Himmel über dem Salzgarten - Tabea Bach - E-Book
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Himmel über dem Salzgarten E-Book

Tabea Bach

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Beschreibung

Julia und Álvaro sind glücklich miteinander. Der traditionelle Salzgarten mit seinem erlesenen Meersalz ist erfolgreich. Julias kleines Restaurant wird immer beliebter. Alles könnte so schön sein, wenn nicht ausgerechnet Jens, Julias Bruder und Vater ihres Patensohns Emil, ganz in der Nähe eine Tauchstation für Touristen eröffnen wollte. Denn zu Jens' Plan gehört, dass einige Unterwasserfelsen gesprengt werden, damit er Zugang zu weiteren Tauchgründen bekommt. Doch diese Sprengungen würden das gesamte Ökosystem an diesem Küstenabschnitt gefährden - und natürlich auch den Salzgarten.

Kann Julia den Salzgarten und die einzigartige Unterwasserwelt retten? Muss sie sich entscheiden zwischen ihrer Familie und dem Mann, den sie liebt?

Ein mitreißender Roman um Liebe und die Erkenntnis, dass man die Vergangenheit loslassen muss, um bereit für die Zukunft zu sein.

Der zweite Band der wunderbaren Salzgarten-Saga

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Seitenzahl: 460

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumZitat123456789101112131415161718192021222324Danksagung

Über dieses Buch

Julia und Álvaro sind glücklich miteinander. Der traditionelle Salzgarten mit seinem erlesenen Meersalz ist erfolgreich. Julias kleines Restaurant wird immer beliebter. Alles könnte so schön sein, wenn nicht ausgerechnet Jens, Julias Bruder und Vater ihres Patensohns Emil, ganz in der Nähe eine Tauchstation für Touristen eröffnen wollte. Denn zu Jens' Plan gehört, dass einige Unterwasserfelsen gesprengt werden, damit er Zugang zu weiteren Tauchgründen bekommt. Doch diese Sprengungen würden das gesamte Ökosystem an diesem Küstenabschnitt gefährden – und natürlich auch den Salzgarten.

Kann Julia den Salzgarten und die einzigartige Unterwasserwelt retten? Muss sie sich entscheiden zwischen ihrer Familie und dem Mann, den sie liebt?

Ein mitreißender Roman um Liebe und die Erkenntnis, dass man die Vergangenheit loslassen muss, um bereit für die Zukunft zu sein.

Der zweite Band der wunderbaren Salzgarten-Saga

Über die Autorin

Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie wurde in der Hölderlin-Stadt Tübingen geboren und wuchs in Süddeutschland sowie in Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald, Ausgangspunkt zahlreicher Reisen in die ganze Welt. Die herrlichen Landschaften, die sie dabei kennenlernt, finden sich als atmosphärische Kulisse in ihren Romanen wieder. Tabea Bachs Bücher wurden in verschiedene Sprachen übersetzt. Mit ihrer Kamelien-Insel-Saga gelangte sie sofort auf die Bestsellerliste. In den erfolgreichen Seidenvilla-Romanen wechselte der Schauplatz zu einer Seidenweberei in Venetien. Mit ihrer Salzgarten-Reihe führt uns Tabea Bach auf die Kanarischen Inseln.

Tabea Bach

HMMEL ÜBER DEM

SALZGARTEN

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Titelillustration: © Ursula Sander/getty-images; © www.buersosued.de

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1671-0

luebbe.de

lesejury.de

»Einen Freund kennt man erst dann gut,nachdem man viel Salz mit ihm gegessen hat.«

Aristoteles

1

Vorfreude

Der Himmel über La Palma war von einem so leuchtenden Blau, dass Julia die Sonnenbrille aus ihrer Handtasche angeln musste, während sie die Küstenstraße entlang in den entlegenen Norden fuhr. Ihr kleiner Lieferwagen war erfüllt vom Duft der frischen Kräuter, der Früchte und von dem Gemüse, das sie in der Markthalle der Hauptstadt erstanden hatte, und sie freute sich unbändig darauf, all diese Köstlichkeiten zu verarbeiten.

Wie jedes Mal, wenn sie diese Strecke fuhr, hielt sie auch an diesem Morgen an einem bestimmten Aussichtspunkt, denn von hier aus bot sich ihr ein atemberaubender Blick über die nördliche Küste – und auf die Finca Flor de Sal, die seit einigen Monaten ihr Zuhause war.

Im Grunde konnte sie es immer noch kaum fassen, dass sie dort gemeinsam mit Álvaro dabei war, sich eine Existenz aufzubauen. Hätte ihr jemand vor einem halben Jahr erzählt, dass sie in Kürze ihre Position als Chef de Cuisine in der deutschen Spitzengastronomie gegen die Leitung eines kleinen mesón, eines Landgasthofs auf der kanarischen Insel La Palma, eintauschen würde, hätte sie nur gelacht. Dass ihr bislang so geradlinig verlaufenes Leben eine solche Wendung nehmen würde, war nicht vorauszusehen gewesen. Und doch war sie glücklicher, als sie es je zuvor gewesen war. Denn anstatt in einer hochmodernen Profiküche ein Team aus erstklassigen Köchen anzuleiten und mit ihm Sterne zu erringen, und wenn sie auch nur im Guide Michelin verzeichnet waren und nicht am Himmel prangten, war sie endlich zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt – zu ihrer Begeisterung für ausgezeichnete Speisen auf der Basis lokaler Traditionen. Und zu einem Dasein, in dem es nicht nur Arbeit gab, sondern auch genussvolle Stunden für sie selbst – und die Liebe ihres Lebens, die sie ausgerechnet auf dieser Insel gefunden hatte.

Im Morgenlicht schimmernd lag das Anwesen am äußersten Rand einer mächtigen Klippe hoch über dem Atlantik. Ein uralter Kanarischer Drachenbaum ragte wie ein Wahrzeichen hoch über seinen Mauern auf. Eine mehrere hundert Meter lange Piste verband die Finca mit einer kleinen Landstraße. Auf deren anderer Seite thronte an einer der vielen Flanken des Inselbergs das Dorf, zu dem die Finca mit dem traditionellen Restaurant gehörte. Und dieses Restaurant, das Flor de Sal, würde Julia an diesem Wochenende aus seinem Dornröschenschlaf erwecken. Die Wiedereröffnung stand kurz bevor. Doch bis dahin gab es noch eine Menge zu tun.

Sie riss sich von dem Ausblick los und fuhr weiter. In steilen Serpentinen führte die Straße abwärts, vorbei an Pinienwäldern und mit wilden Sträuchern bewachsenen Geröllhalden. Wie die gesamte kanarische Inselgruppe war auch La Palma aus den Eruptionen gewaltiger Unterwasservulkane entstanden, und das sah man ihrer wild zerklüfteten Landschaft aus schwarzen, rötlichen und gelben Gesteinsschichten an.

Pipos Bar, die im Grunde nur aus einer Bretterbude am Straßenrand bestand, hatte geöffnet, und kurz entschlossen machte Julia hier noch einmal kurz Halt.

»Buenos días«, grüßte sie den langen, schlaksigen Barista und bestellte einen café solo, klein, schwarz und sehr stark. »Wie geht es so?«, fragte sie. Pipo, der für seine Einsilbigkeit bekannt war, zuckte mit den Schultern und machte gleichzeitig eine unbestimmte Bewegung mit dem Kopf, die alles heißen konnte. Julia lachte leise in sich hinein und leerte die kleine Tasse in einem Zug. »Am Wochenende eröffnen wir übrigens«, erzählte sie. »Morgen ist Tag der offenen Tür. Wenn du magst, schau gern vorbei.«

Pipo nickte und schob ihr einen kleinen Stapel mit Werbeblättern zu, die sie höchstpersönlich hatte drucken lassen. »Ich weiß«, antwortete er. »Ich verteil schon die ganze Woche diese Dinger hier.«

»Danke.« Julia war gerührt. Sie hatte Pipo nicht darum gebeten, und woher er die Flyer hatte, war ihr ein Rätsel. Aber so waren sie nun mal, ihre neuen Nachbarn: schweigsam und mitunter rätselhaft. Sie legte das Geld für den Kaffee auf die Theke und verabschiedete sich von Pipo.

Sie hatte den Drachenbaum noch nicht erreicht, als ihr Amo bereits durch den Torbogen freudig entgegensprang, sodass sein rotblondes Fell nur so im Wind flatterte. Der Garafiano-Rüde war Julia gleich nach ihrem Einzug zugelaufen, und bislang hatte sich noch kein Besitzer gemeldet – zum Glück, wie sie fand, denn sie hatte den treuen Hund fest in ihr Herz geschlossen und wollte ihn nicht mehr missen.

In dem geräumigen Hof waren Sam und Devi bereits damit beschäftigt, Tische aus einem der Nebengebäude zu holen. Julia hatte für zehn Uhr eine Lagebesprechung einberufen, bei der sie den Ablauf des morgigen Tages besprechen und die verschiedenen Aufgaben verteilen wollte.

»Guten Morgen«, begrüßte sie die beiden. »Großartig, dass ihr schon da seid! Bin ich etwa zu spät dran?«

»Nein, alles gut«, fiel ihr Devi fröhlich ins Wort. Sie trug wie immer ein selbst gebatiktes T-Shirt über einer farbenfrohen, indischen Elefantentreiberhose, ihr langes blondes Haar hatte sie zu unzähligen Braids geflochten und am Hinterkopf zusammengenommen. Sie und Sam waren deutsche Auswanderer und lebten in einer Höhlenwohnung, was Julia sehr exotisch fand.

»Wir haben Parvati zur Schule gebracht und sind danach gleich hergekommen. Übrigens soll ich dich schön von Emil grüßen.«

»Danke!« Emil war Julias heiß geliebter Patensohn, und im Grunde war es dem Zwölfjährigen zu verdanken, dass sie ihren Lebensmittelpunkt nach La Palma verlegt hatte. Wäre der Junge nicht im Frühjahr in Deutschland aus seinem Internat weggelaufen, in dem ihn Julias Bruder Jens untergebracht hatte, und hätte sie ihn damals nicht auf die Isla Bonita zu seinem Vater begleitet – wer weiß, ob sie jemals hierhergekommen wäre. Nun ging Emil nach einigen Anfangsturbulenzen hier zur Schule, und Devis Tochter Parvati war seine Klassenkameradin. »Könntet ihr mir helfen, die Kisten aus dem Auto in die Küche zu bringen?«

»Ich mach das«, erklärte Devis Partner Sam. »Soll ich alles in die Küche bringen oder einen Teil davon in der Höhle verstauen?« Auch zu Julias Grundstück gehörte wunderbarerweise – neben dem Gebäudekomplex aus Haupthaus und Nebengebäude – eine Naturhöhle. Sie lag an dem Felsenweg, der zum Salzgarten hinunterführte, den Julias Freund Álvaro betrieb. Die Höhle war geräumig, mit einer Tür verschließbar, und da es darin selbst während der größten Sommerhitze nicht wärmer wurde als acht Grad, diente sie Julia als Vorratsraum. Sie erklärte Sam, welche Einkäufe er wo verstauen sollte, und holte dann die Unterlagen für die Besprechung.

Aus dem Hof klangen fröhliche Stimmen. Devis Kolleginnen Paola und Carmen waren gerade eingetroffen. Julia nannte die drei Freundinnen liebevoll ihre Reinemachefeen, vor allem Devi kam täglich in das Mesón Flor de Sal, um für Ordnung zu sorgen. Julia hätte schon gar nicht mehr gewusst, was sie ohne sie und Sam, der sich um Haus, Hof und Garten kümmerte, anfangen sollte. Die Finca war so groß, dass Julia das allein nicht bewältigen könnte.

Sie trat gerade wieder in den Hof, als ein kleiner, roter Seat heranbrauste und dabei eine Staubwolke hinter sich herzog. Eine schlanke junge Frau mit tiefschwarzen Locken stieg aus. Fayna hatte bis vor Kurzem in dem Parador El Zumacal gearbeitet, einem Hotel der Extraklasse auf der anderen Seite der Insel. Vor wenigen Monaten hatten sie und ihr Verlobter geheiratet, und da Pablo in der Nähe eine Apotheke betrieb, hatte sie sich dazu entschlossen, ins Restaurant Flor de Sal zu wechseln, auch wenn Julia ihr nicht den Lohn bezahlen konnte, an den sie gewöhnt war.

»Ich bin doch nicht zu spät?«, fragte sie, und ihre dunklen Augen blitzten unternehmungslustig.

»Überhaupt nicht«, beruhigte Julia sie. Tatsächlich waren alle früher gekommen als erwartet, und das wollte auf den Kanaren etwas heißen.

»Morgen geht es also los!«, begann Julia. Aller Augen waren gespannt auf sie gerichtet. »Ab elf Uhr kommen die Gäste. Hier draußen bauen wir das Buffet auf, Sam und Devi haben schon damit angefangen.« Sie erklärte, wo genau die Tische stehen sollten und wie die Speisen und die Getränke angeordnet würden. »Zuerst gibt es Tapas.«

»Claro«, sagte Carmen. Ein Fest ohne Tapas war in Spanien einfach unvorstellbar.

»Und vino espumoso zur Begrüßung.« Espumoso war die kanarische Variante von Schaumwein, vergleichbar mit Sekt, und Julia hatte eine Menge Kisten einer ganz vorzüglichen, palmerischen Bodega in der Höhle eingelagert. »Danach gibt es Gemüseplatten und Fleisch und Fisch. Ab fünfzehn Uhr servieren wir die Desserts.«

Sie klärten, wer Fayna beim Abtragen helfen und wer in der Küche die Spülmaschine bedienen würde.

»Das mach ich«, meldete sich Paola, die während des laufenden Restaurantbetriebs Julia in der Küche zur Hand gehen würde.

»Und wenn alle auf einmal kommen?«, fragte Devi. »Wird es dann nicht ein bisschen eng?«

»Ich nehme an, dass sich viele auch im Haus umsehen wollen«, meinte Julia. »So verteilt sich das sicher etwas.«

»Wir könnten Tina fragen, ob sie mithelfen möchte«, schlug Fayna vor. »Cristina Pérez.«

»Meinst du, sie hat Lust dazu?« Julia wunderte sich ein bisschen, denn Tina war die jüngste Tochter ihres bis vor Kurzem erbittertsten Gegners im Dorf. Juan Pérez war sogar so weit gegangen, ihr das Wasser abzustellen, um sie von der Insel zu vertreiben. Doch das war eine andere Geschichte, und offenbar meinten es die Dorfbewohner ernst mit dem Frieden, den sie inzwischen geschlossen hatten.

»Sie hat mir schon öfter bei privaten Feiern ausgeholfen«, meinte Fayna. »Für ein Taschengeld ist sie sicher dabei.«

»Ist sie nicht erst vierzehn?«, fragte Carmen mit gerunzelter Stirn.

»Sechzehn«, korrigierte Fayna sie mit einem Lächeln. »In dem Alter hab ich mit meiner Ausbildung begonnen.«

Bald hatten sie alle Detailfragen geklärt. Vorfreude lag in der Luft, und Julia bekam rote Wangen vor Glück, wenn sie daran dachte, dass es nun endlich losgehen würde. Sie überließ die anderen ihren Aufgaben und begab sich in die Küche, um einmal mehr ihre Kunst unter Beweis zu stellen. Immerhin hatte sie in Deutschland einen Michelin-Stern errungen, und das im Alter von nur zweiunddreißig Jahren. Sie erwartete nicht, dass die Restaurantkritiker sich bis an diesen äußersten Zipfel der Kanarischen Inseln verirren würden, und es war ihr auch gleichgültig. Ihr kam es längst auf etwas ganz anderes an. Von dem Dauerstress in Deutschland hatte sie sich verabschiedet, um ein ruhiges und erfülltes Leben zu führen. Trotzdem würde jedes Gericht, das ihre Küche verließ, von ausgezeichneter Qualität sein.

Am späten Nachmittag, als sie alles für den kommenden Tag vorbereitet hatte und die fleißigen Helferinnen sie nicht mehr brauchten, füllte sie einen kleinen Korb mit Leckereien und nahm den schmalen Felsenweg, der seitlich an der Klippe zunächst zu der Vorratshöhle und dann weiter hinunter bis fast auf Meereshöhe führte. Hier lag der Salzgarten des Mannes, den sie liebte. Álvaro hatte diesen historischen Ort, wo bereits seit Menschengedenken Salz gewonnen wurde, vor ein paar Jahren wieder zum Leben erweckt, ihn erneuert und erweitert. Das Salz, das er hier erntete, war inzwischen über die Landesgrenzen hinaus in den Gourmetküchen von ganz Europa bekannt, und er konnte gar nicht alle Interessenten beliefern. Vor allem seine kostbaren Salzblumen, in Spanien Flor de Sal und in Frankreich Fleur de Sel genannt, die sich nur bei besonderer Witterung an der Oberfläche der Salzlake bildeten und behutsam abgeschöpft werden mussten, waren begehrt. Jetzt, Ende August, gab es im Salzgarten jede Menge zu tun.

Etwas mehr als zweihundert Meter ging es steil bergab, und wer nicht schwindelfrei war, der sollte diesen schmalen Felsenpfad lieber meiden. Julia hatte sich inzwischen daran gewöhnt und betrachtete vor allem den schweißtreibenden Aufstieg als ideales Work-out, schließlich verbrachte sie so viele Stunden in ihrer Küche. In den Felsspalten wuchsen hier und dort zähe Wolfsmilchgewächse, an einer Stelle hatte sich sogar eine prächtige Agave angesiedelt. Möwen, die sich von ihr gestört fühlten, stiegen keckernd auf und ließen sich vom Wind über die leuchtend blaue Weite des Atlantiks tragen.

Julia umrundete eine letzte Felsnase – da lag der Salzgarten in all seiner Pracht unter ihr. Obwohl ihr dieser Anblick vertraut war, empfand sie ihn doch immer wieder als überwältigend.

Die ursprüngliche Anlage bestand schon seit Menschengedenken, gut möglich, dass bereits die Ureinwohner der Kanaren, die sogenannten Guanchen, die ersten Verdunstungsbecken hier angelegt hatten. Álvaros verstorbener Großvater hatte sie vor Jahrzehnten vergrößert, und er selbst sie vor Kurzem komplett erneuert und zu einem rentablen Unternehmen ausgebaut.

Die natürlichen Gegebenheiten an dieser rauen Küste waren dafür geradezu ideal. Rund zwanzig Meter über dem Atlantik befand sich hier eine riesige Felsplatte, in die unzählige, flache Becken in den Stein geschlagen worden waren. Ein ausgeklügeltes Pumpsystem sorgte dafür, dass sie stets mit Meerwasser gefüllt waren, das durch die Einwirkung von Sonne und Wind verdunstete und reines Salz in den Becken zurückließ.

Wie jedes Mal, wenn sie an diesen friedlichen Ort kam, bewunderte Julia seine Schönheit. Auf dem nahezu schwarzen Gestein vulkanischen Ursprungs glitzerten die Salzkristalle an den Rändern der Becken wie winzige Diamantsplitter. In einigen dieser Becken schimmerte das Wasser rötlich, das kam von mikroskopisch kleinen Algen, die an dem Zersetzungsprozess beteiligt waren und das Salz mit ihren wertvollen Mineralien bereichern würden. Andere, bei denen die Salzkonzentration schon hoch war, schimmerten milchig weiß oder vanillefarben, und so ähnelte die Anlage von oben betrachtet einem modernen, abstrakten Kunstwerk. Zwischen den Becken gab es steinerne Stege, auf denen man zu den einzelnen Abschnitten gelangen konnte, und auf ihnen war in regelmäßigen Abständen bereits geerntetes Salz zu leuchtend weißen Kegeln aufgehäuft, was einen reizvollen Kontrast zu dem schwarzen Untergrund bildete.

Álvaro hatte nach seinem Studium der Geologie in den bedeutendsten Salinen der Welt gearbeitet und sich so ein umfassendes Wissen über diese besondere Handwerkskunst angeeignet. Nun entdeckte Julia ihn am äußersten Rand der gigantischen Felsplatte, auf der sich der Salzgarten rund zwanzig Meter über dem Meeresspiegel befand. Konzentriert beugte er sich über eines der Becken. Julia vermutete, dass er eine Probe entnahm, um den Salzgehalt zu überprüfen.

Sie wollte ihn schon rufen, als sie es sich anders überlegte. Wenn er so aufmerksam bei der Sache war, wollte sie ihn nicht stören. Er würde sie von ganz allein bemerken. Stattdessen durchquerte sie die Anlage auf einem der breiteren Dämme, die zwischen den Salzbecken verliefen, und bereitete auf dem abgeflachten Felsen gleich neben dem Salzgärtnerhäuschen das Picknick vor.

Sie hatte gerade den provisorischen »Tisch« gedeckt, als Álvaro mit großen Schritten zu ihr kam und sie in die Arme schloss.

»Ich sterbe vor Hunger«, flüsterte er und knabberte kurz an ihrem Ohrläppchen, sodass Julia lachen musste.

»Es gibt Leckereres als mein Ohr«, gab sie zärtlich zurück und küsste ihn auf die Nase. Sie liebte einfach alles an diesem Mann: sein lockiges schwarzes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden hatte, die markante Nase, den sinnlichen Mund in dem stets von der Sonne gebräunten Gesicht, seine hohen Wangenknochen, die ihm ein etwas exotisches Aussehen verliehen, und vor allem seine Augen, die von einem unbeschreiblichen hellen Grünbraun waren und sich je nach Lichteinfall und Wetter verändern konnten.

»Wie geht es mit den Vorbereitungen voran?«, fragte Álvaro und griff nach einem Stück von dem knusprigen dünnen Stangenbrot, das Julia mit Schinken belegt hatte.

»Sehr gut«, antwortete sie mit vollem Mund. »Wir haben alles im Griff. Und wie sieht es hier aus?«

»Bestens«, antwortete Álvaro. »Wenn das Wetter so bleibt, können wir in rund zwei Wochen nochmals ernten. Sag mal, sind das etwa deine phänomenalen gegrillten Auberginen?«

Genüsslich leerten sie den Picknickkorb und die mitgebrachte Mineralwasserflasche. Álvaro beschloss, es für diesen Tag gut sein zu lassen, und kehrte gemeinsam mit Julia zur Finca zurück.

An diesem Abend gingen sie früh zu Bett. Ein letztes Mal war Julia ihre Planung für den folgenden Tag durchgegangen. Was in ihrer Macht stand, hatte sie vorbereitet, alles andere musste sie auf sich zukommen lassen. Bei einem Tag der offenen Tür wusste man nie, wie viele Gäste erscheinen würden. Und ob sie alle auf einmal über sie hereinbrechen oder nach und nach zur Finca kommen würden. So oder so, in ihrem Leben als Profiköchin hatte sie schon schwierigere Situationen gemeistert.

»Glaubst du, die Leute akzeptieren mich hier inzwischen wirklich?«, fragte sie leise, als sie in Álvaros Armen lag.

»Natürlich«, antwortete er.

So natürlich fand Julia das gar nicht. Nur zu gut konnte sie sich an die Attacken erinnern, denen sie vor gar nicht allzu langer Zeit ausgesetzt gewesen war. Jemand hatte ihr mitten in der Provinzhauptstadt alle vier Reifen zerstochen. Und dann die Sache mit dem Trinkwasser, das man ihr abgestellt hatte …

»Du darfst ihnen das nicht übel nehmen«, sagte Álvaro, so als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Sie haben geglaubt, für mich Partei ergreifen zu müssen. Schließlich konntest du ja nicht wissen, dass ich seit Jahren versucht habe, dieses Anwesen für unsere Familie zurückzugewinnen. Und ausgerechnet du …«

»… ausgerechnet ich hab es dir vor der Nase weggeschnappt«, vollendete Julia seinen Satz. Es stimmte. Sie hatte keine Ahnung gehabt, in welches Wespennest sie sich mit dem Kauf der Finca gesetzt hatte. Schuld an allem war Marcos gewesen, dieser schlitzohrige alte Mann, der vor vielen Jahren, als Álvaro noch ein kleiner Junge gewesen war, die Finca im Spiel gewonnen hatte. Kein anderer als Belisario, Álvaros Vater, hatte sich dazu hinreißen lassen, den Besitz seiner Familie in einer Partie Domino zu setzen. Und er hatte verloren.

»Das ist jetzt Schnee von gestern«, versuchte Álvaro, sie zu beruhigen. »Die Leute haben eingesehen, dass du das Beste bist, was mir passieren konnte. Und nicht nur mir. Du wirst aus dem Restaurant meiner Großmutter wieder die Perle machen, die es früher gewesen ist.«

Er drehte den Kopf in Richtung des kleinen Ölgemäldes, das an einer der Wände hing, eine naive Darstellung der Jungfrau Maria. In einer Hand hielt sie eine weiße Rose, in der anderen ein Schälchen mit Salz. Nuestra Señora de la Sal stand darunter, und niemand anderes als Alba, Álvaros Mutter, hatte es einst gemalt.

»Morgen wirst du sie alle verzaubern«, sagte Álvaro und begann, sie sanft zu küssen.

Am Morgen erwachte sie früh. Vorsichtig befreite sie sich aus Álvaros Umarmung und stand leise auf. Der alte Holzboden unter ihren bloßen Füßen fühlte sich warm und vertraut an. Statt direkt ins Erdgeschoss hinunterzugehen, betrat sie zuerst den überdachten Wandelgang, der rings um das große, viereckige Oberlicht herumführte, das tagsüber das Restaurant darunter so schön erhellte. Sie sah zum immer noch nachtblauen Himmel empor, an dem die Sterne trotz der beginnenden Dämmerung deutlich zu erkennen waren, und zwar so dicht und funkelnd, wie es nur auf dieser wundervollen Insel möglich war. Julia hätte vor Glück singen mögen, wenn sie damit nicht Álvaro geweckt hätte.

Noch im Nachthemd lief sie hinunter in die Küche, wo es verführerisch nach dem Roastbeef roch, das sie vor dem Schlafengehen bei exakt 58 Grad ins Backrohr geschoben hatte, damit das Fleisch ganz langsam garte. Sie überzeugte sich davon, dass der Brotteig, den sie am Vortag angesetzt hatte, aufgegangen war. Im Steinofen war noch Glut vom Abend zuvor. Rasch legte sie Holzscheite nach, machte sich einen starken Kaffee und nahm die Tasse mit ins Badezimmer.

Unter der Dusche ging sie nochmals ihre Arbeitsschritte durch. Tapas, anschließend ein kalt-warmes Buffet, für das sie als Reminiszenz an ihre deutsche Herkunft das Roastbeef vorbereitet hatte, daneben aber auch ganze Hälften vom Thunfisch und vom Bonito garen würde, dazu Kartoffelspieße aus den verschiedenen Sorten, die es hier auf den Kanaren in vielen verschiedenen Farben und Geschmacksrichtungen gab, außerdem Gemüse aller Art, das sie bereits in italienischer Antipasti-Manier gegrillt und mariniert und in wunderschönen Mustern auf Platten angerichtet hatte.

Sie schlüpfte in frische Arbeitskleidung, band sich das lange, dunkelblonde Haar sorgfältig zu einem Zopf und steckte ihn zu einem Chignon zusammen. Dann setzte sie sich, wie es vorgeschrieben war, ihre Kochmütze auf.

Routiniert formten ihre Hände aus dem duftenden, weichen Teig winzige Brötchen in der für sie charakteristischen, spitz zulaufenden Form und füllte damit Blech um Blech, deckte sie mit einem Tuch ab und stapelte sie auf einem speziell dafür angefertigten Regal in der Vorratskammer. Als ein lachsfarbener Schimmer den Morgenhimmel erhellte und die Glut im Ofen perfekt war, legte sie sechs Teiglinge fürs Frühstück auf ein Blech und schob es in den Ofen.

Der Duft nach gebackenem Brot erfüllte die Küche, als Álvaro hereinkam. Er war bereits geduscht, sein feuchtes Haar ringelte sich über den Schultern. »Hm«, machte er. »Das riecht ja köstlich!« Liebevoll schloss er Julia in die Arme und schnupperte an ihrem Hals. »Bist du das? Oder kommt das aus dem Ofen?«

Sie lachte und küsste ihn zärtlich.

Die Brötchen waren noch warm, als sie sie aufschnitten. Die Butterflöckchen, die Julia auf ihrem verteilte, schmolzen auf der Stelle. Sie streute ein paar von Álvaros Salzblumen darüber und biss hinein. Gegen das salzige Aroma kontrastierte die Butter mit ihrer Süße, der Geschmack des frischen Brots rundete das Ganze ab.

»Einfach nur lecker«, nuschelte sie mit vollem Mund.

Álvaro träufelte ein wenig Olivenöl auf sein Brot und bestreute es ebenfalls mit Flor de Sal. Auf einmal schlug draußen im Hof Amo an.

»Das wird Nunzia sein mit der Kekslieferung der Witwenkooperative«, sagte Julia und ging nachsehen, ob sie richtig vermutete. Ein Wagen mit der Aufschrift Horno de la Delicia, was so viel hieß wie »Backofen der Köstlichkeiten«, hielt unter dem Drachenbaum, doch niemand stieg aus. Als Julia vor das Tor trat, sah sie Nunzias silberne Löckchen und ihre großen Augen hinter den Brillengläsern, die ängstlich aus dem Autofenster spähten.

»Kannst du den Hund zurückrufen?«, bat sie, als Julia sich zu ihr hinunterbeugte.

»Du brauchst dich vor ihm nicht zu fürchten«, beruhigte sie Nunzia und hielt den Garafiano am Halsband fest. »Amo tut keinem etwas.«

»Das sagst du«, gab die Bäckerin zurück und warf dem hübschen Hütehund mit dem langen, rötlichen Fell einen misstrauischen Blick zu. »Weiß er selbst das auch?«

Julia lachte. »Wenn du willst, sperre ich ihn in den Schuppen, solange du hier bist. Er wird das allerdings als Beleidigung empfinden, denn er ist wirklich ein vorbildlicher Hund und tut nur seine Pflicht.« Sie lockte Amo in den Hof und öffnete die Tür zu einem der beiden Nebengebäude. Doch der kluge Garafiano hatte längst begriffen, was vor sich ging, leckte rasch über Julias Hand, so als wollte er sich vorab entschuldigen, und entwischte ihr dann in den Garten hinter dem Haus. Julia war sich sicher, dass er nicht eher wieder auftauchen würde, bis der Wagen der Backkooperative das Gelände verlassen hatte.

»Zweihundert von jeder Sorte«, sagte Nunzia, stieg aus und beugte sich über den Kofferraum, um eine der vielen Schachteln herauszuholen, in denen sie mit ihren Kolleginnen Pilar, Rosaria und Candelaria das nach Julias Rezept zubereitete Gebäck verpackt hatte. Ein verführerischer Duft nach Mandeln, Vanille, Butter und zahlreichen anderen Aromen entstieg ihnen.

»Lasst mich das machen.« Álvaro hatte sich zu ihnen gesellt und begrüßte Nunzia mit den obligatorischen Küsschen auf beide Wangen. »Wo sollen die galletas denn hin, cariño?«

Julia zeigte es ihm und lud Nunzia so lange auf eine Tasse Kaffee ein, zu der sie gleich von den an diesem Morgen gebackenen Plätzchen probierten. Julia lauschte dem neuesten Klatsch und lachte über die lustigen Anekdoten aus dem Kreis der Witwenkooperative, in der jede Frau für eine bestimmte Sorte Kekse verantwortlich war.

»Stell dir vor«, erzählte Nunzia, »ein paar Touristen haben Candelaria ihre Lieblingskakteenfeigen direkt vor der Nase weggeerntet, aus denen sie doch immer die Füllung für ihre galletas zubereitet. Dabei waren sie noch gar nicht richtig reif! Was hat sie sich aufgeregt! Und dann hat uns Luis von der Ambulanz erzählt, dass die von oben bis unten voll mit diesen hinterhältigen Stacheln bei ihnen aufgekreuzt sind. Die Leute wussten gar nicht, wie man die Früchte richtig anfasst! Zwei volle Stunden mussten sie ihnen diese haarfeinen Biester aus der Haut ziehen. Und zwar an den unglaublichsten Körperstellen. Weißt du eigentlich, wie weh das tut?« Nunzia kicherte und schüttelte gleichzeitig den Kopf über so viel Unverstand.

Julia nickte. Wenn man Pech hatte, entzündete sich die Haut, und es bildeten sich Pusteln.

»Ich verstehe das nicht«, fuhr Candelaria missbilligend fort. »Diese Leute haben nicht einfach nur ein Körbchen voll gepflückt, sondern gleich die gesamte Ernte abgeräumt. Und nach dem Fiasko mit den Dornen haben sie die Früchte bestimmt weggeworfen.«

Julia schenkte ihr Kaffee nach. Sie hatte dem Bericht mit gemischten Gefühlen gelauscht. Hoffentlich waren es nicht von Jens geführte Touristen gewesen. Ihr Bruder hatte auf La Palma ein Tourismusunternehmen, er bot Exkursionen aller Art an und war bei den Einheimischen aufgrund seiner wenig sensiblen Art leider überhaupt nicht beliebt. Sein schlechter Ruf auf der Insel hatte Julia anfangs richtig geschadet. Wie der Bruder, so die Schwester, hatte es geheißen. Das hatte sich inzwischen zum Glück geändert, jedenfalls hoffte Julia es. Sie kam selbst nicht besonders gut mit Jens aus, bei der geringsten Kleinigkeit gerieten sie miteinander in Streit. Das war schon immer so gewesen, und trotzdem musste sie mit ihrem Bruder irgendwie klarkommen, auch wenn sie mit vielem nicht einverstanden war, was er tat. Denn da war Emil, Jens’ Sohn und Julias Patenkind, den Julia über alles liebte. Schon einmal hatte Jens ihr den Umgang mit dem Jungen untersagt, und wenn sie nicht wollte, dass das wieder geschah, musste sie sich um ein halbwegs gutes Verhältnis zu ihm bemühen. Aber das, was Nunzia gerade erzählt hatte, klang sehr nach den Kunden ihres Bruders.

»Das mit den Kaktusfrüchten ist wirklich schade«, antwortete sie. »Hat Candelaria denn Ersatz gefunden?«

»¡Sí, claro!«, gab Nunzia zurück. »Die Insel ist ja voll davon. Es gibt viele verschiedene Sorten, und nicht alle schmecken so gut.«

»Werdet ihr später als meine Gäste vorbeikommen?«, wechselte Julia das Thema.

»Natürlich!« Nunzias rundliches Gesicht war ein einziges Strahlen. »Schließlich backen wir deine galletas. Vielleicht kommt auch meine Tochter mit. Das ist doch in Ordnung?«

»Selbstverständlich«, antwortete Julia. »Deine Familie ist mir willkommen. Bring ruhig auch deinen Enkel mit. Geht er nicht mit Emil in dieselbe Klasse?«

»Ja, das tut er«, sagte Nunzia stolz. »Ich werde Manuel mal fragen, ob er Lust hat. So, jetzt muss ich los. Sicher hast du noch eine Menge zu tun.«

Das stimmte allerdings, Julia hatte schon unauffällig auf ihre Armbanduhr geschaut. Es war inzwischen acht Uhr.

Wenig später trafen Devi und Sam, Paola und Carmen ein. Bis zum Boden reichende weiße Tischdecken aus Damast wurden über die vorbereiteten Tische gebreitet, Gläser, Geschirr, Besteck und Rechauds bereitgestellt. Gegen zehn kam Fayna gemeinsam mit Tina und versprach, die Schülerin unter ihre Fittiche zu nehmen. Alles lief wie am Schnürchen, und Julia, die inzwischen die großen Thunfisch- und Bonitohälften vorbereitete, die sie um die Mittagszeit kurz im Ofen garen würde, und immer wieder den Braten kontrollierte, den sie später in feinen, innen noch rosafarbenen Scheiben kalt servieren würde, war ganz und gar in ihrem Element. Ach, sie freute sich so auf die Eröffnung ihres Restaurants!

2

Der Überraschungsbesuch

Punkt elf Uhr waren sie fertig. Paola und Carmen wischten ein letztes Mal über den Boden der Küche und des Restaurants, während Devi mit kritischen Augen die Toiletten inspizierte und alles für gut befand. Fayna und Tina trugen die Platten mit den Begrüßungstapas zum Buffet. Julia kontrollierte gerade den Rinderbraten, als sie das erste Auto ankommen hörte.

Gespannt ging sie nachsehen, wer wohl die ersten Gäste waren. Eine Frau Mitte dreißig mit kurzen, blonden Haaren stieg aus dem Wagen und sah sich mit großen Augen um. Amo schnupperte vorsichtig an ihrem Rocksaum und begann mit dem Schwanz zu wedeln.

»Amelie«, schrie Julia überrascht auf und eilte auf ihre frühere Arbeitskollegin zu. »Wie kommst denn du hierher?« Überglücklich fiel sie ihrer Freundin um den Hals.

»Mit dem Flugzeug«, antwortete Amelie trocken und grinste Julia an. »Und dann hab ich mir diesen Wagen hier gemietet.«

»Du hast Bescheid gewusst, oder?«, fragte Julia Álvaro, der sich lächelnd näherte.

»Die Überraschung ist offenbar gelungen«, gab er zufrieden zurück. »Herzlich willkommen«, sagte er zu Amelie. »Ich freu mich, dich endlich persönlich kennenzulernen. Julia hat schon so viel von dir erzählt.«

Julia entging nicht, wie beeindruckt Amelie von Álvaro war. Sie konnte es ihr nicht verdenken, ihr Freund sah einfach unglaublich gut aus. Über seiner neuen Jeans trug er ein traditionelles weißes Leinenhemd von der Insel.

»Ich freu mich auch«, antwortete Amelie hingerissen, betrachtete den Drachenbaum und sah hinunter auf den Atlantik. »Das ist ja wirklich eine Wucht!«, rief sie begeistert. »Noch viel schöner als auf den Fotos.«

»Komm rein!« Julia nahm sie an der Hand und führte sie in den Innenhof. »Hast du schon gefrühstückt?«

»Ja, im Hotel«, antwortete Amelie und streifte das vorbereitete Buffet mit professionellem Blick. »Einen Kaffee nehme ich trotzdem gern, wenn es keine Umstände macht.« Gleich war Fayna zur Stelle, die offenbar ebenfalls eingeweiht gewesen war, in der Hand ein hübsches Tablett mit einer Tasse Kaffee darauf und einem kleinen Glas Wasser.

»Bienvenida«, sagte sie.

»Fayna macht den Service«, erklärte Julia, erfreut über die Professionalität ihrer neuen Mitarbeiterin. Sie wandte sich auf Spanisch an die Palmera. »Amelie ist eine Kollegin von dir. Sie ist Serviceleiterin in einem erstklassigen Lokal in Deutschland …«

»Ich war Serviceleiterin«, korrigierte Amelie sie, bedankte sich lächelnd bei Fayna und nahm ihr den Kaffee ab. Julia riss erstaunt die Augen auf, zum einen über die Tatsache, dass ihre Freundin Spanisch sprach, und zum anderen über die Neuigkeit.

»Ich hab mal ein ganzes Jahr in Bilbao gearbeitet, weißt du das nicht mehr?«

»Natürlich«, antwortete Julia und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Aber sag mal, ich dachte, du hättest dich mit dem neuen Restaurantbesitzer so gut verstanden?«, fragte sie, nun wieder auf Deutsch.

»Ja, am Anfang schon.« Amelie wand sich sichtlich, verdrehte die Augen, und Julia begann zu ahnen, was passiert sein mochte. »Sagen wir mal so: Wir haben uns zu gut verstanden. Und dann überhaupt nicht mehr. Du weißt ja, mit Männern, in die ich mich verliebe, habe ich kein Glück.«

»Ach, Amelie, das tut mir leid«, sagte Julia voller Mitgefühl. »Und was machst du jetzt?«

»Dasselbe, was du im Frühjahr getan hast«, gab Amelie zurück und verzog das Gesicht zu einer lustigen Grimasse. »Ich nehme eine Auszeit.«

»Ausgezeichnete Idee.« Julia strahlte. »Und nirgendwo kannst du das besser tun als hier.«

Inzwischen waren weitere Besucher eingetroffen, der Hof füllte sich allmählich mit Bewohnern des benachbarten Dorfes. Zuerst wirkten sie scheu, doch nachdem Julias Helferinnen sie mit Getränken versorgt hatten, tauten sie auf und sahen sich neugierig auf dem Anwesen um. Amo, der begriffen hatte, dass all diese Menschen mit Julias Erlaubnis hier waren, begrüßte die Neuankömmlinge schwanzwedelnd und kreiste um die wachsende Gästeschar, so als sei sie eine Herde, die er zu bewachen hatte.

»Das ist aber schön geworden«, sagte die Frau des Bürgermeisters. Sie stand vor dem großen Portal und spähte ins Restaurant.

»Bitte sehen Sie sich ruhig um«, forderte Julia sie auf und geleitete sie persönlich in den Gastraum.

»Ach, sag einfach Lorita zu mir, so wie alle anderen auch«, antwortete die Frau und zeigte beim Lächeln eine kleine Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen, was sie irgendwie sympathisch erscheinen ließ. »Wie beeindruckend!«, rief sie aus, als sie zu dem großen Oberlicht emporsah, durch dessen Milchglasscheiben die Sonnenstrahlen gedämpft den Raum erhellten. Julia hatte an den Deckenbalken Blumenampeln aufgehängt und sie mit Farnen und Strelizien bepflanzt, was dem Raum den Charme eines verzauberten Märchenschlosses verlieh.

»Im Grunde habe ich nur erhalten und renoviert, was ich vorgefunden habe«, erklärte Julia bescheiden.

»Das ist die Untertreibung des Tages«, ertönte es von der Schwelle. Eine aufrechte kleine Gestalt, die sich auf einen Gehstock stützte, stand dort im Gegenlicht.

»Belén«, rief Julia und ging Álvaros Großmutter entgegen. »Wie schön, dass du hier bist!«

»Ich freu mich auch!«, entgegnete die alte Dame herzlich. Vor vielen Jahren hatte ihr der alte Gasthof gehört, ihre Kochkünste waren legendär gewesen. »Was für ein großer Tag für uns alle! Du glaubst nicht, wie froh es mich macht, dass hier nach all der Zeit endlich wieder Leben einkehrt. Und um es ganz deutlich zu sagen«, Belén wandte sich an Lorita, »Julia hat etwas schier Unmögliches geschafft: Sie hat diesen alten Kasten auf den neuesten Stand gebracht, und dennoch ist es ihr gelungen, seinen Geist zu erhalten. Und das, obwohl sie keine Ahnung gehabt hat, was früher hier war.«

»Vielleicht genau deswegen«, gab Lorita zu bedenken. »Ich kenne die alten Geschichten auch nur vom Hörensagen, damals war ich ja noch viel zu jung und lebte auch nicht in dieser Ecke der Insel, um das alles miterlebt zu haben. Ich glaube, nur jemand, der von all dem nichts wusste, konnte so unbefangen an die Sache herangehen wie Julia.«

»Das stimmt«, mischte sich eine männliche Stimme in die Unterhaltung ein. Es war Baltasar, Loritas Mann, der seit einem Jahr Bürgermeister des Dorfes war. Ihm folgten Juan Pérez und seine Frau Beatriz, die Eltern von Tina und Álvaros bestem Freund Toto. »Wir alle sind sehr froh, dass Sie hier sind, Julia. Und an die alten Geschichten wollen wir nicht mehr denken.« Es klang ein wenig steif und bemüht, denn noch immer steckte dem Mann wohl die Feindseligkeit in den Knochen, die seine Gemeinde und vor allem Juan Pérez Julia anfangs entgegengebracht hatte.

»Nein, heute wollen wir feiern«, stimmte Julia ihm zu und winkte Tina heran, die gerade vorsichtig ein Tablett mit frisch gefüllten Sektkelchen von der Theke hob. »Lasst uns auf das Mesón Flor de Sal anstoßen und vor allem auf gute Nachbarschaft.«

»Und darauf, dass der Gasthof ein großer Erfolg wird!«, fügte Baltasar hinzu. »Schließlich ist es im Interesse unserer Gemeinde, dass Gäste auf unsere entlegene Gegend aufmerksam werden.«

Die Gläser schlugen mit einem harmonischen Klang aneinander, und Julia atmete tief durch. Erneut wurde ihr klar, wie sehr sie die Ablehnung der Dorfgemeinschaft belastet hatte.

»Toto hat mir erzählt, dass du einen zuverlässigen Fischer suchst, der dich beliefern könnte«, sagte Juan Pérez zu Julia.

»Ja, das stimmt«, erwiderte Julia. Noch waren ihr die Lieferketten zu fangfrischem Fisch auf der Insel ein Buch mit sieben Siegeln. »Beste Qualität und Nachhaltigkeit, das ist mir wichtig. Bislang kaufe ich auf dem Markt ein. Auf Dauer ist mir der Fisch dort nicht frisch genug.«

Juan Pérez nickte. »Ich habe mir erlaubt, Abián Bencomo heute herzubitten, damit ihr euch kennenlernt. Er ist ein alter Freund unserer Familie. Ich denke, er ist genau der richtige Mann für dich.«

»Oh wie nett, vielen Dank.« Julia hatte nicht zu hoffen gewagt, dass ausgerechnet ihr ehemals größter Gegner sie in dieser Frage unterstützen würde. »Dein Urteil bedeutet mir viel«, fügte sie hinzu. »Schließlich hast du früher selbst als Fischer gearbeitet.«

»So wie mein Vater und mein Großvater.« Juan Pérez nickte ernst. »Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Unsere Küsten sind überfischt. Nicht alle halten sich an die Vorgaben und überschreiten die zugeteilten Quoten. Dazu kommen die vielen Privatfischer, die ihren Fang überhaupt nicht angeben. Abián gehört zu denen, die umsichtig sind. Er und seine Leute benutzen weder Reusen noch Schleppnetze, sondern die Angel, auf diese Weise kann man zielgenau auf Bestellung fangen und mit dem Köder justieren, wie groß der Fisch sein soll. Selbstverständlich fängt er nur so viel, wie ihm zusteht. Die meisten guten Restaurants auf La Palma gehören zu seinen Kunden.«

»Hat er denn dann überhaupt noch Kapazitäten für mich frei?«, fragte Julia.

Juan Pérez wiegte seinen Kopf. »Ich denke, er hätte nicht zugesagt zu kommen, wenn das nicht der Fall wäre. Am besten fragst du ihn selbst.«

Mehr Gäste aus dem Dorf gesellten sich zu ihnen und verwickelten Juan in ein Gespräch. Julia sah kurz in der Küche nach dem Rechten und konnte sich davon überzeugen, dass Paola stets fleißig den Ofen mit Brötchen befüllte, sodass sie in regelmäßigen Abständen frisch auf das Buffet gebracht werden konnten. »Mach dir keine Sorgen«, rief ihr die zupackende Spanierin gut gelaunt zu. »Ich hab hier alles im Griff!«

Devi hatte sich kurzerhand ebenfalls eine der Servierschürzen umgebunden und unterstützte Fayna und Tina dabei, das Tapas-Buffet ständig mit Nachschub zu versorgen und abgestellte Tellerchen sogleich wieder abzuräumen. Mit einer großen Platte albóndigas in den Händen, den klassischen spanischen Fleischbällchen in pikanter Tomatensauce, kehrte Julia in den Hof zurück, gerade rechtzeitig, um ihre Freunde Maribel und Paco willkommen zu heißen, die in der Nähe einen Ziegenhof samt Imkerei betrieben. Obwohl Maribel Julias Mutter hätte sein können, fühlte sie sich dieser großherzigen und bodenständigen Frau sehr verbunden. Außerdem hatte Julias Patensohn Emil auf dem Ziegenhof ein zweites Zuhause gefunden, denn er und Maribels Enkel Acorán waren Schulkameraden und beste Freunde. Auch an diesem Tag waren die beiden Jungen mit von der Partie, und nachdem Emil seine Tante stürmisch begrüßt hatte, tobten die beiden Jungen gemeinsam mit Amo in den Garten hinter der Finca und wurden vorerst nicht mehr gesehen.

»Das Buffet ist ja eine Augenweide«, staunte Maribel.

»Schau mal, das ist dein Ziegenkäse«, sagte Julia zu Paco und bot den beiden ein Tellerchen an.

»Was hast du denn mit dem angestellt?«, wollte Paco wissen, nachdem er probiert hatte. »Der hat ja ein völlig neues Aroma.«

»Ich hab ihn in hausgemachtem Essig aus Nísperofrüchten eingelegt«, verriet Julia. »Schmeckt es dir?«

»Und wie!«

»Ihr müsst auch die anderen Sachen probieren«, bat Julia und sorgte dafür, dass ihre Freunde mit Espumoso versorgt wurden. Als sie sah, dass sie von einigen Nachbarn umarmt wurden, richtete sie ihr Augenmerk wieder auf die Bewirtung.

Fachmännisch glitt Julias Blick über das Buffet mit den winzigen, bildschön angerichteten Tellerchen: Manchego mit Quittengelee, Oktopus mit ein paar Tropfen Chiliöl und hauchfeinen, gedünsteten Streifen von naturbelassenen Zitronenschalen. Und die Röllchen aus Bernsteinmakrelen, die es hier an der palmerischen Küste wunderbarerweise gab.

»Das schmeckt absolut fantastisch«, hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich und entdeckte die Clique, mit der Álvaro seit seiner Jugend befreundet war. Serena leckte sich gerade über die Lippen. Bei ihr standen Naira und Toto, natürlich war auch Pepe nicht weit. »Was ist denn bloß an diesen Fischröllchen?«, wollte Serena von Julia wissen. »Bitte, haltet mich auf, sonst esse ich die ganze Platte leer.« Serena hatte sich besonders schön gemacht, an diesem Tag trug sie ihr langes, dunkelbraun glänzendes Haar, das Julia so bewunderte, kunstvoll aufgesteckt, was sie wie eine Königin aussehen ließ. Auch Naira, Álvaros Cousine, von der Julia lange geglaubt hatte, sie sei seine Freundin, hatte sich in Schale geworfen, sie trug ein ärmelloses, hellblaues Leinenkleid und hatte ihr zartes Puppengesicht sorgfältig geschminkt, was sie sonst selten tat.

»Sie wird uns bestimmt nicht ihre Rezepte verraten«, sagte sie gerade mit einem spitzbübischen Grinsen. »Was, Julia?«

»Wir können ja mal einen Kochkurs unter Freundinnen veranstalten«, schlug Julia vor.

»Wie bitte?«, ließ Pepe sich vernehmen. »Männer sind dazu etwa nicht zugelassen? Das ist ganz klare Diskriminierung, Julia.«

»Wenn du dabei sein möchtest, immer gerne«, entgegnete Julia mit einem fröhlichen Lachen. »Was ist mit dir, Toto, willst du auch kochen lernen?«

»Ich stelle mich als Verkoster zur Verfügung«, lautete die Antwort von Tinas Bruder. Lässig schob er sich den alten Strohhut aus der Stirn, ohne den er nie aus dem Haus ging. »Und als Flaschenöffner.«

Die anderen lachten.

»Wir nehmen dich beim Wort«, meinte Julia und ließ ihren Blick über die Gäste schweifen.

»Hier kommt übrigens Abián mit seiner Frau«, sagte Toto und sah zum Torbogen, durch den gerade ein kleiner, gedrungener Mann schritt, am Arm eine zierliche rothaarige Frau. »Komm, ich stell euch einander vor. Das ist der Fischer, den mein Vater für dich angesprochen hat.«

»Ja, ich weiß«, erklärte Julia aufgeregt. »Das war sehr nett von Juan.«

Gemeinsam gingen sie auf den Fischer zu, der mit seiner Frau im Hof stehen geblieben war und sich offenbar nach jemandem umsah, den er kannte.

»¡Bienvenidos!«, sagte Julia freudig und stellte sich vor. »Wie nett, dass Sie gekommen sind. Möchten Sie ein Glas Espumoso?«

Sie winkte Tina, während Toto mit Abián ein Gespräch über den Küstenschutz und das Klima begann, das in diesem Jahr viel zu trocken war. »Ich heiße Julia«, sagte sie zu Abiáns Frau und reichte ihr eines der Gläser von Tinas Tablett.

»Ich bin Dácil«, antwortete diese und betrachtete Julia interessiert aus dunklen Augen.

»Ist das auch ein altkanarischer Name?«, erkundigte sich Julia. »Sie klingen alle so geheimnisvoll.«

Die Frau des Fischers lächelte. »Für uns sind sie ganz normal«, gab sie zurück. »Dácil bedeutet die Leuchtende. Was Abián übersetzt heißt, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht.«

Das Gespräch der Männer stockte, und Julia nutzte den Moment, um es auf ihr Anliegen zu lenken. »Bitte probieren Sie von meinen Tapas«, bat sie. Sie wählte mit Bedacht zwei Tellerchen mit der Bernsteinmakrele und bot sie ihren Gästen an.

Abián begutachtete das Röllchen genau, dann kostete er. »Von wem haben Sie den Fisch?«, erkundigte er sich.

»Von dem Händler aus der Markthalle von Los Llanos«, antwortete sie und versuchte, seiner Miene abzulesen, was er dazu meinte.

»Und wie zufrieden sind Sie mit der Makrele?« Offenbar war sie es, die gerade einem Test unterzogen wurde. Sie lächelte.

»Die Qualität ist gut, sonst hätte ich sie nicht verwendet«, antwortete sie. »Frisch genug, um das Filet mariniert zu servieren. Allerdings kenne ich die Bernsteinmakrele in besserer Qualität. Der Fisch war zu jung, als er gefangen wurde. Das Aroma ist noch nicht ganz ausgereift.« Abián nickte. Julia überlegte, ob sie schon jetzt zur Sache kommen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Es war besser, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Zuerst sollten sich Abián und Dácil bei ihr wohlfühlen. Über das Geschäftliche konnten sie später noch sprechen. Und so brachte sie die beiden zu Totos Vater, nicht ohne sie zuvor am Buffet vorbeizuführen und ihnen vor allem den Oktopus ans Herz zu legen.

Der Hof hatte sich gefüllt, Julia sah viele bekannte Gesichter. Sie begrüßte die Frauen von der Witwenkooperative samt ihren Angehörigen, außerdem Emils Klassenlehrerin, die Julia zum Entsetzen der Jungen ebenfalls eingeladen hatte. Fayna und Tina kamen kaum mit den Getränken hinterher, und auch die Vorspeisen würden bald zur Neige gehen. Zeit, den Fisch in den Ofen zu schieben und den Braten aufzuschneiden. Julia zog sich in die Küche zurück, wo Paola bereits die passenden Platten herausgesucht hatte und die Ofenwärme kontrollierte.

Sie hatten gerade unter dem Beifall der Gäste alle gemeinsam die wundervoll dekorierten Platten mit Fleisch und den perfekt gegarten Fischhälften aufgetragen, als ein großer Tourenbus über die Piste rumpelte und unter dem Drachenbaum zum Stehen kam.

»Hast du etwa die Fußballmannschaft von Santa Cruz eingeladen?«, fragte Álvaro überrascht, der Julia ein großes Glas Mineralwasser mit einer Zitronenscheibe darin brachte. Wenn sie arbeitete, vergaß sie meist, selbst auf sich zu achten. Sie zuckte ratlos mit den Schultern und leerte das Glas in großen Zügen. Auf einmal war Amo wieder zur Stelle und rannte wütend bellend um den Bus herum.

»Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte«, gab sie leise zurück, stellte das Glas ab und rief Amo zurück. Der war so aufgebracht, dass Álvaro ihn am Halsband nehmen musste. »Bitte sperr ihn in den Schuppen«, bat Julia ihn. Dann ging sie dem Gefährt entgegen. Unzählige fremde Gesichter spähten aus dem Bus. Und Julia beschlich ein ausgesprochen ungutes Gefühl.

3

Der Überfall

»Hallo Schwesterherz.« Julia glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. In der offenen Beifahrertür des Busses stand niemand anderes als ihr Bruder Jens. »Herzlichen Glückwunsch zur Eröffnung! Ich hab dir ein paar Kunden mitgebracht. So wird dein Restaurant auch unter den Feriengästen bekannt.« Auf ein Zeichen von ihm öffnete sich nun auch die rückwärtige Tür, aus der Touristen herausquollen, sich kritisch umsahen und dann dem Torbogen zustrebten.

»Das ist also so ein typisches mesón«, hörte Julia eine Frau zu ihrem Mann sagen. »Na hoffentlich gibt es hier mal was Anständiges zu essen und nicht schon wieder diesen ewigen Ziegenkäse.«

Konsterniert sah Julia ihnen nach.

»Na, was ist, hat es dir die Sprache verschlagen?« Lässig strich Jens sich mit der Hand durch sein dichtes, dunkelblondes Haar und schien die Situation sichtlich zu genießen. »Du kannst ruhig Dankeschön sagen.«

»Wie viele Leute sind das denn?«, fragte Julia bestürzt, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Noch immer stiegen Menschen aus dem Bus, und es schien gar kein Ende zu nehmen. »Fünfzig? Sechzig? Himmel, Jens, warum hast du mir das denn nicht vorher gesagt?«

»Ich denke, das ist ein Tag der offenen Tür«, gab ihr Bruder zurück. »Da muss man sich doch wohl nicht anmelden.« Er schüttelte den Kopf, so als fände er sie schrecklich undankbar, und marschierte in den Hof ihres Restaurants, als gehöre es ihm.

Julia, die ihm hinterhereilte, glaubte, nicht recht zu sehen. Wie die Habichte machten sich einige von Jens’ Kunden bereits über die kunstvoll angerichteten Platten her. Fayna versuchte vergeblich, einer energischen älteren Dame das Messer aus der Hand zu nehmen, mit dem sie die Thunfischhälfte massakrierte und ihren Freundinnen große Stücke auf die Teller legte.

»Augenblick«, versuchte Julia einzuschreiten. »Dies ist keine Selbstbedienung. Bitte geben Sie mir das Messer.«

Doch die Frau dachte nicht daran und lud das letzte Stück von dem Thunfisch auf den Teller ihres Partners. Auf der Platte blieben nur noch Fetzen zurück, es sah aus wie auf einem Schlachtfeld. Auch der Bonito war geplündert, von dem Braten nur noch ein paar Scheiben übrig.

»Also, ich weiß nicht, ob das richtig ist«, wandte eine andere Touristin ein und warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. »Können wir uns denn einfach so bedienen?« Hilfesuchend sah sie Julia an.

»Herr Brunner hat gesagt, das ist im Preis inbegriffen«, antwortete die resolute Dame und legte das Messer endlich weg, um sich ihrer Beute zu widmen.

»Aber sagen Sie mal«, wandte sich ein älterer Herr, der in seinem großen Stück Thunfisch herumstocherte, an Julia. »Sind Sie hier die Köchin? Der Fisch ist ja gar nicht ganz durchgebraten! Ich hoffe, wir holen uns keine Salmonellen.«

Sie holen sich bald noch etwas ganz anderes, wollte Julia zornig entgegnen, da fasste sie jemand sanft an der Schulter und schob sie zur Seite. »Geh lieber in die Küche und sorge für Nachschub«, raunte ihr Amelie leise zu. »Überlass das mir. Álvaro, habt ihr irgendwo noch mehr Tische und Stühle?«

Souverän begann Amelie mit Jens zu verhandeln, während Álvaro gemeinsam mit Sam in Windeseile draußen vor dem Tor Sitzgelegenheiten aufstellte. Und nach einer Weile, die Julia unendlich lang erschien, schaffte Amelie es tatsächlich, die ganze Gesellschaft dort unter dem Drachenbaum zu versammeln und auf diese Weise vom Buffet fernzuhalten. Dennoch verließen einige der Einheimischen demonstrativ das Fest, unter ihnen zu Julias Schrecken auch Abián Bencomo mit seiner Frau. Toto, der schon seit Langem ausgesprochen schlecht auf Jens zu sprechen war, hatte sich mit Naira und Pepe in einem Winkel des Hofs zurückgezogen, wo die drei die Köpfe zusammensteckten. Ob sie wohl überlegten, das Fest ebenfalls zu verlassen? Serena dagegen half Álvaro und den anderen und packte tüchtig mit an, während der gute Amo sich in seinem Gefängnis schier heiser bellte.

Tränen traten Julia in die Augen. Alles war bislang so gut verlaufen, und nun musste ausgerechnet ihr eigener Bruder mit dieser Touristengruppe auftauchen und unter den Einheimischen für Irritationen sorgen. Wie durch einen Schleier nahm sie die befremdeten Blicke ihrer Nachbarn wahr, die das geplünderte Buffet musterten, und half Fayna und Tina, es so schnell wie möglich abzuräumen. Dann zog sie sich an den Ort zurück, wo sie sich am besten auskannte – in ihre Küche.

Dort befeuchtete sie ein sauberes Küchentuch mit kaltem Wasser und drückte es kurz gegen ihre Augen. Ruhig bleiben, sagte sie sich. Nicht die Nerven verlieren. Es ist doch nur Jens. Und dass ihr Bruder sich häufig wie die Axt im Walde aufführte, wusste sie ja schon lange.

Also besann sie sich auf ihre Professionalität und begann von vorn. Zum Glück hatte sie noch weitere dieser großen Fische im Kälteschrank, und während sie diese präzise und effizient filetierte und für das Backrohr vorbereitete, gelang es ihr tatsächlich, sich wieder einigermaßen zu beruhigen. Sie zeigte Paola, wo sie noch mehr von den marinierten Auberginen, Zucchini, gelben und roten Paprika sowie Austernpilzen aufbewahrte und ließ die wunderschön angerichteten Schalen zusammen mit Körben voll frisch gebackener Brötchen auftragen.

»Ist er weg?«, hörte sie plötzlich hinter sich eine ängstliche Stimme und fuhr herum. Emil lugte durch die Tür, die in den Flur führte. Hinter ihm erkannte sie Manuel und El Rostro, wie sich Maribels Enkel gern nannte. Offenbar hatten sie sich in das Zimmer im Obergeschoss zurückgezogen, das Julia für Emil eingerichtet hatte.

»Jens? Das weiß ich nicht«, gab Julia zurück. »Wieso versteckst du dich vor deinem Vater?«

Mit einer ähnlichen Geste wie Jens vorhin strich sich Emil die widerspenstige, blonde Strähne aus der Stirn, im Gegenteil zu ihm wirkte er jedoch kleinlaut und fahrig. »Es ist besser, er sieht mich hier nicht«, gestand er schließlich. »Er hat neuerdings etwas gegen El Rostro und seine Familie und hat mir verboten, bei ihnen zu sein.«

»Aha«, machte Julia, wenig erfreut über diese neuerliche Komplikation. »Und wo, denkt er, hast du heute Nacht geschlafen?«

»Na, zu Hause«, gab Emil trotzig zurück. »Bei Tanja.«

»Das versteh ich nicht. Er wohnt ja immerhin auch da«, wandte Julia verständnislos ein. Tanja war die um viele Jahre jüngere Lebensgefährtin ihres Bruders, mit der Emil ein denkbar schlechtes Verhältnis pflegte. »Oder …?« Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf.

»Er bleibt jetzt öfters über Nacht weg«, erklärte Emil. »Tanja und er zoffen sich dauernd. Und da Tanja gesagt hat, ich kann ihretwegen tun und lassen, was ich möchte, habe ich mich bei El Rostro einquartiert.«

Julia schob das Blech mit dem Fisch in die Röhre und wusch sich die Hände. Das waren ja schöne Nachrichten.

»Hör zu, Emil, ich möchte nicht auch noch ins Kreuzfeuer zwischen dir und deinem Vater geraten«, sagte sie genervter, als es ihre Absicht gewesen war.

»Bist du etwa sauer auf mich?« Emil riss seine blauen Augen auf.

»Nein, aber …«

Fayna betrat die Küche und stellte einen Stapel mit schmutzigem Geschirr auf die Spülmaschine. »Die Touristen sind runter zum Salzgarten gegangen«, berichtete sie.

»Oh, nein. Auch das noch!«, entfuhr es Julia. »Weiß Álvaro davon?«

Fayna nickte und füllte einen Brotkorb auf. »Ja, er ist mitgegangen. Und danach, hat El Alemán gesagt, ziehen sie weiter zur nächsten Attraktion.« Sie zwinkerte Julia beruhigend zu, doch so richtig entspannen konnte die sich nicht. El Alemán. So nannten die Einheimischen ihren Bruder: den Deutschen. Besonders nett gemeint war das nicht. Und jetzt trampelten diese unmöglichen Leute auch noch durch Álvaros Salzgarten. Ob ihm das recht war? Hoffentlich bahnte sich da nicht weiterer Ärger an.

»Und unsere Gäste?«, fragte sie besorgt. »Sind viele gegangen?«

»Nur ein paar«, versuchte Fayna, sie zu beruhigen. »Die anderen haben den Zwischenfall schon wieder vergessen.« Sie nahm eine weitere Platte auf, um sie hinaus in den Hof zu bringen. »Ach, übrigens, alle fragen, wo du steckst. Wenn du Zeit hast, schau mal wieder bei den Gästen vorbei.«

»Danke.« Julia atmete auf. Was für ein Glücksfall, dass sie diese patente Frau hatte einstellen können.

»Die Luft ist rein!«, jubelte Emil und schoss gemeinsam mit seinen Freunden an Fayna vorbei in den Hof.

Julia seufzte. Ihren Eröffnungstag hatte sie sich anders vorgestellt. Besonders ärgerlich war, dass Abián schon gegangen war, mit dem sie doch unbedingt wegen der Fischlieferungen hatte sprechen wollen. Nun, das musste sie eben ein anderes Mal tun.

Sie riss sich zusammen, eilte kurz hoch in ihr Zimmer, um sich frisch zu machen, puderte ein wenig ihr gerötetes Gesicht ab. Ein paarmal atmete sie tief durch und ging schließlich hinaus zu ihren Gästen.

»… und so ein schwarzes Schaf findet sich eben in den besten Familien«, hörte sie Belén gerade sagen. »Nehmt unsere zum Beispiel! Hätte mein Esel von einem Schwiegersohn vor dreißig Jahren dieses Anwesen nicht im Spiel verloren … ach, was sag ich. Was geschehen ist, ist eben geschehen. Und El Alemán …« Die alte Dame stockte, als sie Julia gewahr wurde. »Was ich eigentlich sagen will«, fuhr sie fort und straffte sich. »Man darf nicht vom Bruder auf die Schwester schließen.«

»Nun ja«, wandte der Bürgermeister skeptisch ein. »Wenn das hier zur Touristenattraktion wird und ständig solche Gruppen kommen …«

»Lieber Herr Bürgermeister«, fiel ihm Belén mit der ganzen Autorität der früheren Besitzerin des Mesón Flor de Sal ins Wort. »Restaurants sind für alle da. Und wenn auch Besucher aus dem Ausland Julias ausgezeichnete Küche zu schätzen wissen, dann wollen wir ihr das gönnen. Oder nicht?«

Die einen stimmten ihr zögernd zu, andere jedoch sahen zu Boden oder hoben die Brauen.

»Ich werde mit meinem Bruder sprechen«, mischte sich nun Julia ein. »Und natürlich ist hier jeder willkommen, der sich anständig benimmt.«

»Wir dürfen nicht vergessen«, gab Belén zu bedenken, »dass viele Menschen hier vom Tourismus leben. Es wäre gar nicht gut für uns, wenn keine Urlauber aus dem Ausland mehr zu uns kämen.«

»Nur …«, wandte Lorita zögernd ein, »wenn wir hier unsere Familienfeste feiern wollen und auf einmal kommt da so ein Bus …«

»Das wird nicht mehr vorkommen«, versicherte Julia und fühlte, wie ihr schon wieder der Schweiß den Rücken hinunterlief. »Ich entschuldige mich für das, was vorhin passiert ist.« Mit Grauen dachte sie an die hemmungslos geplünderten Platten. »Und wenn ihr eure Familienfeste bei mir feiern möchtet, bekommt ihr das Restaurant natürlich exklusiv als geschlossene Gesellschaft. Da seid ihr ganz unter euch.« Sie versuchte, in den Gesichtern ihrer Gäste zu lesen, wie sie das aufnahmen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es klüger war, das Thema zu wechseln. »So, und jetzt wird es Zeit für etwas Süßes, meint Ihr nicht auch?« Wie aufs Stichwort brachten Fayna und Tina Tabletts mit dem Keks-Sortiment der Witwenkooperative. »Ich freue mich sehr, dass die fantastischen Bäckerinnen vom Horno de la Delicia mit mir zusammenarbeiten und das Restaurant mit ihren wunderbaren galletas beliefern. Dies ist quasi eine Premiere, ihr seid die Ersten, die die exklusiv nach eigenem Rezept für das Mesón gebackenen Plätzchen probieren werden. Nicht nur ich, auch Nunzia, Rosaria, Pilar und Candelaria sind sicherlich neugierig, wie sie euch schmecken.«