschweinbrot1 wuchs, nahm einen Teil der Erde heraus, vergrub deinen Kopf darin und setzte die Pflanze wieder ein. Danach musste ich alles reinigen, die Steinplatten, meine Kleider. Ich war erst bei Tagesanbruch fertig … Als er erfuhr, dass dein Kopf geraubt worden war, schickte Zeboim seine Wachen los, um jedes Haus zu durchsuchen. Sehr schnell fiel sein Verdacht auf mich.«

»Wegen deines Schreis vor meiner Hinrichtung?«

»Und wegen meiner Wut! Ich hatte ihn gleich danach beschimpft, unablässig beschimpft.«

»Was für ein Mut! Zeboim machte allen Angst.«

»Mir nicht. Er hatte Angst vor mir.«

»Er? Dieser skrupellose Tyrann hatte Angst vor seiner Frau?«

»Ich war nicht seine Frau.«

»Aber …«

»Ich war nicht seine Frau, weil Zeboim nicht Zeboim war.«

Nura hatte diesen Satz mit solchem Nachdruck ausgesprochen, dass Schweigen eintrat. Der große Abendstern, der erste am Horizont, zitterte. Ein dumpfer Galopp erschütterte den Boden in der Ferne, unter dem Hochwald, ein Rudel Wildschweine oder Hirsche.

Fassungslos wiederholte ich: »Zeboim war nicht Zeboim?«

»Ein anderer verbarg sich hinter seiner Maske. Dank dieser Goldmaske hat es niemand bemerkt, nicht einmal seine Kinder, die ihren Vater kaum gesehen hatten. Nur der Älteste der sechs ahnte manchmal etwas, aber die Angst erstickte seinen Argwohn.«

»Wer steckte hinter Zeboims Maske?«

»Derek.«

Bilder kehrten zurück … Dieser lang gestreckte, von langen Gliedmaßen behinderte Körper, diese eigenartige Präsenz auf dem Podium, geprägt von Unbehagen, Verachtung und unterdrückter Gewalt, ja, diese unscharfe, getarnte Gestalt hätte mich an Derek erinnern können.

»Hattest du es nicht geahnt?«

»Nein.«

»Derek hatte dich während deines kurzen Prozesses auch nicht erkannt. Abgesehen davon, dass er durch seine Maske nur eingeschränkt sehen konnte, schenkte er denen, die er verurteilte, keine Beachtung. Außerdem hielt er dich zu dieser Zeit wie ich seit Jahren für tot – wir hatten deinen Leichnam auf der Insel zurückgelassen. Er hat dich erst nach meinem Schrei identifiziert, in dem Augenblick, in dem dein Kopf in den Staub rollte. Vielleicht hat die Szene auch ihn schockiert? Sobald wir wieder zu Hause waren, habe ich ihn geohrfeigt, gekratzt, beschimpft, ich habe ihm ins Gesicht gespuckt, rasend vor Wut und Schmerz. Am nächsten Tag kam er, flankiert von acht Männern, in mein Zimmer geschneit und befahl ihnen, es zu durchsuchen. Weder er noch seine Soldateska haben an den Tonkrug gedacht.«

»Nura, ich verstehe überhaupt nichts mehr … ich war tot!«

»Wir glaubten es. Ich glaubte es. Allerdings habe ich eines Morgens ein ungewöhnliches Phänomen festgestellt: Die Pflanze verkümmerte … Die Wildschweinbrote sind nicht anspruchsvoll, brauchen weder besonders viel Sonnenlicht noch eine konstante Temperatur. So viel ich sie auch goss, sie gingen ein; Blätter, Stängel, Blütenblätter verwelkten, obwohl sie überschwemmt waren. Das Wasser verschwand woanders als in den Pflanzen und stand auch nicht in der Erde, die trocken blieb; irgendetwas pumpte es ins Innere des Krugs … An einem Tag, an dem Zeboim an einer Schlacht teilnahm und ich davon ausgehen konnte, vorübergehend Ruhe zu haben, zerbrach ich den Krug … und inmitten der Scherben … sah ich …«

Mit weit aufgerissenen Augen presste sie meine Wangen zusammen.

»Ich war darauf gefasst, deinen Schädel herauszunehmen, und da sah ich …«

Sie verschluckte ihre Spucke, um sich Mut zu machen weiterzusprechen.

»Dein Gesicht war nicht verwest, Noam! Deine Haut war nicht verschwunden, absorbiert vom Humus oder verschlungen von den Maden. Im Gegenteil, sie hatte sich gestrafft. Du wirktest weniger tot als in dem Augenblick, in dem ich dich den Raben entrissen hatte. Und vor allem …«

»Vor allem?«

»Deine Lider. Die Raben hatten angefangen, sie anzugreifen. Und siehe da, sie bildeten sich neu.«

»Was sagst du da?«

»Die Natur erfüllte ihre Aufgabe in umgekehrter Richtung: nicht Verwesung, sondern Wiederherstellung. Und da habe ich endlich verstanden.«

»Was?«

»Ich habe verstanden, warum ich bei deiner Hinrichtung dabei war. Ich habe verstanden, dass die Götter uns liebten. Ich habe meine Rolle begriffen: Ich würde diejenige sein, die über dich wachen würde, bis du zurückkehrst. Deine Wächterin.«

Lächelnd seufzte sie, die damalige Erleichterung nachempfindend.

»Spione warnten Derek, dass eine Verschwörung angezettelt würde. Er zog es vor zu fliehen. Es ist besser, die Identität zu wechseln, bevor man unsere ewige Jugend entdeckt. ›Packen wir unsere Schätze zusammen, Gold, Edelsteine, Schmuck, um in eine neue Gegend zu ziehen.‹ Ich tat so, als freute ich mich darüber. Wir machten uns mit dem Boot davon, dem einzigen, über das Biril verfügte, und die einzige Möglichkeit, nicht eingeholt zu werden. In der Nacht bat ich eine Dienerin, meine Kleider anzuziehen und deutlich sichtbar meine Halsketten und Armbänder zu tragen; begünstigt durch das Halbdunkel, trat sie an meine Stelle. Die List war erfolgreich! Begleitet von ein paar Söldnern, verließ Derek das Ufer. Ich stelle mir seine Wut vor, als er bemerkt hat, dass ich ihn reingelegt hatte.«

Sie zuckte die Achseln.

»Was soll’s! Und ich habe nicht viel mitgenommen. Ich brach auf mit vier Eseln, zwei beladen mit meinen Sachen, einem, der mich trug, und einem letzten, an dem ich einen neuen Tonkrug befestigt hatte, der deinen Kopf enthielt. Unser Konvoi bewegte sich voran, ohne haltzumachen. Viele Monde irrte ich aufs Geratewohl herum, entschlossen, die größtmögliche Distanz zwischen Biril und mich, zwischen Derek und mich, zwischen die Vergangenheit und mich zu bringen. Ich war zu dem Schluss gelangt, dass du eines brauchtest, nämlich Wasser, und daher eine feuchte Umgebung. Als ich hier vorbeikam, erwähnte ein Schäfer diesen Berg; die Einheimischen wagten sich nicht dorthin, sie behaupteten, er sei von grausamen Göttern bewohnt, die die Menschen hassen, sie im Sommer in die Abgründe werfen und im Winter unter dem Eis vergraben. Ich bin hinaufgestiegen, habe mich umgesehen und habe dich hinter dem Wasserfall versteckt. Dann habe ich mir unten eine Unterkunft gesucht.«

Sie massierte sich die Stirn.

»Ich erinnere mich, wie aufgewühlt ich war, als ich dich in dem mineralischen Zimmer abgesetzt habe. Ich habe den Krug zerbrochen und dich gereinigt, die Erde entfernt, dich abgespült. Dein Hals war vernarbt und verlängerte sich … Schau mal!«

Nura holte eine kurze Dose aus geschnitztem Knochen aus ihrer Umhängetasche. Sie öffnete sie und zeigte sie mir. In der Heideerde krümmten sich beige, geringelte, ölige Würmer.

»Erinnerst du dich an diese Würmer?«

»Ja.«

»Hatte mein Vater es dir demonstriert?«

»Tibor hatte einen Wurm durchgeschnitten und mir ein paar Tage später bewiesen, dass der Wurm seinen Körper regenerierte, indem er den fehlenden Teil wiederherstellte.«

»Papa studierte diese Würmer unablässig. Ich fand das widerlich, ich machte mich über ihn lustig! Ich ahnte nicht, dass er mir erlaubte, schon im Voraus einen Zugang zu unserem Geheimnis zu bekommen.«

Sie schloss die Dose wieder.

»Wir sind wie diese Würmer, Noam. Wir stellen uns wieder her, wenn wir zerbrochen sind. Wir sterben nicht …«

»Niemals?«

Weder sie noch ich sprachen den vollständigen Satz aus, und erst recht nicht das Wort, das alles zusammenfasste: »unsterblich«.

Aufgewühlt betrachteten wir den ausgedehnten Wald und die dicht gedrängten Gipfel in der Ferne. Unser Schweigen hatte eine furchtbare Kraft, wie ein Pfeil, der sich ins Herz gebohrt hat.

»Wie lebst du in dem Tal. Nura?«

»Ich führe eine Raststätte für Reisende.«

»Reisende?«

»Ja.«

»Jäger, meinst du?«

Sie lachte gerührt, als entdeckte sie dieses Wort neu.

»Die Welt hat sich verändert, Noam. Viele Menschen sind jetzt unterwegs, nicht um Nahrung zu sammeln und zu jagen, sondern um Rohstoffe zu transportieren. In Minen werden Kupfer, Gold, Lapislazuli geschürft. Händler nehmen sie in alle Richtungen mit. In meiner Raststätte stärken sie sich und ruhen sich aus. Auch wenn ich nicht mehr über eine ausgedehnte Wohnstätte mit dreißig Dienerinnen verfüge, komme ich zurecht. Als ich hier blieb, träumte ich nicht davon, reich zu werden, ich wollte nur über dich wachen.«

»Wundert sich denn niemand, dass du nicht älter wirst?«

Nura brach in Gelächter aus.

»Seit ich meine Herberge eröffnet habe, bin ich dank meiner Täuschungsmanöver mehrmals gestorben. Ich habe mehrmals ein hohes Alter vorgetäuscht, und dann bin ich jung als meine Tochter zurückgekehrt, meine liebe Tochter, von der ich den Durchreisenden ausgiebig erzählt hatte.«

»Aber warum mehrmals in so kurzer Zeit?«