Das verlorene Kind - Kaspar Hauser - Regine Kölpin - E-Book

Das verlorene Kind - Kaspar Hauser E-Book

Regine Kölpin

4,4

Beschreibung

1812. Kaspar kommt als Findelkind in eine arme Köhlerfamilie. Nach dem Tod der Eltern ist er dem Sohn des Köhlers, Emil, im Weg. Der Stiefbruder setzt Kaspar vor einem Herrenhaus aus, wo der Junge aufgezogen und versteckt wird. Da man ihm nach dem Leben trachtet, schafft man ihn an einen anderen Ort. Eines Tages kann er entkommen und begegnet Emil wieder. Der will sich Kaspars nun endgültig entledigen. Was keiner ahnt: Auch von anderer Seite ist dessen Leben in Gefahr.

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Regine Kölpin

Das verlorene Kind –

Kaspar Hauser

Historische Romanbiografie

Impressum

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www.gmeiner-verlag.de

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung einer Radierung von H. Fleischmann, 1828 © ullstein bild

ISBN 978-3-8392-5126-3

Vorwort

Es ranken sich viele Mythen und Theorien um die Person Kaspar Hauser. Bis heute konnte nie geklärt werden, wer er wirklich war und weshalb er schon als junger Mann sein Leben lassen musste. Aus diesen Gründen war es reizvoll, sich mit Kaspar Hauser und seinem Leben literarisch auseinanderzusetzen, auch wenn das schon etliche Dichter und Musiker vor mir getan haben.

Um mich der Thematik zu nähern, habe ich mir zuerst seine Lebensfakten angesehen und schließlich alle aufgestellten Theorien durchleuchtet und hinterfragt. Sehr geholfen hat mir das Buch von Anna Schiener: »Der Fall Kaspar Hauser« (Verlag Friedrich Pustet), weil sie für mich schlüssig auf sämtliche Details der Kaspar-Hauser-Forschung eingegangen ist. Ich konnte mich gedanklich ihren Ausführungen am besten anschließen. Einen weitreichenden Einblick gab auch das im Klett Verlag erschienene Buch: »Anselm Ritter von Feuerbach Kaspar Hauser,Texte & Materialien«. Eine interessante Abhandlung fand ich mit »Ein kurzer Traum und kein Ende« (BoD) von Kurt Kramer.

Während meiner Reise nach Ansbach und Nürnberg habe ich versucht, die Welt mit Kaspars Augen zu sehen und mir ein Bild vor Ort zu machen.

Ich will mit dem Buch »Kaspar Hauser – Das verlorene Kind« weder polarisieren noch werten. Und ich habe auch nicht den Anspruch, eine weitere Theorie aufzuwerfen oder die anderen infrage zu stellen.

Nach den Studien vieler Schriften, nach meinem Besuch in Ansbach und Nürnberg, habe ich beschlossen, seine Geschichte, wie viele andere Künstler zuvor − ich erinnere nur an das wunderschöne Kaspar-Hauser-Lied von Reinhard Mey, das eine ebenfalls andere Sichtweise zulässt −, neu zu erzählen. Und so habe ich mir die schriftstellerische Freiheit genommen, eine eigene Version über Kaspar Hauser zu schreiben. Eine literarische, eine freie Geschichte, die sich an die Tatsachen anlehnt und sie neu interpretiert. Eine eigene Story, wie es auch gewesen sein könnte, wenn man alle als gesichert geltenden Fakten zugrunde legt. Ausgeschmückt mit der Fantasie einer Schriftstellerin. Der erste Teil des Romans ist völlig fiktional, Teil 2 und 3 hangeln sich eng an den nachgewiesenen Tatsachen entlang, auch sie sind gespickt mit Fiktion. Ganz sicher habe ich keine neue oder gar die Wahrheit über Kaspar herausgefunden. Ich wollte einfach die Geschichte eines Menschen erzählen, der, gleichgültig, welche Theorie man favorisiert, ein Opfer fataler Umstände und der Eitelkeit verschiedener Personen wurde. Ein traumatisierter Mensch, der das alles sehr früh mit dem Leben bezahlte. Und wer sagt, dass es nicht auch so gewesen sein könnte? »Mein Kaspar« ist mir jedenfalls auf diese Weise sehr nahegekommen.

Wahre historische Personen, die eine Rolle im Roman spielen

Anselm von Feuerbach: ein enger Begleiter und Förderer Kaspars und enge Bezugsperson. Er favorisierte später die Erbprinztheorie

Carl Ernst von Grießenbeck: Besitzer des Schlosses Pilsach, wo Kaspar Hauser eine Weile versteckt gehalten worden sein soll

Förster Franz Richter: soll Kaspar in dem Verlies evtl. versorgt haben

Bonne: Es gab vermutlich ein ungarisches Kindermädchen mit diesem Namen. Im Roman ist sie fiktiv eingesetzt

Georg Leonhard Weickmann und Jakob Beck: Haben Kaspar in Nürnberg auf dem Unschlittplatz aufgelesen

Rittmeister von Wessenig: Rittmeister in Nürnberg, zu dem Kaspar unbedingt gebracht werden wollte

Polizeioffiziant Johann Adam Röder: Polizeibeamter in Nürnberg

Gefängniswärter Hiltel mit Frau und Kindern: Kümmerten sich in Nürnberg im Turm Luginsland um Kaspar in den ersten Wochen. Die Kinder waren seine Spielgefährten

Bürgermeister Jakob Friedrich Binder: gilt als »Erfinder« der Kerker-Theorie

Georg Friedrich Daumer: Lehrer Kaspars in Nürnberg. Führte an Kaspar umstrittene Experimente durch, kümmerte sich aber auch um die Ausbildung und das Erlernen seiner musischen und künstlerischen Fähigkeiten

Kaufmann und Magistrat Johann Christian Biberbach mit Frau Klara: beherbergten Kaspar nach dem ersten Attentat in Nürnberg. Sie waren umstritten, was die Betreuung Kaspars anging

Gottlieb Freiherr von Tucher: Vormund von Kaspar (Dez. 1829 – Nov. 1831)

Lord Philip Henry Stanhope: Ziehvater und Gönner Kaspars und enger Vertrauter, der ihn am Ende fallen ließ

Reitlehrer von Rumpler: unterrichtete Kaspar in den Reitkünsten, teilte aber die Begeisterung über seine Fähigkeiten nicht

Dr. Preu: unterstützte Daumer bei Kaspars Experimenten

Johann Georg Meyer und Frau Henriette: bei ihnen lebte Kaspar in Ansbach bis zu seinem Tod unter für Kaspar sehr unangenehmen Spannungen

Lina von Stichaner: Tochter des Regierungspräsidenten und Freundin Kaspars, aber ohne Liebesbeziehung

Caroline Kannewurff: Schwägerin von Bürgermeister Binder aus Nürnberg, für die Kaspar sehr schwärmte und mit ihr zum Entsetzen der Nürnberger allein durch die Straßen flanierte

Pfarrer Fuhrmann: wies Kaspar in der evangelischen Religion ein und konfirmierte ihn

Dr. Horlacher und Dr. Heidenreich: Ärzte, die Kaspar nach der Stichverletzung im Hause Meyer behandelten und die Schwere der Verletzung nicht erkannten

Königin Therese und Königinwitwe Karoline: begegnen Kaspar in Nürnberg

Johann Friedrich Merkel: Verfasser einer nicht positiven Schrift über Kaspar Hauser

Gendarmerieleutnant Josef Hickel und Frau: Hickel begleitete Kaspar nach Ungarn, war Kaspars Polizeischutz und »Spezialkurator«, Kaspar flüchtete für eine gewisse Zeit vor Lehrer Meyer zu ihm

Fiktive Romanfiguren

Emil Wegner, später von Waldstaetten: Kaspars erste enge Bezugsperson

Hilda, Maria und Georg Wegner: haben sich Kaspars als Säugling angenommen.

Aldine: Adelsfrau, von dem Monsignore vergewaltigt und Kaspars Mutter

Klara: Magd, die Kaspar töten sollte

Ursina: Mutter von Aldine

Monsignore: Geistlicher auf Abwegen

Der Schatten: Diener des Monsignore, ihm hoffnungslos verfallen

Sternlerin: eine alte Frau mit Hang zur Weissagung

Traudl: Hebamme, die Kaspar als verflucht sieht

Sophie: Emils Frau

Ferdinand von Waldstaetten: Rittmeister in Neumarkt und Emils Adoptivvater

Der dünne Heinrich: Stallbursche und verlängerter Arm Sophies

Kaufmann Theodorus: behauptet als Erster, Kaspar sei der Erbprinz

Medizinalrat Minkner: Sophies Vater

Ansbach

14.12.1833 

Kaspar Hauser war kalt. Der Dezemberwind huschte durch Ansbachs Straßen, als sei er auf der Jagd. Meist hielt er sich versteckt, aber immer öfter zeigte er sich und dann trieb er die kleinen Schneeflocken vor sich her. Der junge Mann umhüllte sich fester mit seinem Mantel. Obwohl es noch früher Nachmittag war, die Kirchturmglocke hatte eben halb drei geschlagen, war es ruhig in den Straßen der Stadt. Die meisten Ansbacher hatten sich in ihre Wohnungen zurückgezogen, denn es war keine Wohltat, draußen herumzulaufen.

Kaspar war auf dem Weg in den Hofgarten. Ihm begegneten lediglich ein paar Frauen, die ihn nicht beachteten. Kaspar galt als Sonderling, den man hinnahm, aber nicht schätzte.

Als er sich kurz umdrehte, glaubte er, einen Schatten wahrgenommen zu haben, doch die Straße hinter ihm war leer. Er war aufgeregt, grüßte einen ihm entgegenkommenden Herrn, der verwundert über Kaspars Zappeligkeit den Kopf schüttelte. Kaspar ließ das Reithaus links liegen, rammte aber beinahe eine vorbeigehende Frau. »Na, bei dem Wetter unterwegs? Wohin so eilig des Weges, junger Mann?«

Er antwortete ihr nicht, sondern steuerte weiter auf den Hofgarten zu. Seine Schritte knirschten auf dem Kies, als er ihn betrat und am Glashaus vorbeilief. Kaspar war spät dran, er durfte keine Zeit verlieren. Vor drei Tagen hatte er die Verabredung nicht eingehalten und die Epistel, er solle zum Artesischen Brunnen kommen, um sich die Tonschichten anzuschauen, ignoriert. Er war nicht hingegangen, weil er sicher gewesen war, dass diese Botschaft keinesfalls von ihm sein konnte. Aber heute, heute war die Nachricht echt.

Zuvor hatte er Pfarrer Fuhrmann beim Weihnachtsbasteln geholfen. Nach einer Zeit hatte Kaspar behauptet, zu Lina von Stichaner zu müssen, denn sie kam mit einer Aufgabe nicht zurecht. Dorthin war er jedoch nicht geeilt, sondern geradewegs hierher. Er hielt es für besser, wenn niemand von seiner Verabredung im Hofgarten erfuhr.

Kaspar hoffte so sehr, den richtigen Menschen anzutreffen. Der, nach dem er sich sehnte und der ihm endlich das geben konnte, was er sich schon so lange wünschte. Der Mann, der immer da war. Der Mann, den er liebte, an dem er festhielt, vor allem jetzt, wo sich alle anderen Träume zerschlagen hatten.

Im Hofgarten war es noch kälter als in der Stadt, wo die Mauern den stärksten Wind abgehalten hatten. Hier duckte und versteckte er sich nicht, hier tobte er sich in allen Spielarten aus und ließ die Flocken wild tanzen. Nachdem Kaspar am Brunnen niemanden angetroffen hatte, steuerte er nun auf das kleine Waldstück zu, wo sich das Uz’sche Denkmal befand. Er wusste nicht genau, wo er ihn treffen sollte, die Anweisungen waren nur vage gewesen. Er wollte nicht entdeckt werden, zu groß war ihr Geheimnis, das sie miteinander verband. Das grausame Warten hatte endlich ein Ende und würde ihn nun endgültig von seiner Seelenpein erlösen, nach alledem, was er mitgemacht hatte. Heute war der Tag, an dem sich sein Leben zum Guten wenden würde. Kaspar beschleunigte den Schritt.

Er folgte dieser Stimme, die ihn rief. Die Stimme, der er von Kindesbeinen an gefolgt war, auf die er sein Leben ausgerichtet hatte. Kein Mensch in der Welt hatte es je vermocht, ihn diese Sehnsucht vergessen zu lassen.

Die Orangerie wurde eben von einem Nebel aus Schneegestöber verweht. Wenn er erst das Wäldchen erreicht hatte, wäre Kaspar ein bisschen geschützter. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Uz’schen Denkmal. Kaspar wurde vor Aufregung die Luft knapp und er musste kurz innehalten, bis Herzschlag und Atem sich beruhigt hatten. Wegen des schlechten Wetters senkte sich nun bereits die Dämmerung übers Land. Der Wind dröhnte und schien sämtliche Menschen aus dem Park gefegt zu haben. Was, wenn er nicht kam? Wenn sich alle Hoffnungen zerschlugen? Vorsichtig tastete Kaspar sich ein Stück weiter. Er glaubte, hinter sich eine Bewegung wahrzunehmen, und als er sich umdrehte, stand ein Mann vor ihm. Er war größer als er und von hagerer Statur. Seinen Kopf schmückte ein runder, schwarzer Hut und sein kantiges Gesicht war von einem braunen Backenbart umrahmt. Über der Lippe befand sich ein Schnäuzer. Es handelte sich allerdings nicht um den Mann, den er erwartet hatte.

»Wer sind Sie? Schickt er Sie?«

Der Mann schwieg, und zog aus seinem schwarzen Mantel einen Beutel hervor. »Dort finden Sie alles, was Sie wissen wollen, Herr Hauser.« Seine Stimme klang heiser, eigenartig. Kaspar zögerte. Er traute ihm nicht. »Kommen Sie von ihm? Hat er Ihnen das gegeben?«

Der Mann ging auf Kaspars Fragen nicht ein. Seiner ganzen Haltung haftete etwas Verschlagenes an. Kaspar wich einen Schritt zurück, nur die Neugierde hielt ihn davon ab, wegzulaufen. »Nun kommen Sie schon, ich habe nicht ewig Zeit«, forderte der Mann ihn auf. »Was Sie wissen wollen und müssen, liegt in diesem kleinen Beutel verborgen.«

In Kaspar überschlugen sich die Gedanken. Kam die Botschaft aus Wien? Schickte seine heimliche Liebe, die verheiratete Karoline Kannewurff nach ihm? Sie besaß einen ähnlichen Beutel. Ach nein, sicher versteckte sich seine Botschaft für ihn darin. Die Neugierde siegte endgültig. Kaspar näherte sich dem Mann. Streckte die Hand aus. Doch bevor er den Beutel greifen konnte, drang grelles Lachen an sein Ohr, während sich gleichzeitig eine Klinge durch den Mantel in seine Brust bohrte.

Teil 1

Kaspar 1812 – 1828

1

Es fiel ihr nicht leicht, zu tun, was getan werden musste. Noch schlief der Säugling, hatte die Augen fest geschlossen. Die Nacht umhüllte beide mit ihrem dunklen Tuch und ließ kaum ein Geräusch zu. Hin und wieder glaubte Klara, die Blicke der vielen Tiere auf sich zu spüren. Sie lauerten versteckt hinter jedem Busch. Eine Eule strich mit lautlosem Flug über die Wipfel. Die Magd fürchtete sich. Doch welche Möglichkeiten blieben ihr, außer das Kind dem Willen des Herrn zu übergeben. Das Kind, von dessen Existenz nie jemand erfahren durfte.

Klara wollte den armen Wurm vor den Altar der Waldkapelle legen, das war das Einzige, was sie für das kleine Kerlchen noch tun konnte. Ein Menschenkind, in Gier gezeugt und dann von keinem gewollt. Den Blick der Mutter würde sie nie vergessen. Diesen unglaublichen Schmerz, diese Fassungslosigkeit, gepaart mit gleichzeitigem Hass. Das Kind wäre besser niemals geboren worden. Aber sollte sie es wirklich töten und sich damit vor dem Herrn strafbar machen? Diese Sünde hier war kleiner, besser zu rechtfertigen.

Eine Zeit lang hatte sie gedacht, dass sie den Bub irgendwie durchbringen konnte, denn ihre Brust war reichlich mit Milch gesegnet. Ihrem Mann hatte sie gesagt, dass sie die Amme sei und eine Weile für das Kind sorgen würde. Doch als sie spürte, dass weder ihre Kraft noch die Milch ausreichten, hatte sie dem Jungen Laudanum gegeben, damit er ruhiger wurde und weniger trank. Nun aber war es an der Zeit, dass er auch andere Nahrung bekam. Sie hatte nicht gewusst, wie sie das bewerkstelligen sollte, hatten sie doch selbst kaum genug zum Überleben. »Ich werde ihn zur Mutter zurückbringen müssen«, hatte sie ihrem Mann erklärt. »Bin morgen in der Früh wieder daheim.«

Im Herrschaftshaus hatte sie sich krankgemeldet.

»Und der Bub?«, hatte ihr Mann gefragt. Seine Augen waren zu ihrem eigenen Sohn gewandert.

»Dem hab ich Milch vom Bauern hingestellt und wenn du ihm eine Mohrrübe weichkochst und den Hirsebrei aufwärmst, reicht das.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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