Das verlorene Glück - Hans Ernst - E-Book

Das verlorene Glück E-Book

Hans Ernst

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Beschreibung

Der alte Voggtreuter ist herrschsüchtig und jähzornig und macht seinen beiden erwachsenen Kindern Lisl und Jakob das Leben zur Hölle. Wie gefühllos der Bauer ist, zeigt sich, als Jakob die Tochter armer Häuslerleute heiraten möchte. Mit aller Macht verhindert er das Glück seines Sohnes und treibt ihn mit seiner Unnachgiebigkeit aus dem Haus. Es vergeht viel Zeit, und manches Schlimme geschieht, ehe der Voggtreuter einsieht, dass der Mensch nicht Schicksal spielen darf.

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LESEPROBE ZU

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2004

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titel der Originalausgabe: »Jakob Voggtreuter«

Titelfoto: Studio von Sarosdy, Düsseldorf

Bearbeitung, Lektorat und Satz: Pro libris Verlagsdienstleistungen, Villingen-Schwenningen

eISBN 978-3-475-54731-7 (epub)

Worum geht es im Buch?

Hans Ernst

Das verlorene Glück

Der alte Voggtreuter ist herrschsüchtig und jähzornig und macht seinen beiden erwachsenen Kindern Lisl und Jakob das Leben zur Hölle. Wie gefühllos der Bauer ist, zeigt sich, als Jakob die Tochter armer Häuslerleute heiraten möchte. Mit aller Macht verhindert er das Glück seines Sohnes und treibt ihn mit seiner Unnachgiebigkeit aus dem Haus. Es vergeht viel Zeit, und manches Schlimme geschieht, ehe der Voggtreuter einsieht, dass der Mensch nicht Schicksal spielen darf.

1

Schneebedeckt lag alles weit und breit, so weit das Auge schauen konnte. Dazu raste ein Sturm, als ob das Jüngste Gericht anbrechen wollte. Der Voggtreuterhof aber mit seinen starken, wetterfesten Mauern stand auf seiner Anhöhe wie eine Burg in dem heftigen Dezembersturm.

Es war um die vierte Nachmittagsstunde, als auch in der warm geheizten Stube ein Sturm losbrach. Wie ein gereiztes Tier schritt der Bauer, ein rüstiger Sechziger, auf und ab. Die grauen Augen schossen Blitze, und immer wieder unterbrach er sein ruheloses Hin- und Herlaufen, wandte sich seiner Tochter zu, der neunzehnjährigen Lisa, und überschüttete sie mit lauten Vorwürfen, weil sie ihm von der Sache nie etwas erzählt hatte.

»Aber Vater, ich habe doch selber nichts davon gewusst«, wehrte sich das Mädchen. »Jedenfalls nichts Genaues, und das hätte ja auch erlogen sein können. Im Übrigen darf man ja auch nicht alles glauben, was die Leute reden. Das hast du selbst mir gesagt! Und dann – gar so groß ist das Verbrechen ja auch nicht.«

»Ja, das weiß ich schon«, rief der Alte zornig aus, »dass ihr zwei unter einer Decke steckt, du und dein Herr Bruder! Der kann etwas erleben, wenn er heimkommt! Es ist nur gut, dass ich selbst den Brief in die Finger bekommen habe, sonst wäre ich schließlich nicht dahintergekommen. Nicht so schnell jedenfalls.«

Er unterbrach seine Wanderung, zündete sich seine Pfeife an, tat ein paar tiefe Züge und sprach weiter:

»Mach mal das Licht an, es wird schon dunkel.«

Doch er bekam keine Antwort: Lisa hatte die Stube ohne ein weiteres Wort verlassen. Er bequemte sich also selbst dazu, den Lichtschalter zu betätigen, setzte sich im Schein der Lampe an den Tisch und zog aus seiner Joppentasche einen Brief, den er nun schon zum zehnten Mal las, seit ihn der Briefträger gebracht hatte. Diese wenigen Zeilen entfachten seinen Zorn aufs Neue. »Wart nur, Bürschchen, wenn du mir heute heimkommst!«, grollte er.

Draußen fiel schon die Dämmerung herein. In einem wilden Wirbel peitschte der Wind die Schneeflocken am Fenster vorüber. Das Gewirbel war so dicht, dass der Bauer das Herannahen des Schlittens nicht wahrnahm. Er hörte das Schellengeläute der Pferdegeschirre erst, als Jakob bereits in den Hof gefahren war und anhielt. Es gab zwar auch ein Auto, aber bei solchen Wetterbedingungen kam man mit dem Pferdeschlitten besser voran. Deshalb waren diese Fortbewegungsmittel in dieser Gegend noch weit verbreitet.

Lisa hatte die Heimkehr ihres Bruders noch vor dem Vater bemerkt und wartete im Stall darauf, dass er die Pferde hereinbrachte, um ihn vorzuwarnen, dass der Vater hinter seine Heimlichkeiten gekommen und darüber sehr aufgebracht sei.

Jakob seufzte. Es war so lange gut gegangen. Irgendwann war es wohl nicht mehr zu vermeiden gewesen, dass sein Vater dahinterkam. »Du hättest halt den Brief vor ihm verstecken müssen«, sagte er zu Lisa, aber ohne dass ein vorwurfsvoller Klang in seiner Stimme hörbar gewesen wäre.

Lisa zuckte die Achseln. »Ich hätte das schon getan, aber der Vater hat den Postboten auf dem Weg abgefangen, und du weißt ja, dass er jeden Brief aufmacht, auch wenn er an dich oder an mich gerichtet ist. Halt dich eben zurück, wenn er schimpft. Sein ärgster Zorn, hoffe ich, ist jetzt sicher schon verraucht.«

Sie drückte ihm noch liebevoll die Hand und verschwand dann, um den Tisch fürs Abendessen zu decken.

»Ist ein richtiges Sauwetter heute draußen«, hörte er eine Stimme hinter sich, kaum dass das Mädchen gegangen war.

Jakob drehte sich um, und sah in das sommersprossige Gesicht des Arbeiters Alois. Was wollte ausgerechnet der denn jetzt von ihm?

Er mochte Alois nicht besonders, wenn er auch zugeben musste, dass er seine Arbeit ordentlich machte und vor allem von Pferden etwas verstand. Aber diese ewige Herumschleicherei war ihm zuwider.

»Das ist bloß, bis man draußen ist. Dann ist es nicht mehr so schlimm«, antwortete er deshalb knapp und wollte sich wieder abwenden. Doch Alois schien nicht zu merken, dass er unerwünscht war. Im Gegenteil, er trat nun sogar dicht an Jakob heran und sagte mit betont mitfühlender Miene: »Ich hab’s mittags schon gesagt, als dich der Bauer zur Mühle geschickt hat. Keinen Hund sollte man bei so einem Wetter hinausjagen, hab ich gesagt, noch viel weniger einen Menschen.«

»Na, na«, winkte Jakob ab, »wenn man gut auf den Füßen steht, kann das bißchen Wind einen nicht so leicht umwerfen. Es war ja auch notwendig, dass ichin die Mühle gefahren bin. Weihnachten steht vor der Tür, und es ist fast kein Mehl mehr in der Truhe.«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, zischelte der Knecht weiter und rückte mit Verschwörermiene dicht an Jakob heran. »Irgendwas hat er heute, der Bauer. Den ganzen Tag rennt er schon wie ein Verrückter herum. Ich glaube, es handelt sich um einen Brief, denn laut herumgeschrien hat er auch. Ich habe gleich kapiert, dass er dich meint. Aber ich hab mir gesagt, der Jakob wird sich nicht alles gefallen lassen, du bist ja volljährig und wirst schon wissen, wie du ihm begegnen musst ...«

»Halt dein Maul!«, schnitt Jakob ihm das Wort ab. Die Vertraulichkeit dieses unangenehmen Menschen brachte ihn fast noch mehr aus der Fassung als die Bestätigung, dass der Abend mit Sicherheit ungemütlich werden würde. »Ich brauche deine Ratschläge nicht. Ich weiß selbst, was ich zu tun hab, und kümmere du dich nicht um Sachen, die dich nichts angehen!« Damit ließ er den Knecht stehen.

Das Abendessen war vorüber, und man saß noch beisammen, wie es an langen Winterabenden immer gemacht wurde. Aber heute Abend herrschte bedrücktes Schweigen, denn alle spürten die Spannung zwischen Vater und Sohn, und man hatte genug mitbekommen, um zu wissen, worum es dabei ging. So wollte keine rechte Unterhaltung in Gang kommen. Noch war kein Wort zwischen Vater und Sohn gefallen, aber jeder wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es dazu kommen würde.

Die Zeit schien sich endlos auszudehnen, während von den Hofbewohnern einer nach dem anderen aus der Stube verschwand, bis die beiden schließlich miteinander alleine waren.

Jakob schien ungerührt; er saß weiterhin ruhig am Tisch, als ob er der Einzige sei, der von der bedrückenden Stimmung nicht angesteckt worden war, und blätterte in der Zeitung.

Das Lampenlicht warf einen hellen Schimmer auf sein Gesicht, und wer ihn mit dem Bild verglichen hätte, das an der Wand hing und seine Mutter in den Mädchenjahren darstellte, hätte die Ähnlichkeit erstaunlich gefunden.

Jakob war sieben Jahre alt gewesen, als seine Mutter von einem heimtückischen Leiden dahingerafft worden war.

Lisa hatte als eine der Ersten den Raum verlassen und sich in der Küche zu schaffen gemacht. Jetzt trat sie ein und wünschte den beiden eine gute Nacht. Dabei warf sie ihrem Bruder noch einen bittenden Blick zu, bevor sie verschwand. Langsam ging sie die Treppe hinauf.

Aus einem dunklen Winkel im Flur starrten ihr zwei Augen nach. Alois schlich auf Zehenspitzen umher und lugte ab und zu durchs Schlüsselloch in die Stube, denn auf keinen Fall wollte er es verpassen, wenn es zwischen dem Bauern und seinem Sohn zu einem Zerwürfnis kommen würde. Es konnte nicht schaden, über den Ausgang solcher Streitigkeiten Bescheid zu wissen. Aber die beiden da drinnen rührten sich immer noch nicht.

Erst geraume Zeit später schob Jakob die Zeitung von sich und wollte gerade aufstehen, um zu Bett zu gehen, als der Voggtreuter mit steinerner Miene unvermittelt einen Brief vor ihn hin auf den Tisch warf.

Ohne ein Zeichen von Beunruhigung hob Jakob den Brief auf und las die wenigen Zeilen:

Mein lieber Jakob! Seit vierzehn Tagen habe ich dich nicht mehr gesehen und hätte dir so dringend etwas zu sagen. Geht es denn nicht, dass du heute oder morgen einmal zu mir kommst? Bis dahin grüßt und küsst dich herzlich deine Vroni Buchberger.

Jakob steckte den Brief wieder in den Umschlag, dann hob er den Blick und sah seinem Vater scheinbar unbewegt ins Gesicht. Den Voggtreuter brachte diese betonte Ruhe seines Sohnes nun erst recht in Zorn, und er schrie los: »Das sind ja nette Geschichten, die man da erfährt! Du weißt wohl nicht, was sich für einen Voggtreutersohn gehört?«

»Doch, das weiß ich«, antwortete Jakob ruhig.

»Dann wirst du auch wissen, dass ich das nicht dulden werde! Du wirst diesem Frauenzimmer heute noch einen Brief schreiben, dass die Sache zwischen euch aus ist, und wenn du’s nicht machst, dann werde ich morgen selber hingehen und das in Ordnung bringen!«

Mit diesen Worten ging er zum kleinen Wandschränkchen, nahm Papier und Schreibzeug heraus und legte es auf den Tisch. Dann wollte er dem Sohn diktieren.

Jakobs Mund war fest zusammengepresst. Er schob er das Schreibzeug beiseite. »Du kannst nicht verlangen, dass ich das schreibe, was du mir diktierst. Ich bin alt genug, um selber zu wissen, was ich schreiben soll. Wenn du es durchaus haben willst, dass ich die Vroni sitzen lasse, gut – ich füge mich deinem Willen, nur um den häuslichen Frieden zu erhalten. Das aber ist mein letztes Wort in der Sache.«

»Ah, da schau her! Er hat auch schon ein letztes Wort«, spöttelte der Alte. »Gut, du kennst meineMeinung, und wenn ich noch einmal etwas davon hören sollte, dann wirst du mich kennen lernen. Dann hast du aufgehört, der junge Voggtreuter, mein Sohn, zu sein.«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging aus der Stube. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Jakob ließ sich auf die Bank zurückfallen und starrte auf den blank gescheuerten Fußboden. Draußen heulte noch immer der Sturm, und das machte ihm nur noch bewusster, dass er gerade eben die Vroni in schändlicher Weise verraten hatte, ausgerechnet den Menschen, der ihm auf der Welt das meiste Vertrauen schenkte.

Vor seinen Augen wurde die Kinderzeit wieder lebendig. Er war ein wilder Bub gewesen, seine Spielgefährten fürchteten ihn, nur eine nicht, die Vroni Buchberger, das Töchterchen des Häuslers drunten im Dorf.

Schon als Kinder hatten sie sich gut verstanden, er und die Vroni. Als er einmal, als Vierzehnjähriger, mit seines Vaters Jagdgewehr einen Adler geschossen hatte, war sie ihm um den Hals gefallen und hatte gejubelt: »Jakob, du wirst bestimmt einmal ein Jäger, und ich werde dann deine Jägersfrau!«

Beide hatten damals gelacht, hatten sich ganz schüchtern umarmt und sich gegenseitig versprochen, dass es ganz sicher einmal so sein würde.

Darüber waren die Jahre verflossen. Aus dem Jakob war zwar kein Jäger geworden, dafür aber ein verwegener Wilderer. Und wenn die Vroni ihn anflehte, er solle das Wildern lassen, nahm er sie nur in die Arme und lachte spitzbübisch – dann war alles vergessen.

So viele Jahre währte ihre Liebe nun schon, doch in letzter Zeit war ein Schatten auf sie gefallen. Denn Vroni gefiel nicht nur dem Jakob, sondern auch anderen Burschen aus der Gegend, und es gab da so manchen, der gerne mit ihr angebandelt hätte. Der Jäger-Franz zum Beispiel schlich in letzter Zeit auffallend häufig um Vroni herum.

Nicht, dass das Mädchen ihn dazu ermutigt hätte – das hätte Jakob ihr nicht nachsagen können. Und doch packte ihn oft die Eifersucht, und es hatte in den letzten Wochen hässliche Streitigkeiten zwischen ihnen gegeben.

Dazu kam noch, dass Vroni immer mehr darauf drängte, dass er mit seinem Vater reden müsse, damit sie heiraten könnten. Jakob vertröstete Vroni von einer Woche zur anderen, denn er wusste, dass sein Vater das Mädchen niemals als künftige Bäuerin auf dem Hof akzeptieren würde. Eher war ihm zuzutrauen, dass er Jakob aus dem Haus jagen würde. Und das war ein schrecklicher Gedanke – so furchtbar, dass Jakob es nicht wagte, ihn zu Ende zu denken. Undeutlich war er sich bewusst, dass er sich zwischen dem Hof und Vroni würde entscheiden müssen. Vor einer solchen Entscheidung aber schreckte er zurück, und deshalb hatte er sich zu dem Gespräch mit seinem Vater nie überwinden können.

Und nun, als es ernst geworden war, hatte er es nicht gewagt, seine Heimat aufs Spiel zu setzen. Er schämte sich zutiefst für seine Feigheit, und doch wusste er nicht, wie er anders hätte handeln können.

Auf der Bank sitzend, drückte er die Fäuste an die Schläfen. Schließlich entnahm er seiner Brieftasche ein Bild und betrachtete lange das Mädchen, das darauf abgebildet war. Ein freudiges Lächeln lag um ihrenMund und ein strahlender Glanz in den tiefblauen Augen. Auf der Rückseite des Bildes war zu lesen: »In treuer Liebe, deine Vroni.«

Nach langem, qualvollem Überlegen griff er nun doch zu Papier und Stift.

Liebe Vroni! Ich will dich noch einmal so nennen, zum letzten Mal. Wir haben alle beide in einem Traum gelebt, der heute sein Ende gefunden hat. Durch deinen Brief hat der Vater erfahren, wie es um uns zwei steht. Er hat mir gedroht, dass er mich vom Hof jagt, wenn ich dich nicht aufgebe. Ich weiß, du wirst mich nicht verstehen, aber ich war zu schwach, den Kampf um unsere Liebe aufzunehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass unser Hof einmal in fremde Hände kommen soll. Ich muss dich also freigeben und bitte dich von ganzem Herzen, mir zu vergeben. Danke für all deine Liebe! Dein Jakob Voggtreuter.

Schwer atmend legte er den Stift weg, als hätte er jetzt die schwerste Arbeit in seinem ganzen Leben geleistet.

Dann stand er auf, löschte die Lampe und ging mit müden Schritten aus der Stube.

Der Winter war längst vorüber und der Frühling über die Bergkuppen hereingezogen. Das ganze Alpenland schien trunken von Sonne und Licht, die grünlich schimmernden Almen und Weiden und über ihnen die Wälder und Felsen, auf deren Spitzen noch hier und da Schnee lag. Je weiter sich die Höhen hinaufschwangen, desto blauer und durchsichtiger wurden sie und schufen den Eindruck, als seien sie mit dem Himmel eins geworden.

Die Sonne war hinter den östlichen Bergen heraufgestiegen und übergoss den Voggtreuterhof auf seiner Höhe mit einem goldenen Schimmer.

Man hatte einen herrlichen Ausblick da oben: im Hintergrund die aufsteigenden Berge, und wenn man ein paar Schritte vom Haus wegging, konnte man durch eine Waldlichtung zwischen dem Grün das Dorf sehen. Verstohlen lugten die rotbraunen Dächer hervor, und von den Kronen der blühenden Bäume stieg ein süßlicher Duft herauf.

Das Ganze bot einen Anblick, so schön, wie ihn nur das Hochland im Frühling zu bieten vermag.

Die Hände in den Taschen der kurzen Lederhose vergraben, stand Jakob unter dem weitvorspringenden Hausdach und blickte zu einer halbwüchsigen Tannenböschung hinüber, die sich in einem breiten Streifen zum Dorf hinunterzog.

Anscheinend ganz gleichgültig ließ Jakob seinen Blick über dieses Waldstück schweifen. Aber wer ihn genau beobachtet hätte, der hätte merken können, dass er von einer drängenden Unruhe erfasst war.

»Teufel, der bleibt aber heute lange aus«, murmelte er vor sich hin. »Ist es am Ende gar schief gegangen?«

Kaum hatte er sich diese Frage gestellt, da tönte es vom nahen Wald her dreimal »Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck«.

Jakob antwortete mit dem gleichen Laut, huschte dann an der Hauswand entlang und hastete schließlich dem Wald zu.

Im schwarzen Schatten stand eine gebeugte Gestalt und sah ihm entgegen.

»Hat es geklappt?«, fragte Jakob.

»Ha, geklappt!«, lachte der andere gequält auf. »Schief gegangen ist es.«

»Was ist passiert? So red doch schon, Buchberger, hat man dich erkannt?«

»Das ist ja die verdammte Geschichte«, knirschte der andere. »Ich war droben heute Nacht, noch bevor der Mond ’rausgekommen ist, und hab mir gar nichts gedacht dabei, weil der Jäger-Franz in der Wirtsstube war, als ich gegangen bin. Auf einmal, als ich den Bock schon im Rucksack verstaut gehabt hab, steht er hinter mir und reißt mir den falschen Bart vom Gesicht.«

Jakob rieb sich mit den Knöcheln das Kinn. »Das ist ja sauber, und was hat er dann gesagt, der Jäger-Franz?«

»Vor die Wahl hat er mich gestellt, der Hund. Er will die Vroni zur Frau haben, oder er zeigt mich an.«

Jakob knirschte mit den Zähnen. Der Jäger-Franz machte der Vroni schon lange den Hof, ohne von ihr jemals das kleinste Zeichen der Zuneigung bekommen zu haben. Nun sah er wohl die Gelegenheit, zu erzwingen, was er nicht freiwillig bekommen konnte.

»So ein Schuft!«, sagte er erbittert. »Selbstverständlich können wir auf so einen Handel nicht eingehen. Du bezahlst die Sache – das Geld bringe ich dir heute Abend noch, und die Sache ist erledigt. Der soll sich ein Mädchen holen, wo der Pfeffer wächst. Für unsere Schuld soll die Vroni nicht büßen. Das will ich nicht!«

Der andere verzog gequält das Gesicht. »Die Vroni hat ihm ja ihr Jawort schon gegeben.«

»Was?«, fragte Jakob ungläubig. »Ist ihr das denn so leicht gefallen?«

Der alte Buchberger zuckte mit den Schultern und zögerte kurz, dann stieß er zornig hervor: »Ob es ihr leicht gefallen ist oder nicht, das spielt jetzt keineRolle. Auf alle Fälle hat sie mir das Gefängnis ersparen wollen, und was hilft es ihr auch, wenn sie dir weiter nachtrauert? Du heiratest sie ja doch nicht.«

Jakob zuckte zusammen. Dieser Vorwurf war berechtigt. Er gab sich Mühe, dennoch ungerührt zu wirken, und antwortete scheinbar leichthin: »Ach, du weißt doch genau, dass mich mein Vater vom Hof gejagt hätte. Aber reden wir von etwas anderem.« Er dämpfte seine Stimme ein wenig: »Wie steht es dann heute Nacht?«

»Geht nicht«, meinte Buchberger.

»Es muss gehen, ich kann nicht mehr länger warten. Der Hirsch muss vom Kogel heruntergeschafft werden!«

»Lass ihn lieber liegen«, warnte der andere wieder. »Es ist zu gefährlich. Die Jäger haben jetzt Lunte gerochen, und vor allem der Neue, der vor acht Tagen gekommen ist, ist wie der Teufel hinterher.«

»Was sagst du da, ein Neuer ist gekommen?«

»Ja, hast du das noch nicht gewusst? Augen hat er wie ein Luchs, vor dem muss man sich in Acht nehmen.«

»Ich habe keine Angst«, lachte Jakob. »Und wenn du nicht mitkommst heute Nacht, dann geh ich allein, ich kann den Hirsch nicht länger liegen lassen. Es ist ja schon die dritte Nacht, seit er geschossen ist. Also was ist, kommst du oder kommst nicht?«

Der Alte rang sichtlich mit sich selbst. Er war sonst ein verwegener Kerl und hatte mit Jakob schon manchen Hirsch zur Strecke gebracht, das Missgeschick der vergangenen Nacht hatte ihm aber einen Schock versetzt. Schließlich gewann aber doch die Leidenschaft seinen inneren Kampf. Das Verlangen nach Nervenkitzel und blinkender Münze war stärkerals alles andere. Denn immer nur er hatte den Vorteil an der Wilderei gehabt.

Jakob Voggtreuter schoss das Wild zwar, er war also der eigentliche Wilddieb, doch der Buchberger war der Hehler. Er verkaufte die Beute und konnte fast den ganzen Erlös für sich behalten. Denn Jakob nahm nur selten etwas von dem Geld, und er hatte das auch gar nicht nötig.

So war immer im Buchbergerhäusl ein bisschen zusätzliches Geld, wenn auch Frau und Kinder nicht wussten, woher es kam. Und das sollte jetzt aufhören, alles mit einem Schlag? Wegen des einen dummen Missgeschicks in der Nacht?

Der Alte reichte Jakob die Hand. »Ich komme!«, sagte er entschlossen.

»Also dann – heute Nacht um elf treffen wir uns bei den Blutbuchen.«

Als Jakob zum Hof zurückschlenderte, traf er unter der Tür mit dem Alois zusammen.

»Heute hat der Kuckuck aber schön geschlagen«, meinte Alois mit vielsagendem Lächeln.

Jakob wollte zunächst wortlos an ihm vorbei, doch dann entschloss er sich, diesen Schleicher mit seinen ewigen Andeutungen für diesmal nicht so einfach davonkommen zu lassen. Er trat vor ihn hin und sah ihn mit finsteren Augen an. »Was willst du damit sagen?«

»Ach nix, ich hab bloß gemeint«, antwortete Alois ausweichend, und in seinem Blick flackerte Besorgnis auf.

»Deine Meinungen kenne ich schon. Behalt sie in Zukunft für dich«, sagte Jakob, dann ging er ins Haus und in die Stube, wo schon das Frühstück auf dem Tisch stand. Er achtete an diesem Morgen aber nichtwie sonst auf das Gespräch der anderen, denn die Geschichte mit der Vroni und dem Jäger-Franz ging ihm nicht aus dem Kopf.

Es war Abend geworden. Am Voggtreuterhof war bereits alles schlafen gegangen. Still lag die Nacht über dem Gehöft, nur das Plätschern des Brunnens war zu hören.

Das Geräusch, das die nächtliche Ruhe unterbrach, wirkte in dieser friedlichen Nacht erschreckend laut, obwohl das Stadeltor langsam und so leise wie möglich aufgeschoben wurde.

Ein Schatten glitt aus dem halb geöffneten Tor und machte es wieder zu. Wieder war das Geräusch, ein Knarren und dazu ein leises Quietschen der Angeln, zu hören.

An die Hauswand gedrückt lauschte Jakob angestrengt, ob sich auf dem Hof nicht irgendetwas rührte. Aber kein Laut war mehr zu hören. Nur durch die offen stehenden Stallfenster drang ab und zu ein Schnauben eines der wenigen Rinder, die vom Almauftrieb daheim geblieben waren.

Jakob schlüpfte in seine Schuhe und verschwand lautlos in der Dunkelheit.

Eine Stunde später schritt er ungeduldig bei den Blutbuchen auf und ab, aber der Buchberger ließ auf sich warten.

Wo er nur steckte? Hatte er die Verabredung vergessen oder es sich anders überlegt? Aber nein – das konnte nicht sein. Der Alte hatte immer Wort gehalten und war auch verschwiegen.

Jakob entnahm seiner Joppentasche eine schwarzsamtene Halbmaske und band sie vor die Augen. Er lehnt sich an den Stamm einer Buche und sah zu denSternen hinauf, die in unzähliger Zahl am Himmel leuchteten. Einmal fuhr eine Sternschnuppe über den dunklen Horizont hin, und Jakob wollte sich etwas wünschen. Doch das, was er sich am meisten gewünscht hätte, würde er ohnehin nicht bekommen. Und er hatte auch gar keinen Anlass, sich darüber zu beklagen. Es war schließlich seine eigene Schuld, dass Vroni nun einen anderen heiraten würde.

Er war so tief in seine Erinnerung versunken, dass er den Buchberger nicht kommen hörte und ihn auch erst sah, als der plötzlich vor ihm stand, das Gesicht mit einem weißen Vollbart unkenntlich gemacht.

»Endlich«, sagte Jakob und reichte dem Angekommenen die Hand.

Elf dumpfe Schläge klangen vom Kirchturm herauf, und schweigend stapften die zwei nun durch den nächtlichen Hochwald. Immer steiler, immer steiniger und schmaler wurde der Weg, sodass sie bald hintereinander gehen mussten. Auf der einen Seite ragte die düstere graue Felswand empor und auf der anderen gähnte der schaurige Abgrund.

Endlich hatten sie die Stelle erreicht, wo, unter Moos und Tannenästen versteckt, der von Jakob geschossene Hirsch lag.

Während Buchberger mit schussbereitem Stutzen auf der Lauer stand, nahm Jakob die Äste und das Moos weg. Schon nach wenigen Minuten hatte er das Tier freigelegt. Mit Stricken band Jakob dem toten Hirsch je einen Hinterfuß mit dem vorderen zusammen und steckte eine lange Stange durch.

Ein nachgeahmter Eulenschrei, und Buchberger kam von seinem Posten zurück.

Der Hirsch war, obwohl schon aufgebrochen, doch noch recht schwer, und die Stange bog sich starkdurch, als die beiden Männer die Beute aufnahmen. Den schmalen Steig, den sie gekommen waren, konnten sie mit ihrer Last nun nicht mehr gehen. Deshalb schlugen sie einen bequemen und breiten Weg ein. Es ging schnell bergab, und sie hatten schon eine schöne Strecke zurückgelegt, als Buchberger, der hinten ging, die Stange unvermittelt fallen ließ. Jakob, ebenfalls erschrocken, nahm jetzt auch die Last von der Schulter und umfasste unwillkürlich mit beiden Händen den Stutzen.

»Was gibt’s?«, flüsterte er angespannt.

Buchberger, der jetzt dicht neben ihm stand, deutete nur stumm mit der Hand auf einen rund zwanzig Schritte entfernten Baumstamm, der vom Wind umgerissen am Boden lag.

»Dahinten hockt einer«, flüsterte er. Und noch ehe Jakob etwas antworten konnte, klang ihnen schon ein scharfes »Halt« entgegen.

Blitzschnell warfen sich die beiden zu Boden und benutzten dabei den starren Leib des Hirschs als Deckung. Langsam löste sich ein Schatten von dem Baumstamm und bewegte sich vorsichtig auf sie zu.

»Teufel«, murmelte Jakob, »was machen wir jetzt?«

»Der Assistent ist es«, raunte Buchberger ihm ins Ohr. »Sollen wir schießen?«

»Nein, das nicht«, flüsterte Jakob zurück. »Du schleichst dich jetzt von mir weg, schlägst den kürzesten Weg ins Dorf ein und legst dich gleich ins Bett, dass wenigstens auf dich kein Verdacht fällt.«

»Nein, Jakob, ich lass dich doch nicht im Stich«, protestierte der Alte.

»Geh nur«, zischte Jakob. »Ich werd schon fertig mit ihm.«

Lautlos verschwand der Buchberger im Dunkel des Waldes.

Es war auch die höchste Zeit gewesen. Denn der Assistent stand wie aus dem Boden gewachsen auf einmal neben Jakob Voggtreuter.

»Dein Gewehr weg, du Lump!«

Es war eine harte, energische Stimme. Kein Zweifel, mit dem Mann war nicht zu spaßen. Jakob legte sein Gewehr weg und reckte sich langsam hoch, da – plötzlich ein heller Aufschrei und ehe sich der Assistent versah, hatte Jakob ihn mit eisernem Griff gefasst und von sich gestoßen. Blitzschnell raffte er seinen Stutzen wieder auf und rannte in fliegender Hast den Wald hinunter. Da krachte hinter ihm ein Schuss, dem gleich ein zweiter folgte. Beide verfehlten ihr Ziel, nur das Echo rollte schaurig durch die Bergnacht.

Nach kurzer Zeit hatte er die Blutbuchen wieder erreicht. Aufschnaufend blieb er stehen und lauschte, aber es war nichts mehr von dem Verfolger zu hören. Er machte sich jetzt Gedanken um den Gefährten, ob der wohl gut heimgekommen sei. Er hatte ja keine Zeit mehr gehabt, sich nach ihm umzusehen.

Jakob versteckte sein Gewehr und schritt auf dem kürzesten Weg ins Dorf hinunter. Es war schon weit nach Mitternacht, als er unten ankam. Vorsichtig schlich er sich an das Buchbergerhaus heran und klopfte dreimal an den Fensterladen. Ein trockenes Husten ließ sich vernehmen. Nun wusste er Bescheid. Buchberger war also glücklich heimgekommen.

2

Die Wochen gingen vorüber, ein Tag war schöner als der andere. Jakob stürzte sich mit aller Kraft in die Arbeit, um nicht an Vroni zu denken, die er doch vergessen musste, weil er sie durch seine eigene Schuld an einen anderen verloren hatte.

Dann kam wieder einmal ein Sonntag heran, der ihn mit einem jähen Ruck noch einmal zurückrief in die Vergangenheit. Es war am Schluss der Predigt, als der Pfarrer verkündete: »Zum heiligen Sakrament der Ehe haben sich versprochen Herr Franz Huber, gräflicher Forstgehilfe, und Frau Veronika Hilser, Buchbergertochter von hier. Das ist die erste Verkündigung.«

Diese Neuigkeit wirkte auf die Gemeinde wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Frauen reckten die Hälse, um die Braut anzuschauen. Auch die Männer begannen miteinander zu tuscheln, die jüngeren lugten verstohlen zu Jakob hin, dessen Miene keine Regung erkennen ließ.

Dann ertönte die Orgel, und der Priester schritt zum Altar, um das heilige Amt zu beginnen.

Endlos schien das Hochamt an diesem Tag zu dauern. Jakob sehnte sich hinaus ins Freie. Zwar sah er von seinem Gebetbuch nicht auf, aber er fühlte doch die neugierigen Blicke, die ihn trafen. So heimlich er die Liebschaft mit der Vroni immer gehalten hatte, es war doch etwas davon in die Öffentlichkeit gedrungen.

Vor dem Kirchhof, in der warmen Sonne, wurde nach der Messe immer noch ein wenig geschwatzt. Mit einem stummen Gruß wollte Jakob sich an den Burschen vorüberdrängen, um mit seinem Kummer allein zu sein. Da rief man seinen Namen, er drehte sich um und ging auf einen jüngeren Burschen zu, der etwas abseits stand.

»Was ist, Jakob, kommst du heute Nachmittag zum Neuwirt? Da ist das Preisschießen unseres Schützenvereins.«

»Ich habe keine Zeit«, wich Jakob aus, denn er wusste, dass dort natürlich auch der Jäger-Franz anwesend sein würde.

Der andere schien ihm die Gedanken vom Gesicht zu lesen und meinte aufmunternd: »Geh, lass dir doch keine grauen Haare wachsen wegen der Vroni. Andere Mütter haben auch schöne Töchter. Schau, wir wissen’s doch alle, dass du mit der Vroni gegangen bist. Aber das, was du jetzt machst, ist ganz verkehrt. Soll denn der Jäger-Franz sagen können, jetzt lässt du dich nirgends mehr sehen, weil er dir die Vroni weggeschnappt hat? Soll der Franz vielleicht merken, dass du deswegen Kummer hast?«

»So, weiß der’s auch schon?«, lachte Jakob bitter auf.

»Ja, dafür sorgt schon einer, dass er über alles genau informiert ist.«

Verwundert schaute Jakob ihn an. »Was meinst du damit?«

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