7,99 €
Die Vorbereitungen für Weihnachten laufen im Restaurant Mesón Flor de Sal auf Hochtouren. Unerwartet kündigt sich kurz vor den Feiertagen Belisario an, Álvaros Vater, der seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr auf La Palma war. Er hat damals im Spiel die Finca an Marcos verloren und damit viel Kummer über seine Familie gebracht. Während Álvaros Gefühle in eine Achterbahn geraten, versucht Julia, zuversichtlich zu bleiben. Doch dann stellt sich heraus, dass Belisario nicht einfach nur aus Sehnsucht nach seiner Familie gekommen ist. So nehmen die Weihnachtstage eine andere Wendung, als Julia es geplant hat. Und doch siegt am Ende der Zauber und die Kraft dieses Festes der Liebe.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 154
Die Vorbereitungen für Weihnachten laufen im Restaurant Mesón Flor de Sal auf Hochtouren. Unerwartet kündigt sich kurz vor den Feiertagen Belisario an, Álvaros Vater, der seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr auf La Palma war. Er hat damals im Spiel die Finca an Marcos verloren und damit viel Kummer über seine Familie gebracht. Während Álvaros Gefühle in eine Achterbahn geraten, versucht Julia, zuversichtlich zu bleiben. Aber dann stellt sich heraus, dass Belisario nicht einfach nur aus Sehnsucht nach seiner Familie gekommen ist. So nehmen die Weihnachtstage eine andere Wendung, als Julia es geplant hat. Und doch siegt am Ende der Zauber und die Kraft dieses Festes der Liebe.
Tabea Bach war Operndramaturgin, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Sie wuchs in Süddeutschland und Frankreich auf. Ihr Studium führte sie nach München und Florenz. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald. Ihre KAMELIEN-INSEL-Romane gelangten alle auf die Bestsellerliste – ebenso wie die SEIDENVILLA-Saga, die in einer Seidenweberei spielt. Die neue Reihe handelt von einem Salzgarten auf den Kanarischen Inseln.
Tabea Bach
WEIHNACHTSZAUBER IM
SALZGARTEN
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Titelillustration: www.buersosued.de, © Ildiko Neer/Trevillion Images
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2862-1
luebbe.de
lesejury.de
»Hier duftet es ja herrlich!« Belén schnupperte. »Sind das deine berühmten Elisenlebkuchen?«
»Möchtest du einen probieren? Bei diesem hier ist der Schokoladenguss bereits fest.« Julia reichte Álvaros Großmutter eines der dunkelbraun glänzenden Gebäckstücke.
»Wenn sie nur schon alle fertig wären«, maulte ihr Neffe Emil und bemühte sich, gleichmäßige Häufchen von der weichen Teigmasse auf die Oblaten zu setzen, so wie Julia es ihm und Parvati gezeigt hatte. Dabei stellte sich seine Klassenkameradin weitaus geschickter an, im Nu hatte das Mädchen ihre Seite des Backblechs gefüllt.
»Hmm«, machte Belén und ließ sich auf einem der Küchenstühle nieder. »¡Riquísimo! Wenn ich jünger wäre, würde ich mir das Rezept aufschreiben, so gut sind sie«, fügte sie mit einem Lachen hinzu.
»Jetzt lässt du sie einfach mich backen«, gab Julia liebevoll zurück.
»Und mich«, warf Emil ein und kratzte den letzten Rest Teig aus der Schüssel. »So was nennt man Kinderarbeit.«
Julia lachte. »Wer hat denn hier so lange gequengelt, bis wir mit der Weihnachtsbäckerei angefangen haben?« Sie nahm das Blech und schob es in den Ofen. »Wenn ihr keine Lust mehr habt, müsst ihr nicht weitermachen. Dann übernehmen es Belén und ich, die Lebkuchen mit dem Schokoguss zu überziehen.«
»Oh nein«, riefen Parvati und Emil wie aus einem Munde.
»Wir machen das schon«, fügte Emil rasch hinzu.
Julia und Belén wechselten einen verschmitzten Blick. »Aber nicht alles aufessen!«
»Deine Glasur schmeckt einfach so lecker«, gestand Parvati, die einen Löffel in die im heißen Wasserbad flüssig gehaltene Schokoladenkuvertüre getaucht hatte und nun schuldbewusst dreinsah. »Viel besser als die von Mama.«
»Die kauft sie wahrscheinlich auch fertig im Laden«, vermutete Belén. »Während Julia sie selbst herstellt, hab ich recht?«
Julia nickte. »Und ich nehme dafür beste Schweizer Schokolade. Ich hab sie mir extra schicken lassen.« Als sie Emils begehrlichen Blick sah, fügte sie schmunzelnd hinzu: »Die verwahre ich übrigens in einem besonders sicheren Versteck.«
»Bestimmt in der Höhle«, mutmaßte Emil und tauchte seinen Backpinsel in die Glasur. Und damit lag er gar nicht mal so falsch. In dem mächtigen Felsen, auf dem Julias Restaurant Flor de Sal fast dreihundert Meter über dem Atlantik thronte, gab es eine natürliche Höhle, die geräumig genug war, dass sie einen großen Teil ihrer Lebensmittel dort einlagern konnte. Zum Beispiel Schweizer Schokolade.
»Und weil wir schon dabei sind«, versuchte Julia davon abzulenken, »dann zeig ich euch heute auch, wie man Salzkaramell macht. Was haltet ihr davon?«
Weder Parvati noch Emil wirkten begeistert.
»Wir haben morgen doch diesen Mathetest«, wandte Emil ein und warf Parvati einen raschen Blick zu.
»So kurz vor Weihnachten?« Julia sah auf den Kalender. Es war Montag, der 19. Dezember.
»Es stimmt wirklich«, bestätigte Parvati und sah Julia mit ihren dunkelblauen Augen treuherzig an. »Wir sollten noch ein bisschen lernen.«
»Vor allem ich«, bekannte Emil freimütig. »Parvi kann das ja alles längst. Überhaupt. Sie braucht sich eine Sache bloß einmal anzusehen, und schon merkt sie sich das für immer.« Er wirkte ehrlich niedergeschlagen.
»Ist das so?«, fragte Julia überrascht. Dass Parvati eine gute Schülerin war und Emil von Anfang an geholfen hatte, dem Unterricht hier auf La Palma in einer für ihn fremden Sprache folgen zu können, hatte sie gewusst. Nun war das Mädchen rot angelaufen und zuckte verlegen mit den Schultern.
»Bei mir ist das jedenfalls nicht so«, erklärte Emil. »Ich kann die Matheaufgaben so lange anstarren, wie ich will, ich kann mir doch nicht merken, wie man sie löst.«
»Na, dann seht besser zu, dass ihr zu euren Schulbüchern kommt«, riet Julia und begutachtete das Werk der beiden. »Wir machen das Salzkaramell eben ein anderes Mal. Claires Zwillinge helfen da bestimmt auch gern mit.«
Sie sah auf die Uhr. Ihre Freundin samt Familie konnte jeden Moment eintreffen. Julia freute sich riesig auf diesen Besuch aus Deutschland. Claire und sie kannten sich seit der Grundschule, bei ihr zu Hause hatte Julia die Welt des Kochens und Genießens kennengelernt. Heute war Claire eine erfolgreiche Anwältin und beriet Julia in allen rechtlichen Fragen. Sie hatte ihr schon so manches Mal aus der Patsche helfen müssen. Dieses Mal jedoch würden sie und ihr Mann Flo samt den beiden achtjährigen Zwillingen Lili und Lena auf der Insel ihren Winterurlaub verbringen und sich einfach nur von Julia verwöhnen lassen.
»Möchtest du noch einen?«, fragte sie Belén. Die alte Dame schüttelte den Kopf, und Julia stellte die Kuchengitter mit dem frisch glasierten Gebäck beiseite.
»Muchas gracias«, antwortete sie. »Sie sind wirklich reichhaltig.«
»Du wolltest mir doch noch verraten, wie du den turrón blando machst«, sagte Julia und schenkte ihnen beiden Kaffee ein. Turrón war mindestens so typisch für spanische Weihnachten wie Lebkuchen in Deutschland.
»Das ist ganz einfach«, erklärte Belén. »Das Wichtigste sind die Zutaten, die müssen von ganz besonders guter Qualität sein.«
»Claro«, erwiderte Julia. »Das versteht sich ja von selbst.«
»Entschuldige«, sagte Belén mit einem Lachen. »Einer berühmten Sterneköchin brauche ich das natürlich nicht zu sagen. Also: Du brauchst Mandeln, Honig, Zucker, Zimt, den Abrieb von unbehandelten Zitronen, davon hast du ja genug im Garten. Und Eiklar.«
»Alles da«, antwortete Julia und erhob sich, um die Lebensmittel herauszusuchen. »Und in welchem Verhältnis?«
Eine Stunde später hatte sie ihren ersten echt spanischen Turrón hergestellt, füllte die feste Masse in eine Kastenform und stellte diese in den Kühlschrank.
»Wenn du willst, zeig ich dir morgen, wie ich früher die Marzipanrosen gemacht habe, für die das Flor de Sal berühmt war.« Belén holte eine kleine Metallform aus ihrer Handtasche und überreichte sie Julia mit einer fast schon feierlichen Geste. »Das ist das Model dazu. Wir nennen es un molde. Ich habe es von meiner Mutter geerbt. Und die hatte es von meiner Großmutter.«
Gerührt betrachtete Julia die kleine, in einem hellen Orangeton schimmernde Kupferform, der man die häufige Verwendung deutlich ansah. »Du bestäubst die Marzipanmasse mit Puderzucker und drückst sie hinein«, erklärte Belén. »Es geht ganz einfach.«
»Wir können es gleich ausprobieren«, schlug Julia begeistert vor. »Ich habe Marzipan vorbereitet. An Weihnachten braucht man das ja für einige Desserts.« Sie holte eine längliche Metallschale aus dem Kühlschrank und stellte sie auf den Tisch. Mit einem Messer schnitt sie eine dicke Scheibe von der gelblichen Masse ab und legte sie vorsichtig auf ihr Backbrett, streute Puderzucker darüber und sah Belén fragend an.
»Am besten schneidest du das Marzipan in passende Würfel«, erklärte die frühere Wirtin des Flor de Sal. »Und die drückst du in die Form.« Sie griff entschlossen nach einem Messer, zerteilte die Marzipanscheibe und schob einen Würfel mit der gezuckerten Seite in die Form. »Wenn man sie fest genug andrückt, bildet sich die Blütenform exakt ab.« Belén schlug die Form sanft auf dem Backbrett auf. Und siehe da, eine hübsche puderzuckerweiße Blüte fiel heraus.
»Das ist ja zauberhaft«, rief Julia und versuchte es selbst. Unter ihren geschickten Händen entstand im Nu ein ganzes Dutzend Marzipanblüten.
»Wenn du möchtest, kannst du die Rosen noch mit Eigelb bepinseln und kurz im Ofen überbacken«, sagte Belén, sichtlich erfreut über Julias Begeisterung.
»Man könnte den Puderzucker auch mit gemahlenen Rosenblüten vermischen«, überlegte Julia laut und holte sogleich die Dose mit dem dunkelroten Pulver hervor, das sie vor einigen Wochen selbst aus den Blütenblättern von Duftrosen hergestellt hatte. In einer kleinen Schale vermengte sie es mit Puderzucker, sodass er eine leuchtend rosarote Farbe annahm.
»Oder du kannst das Marzipan mit rotem Rosenwasser zubereiten«, schlug Belén vor. »Dann ist die Masse eingefärbt.«
»Hat eigentlich schon mal jemand Marzipan mit Flor de Sal hergestellt?« Julia runzelte nachdenklich die Stirn.
»Das wäre sicher einen Versuch wert.« Álvaro war in die Küche gekommen, weder Julia noch Belén hatten ihn bemerkt, so eingenommen waren sie von ihren Überlegungen. Er lachte, als er ihre überraschten Mienen sah. »Da haben sich zwei Köchinnen gesucht und gefunden.« Er küsste Julia zärtlich und gab seiner Großmutter besitos auf beide Wangen. »Seht mal, was ich alles vom Postamt geholt habe.« Er wies auf den großen Korb voller Briefe und Päckchen. »Heute komme ich mir vor wie Santa Claus.«
Álvaro nahm sich eine der Marzipanrosen und betrachtete sie beglückt von allen Seiten. »Die hatte ich fast vergessen«, sagte er, und seine grünbraunen Augen wurden ganz weich.
»Ich habe Julia el molde geschenkt«, erklärte Belén, und auch sie wirkte gerührt. »So geht die Tradition endlich weiter.«
»Bist du dir sicher?« Julia fühlte Verlegenheit in sich aufsteigen. Diese kleine Kupferform schien ein wahres Familienkleinod zu sein, das bislang von Mutter zur Tochter weitergegeben worden war, wenn sie es richtig verstanden hatte. Sie und Álvaro waren erst seit einem knappen dreiviertel Jahr zusammen. An Heirat oder dergleichen hatte noch keiner von ihnen gedacht. Jedenfalls Julia nicht. »Du kannst mir das Förmchen ja erst mal ausleihen«, schlug sie vor. Doch Belén schüttelte energisch den Kopf.
»Ausleihen! So ein Unsinn. Ich kenne niemanden, bei dem es besser aufgehoben wäre. Du etwa, Álvaro?«
»Ganz sicher nicht«, bestätigte er und probierte das Marzipanröschen. »Hmm«, machte er genießerisch und leckte sich sogar die Finger ab. »¡Qué rico! Ich bin gespannt auf die Variante mit meinen Salzblumen.«
Lautes Hupen ertönte. Amo, Julias Garafiano-Rüde, begann draußen im Hof heftig zu bellen.
»Das sind sie«, rief Julia auf und sprang auf.
Voller Freude lief sie durch das Restaurant und zum großen Portal hinaus. Devi hatte es wie so oft offen gelassen, nachdem sie den Gastraum ausgewischt hatte. Das Wetter war herrlich, eines der Privilegien dieser sonnenverwöhnten Insel mitten im Atlantischen Ozean, auch wenn mitunter ein kühler Windhauch von den schneebedeckten Flanken des alten Vulkankraters auf mehr als zweitausend Metern Höhe herunterwehte und daran erinnerte, dass Winter war.
»Huhu«, rief Claire und kam ausgelassen durch den Torbogen in den Hof des Anwesens gelaufen, gefolgt von Lili und Lena, die einander glichen wie ein Ei dem anderen. Amo, der Claire von ihrem letzten Besuch sogleich wiedererkannt hatte, tanzte freudig um die Gäste herum.
»So schön, dass ihr da seid«, rief Julia aus und schloss ihre Freundin in die Arme. »Wie war der Flug?«
»Langweilig«, verkündete eine der Zwillinge, und ihre Schwester fügte hinzu: »Die Stewardess war echt doof.«
»Meine Güte«, sagte Julia mit einem Lachen. »Tut mir schrecklich leid, ich habe keine Ahnung, wer von euch Lena und wer Lili ist.«
»Neuerdings kann man sie gut an Lilis Schramme am Kinn auseinanderhalten«, erklärte Florian, Claires Ehemann, der von allen nur Flo genannt wurde. Julia umarmte ihn herzlich. Dann inspizierte sie Lilis aufgeschürftes Kinn, das sie erst jetzt bemerkte.
»Wie ist das denn passiert?«, fragte sie mitfühlend, doch Claire winkte ab.
»Das willst du gar nicht wissen«, erklärte sie genervt. »Die zwei stellen jeden Tag neuen Unfug an. Ich hoffe«, sagte sie streng in die Richtung ihrer Töchter, »ihr wisst euch hier zu benehmen.«
Inzwischen war Álvaro aus dem Haus gekommen, um Claire und ihre Familie zu begrüßen und sie in den Garten zu bitten.
»Das ist furchtbar lieb«, sagte Claire, »aber wir würden zuerst gern unsere Unterkunft beziehen.«
»Natürlich«, antwortete Julia. »Kommt, ich zeig euch die Gästezimmer.«
Zu ihrer Überraschung schüttelte Claire den Kopf. »Weißt du«, begann sie verlegen, »wir würden viel zu viel Wirbel bei euch reinbringen. Deshalb haben wir kurzfristig beschlossen, ein Ferienhaus zu mieten. Es muss ganz hier in der Nähe sein …« Sie sah hilfesuchend zu ihrem Mann.
Flo nickte. »Jens hat gesagt, mit dem Auto seien es nur fünfzehn Minuten.«
Julia erstarrte. »Jens?«, fragte sie mit tonloser Stimme. »Wieso denn Jens?«
»Wir haben uns an ihn gewendet«, erwiderte Flo arglos. »Claire hat gesagt, dass dein Bruder hier eine Art Tourismusunternehmen hat, und da …«
»Ihr könnt wirklich gern bei uns wohnen«, fiel ihm Julia ins Wort. Sicher, Jens war ihr Bruder und Emils Vater. Und doch war ihr Verhältnis noch nie so schlecht gewesen wie gerade jetzt. Sie hatte das Claire gegenüber nie groß zum Thema gemacht. Und doch wusste ihre Freundin genau, dass sie und ihr Bruder nicht besonders gut miteinander auskamen. »Es ist alles vorbereitet. Ihr seht ja, dass wir Platz genug haben.« Sie wies auf das große Haus mit den beiden Stockwerken. Im Erdgeschoss befanden sich Restaurant samt Küche und Gästetoiletten. In der oberen Etage reihte sich Zimmer an Zimmer um ein großes Oberlicht, das den Gastraum erhellte.
»Das ist schrecklich lieb von dir«, erklärte Claire. »Aber du hast ja keine Ahnung, wie anstrengend die zwei sein können.« Sie wies auf die Zwillinge, die gerade dabei waren, auf die Natursteinmauer zu klettern, hinter der es mehrere hundert Meter abwärts in Richtung Steilküste ging. Flo war gerade dabei, die beiden aufzuhalten. »Ehrlich, das halte ja ich kaum aus.« Und als sie sah, wie wenig erfreut Julia war, fügte sie hinzu: »Wir verbringen die Tage ja sowieso hier bei euch. Du wirst froh sein, wenn wir am Abend verschwinden.«
Julia seufzte leise. Sie hatte gehofft, abends gemütlich mit Claire und Flo im Garten bei einer Flasche Wein zu sitzen, jedenfalls an jenen Abenden, an denen das Restaurant nicht geöffnet hatte. »Und wie seid ihr da ausgerechnet auf Jens …«
»Na, immerhin ist er dein Bruder, oder?« Claire sah sie vorwurfsvoll an. »Außerdem wollte ich ihn schon lange mal wiedersehen. Du weißt doch, wie sehr ich damals in ihn verknallt war.« Sie lachte verlegen und wandte den Blick ab. »Das ist natürlich Schnee von gestern«, fügte sie hastig hinzu. »Trotzdem ist es lustig, diejenigen nach Jahrzehnten wiederzusehen, für die man mal so geschwärmt hat. Findest du nicht?«
»Wollen wir?« Flo hatte seine beiden Töchter an den Händen gefasst. »Wenn es dir recht ist, Julia, kommen wir in ein, zwei Stunden wieder.«
»Wann immer es euch passt«, sagte Julia und bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Ausgerechnet Jens mussten sie anrufen«, beschwerte sie sich bei Álvaro, als ihre Freunde in einer kleinen Staubwolke davonfuhren. Sie erhielt keine Antwort. Und als sie sich zu ihm umwandte, sah sie, dass er ganz bleich geworden war. »Was ist denn mit dir?«, fragte sie erschrocken.
»Das glaubst du einfach nicht«, antwortete er. Er zog einen Brief aus seiner Jackentasche und reichte ihn ihr.
Zuerst sah Julia die fremdartige Briefmarke. »Aus Venezuela?«, fragte sie erstaunt. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. »Der ist von deinem Vater!«, rief sie überrascht aus.
Álvaro nickte und wirkte kein bisschen begeistert. »Er will kommen«, sagte er tonlos. »Zu Weihnachten.«
»Das ist doch großartig!« Julia schloss Álvaro fest in ihre Arme. »Wie lange habt ihr euch nicht mehr gesehen?«
»Fast dreißig Jahre.« Álvaro machte sich los und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Er ist ja gleich abgehauen, kurz nachdem er uns alle ins Elend gestürzt hatte.«
Natürlich. Julia konnte seine Betroffenheit verstehen. Vor fast dreißig Jahren hatte Belisario Mendez Rodríguez das gesamte Anwesen samt Restaurant bei einer Dominopartie als Einsatz gesetzt und verloren. Damals waren Álvaro und seine Großmutter heimatlos geworden. Seine Mutter war da bereits seit einigen Jahren verstorben gewesen. Vor Scham oder aus anderen Gründen war Belisario umgehend nach Venezuela ausgewandert und hatte seither keinen Fuß mehr auf die Insel gesetzt.
»Das alles ist lange her«, sagte Julia sanft und drückte ihren Freund fest an sich. »Immerhin ist er dein Vater.«
Álvaro lachte freudlos auf. »So wie Jens immerhin dein Bruder ist, was?« Er stöhnte.
»Hast du es Belén schon gesagt?«, fragte Julia. Sie wusste, dass die alte Dame äußerst schlecht auf ihren Schwiegersohn zu sprechen war.
»Was hätte er mir sagen sollen?« Betreten wandten sich die beiden um. Keiner von ihnen hatte bemerkt, dass Belén sich mit ihrem Gehstock bis zum Portal des Restaurants vorgearbeitet hatte. »Und wo ist überhaupt deine Freundin?«
»Lasst uns in den Garten gehen«, schlug Julia vor und beeilte sich, Álvaros Großmutter den Arm zu reichen. »Dann erzählen wir dir alles.«
»Er will also tatsächlich herkommen.« Belén starrte finster vor sich hin.
Álvaro öffnete erneut den Brief. Er war schon ganz zerknittert, von all dem Auf- und Zufalten.
»Ja, er will Weihnachten hier verbringen«, sagte er.
»Nach all den Jahren!« Die Stimme der alten Dame klang anklagend.
»Vielleicht hat er Sehnsucht nach seiner Heimat.« Julia sah bedrückt von Álvaro zu seiner Großmutter. »Und nach euch.«
»Nach mir bestimmt nicht«, fuhr Belén auf. »Er weiß genau, dass ich ihm den Kopf waschen werde.«
»Womöglich ist ihm das lieber, als den Rest seiner Tage in der Fremde zu leben.«
»Nach dreißig Jahren ist das Land, in dem du lebst, keine Fremde mehr«, erwiderte Álvaro. »Es war wohl ein Fehler, im Frühjahr den Kontakt zu ihm wieder aufzunehmen.«
Julia nickte. Um ein Haar hätte auch Álvaro seiner Heimat für immer den Rücken gekehrt und wäre zu seinem Vater nach Venezuela gezogen. Und daran wäre sie schuld gewesen. Weil sie die Finca samt Restaurant dem Mann abgekauft hatte, der den Familienbesitz damals bei jener unsäglichen Dominopartie gewonnen hatte. Natürlich hatte sie das nicht gewusst. Und sobald sie es erfahren hatte, war sie sofort bereit gewesen, ihre eigenen Pläne aufzugeben, die Finca an Álvaro weiterzuverkaufen und ihm damit sein Elternhaus zurückzugeben. Doch dann hatte er ihr seine Liebe erklärt und sie gemeinsam mit seiner Großmutter darin bestärkt, den alten mesón, wie man hier einen Landgasthof nannte, zu neuem Leben zu erwecken.