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In der Seidenvilla herrscht allseits großes Glück. Angela und Vittorio planen ihre Hochzeit, und Nathalies kleiner Sohn ist der Sonnenschein in der Seidenvilla. Doch plötzlich ziehen Wolken auf: Vittorios Sohn kehrt nach Italien zurück und macht seinem Vater bittere Vorwürfe. Zudem erweist es sich als dramatischer Fehler, dass Lorenzo Angela bisher nicht offiziell als seine Tochter anerkannt hat. Denn Verwandte seiner ersten Frau erheben Anspruch auf die Seidenvilla. Angela und ihrer Familie droht die Gefahr, die Seidenweberei und ihr Zuhause zu verlieren ...
Mitreißender Roman um eine große Liebe vor der Kulisse einer venetischen Seidenweberei
Das große Finale der Seidenvilla-Saga
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Seitenzahl: 468
In der Seidenvilla herrscht allseits großes Glück. Angela und Vittorio planen ihre Hochzeit, und Nathalies kleiner Sohn ist der Sonnenschein in der Seidenvilla. Doch plötzlich ziehen Wolken auf: Vittorios Sohn kehrt nach Italien zurück und macht seinem Vater bittere Vorwürfe. Zudem erweist es sich als dramatischer Fehler, dass Lorenzo Angela bisher nicht offiziell als seine Tochter anerkannt hat. Denn Verwandte seiner ersten Frau erheben Anspruch auf die Seidenvilla. Angela und ihrer Familie droht die Gefahr, die Seidenweberei und ihr Zuhause zu verlieren …
Mitreißender Roman um eine große Liebe vor der Kulisse einer venetischen Seidenweberei
Das große Finale derSeidenvilla-Saga
Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Frauenromanen wieder.
T a b e a B a c h
DAS VERMÄCHTNIS DER
SEIDENVILLA
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Titelillustration: © Trevillion Images/Nikaa; © Atlantide Phototravel;
Slow Images/getty-images; © jayk7/gettyimages
Bildnachweis Innenklappen: © LittleMiss; severija; DiPetre; Tangerinesky;
Morozova Oxana/Shutterstock; © jayk7/gettyimages
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8701-8
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Als Angela aus dem Fenster sah, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen: Eine feine Schneedecke lag über den Dächern der Altstadt. Dass es in den nahen Bergen schneite, kam vor. Doch nicht in Asenza, dazu war es viel zu mild im Veneto.
Im Innenhof der Seidenvilla musste sie achtgeben, auf dem alten Pflaster nicht auszugleiten. Das große, zweistöckige Gebäude war um einen rechteckigen Innenhof herum angelegt, ein Holztor führte hinaus zur Straße. In der Mitte befand sich ein betagter Maulbeerbaum. Er hatte sein Laub noch nicht vollständig abgeworfen, golden leuchtete es unter den weißen Häubchen aus Schnee.
Alles wirkte wie verzaubert, und Angela ging das Herz auf. Tief sog sie den Duft nach Schnee und Kälte in ihre Lungen ein. Sie lebte erst seit eineinhalb Jahren in Norditalien, und zum ersten Mal erfasste sie ein Anflug von Sehnsucht nach ihrer deutschen Heimat, nach den Winterlandschaften rund um den Ammersee, wo sie früher zu Hause gewesen war.
»Porca miseria!« Das Hoftor wurde aufgestoßen, und Nola kam mit ihrer Tochter Fioretta hereingestapft. »Was ist das für ein Mistwetter«, schimpfte die Weberin. Dann hatte sie ihre padrona entdeckt. »Buongiorno, Signora Angela. Haben Sie den Schnee bestellt?«
»Guten Morgen, Nola«, antwortete Angela mit einem Lachen. »Nein, meine Schuld ist das nicht.«
»San Colombano, la neve in mano«, verkündete Stefano, der mit seiner Frau Orsolina ebenfalls in den Hof drängte. »Heute ist der 23. November, der heilige Colombano bringt häufig Schnee, das sagt schon das Sprichwort …«
»Aber doch nicht hier bei uns!« Nola blickte sich empört im Innenhof um.
Plötzlich riss der Himmel auf. Ein Sonnenstrahl brachte die Krone des Maulbeerbaums zum Glitzern, und einen Augenblick lang schien alle ein großes Staunen zu erfassen.
»Der taut bestimmt bald wieder«, meinte Stefano schließlich und begab sich mit den anderen in den Flügel der Seidenvilla, in dessen erster Etage sich die Weberei befand. In einer Viertelstunde würden sie wie immer montags die Wochenbesprechung abhalten. Doch einen Moment lang noch wollte Angela diesen außergewöhnlichen Morgen genießen.
Eine schmale Gestalt, fast vollständig in ein großes Wolltuch gehüllt, huschte in den Hof.
»Buongiorno, Fania«, begrüßte Angela ihre junge Haushälterin erfreut. »Ist das dein erster Schnee?«
Die achtzehnjährige Fania kam aus Sizilien, und nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, war auch sie von diesem Naturereignis völlig überrumpelt.
»Ja«, sagte sie und folgte Angela eilig in die Wohnung. »Haben Sie denn schon gefrühstückt?« Die junge Frau schälte sich aus ihrem Wolltuch und legte ihren leichten Mantel ab.
»Nein, noch nicht.«
In der Küche brodelte die Espressokanne, und Angela nahm sie vom Herd.
»Das hat mir meine Tante für Sie mitgegeben.« Fania ließ ein duftendes Maisbrötchen auf einen Teller gleiten. »Sie lässt Ihnen ausrichten, Sie sollen von ihrem selbst gemachten Quittengelee daraufstreichen.« Sie holte das Glas mit dem Gelee und Besteck aus einem der Schränke und richtete alles auf der Küchentheke an.
»Emilia meint es zu gut mit mir«, sagte Angela und nahm auf einem der Thekenstühle Platz. »Mmh«, sagte sie genießerisch, als sie das Maisbrötchen aufschnitt. »Das ist ja noch warm!«
»Zia Emilia hat es vorhin erst aus dem Ofen geholt. Wie geht es Nathalie? Wann soll noch mal das Kind kommen?«
Angelas Tochter war hochschwanger und lebte seit einigen Wochen in der kleinen Gästewohnung im Parterre der Seidenvilla.
»In zwei Wochen«, antwortete Angela und kämpfte die Nervosität nieder, die sie beim Gedanken an die bevorstehende Geburt regelmäßig befiel. Sie würde Großmutter werden mit ihren siebenundvierzig Jahren und freute sich unbändig auf ihr Enkelkind. Dabei gab es keinen Grund zur Sorge, bislang war die Schwangerschaft ihrer Tochter vollkommen problemlos verlaufen. »Ich hab Nathalie heute noch nicht gesehen.« Angela biss in das leckere Brötchen. Emilia hatte recht. Mit ihrem Quittengelee schmeckte das Maisbrötchen einfach fantastisch. »Wahrscheinlich schläft sie noch. Machst du uns bitte für die Mitarbeiterbesprechung eine große Kanne Kaffee und bringst sie hoch?«
»Con piacere, Signora Angela«, sagte Fania.
»Und dann ist gestern noch eine dringende Bestellung aus den USA eingegangen. Mrs. Whitehouse ist eine gute Freundin von Signora Tessa«, sagte Angela und zog den Ausdruck der E-Mail aus ihrem Ordner. »Eine Stola in Bordeauxrot. Es soll ein Weihnachtsgeschenk werden. Ich weiß, das ist kurzfristig«, wehrte sie die Unmutslaute ihrer Mitarbeiterinnen ab. »Aber da uns Mrs. Whitehouse einige neue Kundinnen vermittelt hat, möchte ich gern, dass wir das einschieben.«
»Die hat Nerven«, murrte Nola halblaut. »Wir haben schließlich schon Ende November. Kann sie sich nicht eines der fertigen Tücher aussuchen, die wir im Internet anbieten? Da gibt es doch so viele …«
»Aber keines in Bordeaux«, entgegnete Angela entschieden. »Haben wir von dieser Farbe noch ausreichend Seide im Lager, Orsolina?«
Die Färberin überlegte. »Ich denke schon. Wie groß soll die Stola denn werden?«
»Achtzig auf zwei Meter zwanzig«, antwortete Angela nach einem Blick in ihre Unterlagen. »Maddalena«, wandte sie sich an eine andere Weberin, »deine Kette ist schwarz, das passt gut zu diesem dunklen Rot. Beendest du heute nicht die Bestellung aus Paris? Dann könntest du danach gleich mit dem Tuch in Bordeaux beginnen, nicht wahr?«
»Ma certo.« Die Weberin mit den sanften braunen Augen arbeitete, wie Angela wusste, ausgesprochen gern für die amerikanischen Bekannten von Tess, die hier viele Jahre zuvor ihren Alterssitz in einer der schönsten Villen des Städtchens genommen hatte. Die freundliche alte Dame, die eigentlich Teresa hieß, von allen jedoch nur Tess oder Tessa genannt wurde, war die beste Freundin von Angelas Mutter gewesen. Und ohne sie wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet im Veneto diese Seidenweberei zu übernehmen. »Tessas Freundin soll ihr Weihnachtsgeschenk pünktlich bekommen«, schloss Maddalena.
»Danke.« Angela schenkte der Weberin ein Lächeln. Dann wurde sie ernst. »Ich wollte noch etwas anderes mit euch besprechen. In letzter Zeit häufen sich die Anfragen nach Modellkleidern.« Seit sie bei ihrer Verlobung mit Vittorio Fontarini, dem Erben eines der ältesten Adelsgeschlechter Venedigs, ein selbst entworfenes Kleid aus handgewobener Seide getragen hatte, konnte sie sich vor solchen Bestellungen nicht mehr retten. »Kennt jemand von euch eine richtig gute Schneiderin, die in der Lage ist, meine Entwürfe umzusetzen?« Sie sah in die Runde, doch keiner hatte einen Vorschlag.
»Ich kenne nur Eugenia«, sagte Nola. »Aber die ist Änderungsschneiderin. Unsere Seide würde ich ihr nicht in die Hand geben wollen.«
Angela seufzte. »Dann werde ich mal eine Zeitungsannonce …«
Ein entsetzlicher, lang gezogener Schrei erschütterte die Ruhe der Seidenvilla. Angela fuhr auf.
»Madonna«, flüsterte Orsolina. »Was war das denn?«
Ein weiterer Schrei ertönte. Nathalie! Der Schreck fuhr Angela durch alle Glieder. Sie sprang auf und rannte hinaus, die Treppe hinunter und in den Innenhof. So schnell sie konnte, durchquerte sie ihn. Nathalies kleines Reich lag der Werkstatt genau gegenüber. Sie riss die Tür auf und stürmte in das Zimmer ihrer Tochter.
»Sind es die Wehen?«, fragte Angela außer Atem. »Geht es los?«
Fania kam aus dem angrenzenden Badezimmer, auf ihrem Arm ein Handtuch.
»Die Fruchtblase ist geplatzt«, erklärte sie sanft und half Nathalie, das feuchte Nachthemd auszuziehen. Angela stellte fest, dass die junge Sizilianerin gefasster war als sie selbst. »Signora, Sie sollten mit ihr ins Krankenhaus …«
Doch Nathalie streckte ihren Rücken durch und stieß einen weiteren markerschütternden Schrei aus. »O mein Gott«, keuchte sie, als sie wieder zu Atem kam.
»Ich fahr den Wagen aus der Garage«, schlug Angela vor.
Doch Nathalie warf den Kopf in den Nacken und zog ihre Knie an. »Ich glaube«, stieß sie hervor, »dazu ist keine Zeit mehr.« Ihr Gesicht lief dunkelrot an.
»Lauf zu Dottore Spagulo«, wandte sich Angela an Fania. »Er soll sofort kommen.«
Fania nickte und rannte davon.
»So habe ich die Wehen nicht erwartet«, wimmerte Nathalie.
Der Schmerz hatte offenbar ein wenig nachgelassen, und Angela half ihrer Tochter, ein sauberes, weit geschnittenes Nachthemd anzuziehen, das vorne eine durchgängige Knopfleiste hatte.
»Erinnere dich daran, was du in der Geburtsvorbereitung gelernt hast«, versuchte Angela sie aus ihrer Panik zu holen. »Gleichmäßig atmen: durch die Nase ein, durch den Mund aus …«
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als erneut eine ungeheure Wehe durch Nathalies Körper lief.
»Atme«, rief Angela und bettete Nathalies Kopf auf ihren Schoß. »Atme mit mir! Tief ein. Und jetzt langsam wieder aus«, versuchte sie, ihrer Tochter zu helfen.
»Das tut so weh, Mami!«, jammerte Nathalie. »Die haben gesagt, dass das langsam anfängt, verdammt!«
»Darf ich?« Nola war unbemerkt eingetreten und musterte Nathalie, die ihren Schmerz ein weiteres Mal laut herausschrie, besorgt.
»Kennen Sie eine Hebamme?«, stieß Angela hervor.
Nola schien fieberhaft nachzudenken. »Eine Hebamme gibt es hier nicht, aber …«
»Wir brauchen mehr Kissen. Ihr Oberkörper muss höher gelagert werden.«
Hinter Nola entdeckte Angela Orsolina, die ihre Kommandos in den Hof hinausrief. Offenbar war die ganze Belegschaft vor der Tür versammelt.
»In meinem Schlafzimmer«, erklärte Angela. »Bringt alle, die ihr finden könnt.«
»Dottore Spagulo ist auf Hausbesuch«, keuchte Fania. So schnell, wie sie zurück war, musste sie wie um ihr Leben gerannt sein. »Sie versuchen, ihn zu erreichen, aber er geht nicht ran …«
»O Gott, was machen wir denn jetzt?«
»Wählt die Notfallnummer.«
»Das bringt doch nichts. Bis der pronto soccorso bei diesem Wetter hier ist …«
Erneut schrie Nathalie, dass es Angela angst und bang wurde. Dann lag sie einen Moment lang ganz still da.
»Es kommt!«, flüsterte sie mit vor Angst weit aufgerissenen Augen. »Mami, ich spüre es. O mein Gott!« Unwillkürlich begann sie zu pressen.
»Carmela«, rief Nola über das Stimmengewirr hinweg. »Schickt Maddalena, sie soll ihre Mutter herbringen. Sie ist die einzige …«
»Carmela?«
»Los, jetzt keine Diskussionen. Stefano, geh mit und trag die Alte notfalls her, damit es nicht so lange dauert. Und du.« Nola wandte sich an Fania. »Bring Wasser zum Kochen. Hol so viele saubere Handtücher, wie du finden kannst. Auch Leintücher. Und Waschlappen. Und Schüsseln. Anna, geh mit ihr und hilf ihr tragen.«
Dann öffnete Nola die Tür zum Badezimmer, warf einen prüfenden Blick hinein.
»Was tust du da, Nola?«, wimmerte Nathalie. »Was habt ihr vor?«
»Was wir vorhaben?« Die Weberin lächelte. »Wir bringen dein Baby auf die Welt. Was sonst?«
Es dauerte nicht lange, und ein Stapel Handtücher lag neben dem Bett bereit. Mithilfe der Kissen hatten sie Nathalies Oberkörper höher gebettet und zwischen ihren gespreizten Beinen ein richtiges Nest gebaut, für den Fall, dass es sich tatsächlich um eine Sturzgeburt handelte, was Nola vermutete. Außerdem standen zwei Schüsseln mit abgekochtem Wasser parat, und Nola und Angela hatten sich vorsorglich die Hände gründlich mit Seife gebürstet.
Mit einem Waschlappen wischte Angela ihrer Tochter gerade den Schweiß von der Stirn, als Schritte im Hof laut wurden und sie eine unverkennbar schnarrende Stimme hörten.
»Das ist Carmela«, sagte sie sanft zu ihrer Tochter, die sich erneut in Schmerzen wand. »Bist du einverstanden …?«
»Ja, verflixt«, schrie Nathalie. »Wenn sie mir helfen kann.«
Die Tür wurde geöffnet, und Carmela schleppte sich mithilfe von zwei Stöcken ins Zimmer. »Was machst du für Sachen, fanciulla?«, fragte sie ungewohnt sanft und schob Nola beiseite.
Sie strich Nathalie kurz übers Haar, legte ihre Hände behutsam auf ihren gewölbten Bauch und tastete ihn ab. Dann schob sie das Nachthemd hoch, holte ein kleines Fläschchen aus ihrer Schürzentasche und schraubte es auf.
»Was ist das?«, fragte Angela misstrauisch.
»Ach, nur ein bisschen Öl mit ein paar Kräutern«, gab Carmela zurück und verrieb das Öl zwischen ihren Händen. Ein herb-süßer Duft nach Rosmarin, Rosen, Lavendel und etwas undefinierbar Bitterem erfüllte den Raum, als Carmela vorsichtig Nathalies angespannten Bauch zu massieren begann. Diese atmete tief ein und wieder aus. Als sie sich jedoch erneut verspannte, schnalzte Carmela mit der Zunge. »Ruhig atmen«, kommandierte sie. »Ein! Aus! Ein! Und langsam aus. Und jetzt pressen! Aber weiteratmen. Pressen! Los, Nathalie, du kannst das, du tapferes Mädchen.« Ihre knochigen Hände wanderten über Nathalies Bauch und drückten hier und massierten dort. »Hier scheint es jemand eilig zu haben«, murmelte sie. »Gummihandschuhe wären gut«, schnarrte sie missbilligend in Nolas Richtung. »Habt ihr welche? Was ist mit dir, Orsolina? Trägst du keine Handschuhe beim Färben?«
Wie ein Pfeil schoss Orsolina davon, Angela hätte der Sechzigjährigen so viel Behändigkeit überhaupt nicht zugetraut. Im Nu war sie zurück und schwenkte ein originalverpacktes Paar Haushaltshandschuhe. Wieder schnalzte Carmela unzufrieden, dann nahm sie sie.
»Besser als nichts«, brummte sie, zog sie über und bat Nathalie, ihre Knie, die sie erneut angezogen hatte, weit zu öffnen.
»Bravissima«, lobte die Alte sie. »Ich kann schon das Köpfchen sehen. Jetzt musst du weitermachen, mein Kind. Atmen! Pressen! Und zwar mit dem Ausatmen. Ja! Schrei deinen Schmerz laut heraus«, feuerte Carmela Nathalie an. »Beim Ausatmen ein lautes Aaaaah!«
»Aaaaaah!«, brüllte Nathalie und presste, so fest sie konnte.
»Fantastico!«, rief Carmela heiser zurück. »Und noch einmal! Gleich hast du es geschafft!«
Angela kniete sich hinter ihre Tochter aufs Bett, hielt sie unter den Achseln und stützte sie mit ihrem Oberkörper. Sie konnte nicht sehen, was genau vor sich ging, doch so merkwürdig Carmela ihr auch sonst immer erschienen war – in diesem Moment fühlte sie ein riesiges Vertrauen zu der alten Frau. Sie zählte fünf Presswehen, dann sah sie, wie – begleitet von einem letzten lang gezogenen und vermutlich durch das ganze Städtchen gellenden Schrei – das Kind aus ihrer Tochter herausglitt.
»Eccolo«, sagte Carmela und fing das Kleine in einem großen Badetuch auf, in das sie es sogleich hüllte, als hätte sie nie etwas anderes getan. »Ein prächtiger Junge.« Mit einer Behutsamkeit, die Angela der alten Frau niemals zugetraut hätte, legte sie Nathalie das Neugeborene auf den Bauch. Wie im Traum sah Angela das kleine, verschmierte Gesichtchen mit den geschlossenen Augen, die winzigen Hände, die sich öffneten und wieder schlossen. Die blaue Nabelschnur schlängelte sich über Nathalies Bauch. Noch waren Mutter und Kind miteinander verbunden. Ein feiner Laut wie von einem Kätzchen und schmatzende Laute waren zu hören. »Che bel ragazzo«, gurrte Carmela sanft. »Vielleicht will er trinken?«
Nathalie starrte auf ihr Kind und schien es nicht begreifen zu können. Angela half ihr, das Neugeborene anzulegen, und nach einigem Tasten und Suchen schlossen sich die herzförmigen Lippen um die Brustwarze und begannen heftig zu saugen. Ihre Tochter hob den Blick. In ihren Augen las sie schieres Glück. Angela lachte und schluchzte gleichzeitig und musste sich ein paar Tränen abwischen, die sie vorher überhaupt nicht bemerkt hatte.
Die Tür wurde aufgerissen, und Dottore Spagulo stürmte herein, seinen Arztkoffer fest umklammert. Als er die Szene im Bett sah, stockte er, und sein Gesichtsausdruck wechselte von Fassungslosigkeit zu Erleichterung.
»Meine Frau hat mich angerufen«, erklärte er. »Als ich gehört habe, was los ist, bin ich sofort ins Auto gesprungen und so schnell wie möglich …«
»Sie waren trotzdem zu langsam, Dottore. Das Beste haben Sie verpasst«, höhnte Carmela und war wieder ganz die Alte. »Aber wenn Sie nach Mutter und Kind sehen wollen – da kommen Sie gerade richtig.«
Nathalie schlief erschöpft, ihr Kind in der Armbeuge. Angela und Tess, die natürlich längst von dem Ereignis erfahren hatte, wurden nicht müde, die beiden zu betrachten. Dottore Spagulo hatte das Neugeborene abgenabelt und untersucht. Und obwohl er weder bei dem Kleinen noch bei Nathalie irgendwelche Auffälligkeiten hatte feststellen können, waren sie auf sein Anraten hin vorsorglich zur Klinik gefahren, nachdem die Nachgeburt abgegangen war und Nathalie sich dazu in der Lage gefühlt hatte. Dort hatte man Mutter und Kind gründlich untersucht und alles in bester Ordnung gefunden. Dass die Geburt so rasant verlaufen war, dafür hatte die Gynäkologin keine Erklärung gehabt. »Succede«, war ihr einziger Kommentar gewesen: So was kommt vor.
Jetzt hatte Angela ihre Wohnzimmercouch in ein bequemes Bett verwandelt, und nachdem sie Nathalies Zimmer wieder in Ordnung gebracht hatte, schlich Fania leise um sie herum. Doch die Ruhe währte nicht lang. Mit einem Quäken, dem ein herzzerreißendes Geschrei folgte, meldete sich das Neugeborene.
»Willkommen im Mutterglück«, versuchte Angela ihre Tochter aufzumuntern, die sich stöhnend die Augen rieb.
»Was hat er denn?«
»Ich schätze, Hunger.«
»Gute Idee.« Nathalie seufzte. »Ich könnte auch etwas vertragen!«
Es war der Auftakt für einige Geschäftigkeit. Während Fania rasch das Mittagessen aufwärmte, an dem bislang noch niemand Interesse gezeigt hatte, half Angela ihrer Tochter, eine bequeme Position fürs Stillen zu finden und das Kind anzulegen. Und gerade, als der Kleine gierig nuckelte und Tess mit Fanias Hilfe ihren Sessel näher herangeschoben hatte, wurde die Tür aufgestoßen, und ein hagerer alter Mann kam hereingepoltert.
»Was hab ich gehört?«, rief er und ruckte mit seinem Kopf nach vorne, was ihm das Aussehen eines Raubvogels verlieh. »Das Kind ist da? Wieso muss ich das von fremden Leuten erfahren?« Zornig blitzte er Angela an. »Und die alte Vettel Carmela war dabei?«
»Carmela hat uns wahnsinnig geholfen«, erklärte Angela. »Ohne sie … Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre.«
Wenn sie gehofft hatte, das würde den Alten besänftigen, dann hatte sie sich getäuscht. Zu spät erinnerte sie sich daran, dass sich die beiden ständig in den Haaren lagen.
»Was hatte Carmela hier zu suchen?«, rief er und stampfte mit dem Fuß auf.
»Gib Ruhe, Lorenzo«, mahnte Tess und wies auf das Neugeborene, das zu saugen aufgehört hatte und jämmerlich zu quäken begann. »Schrei hier gefälligst nicht so rum! Sieh nur, du hast ihn erschreckt!«
Jetzt erst schien Lorenzo Rivalecca Nathalie und das Baby auf dem Sofa wahrzunehmen. Auf der Stelle wurde seine Miene weich.
»Wirklich? Das wollte ich nicht.«
Nathalie strahlte Lorenzo liebevoll an. Dass dieser alte Kauz Angelas Vater war und somit der Urgroßvater von ihrem Baby, sollte ein Geheimnis bleiben, in das außer ihnen nur Tess eingeweiht war. Tess und Angelas Mutter Rita waren vor fast fünfzig Jahren als Erntehelferinnen im Veneto gewesen, und bei dieser Gelegenheit hatte sich Rita in Lorenzo verliebt. Lorenzo behauptete heute noch, sie sei die Liebe seines Lebens gewesen, doch nach einem heftigen Streit hatten die beiden sich getrennt. Wieder in Deutschland hatte Rita festgestellt, dass sie schwanger war. Statt ihren Stolz zu überwinden und nach Italien zurückzukehren, hatte sie einen alten Verehrer geheiratet und Tess das Versprechen abgenommen, Angela niemals zu erzählen, wer ihr leiblicher Vater war. Erst als Angela im vergangenen Jahr Lorenzo Rivalecca die Seidenvilla abgekauft hatte, war dieses Geheimnis gelüftet worden. Aus Rücksicht auf die Familie jener Frau, die Lorenzo nach Ritas Verschwinden schließlich geheiratet hatte, schwiegen sie über ihre verwandtschaftlichen Verhältnisse. Lela Sartori, die frühere Besitzerin der Seidenvilla, war inzwischen ebenfalls verstorben. Und mit einem vielsagenden Blick auf Fania, die Nathalie gerade einen Teller mit selbst gemachten Ravioli brachte, erinnerte Angela ihren Vater daran, nicht ausgerechnet jetzt damit herauszuplatzen.
»Ich hoffe, du nennst ihn Lorenzo«, sagte der Alte mit gerührtem Blick auf das kleine Menschenwesen, das inzwischen weitertrank.
Nathalie schüttelte den Kopf. »Er heißt Peter«, sagte sie und angelte sich mit der Gabel ein paar Ravioli. »So wie mein Papa. Aber der zweite Name ist noch verhandelbar.« Lorenzo ließ sich aufs Fußende des Sofas fallen, sodass Nathalie rasch die Beine anziehen musste, damit er nicht auf ihnen landete. Der kleine Peter hatte aufgehört zu trinken und schien seinen Urgroßvater interessiert zu betrachten. »Willst du ihn mal halten?«, fragte Nathalie.
Sie nahm ihr Baby hoch und klopfte ihm sanft auf den Rücken, worauf es ein Rülpsen hören ließ. Dann streckte sie es dem Alten entgegen.
Der hob abwehrend die Hände. »No grazie«, rief er erschrocken. »Am Ende spuckt er mir noch aufs Hemd!«
Nathalie lachte, kurz darauf verzog sie schmerzhaft das Gesicht. »Verdammt«, stieß sie stöhnend aus und hielt sich den Unterleib. »Wie lange tut das noch so weh?«
»Ach, nicht mehr lange«, versprach Angela.
Einmal mehr staunte sie darüber, wie sehr ihre Tochter nach Lorenzo geraten war. Zwar sah man die Ähnlichkeit erst auf den zweiten oder dritten Blick, denn Nathalie war mit ihren zwanzig Jahren und den langen kastanienbraunen Haaren eine wunderschöne junge Frau. Lorenzo dagegen glich nicht nur wegen seines hohen Alters, sondern auch aufgrund seines nörglerischen Charakters mehr einem zerzausten Habicht. Und doch hatten beide diese faszinierenden dunkelgrünen Augen, und in entspannten Momenten des Glücks, so wie gerade jetzt, ahnte man, dass Lorenzo Rivalecca einmal ein ausnehmend gut aussehender Mann gewesen war.
»Peter Lorenzo … und wie weiter?« Rivalecca betrachtete seine Enkelin aus listigen Augen.
»Steeger natürlich«, gab Nathalie zurück.
»Pietro Lorenzo Rivalecca wäre auch hübsch«, wandte der Alte leise ein, während seine Habichtsäuglein Fania in die Küche folgten.
»Wieso?«, fragte seine Enkelin grinsend. »Hast du vor, mich zu heiraten?«
Alle lachten, nur Lorenzo Rivalecca nicht. »Nein, du dummes Mädchen«, erwiderte er grollend. »Aber ich könnte deine Mutter adoptieren.«
»Wozu sollte das gut sein?«, erkundigte sich Angela. Sie begriff langsam, dass es ihrem Vater ernst war, während Nathalie noch immer in sich hineinkicherte. »Wir sind trotzdem eine Familie«, sagte sie leise und legte dem Alten die Hand auf den Arm.
»Ach was, Firlefanz«, gab er schroff zurück und schüttelte sie ab.
Angela atmete auf. Das war wieder der alte Rivalecca, den sie selbst in Gedanken noch immer nicht Vater nennen konnte. Fünfundvierzig Jahre ihres Lebens hatte ein anderer Mann diese Rolle für sie ausgefüllt, auch wenn er bereits kurz nach ihrem zehnten Geburtstag gestorben war. Angela seufzte. Sie hatte bis heute Mühe zu verstehen, warum ihre Mutter ihr nie die Wahrheit gesagt hatte. Was sie daran erinnerte, dass der Vater des kleinen Peter ebenfalls nicht ahnte, dass er einen Sohn hatte.
»Dann … ist also alles dran an diesem kleinen Mann?«, fragte Rivalecca gerade und wies auf das Baby.
»Alles dran, was dran sein muss«, antwortete Nathalie ernst. Ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Willst du dich selbst davon überzeugen?« Sie machte Anstalten, sich zu erheben. »Komm, hilf mir mal beim Wickeln!«
»Nonononono«, wehrte sich Rivalecca erneut energisch und fuchtelte mit seinen langen, dürren Händen abwehrend vor seiner Brust herum. »Das sind affari di donne. Frauensachen. Damit hab ich nichts zu tun.«
Er war vom Sofa aufgesprungen. Auch Nathalie erhob sich schwerfällig, das Kind auf dem Arm.
»Du hast noch gar nicht gesagt, wie du ihn findest«, sagte sie und hielt ihrem Großvater ihr Baby hin. »Ist er nicht wunderschön?«
Rivalecca starrte in das kleine, noch ein wenig runzelige, fleckige Gesicht.
»Na ja, ich weiß nicht«, erwiderte er schließlich. »Wunderschön würde ich das nicht gerade nennen. Aber es ist schon … na ja … ein verdammtes Wunder. Oder nicht?«
Dann tat er etwas, das noch nie vorgekommen war. Er küsste Nathalie auf den Scheitel. Und zwar so flüchtig, dass Angela es nicht mitbekommen hätte, hätte sie in diesem Moment auch nur geblinzelt.
Angela hielt das Baby auf ihrem Arm, solange Nathalie duschte und anschließend einen weiteren großen Teller mit Ravioli verdrückte. Der verschlafene Blick des kleinen Jungen blieb immer wieder an ihrem Gesicht hängen. Sie hörte sich zärtliche Worte sagen und musste sich schwer zusammenreißen, um ihren Enkel nicht andauernd abzuküssen. Das Gefühl einer ganz neuen Art von Liebe und Dankbarkeit füllte sie so vollständig aus, dass sie mitunter das Gefühl hatte zu platzen. Doch es dauerte nicht lange, und die Miene des Kleinen verzog sich wie unter großen Schmerzen. Er stieß jämmerliche Laute aus, gefolgt von einem durchdringenden Schreien.
»Ich komme ja schon!« Nathalie stöhnte und stopfte sich die letzte Nudeltasche in den Mund. »Das geht jetzt vierundzwanzig Stunden so, oder?«
»So ist es, mein Schatz.« Angela erhob sich. »Ich geh noch mal rüber in die Weberei. Fania, ist Prosecco im Kühlschrank?«
»Ich hab vorsorglich mal fünf Flaschen kalt gestellt«, war die Antwort.
»Wie vorausschauend!« Tess hatte sich grinsend zu ihnen gesellt. »Man merkt, dass du die Nichte meiner Emilia bist.« Unter diesem Lob wurde Fania rot vor Stolz. »Ich bleib so lange bei deiner Tochter.« Die zierliche alte Dame legte ihre Arme um Angela und zog sie liebevoll an sich.
Worte waren nicht notwendig, sie verstanden sich auch so.
»Wie soll das Kind denn heißen?«
Angela hatte eine kleine Rede gehalten und ihren Mitarbeitern von Herzen für ihren Einsatz gedankt. Sie hatten einen Toast auf Nathalie und den Kleinen ausgesprochen und ihre Gläser erhoben. Jetzt schien vor allem die Frauen nichts mehr zu bewegen als diese Frage.
»Ich meine«, warf Stefano ein, »der Junge ist am Tag des heiligen Colombano geboren, dazu noch an einem Tag mit Schnee. Colombano ist vielleicht ein etwas seltener Name, aber …«
»Du musst verrückt geworden sein«, schnarrte Carmela, die zu Angelas Freude auch in der Weberei saß, die Arme über den beiden Stöcken vor sich verschränkt. »Kein vernünftiger Mensch würde heutzutage sein Kind nach einem irischen Mönch nennen, der zudem der Schutzheilige der Motorradfahrer ist …«
»Nein, das geht gar nicht«, rief Fioretta, und Anna pflichtete ihr bei.
»Kommt überhaupt nicht infrage«, versicherte auch Nola, und Orsolina gab ihrem Mann einen liebevollen Knuff.
»Nathalie will ihren Sohn nach ihrem Vater Peter nennen«, verkündete Angela, als endlich Ruhe eingekehrt war.
»Peter?« Orsolina wirkte ratlos. »Ach, Sie meinen Pietro.«
»Nun ja«, bemerkte Angela amüsiert. »Das ist die italienische Version.«
Sie sah die leeren Gläser und schenkte allen noch einmal nach. Anschließend würde sie ihren Mitarbeitern für den Rest des Tages freigeben.
»Dann wollen wir unsere Gläser ein zweites Mal erheben«, schlug Nicola vor, der erst einige Wochen zuvor aus Neapel zu ihnen gestoßen war. »Auf Pietrino und seine wunderschöne Mutter!«
»Alla salute di Pietrino e sua bellissima madre«, fielen die anderen mit ein.
Nur Anna schwieg und warf dem attraktiven Kollegen einen waidwunden Blick zu. Jeder wusste, dass sie bis über beide Ohren verliebt in ihn war. Jeder. Nur Nicola schien das nicht zu bemerken.
»Ich hoffe, du bist mir nicht böse.« Tess wirkte schuldbewusst, als Angela in ihre Wohnung zurückkehrte.
»Mami ist dir ganz bestimmt nicht böse.« Nathalie lag erschöpft auf dem Sofa, das Kind an ihrer Brust. »Fania hat angeboten, die nächsten paar Wochen bei mir und dem Kleinen zu bleiben. Und mir zu helfen …«
»So wie ich es bei meiner Schwester getan habe«, fiel Fania ein. »Rosina hat vor zwei Jahren ein kleines Mädchen bekommen. Ich war bei ihr und hab getan, was getan werden musste: Windeln wechseln, wenn sie zu müde dazu war. Das Kleine bringen, wenn es Hunger hatte. Es baden und später, als es ein bisschen größer war, spazieren fahren, wenn meine Schwester zu erschöpft dazu war. Bei uns in der Familie ist das ganz normal.« Fanias Augen leuchteten. »Und … ich würde das schrecklich gern auch jetzt machen«, fügte sie hinzu. »Natürlich nur, wenn Sie es erlauben.«
»Aber dazu ist mein Zimmer hier zu klein«, erklärte Nathalie. »Und da hat Tess angeboten, wir könnten zu ihr ziehen …«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Angela mit fester Stimme.
Sicherlich. Am allerliebsten hätte sie ihre Tochter die ganze Zeit um sich gehabt. Nur auf Dauer würde Nathalie mit dem Baby kaum in ihrem Wohnzimmer kampieren können. Sie durfte nicht egoistisch sein.
»Der Gästetrakt im Turm ist ideal«, fügte Tess leise hinzu.
Angela kannte ihre Freundin gut genug, um zu begreifen, warum sie ein schlechtes Gewissen hatte. Dabei wollte sie ja nur helfen.
»Du hast vollkommen recht.« Sie dachte an die beiden geräumigen, miteinander verbundenen Zimmer und das Bad in der Villa Serena. Und an die fantastische Aussicht, die man vom Turm aus hatte. »Das ist das Beste«, schloss sie. »Macht euch bloß um mich keine Gedanken. Ich bin schließlich in fünf Minuten bei euch. Das Einzige, was zählt, ist, dass es dir und Peter gut geht. Wann wollt ihr umziehen?«
»Morgen«, sagte Nathalie, der die Augen schon wieder zufielen. »Gleich nachdem wir den Kleinen im Rathaus angemeldet haben. Tess hat mich daran erinnert …«
»Das ist eine reine Formsache«, warf Tess ein. »Ich geh mit dir und sorge dafür, dass alles seine Richtigkeit hat.«
Der kleine Peter war übers Trinken eingeschlafen. Geschickt nahm Fania ihn Nathalie aus dem Arm und wiegte ihn, bis er sein Bäuerchen machte. Dann legte sie ihn in den hübschen Stubenwagen, den sie und Tess wohl aus Nathalies Zimmer geholt hatten.
»Morgen also«, wiederholte Angela und stand auf.
Auch sie war auf einmal schrecklich erschöpft. Was für ein Tag! Am Morgen war Schnee gefallen. Und wenig später war ihr Enkelsohn auf die Welt gepurzelt.
»Aber …« Fania stand vor ihr und schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. »Wer kümmert sich um Sie, Signora? Meine Tante wird nicht damit zufrieden sein.«
»Dann komm einfach zwei Stunden täglich rüber, und erledige das Nötigste im Haushalt«, schlug Angela vor.
»Genau. Und zu den Mahlzeiten kommst du einfach zu uns, Angela«, sagte Tess und erhob sich. »Ich habe dir das ja schon hundertmal angeboten. Jetzt, da ich Tochter und Enkel als Unterpfand habe …« Sie grinste, und Angela lächelte zurück.
»So ist es. Das geht in Ordnung, Fania. Außerdem ist es ja nicht für immer. Danke, dass du dich um die beiden kümmern willst.«
Ruhe kehrte ein, Nathalie und der Kleine schliefen tief und fest. Obwohl es gerade mal sechs Uhr abends war, zog Angela sich in ihr Schlafzimmer zurück, wusste sie doch nur zu gut, wie kurz diese Phasen der Erholung für eine junge Mutter waren. Wie beruhigend, dass Fania nach den beiden sehen will, dachte sie, während sie Vittorios Nummer wählte.
»Ciao, bellissima«, grüßte er sie gut gelaunt. »Ich bin gerade am Flughafen. Was hältst du davon, wenn ich noch zu dir komme?«
»Das wäre wunderbar!« Angela holte tief Luft. »Ich meine, vorausgesetzt, es macht dir nichts aus, die Nacht mit einer Großmutter zu verbringen.«
Kurz war es still in der Leitung.
»Nein! Das Kind ist schon da? Aber es sollte doch …«
»Ja, das dachten wir alle. Und dann war es innerhalb einer Stunde geboren. Es hat uns völlig überrumpelt.«
»Dio mio! Geht es den beiden … Ich meine, ist alles gut gegangen?« Seine Stimme klang überaus besorgt.
»Alles bestens«, antwortete Angela und fühlte erneut die Erleichterung, die sie spätestens nach den Untersuchungen in der Klinik verspürt hatte. »Mutter und Kind sind wohlauf. Ich sag dir, das war vielleicht eine Aufregung!«
»Kann ich mir vorstellen. Das heißt: Nein, ich kann es mir überhaupt nicht vorstellen. Du musst mir das ganz genau erzählen. Wo sind sie jetzt, Nathalie und ihr Baby?«
»In meinem Wohnzimmer.« Angela hörte Vittorio leise lachen, und sie liebte ihn dafür. »Also komm am besten durch die Gästewohnung herein, damit du sie nicht störst.«
Eine Stunde später hörte sie ihn leise auf der Treppe, die von der Gästewohnung zu ihr heraufführte. Sie öffnete die Tür, und im nächsten Moment lag sie in seinen Armen. Wie jedes Mal, wenn sie sich ein paar Tage nicht gesehen hatten, denn Vittorio lebte und arbeitete in Venedig, küssten sie sich leidenschaftlich.
»Du bist mit Sicherheit die schönste Großmutter der ganzen Welt«, flüsterte er, als sie sich voneinander lösten. »Auguri! Herzlichen Glückwunsch. Ich habe übrigens ganz vergessen zu fragen, was es ist.«
»Ein Junge«, antwortete Angela. »Nathalie will ihn nach ihrem Vater nennen. Aber ich fürchte, hier wird im Nu Pietrino daraus.«
Vittorio lachte, und Angela verliebte sich einmal mehr in seine funkelnden dunkelbraunen Augen, die blitzend weißen Zähne und die Grübchen an seinen Mundwinkeln. Sein volles, mit silbernen Fäden durchzogenes Haar hatte er wie immer locker aus der Stirn gekämmt. Jetzt kringelten sich einige Locken auf seiner Stirn, und sie strich sie zärtlich beiseite.
»Ich will alles ganz genau wissen«, sagte er und zog eine Flasche Wein aus seiner warmen Steppjacke. »Da ich nicht sicher war, ob wir Zugang zu deiner Küche haben, hab ich unterwegs noch ein bisschen eingekauft.« Aus der Brusttasche seines Anoraks zauberte er einen Korkenzieher hervor.
»Grandios!« Angela lachte. »In der Sommerküche im Erdgeschoss finden wir Gläser und sicherlich auch noch eine Packung Kräcker oder Nüsse. Bist du hungrig?«
Statt einer Antwort versenkte Vittorio erneut seine Hand in der Jackentasche und förderte zwei abgepackte panini hervor.
»Ecco«, sagte er mit einem Grinsen. »Prosciutto für mich und formaggio für dich – so wie immer. Provolone. Va bene?«
»Du bist einfach großartig«, brachte Angela gerührt hervor und fiel Vittorio erneut um den Hals.
Als sie es sich im Bett gemütlich gemacht hatten, erzählte sie ihm von diesem denkwürdigen Vormittag. Vittorio vergaß, in sein panino zu beißen, und lauschte mit offenem Mund, als sie die letzten Minuten vor der Geburt beschrieb.
»Madre mia«, sagte er beeindruckt, als sie geendet hatte. »Das arme Mädchen. Aber vielleicht ist es besser, als vierundzwanzig Stunden lang im Kreißsaal zu liegen. Keine Ahnung. Wir Männer dürfen uns über solche Dinge kein Urteil erlauben.«
»Zum Glück kam Carmela«, fuhr Angela fort und nahm einen Schluck von dem Wein. »Sie brachte plötzlich eine solche Ruhe und Sicherheit in den Raum.« Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. »Dabei hätte ich ihr das überhaupt nicht zugetraut.«
»Warum nicht?«
»Sie ist so … so kratzbürstig und irgendwie unberechenbar«, versuchte Angela zu erklären. Aber stimmte das denn?
»Menschen in ihrem Alter haben einiges hinter sich«, meinte Vittorio nachsichtig. »Wer weiß, was sie so kratzbürstig hat werden lassen.«
»Du hast recht«, sagte sie und kuschelte sich an ihn.
»Na ja, mit schwierigen älteren Damen hab ich so meine Erfahrungen«, grinste er.
Sie blickte auf. Etwas in seiner Stimme hatte sie hellhörig gemacht.
»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte sie ihn.
»Ich hab sie vorhin zum Flughafen gebracht«, antwortete er.
»Fliegt sie nach Rom zu ihrem Bruder?«
»Nein, nach New York.«
Angela richtete sich wieder auf. »Nach New York? Ich dachte, sie verachtet die Amerikaner?«
Vittorio lachte. »Sie will Amadeo besuchen«, erklärte er. »Sie sagt, sie habe ihren Enkel schon viel zu lange nicht mehr gesehen.«
Amadeo war Vittorios Sohn aus erster Ehe. Angela hatte den jungen Mann noch nicht kennengelernt. Warum trat Costanza ausgerechnet jetzt die weite Reise an?
»Und du glaubst, das ist der einzige Grund?«
Er zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter ist mir ein Buch mit sieben Siegeln«, sagte er schließlich. »Das weiß niemand besser als du. Aber jetzt lass uns nicht mehr über sie sprechen«, schlug er vor und zog Angela in seine Arme. »Ich bin gespannt, wann mein Sohn mich zum Großvater macht.«
»Hast du denn gar keine Sehnsucht nach ihm?«
Vittorio zögerte mit seiner Antwort. »Doch, natürlich schon«, erwiderte er am Ende. »Ich kann mich allerdings noch gut daran erinnern, als ich in seinem Alter war. Da wollte ich nur eines: weg von zu Hause, und zwar so weit wie möglich. Und deshalb lasse ich ihm seine Freiheit. Mir ist lieber, er kommt zurück, weil er Sehnsucht nach mir hat, und nicht umgekehrt.«
Wie vernünftig er ist, dachte Angela. Und war erleichtert, dass sie und Nathalie sich so gut verstanden.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll!« Tiziana sah Angela aus ihren wunderschönen, riesengroßen Augen, in denen Tränen schimmerten, an. »Du glaubst nicht, wie sehr ich dich und Vittorio beneide. Seit eurer Verlobung hat Costanza sich wohl damit abgefunden, dass ihr heiraten werdet, vero? Nun schau dir mal meine Eltern an!« Die junge Architektin beugte sich vor. »Sie haben mir den Krieg erklärt. Sie wollen, dass ich die Verlobung mit Solomon löse.«
»Du bist ein erwachsener Mensch«, wandte Angela ein, »und kannst heiraten, wen immer du willst.«
»Du hast recht.« Tiziana seufzte. »Aber leider nur theoretisch.« Schon wieder liefen die Tränen. »Wenn ich nur nicht so ein Familienmensch wäre. Allein der Gedanke, nie mehr nach Hause gehen zu können, meinen Vater nicht mehr zu sehen …« Die Stimme versagte ihr.
»Natürlich«, murmelte Angela. »Das wäre schrecklich.«
Im Grunde wusste sie nicht, was sie Tiziana raten sollte. Die junge Architektin hatte sich heimlich mit einem hinreißenden New Yorker Anwalt verlobt, einem Amerikaner jüdischer Abstammung, was Tizianas Eltern einfach nicht akzeptieren wollten. Auch Angela hätten die Intrigen von Vittorios Mutter fast um den Verstand gebracht. Denn ihr Lebensgefährte entstammte genau wie Tiziana einem uralten italienischen Adelsgeschlecht. Die Fontarini hatten bereits im 11. Jahrhundert Venedigs Stadtoberhäupter gestellt, die sogenannten Dogen. Und Tizianas Familie war sogar noch älter. Zum Glück interessierte Vittorio das alles kein bisschen. Der alte Adel war in Italien schon seit vielen Jahren offiziell abgeschafft worden, nur innerhalb ihrer eigenen Zirkel legten die Nachkommen von Fürsten und Herzögen heute noch Wert auf die Titel und die alten Traditionen. Außerdem achteten sie streng darauf, nur innerhalb ihrer Kreise zu heiraten.
Vittorios Mutter hatte alles dafür getan, ihre Beziehung zu zerstören. Es war ihr nicht gelungen, und heute trug Angela den Ring mit dem kostbaren Rubin an ihrem Finger, der seit Jahrhunderten den Verlobten und Ehefrauen des Erben der jüngsten Generation vorbehalten war. Wenn Tiziana jedoch glaubte, die Principessa Costanza Fontarini hätte sie als künftige Schwiegertochter inzwischen akzeptiert, so war Angela nach wie vor auf der Hut.
Zum Glück hatte sich Vittorio mittlerweile dem Einfluss seiner Mutter fast völlig entzogen, doch Tiziana fiel das, obwohl sie schon fünfunddreißig Jahre alt war, offenbar schwerer. Wie sie so auf ihrem Sofa saß, die langen Beine unter sich gezogen und trotz der verweinten Augen schön wie ein Topmodel, tat sie Angela aufrichtig leid.
»Möchtest du Nathalie besuchen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
»Oh, ja, con piacere! Wo ist sie denn?«
»Sie ist mit Fania in die Villa Serena umgezogen«, erzählte Angela, während sie sich erhoben. »Meine Haushälterin hat sich als fantastisches Kindermädchen entpuppt.« Es war eine wahre Freude, die beiden jungen Frauen und das Kind zu besuchen, was Angela täglich und manchmal sogar mehrmals tat. Ihre Tochter hatte sich in den vergangenen zehn Tagen gut erholt, obwohl Pietrino jede Stunde gestillt werden wollte. »Bei Tess ist genügend Platz, sie haben ein ganzes Stockwerk für sich«, erklärte sie Tiziana, als sie die Seidenvilla verließen und die Straße in Richtung Piazza della Libertà hinaufgingen.
Die Altstadt erstrahlte in weihnachtlichem Schmuck. Über den Straßen hatte man große Metallgestänge in Form von Sternen und Rentieren angebracht, an denen viele Glühkörper befestigt waren. Dabei war es für Angelas Geschmack inzwischen wieder viel zu mild, um vorweihnachtliche Gefühle aufkommen zu lassen. Vor der Bar des Hotel Duse hatte sich wie immer um diese Zeit kurz vor dem Abendessen eine Gruppe Menschen versammelt, die mit einem Aperitif in der Hand die Neuigkeiten austauschten. Angela winkte kurz Fausto zu, dem barista der Bar des Hotel Duse, dann bogen sie in die steile Gasse ein, die zu Tess’ Villa führte.
Sie klingelten an dem schmiedeeisernen Tor, und als es sich mit einem Summen öffnete, musste Angela an das allererste Mal denken, als sie hier für einen Kurzurlaub, wie sie damals geglaubt hatte, angekommen war. Nachdem sie ihren todkranken Mann zwei Jahre lang gepflegt hatte, war sie völlig erschöpft gewesen. Die alten Rosen im Vorgarten trugen immer noch ein paar prächtige Blüten. Der Schnee am Tag von Pietrinos Geburt war nur wenige Stunden liegen geblieben. Nun schien in diesen ersten Tagen des Dezembers wieder die Sonne, als wollte sie den Winter überspringen und direkt mit dem Frühling beginnen.
»Dieses Städtchen steckt voller Überraschungen«, sagte Tiziana gerade und betrachtete mit dem geschulten Auge einer Architektin die Villa Serena. »In der Mitte – das muss ein alter Wehrturm sein«, sagte sie erstaunt. »Die Villa hat man später um ihn herumgebaut, vero?«
»Ganz genau. Letztes Jahr haben wir hier ein wenig saniert.« Angela wies auf die praktische und gleichzeitig elegante Rampe aus Naturstein, die statt der früheren Stufen nun ebenerdig in das Foyer der Villa führte. »Tess musste ihr Knie operieren lassen, und wir haben das zum Anlass genommen, die Villa altersgerecht umzubauen. Seitdem das Gebäude einen Fahrstuhl hat, muss Tess nicht mehr so viele Treppen steigen. Sie liebt den Turm, dort hält sie sich meistens auf. Außerdem habe ich die Bäder erneuern lassen und so manches mehr.«
»Du hast den Umbau geleitet?« Tiziana schien sie mit ganz neuen Augen zu betrachten.
»Na ja, mithilfe eines hier ansässigen Architekten«, antwortete Angela.
»Dennoch ist so was keine Kleinigkeit«, bemerkte Tiziana. »Die Rampe sieht toll aus. Modern, und doch fügt sie sich perfekt in die historische Architektur ein. Hast du sie entworfen?«
Angela nickte, nicht ohne Stolz.
»In meinem vorigen Leben, wenn man das so sagen darf, habe ich in der Baufirma meines verstorbenen Mannes mitgearbeitet. Deshalb war das nicht so schwierig für mich.«
»Das wusste ich gar nicht … Ich meine, dass du schon einmal verheiratet warst …« Tiziana sah sie mitfühlend an. »Genau wie Vittorio«, fügte sie leise hinzu. »Es war ja so furchtbar, als Sofia diesen Unfall hatte.«
Darauf wusste Angela nichts zu sagen. Sie standen vor der Villa in der Sonne, in den Bäumen zwitscherten die Vögel. Die uralte Zeder, die ihre Zweige über einen Teil des Daches spannte, duftete, und auf einmal schien die Zeit stillzustehen. In diesem Augenblick erkannte Angela einmal mehr, wie gut das Leben, das sie nach dem Schicksalsschlag hierhergeführt und mit einer neuen Liebe beschenkt hatte, es mit ihr meinte. Das Leben geht weiter, hatte Peter kurz vor seinem Tod zu ihr gesagt. Und jetzt hatte ihre Tochter einen kleinen Jungen namens Peter geboren …
»Kommt endlich rein!«
Tess stand in der offenen Haustür und empfing sie mit einem Strahlen. Ihr silbergraues Haar, zu einem kurzen Bob geschnitten, schimmerte in der Wintersonne, ihre kobaltblauen Augen funkelten vor Freude.
»Ich hab euch vom Fenster aus gesehen. Ihr kommt genau richtig zum Abendessen! Was für eine schöne Überraschung, Tiziana! Ich wusste gar nicht, dass du in Asenza bist.«
»Ich hab mir endlich die Seidenvilla angeschaut.« Tiziana begrüßte Tess mit den in Italien üblichen Küsschen auf beide Wangen. Sie kannte die alte Dame von jener denkwürdigen Geburtstagsfeier der Principessa Costanza Fontarini, als ihre heimliche Verlobung mit Solomon Goldstein öffentlich gemacht worden war. Ein Riesenskandal, von dem sich ihre Familie offenbar noch immer nicht erholt hatte. »Wir kommen doch nicht ungelegen?«, erkundigte sich Tiziana verlegen. »Normalerweise platze ich nicht unangemeldet zum Abendessen herein …«
»Papperlapapp«, meinte Tess nur und bat sie einzutreten. »Emilia«, rief sie dann, und sogleich wurde eine Tür geöffnet, aus der ein köstlicher Duft nach gebackenem Fleisch und Rosmarin strömte. »Wir haben zwei weitere Gäste«, erklärte sie der rundlichen Haushälterin, deren Gesicht vor Freude erstrahlte.
»Benissimo«, rief sie. »Signora Angela, ich hatte heute direkt so ein Gefühl, dass Sie noch mal vorbeischauen würden. Deshalb hab ich gleich eine ganze Keule in den Ofen geschoben. Benvenuta, Signorina«, fügte sie herzlich an Tiziana gerichtet hinzu. »Ich hoffe, Sie mögen Lamm?«
»Für mein Leben gern!«
»Perfetto. Aber jetzt muss ich nach dem Essen sehen.« Und schon verschwand sie wieder in der Küche.
»Was für eine herzliche Frau!« Tiziana war sichtlich überwältigt von dem freundlichen Empfang. »Wie machst du das, Tessa? Meine Mutter hat stets nur griesgrämige und unfähige Hausangestellte.«
»Nun ja«, konnte sich die Gastgeberin mit einem kleinen Grinsen nicht verkneifen zu sagen, »ohne deiner Mutter zu nahe treten zu wollen: Es kommt darauf an, wie man die Menschen behandelt. Emilia und ihr Sohn Gianni gehören zur Familie. Wir teilen Freud und Leid miteinander. Um es kurz zu fassen – wir gehen auf Augenhöhe miteinander um.«
Tiziana seufzte tief. »Das würde meiner Mutter nie in den Sinn kommen.«
»Emilias Nichte Fania ist auch so ein Goldschatz«, fügte Angela hinzu, wohl wissend, dass die Haushälterin durch die angelehnte Küchentür hindurch ihr Gespräch aufmerksam verfolgte, denn bei all ihren guten Eigenschaften war sie die Neugier in Person. »Wie sie mit Nathalie und dem Baby umgeht – es könnte nicht besser sein.«
»Wo ist Nathalie denn?«
»Im Turm«, erklärte Tess und ging voraus zum Aufzug.
»Können wir denn da einfach so reinplatzen?«
»Aber ja. Fania hält das Chaos in Grenzen.« Tess lächelte nachsichtig, während sie die zwei Stockwerke zum Gästetrakt hinauffuhren.
Oben angekommen klopfte Angela an, und als sie Nathalies helle Stimme fröhlich »Herein!« rufen hörten, öffnete sie die Tür.
Sofort umfing sie der unverkennbare Duft nach Neugeborenen, Muttermilch und Babypuder. Auch eine fremde, würzige Note mischte sich darunter, die Angela nicht einordnen konnte.
»Ich bringe Besuch mit«, sagte sie. »Wir stören doch nicht?«
»Tizi!«, rief Nathalie freudig aus und erhob sich aus dem geblümten Lehnsessel, den Gianni aus dem unteren Salon heraufgeschleppt hatte, damit Nathalie es zum Stillen bequem hatte. Das Kind auf ihrem Arm war in ein Tuch eingeschlagen, nur die Arme und der Kopf schauten heraus. »Was für eine schöne Überraschung! Das ist Fania«, stellte sie ihre neue Freundin vor. »Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde.« Fania wurde rot vor Freude und Verlegenheit. »Und das ist Tiziana, eine ganz phänomenale Architektin, mein großes Vorbild.« Der Kleine begann, quäkende Laute von sich zu geben. Nathalie schenkte ihm einen liebevollen Blick. »Darf ich dir meinen Sohn vorstellen, Tizi? Er heißt Peter, aber alle nennen ihn nur Pietrino. Ist er nicht hübsch?«
»Er ist einfach ganz zauberhaft«, erwiderte die Architektin strahlend und betrachtete den Kleinen, der sie mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund ansah. »Darf ich ihn mal halten?«
»Natürlich.« Behutsam legte Nathalie ihr das Kind in die Arme. Tiziana wiegte es sanft und machte lustige, schnalzende Geräusche mit der Zunge, die dem Baby zu gefallen schienen. Unkoordiniert ruderte es mit den Armen, und als Tiziana sacht die kleine Handfläche berührte, schlossen sich seine Finger darum. »Seht nur«, rief Tiziana begeistert aus. »Er hält mich fest! Ich glaube, er mag mich.«
Die Frauen lachten und verzichteten darauf, Tiziana zu erklären, dass Kinder in diesem frühen Alter das grundsätzlich taten, wenn man ihre Handfläche berührte. Fania räumte rasch ein paar Utensilien vom Sofa und zog mit Angelas Hilfe einen Clubsessel heran, sodass alle Platz fanden. Da öffnete sich die Tür, und Gianni brachte ein Tablett mit einer Karaffe Sherry samt Gläsern.
»Meine Mutter dachte, Sie möchten vielleicht den Aperitif hier oben einnehmen«, sagte er und stellte das Tablett ab. »In zwanzig Minuten ist übrigens das Essen fertig.«
»Eine wundervolle Idee. Danke!«
Tess zog den Glasstöpsel aus der geschliffenen Karaffe und füllte die Gläser für Angela, Tiziana und sich selbst. Nathalie und Fania erhielten einen köstlichen alkoholfreien Sprizz.
Angela lehnte sich zurück und betrachtete ihre Tochter, die ihrem Besuch die dramatische Geburt in den glühendsten Farben schilderte. »Alle haben gesagt, so eine Geburt dauert ewig«, sagte sie gerade. »Mein Kleiner war wohl anderer Meinung. Innerhalb einer Stunde war er da, oder, Mami?«
»Ich hab nicht auf die Uhr gesehen«, gestand Angela mit einem Lächeln. »Dazu war einfach keine Zeit.«
»Das stimmt.« Nathalie lachte. Dann wurde sie ernst und berichtete von Carmela und ihren Zauberhänden. »Sie ist uralt, musst du wissen. Mindestens achtzig.«
»Sie ist neunundsiebzig«, warf Angela ein.
»Ihre Hände sehen aus wie Krallen«, fuhr Nathalie unbeeindruckt fort. »Aber als sie mich mit diesem Öl massiert hat, da ging es auf einmal viel leichter.«
Nachdenklich nahm sie ihr Kind von Tizianas Arm, denn Pietrino hatte begonnen, wimmernde Laute von sich zu geben. Sie schob ihren Pulli hoch, öffnete den Still-BH und legte ihn an ihre Brust. Das alles tat sie bereits mit einer Selbstverständlichkeit, die Angela erstaunte.
»Und wie geht es dir jetzt?«, wollte Tiziana wissen. »Ich hab noch nie von einer so schnellen Geburt gehört. Hast du noch Schmerzen?«
»O ja, das kannst du mir glauben.« Nathalie zog eine Grimasse. »Aber ich massiere meinen Bauch jeden Tag mit Carmelas Öl, und ich hab das Gefühl, dass das wirklich hilft, die extreme Dehnung zurückzubilden.«
»Du hast noch von dem Öl?«
»Ja, Mami.« Nathalie sah sie lächelnd an. »Carmela hat Maddalena mit einem Fläschchen vorbeigeschickt. Ist das nicht supernett von ihr?« Deshalb duftet es hier so würzig nach Kräutern, dachte Angela. Nathalie wandte sich nun wieder Tiziana zu, und auf einmal wirkte sie ungewohnt scheu. »Ich wollte dich etwas fragen«, begann sie und warf der Architektin einen unsicheren Blick zu. »Aber du musst unbedingt Nein sagen, wenn du es nicht möchtest, versprochen?«
»Was ist es denn?« Tiziana blickte sie mit offener Herzlichkeit an.
»Ich wollte dich fragen, ob du Peters Taufpatin werden möchtest.« Nathalie wurde rot, und sie biss sich auf die Unterlippe.
Über Tizianas Gesicht ging ein Strahlen. »Du möchtest mich als madrina? Wirklich?« Sie sprang auf und gab Nathalie zwei schallende Küsse auf die Wangen. »Von Herzen gern! Was für eine Ehre!«
Tizianas langes schwarzes Haar hatte sich wie ein Vorhang über das Gesicht des Säuglings gelegt, der gerade trank. Empört begann er zu schreien. Doch seine künftige Patin, temperamentvoll, wie sie nun einmal war, gab auch ihm viele kleine Küsse auf die Stirn, sodass er das Weinen vergaß und fasziniert in Tizianas schöne Gesichtszüge blickte.
Beim Essen, das Nathalie noch einmal zum Stillen unterbrechen musste, plauderten sie über die neuesten Bauprojekte der Architektin.
»Ich arbeite im Moment für einen Wettbewerb«, erzählte sie, und Nathalie hob interessiert den Kopf. »Es geht um eine öffentliche Bibliothek in einem Außenbezirk von Rom.« Sie probierte von Emilias Lammkeule und schloss genüsslich die Augen. »Dieses Lamm ist vorzüglich«, sagte sie, als Emilia eine Platte mit überbackener Polenta brachte, die Nathalie so gern aß. »Ich habe keine Ahnung, wie man so gut kochen kann, Emilia. Es ist mir ein Rätsel!« Geschmeichelt bedankte sich die Köchin und legte dem Gast ein weiteres, besonders zartes Stück Fleisch auf den Teller.
»Erzähl von dem Wettbewerb«, bat Nathalie, die ebenfalls Architektin werden wollte
»Meine Mutter ist ja gebürtige Römerin«, fuhr Tiziana fort, »und sie hat ein paar Beziehungen spielen lassen. So weiß ich, wer in der Jury sitzt.« Ach, so ist das, dachte Angela, während Tiziana eine Reihe international bekannter Koryphäen der Architekturszene aufzählte. Tizianas viel beschworene Familienbindung schloss natürlich geschäftliche Vorteile mit ein. »Mein Entwurf wird außer der Ausleihe und den üblichen Lesesälen Bereiche zur kulturellen Begegnung beinhalten«, fuhr sie gerade fort. »Der Stadtteil gehört zu den sozialen Brennpunkten, und deshalb muss eine Bibliothek auch andere Aufgaben erfüllen, besonders für die Jugend.«
»Von so etwas habe ich als Kind immer geträumt«, warf Fania ein, errötete jedoch bis unter die Haarspitzen, als sich die anderen überrascht zu ihr umwandten.
»Ja, solche Orte können ein ganzes Leben verändern«, bemerkte Tiziana nachdenklich, und sogleich entspann sich ein angeregtes Gespräch, an dem auch Tess lebhaft teilnahm.
»Wenn du möchtest, besuch mich doch in meinem Büro in Venedig«, sagte Tiziana zu Nathalie und lehnte den Nachtisch ab, sehr zu Emilias Enttäuschung. »Natürlich erst, wenn du dich wohl genug dazu fühlst. Ich zeige dir gern den Entwurf.«
Nathalie strahlte und versicherte, dass sie das unbedingt tun werde. Dann zog sie sich mit Fania in ihr Reich zurück, nicht ohne zwei Schälchen mit Tiramisu für sich und ihre Freundin mit nach oben zu nehmen.
»Das war ein wunderschöner Abend.« Tizianas Augen funkelten, als sie sich von Tess verabschiedete. »Grazie mille. Weißt du, Tessa, ich war vollkommen verzweifelt, als ich heute Nachmittag hier ankam. Die arme Angela kann ein Lied davon singen, ich hab ihr allerhand vorgeheult. Jetzt fühle ich mich wieder viel besser. Und das hab ich euch zu verdanken!«
»Lass dich von deiner Mutter nicht ins Bockshorn jagen«, riet Tess, die über ihre Freundin Donatella mit der Familie Pamfeli bekannt war. »Wenn sie dich zu Hause zu arg quälen, komm zu uns. Und bring das nächste Mal deinen Verlobten mit, ich würde mich sehr freuen, ihn näher kennenzulernen!«
»Das mach ich«, erklärte Tiziana mit einem tiefen Seufzen. »Sol wird glücklich sein, hier endlich einmal von jemandem herzlich aufgenommen zu werden. Wenn das so weitergeht, fürchte ich, geht er irgendwann zurück nach New York.«
»Wenn er dich liebt, dann hält er das durch.« Tess wirkte sehr überzeugend. »Hauptsache, du stehst fest zu ihm.«
»Das tu ich, Tessa«, beteuerte Tiziana, und Angela befürchtete, sie könnte gleich wieder in Tränen ausbrechen. »Das tu ich wirklich.«
»Das ist alles von der Zeitungsredaktion«, sagte Fioretta ein paar Tage später und legte Angela einen dicken Stapel Briefe auf den Schreibtisch, den sie einem großen braunen Umschlag entnommen hatte. »Und per Mail sind auch noch eine Reihe Bewerbungen eingegangen.«
Es war Montag, und Angela hatte ein zauberhaftes Wochenende in Venedig bei Vittorio verbracht. Am Sonntag hatten sie ausgeschlafen und sich danach die aktuelle Ausstellung im Peggy-Guggenheim-Museum angesehen. Wie immer war die Zeit viel zu schnell vergangen.
»Tatsächlich?«
Angela zählte zwölf Umschläge. Vielleicht befand sich genau die Schneiderin darunter, die sie suchte. Am liebsten hätte sie die Bewerbungen sofort durchgesehen, doch sie wurde in der Weberei gebraucht.
Sie liebte die Werkstatt mit den vier Webstühlen, die aus dem 19. Jahrhundert stammten und mechanisch bedient wurden. Das Schultertuch für Mrs. Whitehouse war längst fertig und auf dem Weg in die USA. Angela zeigte ihren Mitarbeiterinnen das Foto einer anderen begeisterten Kundin, auf der diese mit einer Stola aus der Seidenvilla zu sehen war, und eine Diskussion entspann sich darüber, wer dieses Tuch gewoben hatte. Nola beanspruchte es für sich, doch Maddalena hielt das Foto ganz nah vor ihre Augen.
»Nein, Nola, da täuschst du dich«, sagte sie schließlich. »Dieses Tuch hat Lidia gemacht.«
Augenblicklich wurde es still. Das Thema Lidia war ein wunder Punkt unter den Kolleginnen. So schwierig es mit der streitbaren Weberin auch gewesen sein mochte, seit sie der Seidenfabrikant Ranelli Seta, Angelas größter Konkurrent, im Frühjahr abgeworben hatte, fehlte sie an allen Ecken und Enden. Zum Glück hatte Angela Nicola Coppola überzeugen können, aus Neapel zu ihnen zu kommen. Dass er darüber hinaus seinen historischen Jacquard-Webstuhl mitgebracht hatte, auf dem man komplizierte Muster weben konnte, war ein unverhoffter Glücksfall für die Seidenvilla, denn solche Webstühle waren inzwischen äußerst rar. Die Muster entstanden mithilfe von riesigen Lochstreifenkarten, die durch eine spezielle Mechanik das Heben und Senken der Kettfäden steuerten. Jede dieser viele Meter langen, zusammenfaltbaren Lochkarten erzeugte ein anderes Muster. Nicola war im Besitz von einem Dutzend solcher Karten mit außergewöhnlich schönen Ornamenten, die zum Teil noch aus der Renaissance stammten.
»Wenn wir die Weihnachtsbestellungen erledigt haben«, sagte Angela an Nicola gewandt, »sollten wir mal ein Musterbuch angehen. Es wäre schön, wenn wir von jeder Lochkarte eine Probe hätten, damit ich sie unseren Kunden zeigen kann.«
Nicola runzelte seine dichten Brauen und wirkte mit seinem Lockenschopf wie ein trotziger Junge.
»Es ist ein Riesenaufwand, die Lochkarten zu wechseln«, sagte er. »Sie dürfen nicht vergessen, dass wir dafür die Kette ganz neu aufzäumen müssen, und das braucht Tage, wenn nicht Wochen. Praktischer und vor allem rentabler wäre es, ich könnte eine maximale Kettenlänge in einem Ornament weben, ehe wir es austauschen.«
Angela nickte. Er hatte recht. Auf diese Weise würde es aber mindestens ein Jahr dauern, bis sie alle Muster präsentieren könnte. Nun ja, sie leitete eine Manufaktur, da durfte man nicht ungeduldig sein.
»Dann werden wir das so machen«, sagte sie und löste die Versammlung auf.
Als Maddalena, Nola und Anna ihre Webstühle wieder in Bewegung setzten, warf Angela kurz einen Blick auf jede ihrer Arbeiten. Anna hatte eine leuchtend rote Kette und verarbeitete gerade dunkelgelbes und orangefarbenes Garn im Wechsel für den Schuss, was ein lebhaftes, in sich schillerndes Webbild ergab. Nola erledigte eine Bestellung in den Farben Cognac, Sienagelb und Umbra, die sie zu einem raffinierten Karomuster kombinierte. Und Maddalena wob ein einfarbiges Tuch in Zartrosé, dem Angela bereits im Webstuhl ansehen konnte, wie anschmiegsam es einmal sein würde. Denn keine wob so weiche, schmeichelnde Stoffe wie Maddalena.