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Der Roman ›Das Werden des jungen Leiters‹ von Klaus-Peter Wolf wurde 1986 erstmals veröffentlicht. Weitere Informationen erhalten Sie auf unserer Homepage www.fischerverlage.de
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Seitenzahl: 323
Klaus-Peter Wolf
Das Werden des jungen Leiters
Roman
FISCHER E-Books
Auch ein kleiner Angestellter kann zwei Meter groß sein. Jörg Staute war exakt zwei Meter groß. Nicht einsachtundneunzig wie die meisten Riesen. Als Verwaltungsangestellter in einem durchschnittlichen Büro fühlte Jörg Staute sich gezwungen, Schlips und Anzug zu tragen. Er wirkte darin wie ein rosa angestrichenes Schlachtschiff in Manöverzustand.
Er gab sich Mühe, doch die widerspenstigen Haare konnte er auch mit Fett und einer Drahtbürste nicht in eine akzeptable Form bringen.
Groß und breitschultrig, wie er war, wirkte er inmitten der zarten Büromöbel etwas deplaziert.
Immerhin brachte ihm der außergewöhnliche Körperbau so viel Respekt ein, daß nur hinter vorgehaltener Hand über ihn gelacht wurde.
In den Träumen seiner Sekretärin nahm er einen festen Platz ein, gleich neben Charles Bronson und Marty Feldman.
Jörgs Frau Annie packte ihrem Mann täglich eine vitamin- und kalorienreiche Mahlzeit in den schwarzen Aktenkoffer: Tomaten, mehrere panierte Koteletts, Schwarzbrot mit Leberwurst oder Käse und diverses Obst. Die obligatorische Flasche Bier zum Essen holte Jörg Staute sich auf dem Weg vom Parkplatz zum Büro an einem Kiosk. Das von seiner Sekretärin liebevoll gespülte Wasserglas blieb jedoch stets leer, denn Jörg Staute trank Bier aus der Flasche.
Sie hatte ihm dieses Glas zum achtunddreißigsten Geburtstag geschenkt. Eine Anspielung, die Jörg Staute mühelos übersah.
Die anderen Angestellten tranken ihren Kaffee aus Tassen, ihre Milch aus Gläsern und ihr Bier nach Dienstschluß. Da dieses Glas ihn aber täglich blankgewienert anlächelte, pflegte Jörg Staute darin seine abgeknabberten Kotelettknochen zu deponieren.
Die Sekretärin, die auf den zarten Namen Melanie hörte, ließ die Knochen allabendlich in einer Plastiktüte verschwinden und ging dann mit dem fettigen Glas zur Toilette, um mit einem sauberen Glas zurückzukommen.
Jörg Staute brauchte fast zwei Jahre, um herauszufinden, daß die blonde Melanie gar keinen Hund besaß, und das kam so: Eines Morgens packte der smarte Riese sein Pausenbrot aus dem Aktenkoffer und stellte erstaunt fest, daß seine Frau ihm keine panierten Koteletts eingepackt hatte, sondern ein kaltes, gutgewürztes halbes Hähnchen. Und da Jörg Staute ein sentimentaler Mensch war, versank er in tiefe Meditation über die unmenschliche Aufzucht von Hühnern und deren Haltung in Legefarmen, bevor er seine Zähne in das nicht mehr ganz weiße, aber zarte Fleisch grub.
Da seine Zähne durchaus zu der Gesamterscheinung paßten, erwischte Melanie sich bei dem unseriösen Gedanken: ›Der könnte mit seinen Beißern einer Bulldogge die Knochen verkauen.‹
Wie immer landeten die Essensreste in dem bekannten Glas. Als gegen Büroschluß die lächelnde Melanie mit ihrer Plastiktüte anschwebte, wies Jörg sie streng, aber freundlich darauf hin, daß man Hähnchenknochen besser nicht an Hunde verfüttert, worauf Melanie leicht errötend gestand: »Aber ich habe doch gar keinen Hund.«
Nicht ohne Erstaunen fragte Jörg: »Aber was zum Teufel machen Sie dann mit den Knochen?«
»Ich werfe sie in die Mülltonne!« triumphierte Melanie.
So erkannte Jörg Staute, daß seine zwar hübsche, aber unauffällige Sekretärin seit Jahren unsterblich in ihn verliebt war.
Die Büroarbeit für die Kaufhauskette Dagobert reizte Jörg Staute nicht gerade zu geistigen Höhenflügen. So beschäftigte er sich nebenbei mit zwei Dingen: Basketball und neuen Werbekonzeptionen.
Mit der richtigen Werbung kann man alles verkaufen, das wußte Jörg Staute. Das faszinierte ihn. Vor ein paar Jahren – gut, damals war er noch ganz schön unerfahren – hatte er allen Ernstes daran gedacht, so etwas wie Trikotwerbung am Altar einzuführen, mit Sprüchen auf dem Talar wie ›Saubere Herzen in sauberen Hemden – Pril, ein Produkt der Henkel-Gruppe‹. Der Pastor hatte ihn allerdings hinausgeworfen, als er mit dem Vorschlag kam, und ihn obendrein noch mit einer Glosse in seinem Kirchenblättchen lächerlich gemacht.
Vor Scham und Wut war Jörg sofort aus der Kirche ausgetreten. Er sparte nun jeden Monat 39DM Kirchensteuer und war im tiefsten Inneren noch immer davon überzeugt, daß die Kirche auf diese Steuern auch locker verzichten könnte, wenn sie nur ansatzweise ihre Möglichkeiten auf dem Werbemarkt entdeckte.
An diese Geschichte wollte er nicht gern erinnert werden, als er an diesem denkwürdigen Abend seine Sekretärin, die Wasserstoffblondine Melanie, zum Essen ausführte.
Er hatte das feinste und natürlich auch teuerste Lokal der Stadt gewählt: das Excelsior.
Hier kostete ein Bier so viel wie anderswo ein zünftiges Abendessen. Also genau die Atmosphäre, in der sich ein Typ wie Jörg Staute bei seinem ersten Annäherungsversuch ins rechte Licht setzen konnte.
Alles lief gut an. Er hatte sich die widerspenstigen Haare gewaschen und eventuell auftretende Achselnässe mit einem Deospray bekämpft. Seine treusorgende Ehefrau hatte an diesem Abend Besuch von ihrer Tante Frieda und rechnete folglich ohnehin nicht mit Jörgs Erscheinen, denn der liebte Tante Frieda ebensosehr wie seine Zahnschmerzen. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.
Ein Tisch war reserviert, die Fingernägel geschnitten und gesäubert, die Schuhe blank wie immer.
Melanie war auch soweit startklar, nur die verdammten Stöckelschuhe drückten. Aber zu dem langen Kleid konnte sie unmöglich die bequemen Wanderschuhe tragen. Sie zog sich dreimal um. Das kurze rote Kleid mit der weißen Bluse erschien ihr nicht angemessen, die hauchdünne, durchsichtige schwarze Nylonbluse mit der schwarzen Hose und den engen Stiefeln waren wohl doch zu gewagt für den ersten Abend, und ihr hübsches Theaterkostüm hatte leider einen Rotweinfleck, der in der Reinigung nicht rausgegangen war.
Schon im Flur schoß es ihr plötzlich durch den Kopf: die Wäsche!
Sie spurtete die Treppe wieder hoch, rannte ins Badezimmer und nahm die noch nicht ganz trockene Wäsche von der Leine. Sie stopfte sie zurück in die Waschmaschine.
Nicht auszudenken, dachte sie, wenn Jörg sich entschließt, mit mir noch einen Tee in meiner Wohnung zu trinken? Wie entsetzt wäre er, im Badezimmer über der Wanne auf der Leine meine Höschen und BHs zu sehen!
Schließlich sollte er sie nicht für eine Schlampe halten!
Das Farbfoto von ihrem Verflossenen legte sie vorsichtshalber in den Wäscheschrank hinter die Handtücher. Jörg sollte keinen Grund zur Eifersucht haben. Den Zeitungsausschnitt aus dem Kirchenblatt: ›Bald schon Litfaßsäulen am Altar? Die Werbegags des Jörg Staute‹ ließ sie über ihrem französischen Bett hängen. Für sie war Jörgs Idee gar nicht lächerlich gewesen, und er sollte das wissen! Im Hinausgehen pfiff sie dann den Song:
Charlie, zünd die Kerzen an,
heute kommt ein großer Mann,
der etwas verlangen kann.
Sie wollten sich in einem Café treffen und von dort aus ins Excelsior fahren. Jörg wischte sich zum dritten Mal die schwitzigen Finger an den Hosenbeinen ab, als endlich eine Blondine ins Café kam, die aber leider nicht Melanie war.
Um sich abzulenken, griff er sich eine Illustrierte und blätterte. Auf Seite 3 sah er ihn: William Schmidt-Rudolf. Seit fast zehn Jahren für die Boulevardpresse 49 Jahre alt, Zigarrenraucher und Aufsichtsratsvorsitzender der Kaufhauskette Dagobert. 23 Kaufhäuser in der BRD, 84 in den USA, 2 in Luxemburg, 14 in Belgien. Chef des Imperiums, bei dem Jörg Staute als Angestellter versauerte. Jörg prägte sich dieses Bild genau ein. So sehen sie also aus, die Erfolgreichen dieser Welt.
Trotzdem, Zigarrenraucher würde er nie werden! Nicht er, der aktive Basketballer.
Melanie schwebte auf ihn zu und lächelte ihr Zahnpastalächeln. Sie bestellten zwei Irish Coffee, ließen sie kaltwerden, bezahlten (das heißt, Jörg Staute bezahlte) und stiegen in ein Taxi zum Excelsior. Sie stiegen beide hinten ein, drückten sich dabei wie unabsichtlich aneinander und lachten.
»Sie sehen zauberhaft aus!« sagte Jörg, ohne rot zu werden. Melanie atmete tief durch. Sie genoß diesen Satz wie ein Stück Erdbeertorte.
Vor dem Excelsior riß ein Hoteldiener die Taxitür auf und half Melanie und Jörg aus dem Auto. Die Tür der Eingangshalle öffnete sich automatisch. Während Jörg noch die großen Spiegel bewunderte, pellte ihn schon jemand von hinten aus dem Mantel. Ein Empfangskellner führte sie zu dem reservierten Tisch nahe am offenen Kamin. Schon bei der Weinprobe legte sich ein seltsamer Glanz über Melanies Augen.
›Ob sie wohl die Pille nimmt?‹ dachte Jörg. Aber natürlich, eine Frau wie sie, hübsch, alleinstehend …
Sie legte ihre Hand in seine.
Jörg wollte gerade loslegen und ihr all den üblichen Stuß erzählen, daß seine Frau ihn nicht versteht, gefühlskalt ist, nicht mehr mit ihm schläft, einen anderen Mann hat und – natürlich, daß er sich scheiden lassen will.
Zum Glück kam die Speisekarte dazwischen.
Jörg stellte selbstsicher das Menü zusammen. Es hörte sich vielleicht etwas abenteuerlich an, paßte aber besser zueinander als man denkt: französische Zwiebelsuppe, einen Sherry dry, Weinbergschnecken in Knoblauchsoße, einen Cream Sherry, Chateaubriand und zum Abschluß Schildkrötensuppe, die wie warme Pisse schmeckte, aber sie hatten beide noch nie Schildkrötensuppe gegessen. Darum versicherten sie sich gegenseitig, das kleine Silberlöffelchen angewidert in den Mund schiebend, das sei mit Sicherheit die beste Schildkrötensuppe ihres Lebens. Jörg brachte sie gleich zur Toilette. Diese Toilette war eine Beschreibung wert. Grüne Kacheln mit braunen Ornamenten bis zur Decke, ein Duft wie in einer Gärtnerei, Intimbeleuchtung, Lichtschranken, Wasserspülung wie von Geisterhand.
Da hörte Jörg Staute, mit offener Hose am Becken stehend, plötzlich eine Stimme.
»Verfluchter Mist, die Tür klemmt.«
Jörg sah sich um. Jemand hämmerte wütend gegen eine Toilettentür.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte Jörg.
»Schlagen Sie die Tür ein, Mensch!« donnerte die Antwort.
Jörg brachte seine Hose in Ordnung und sagte dann:
»Moment, ich hole einen Kellner.«
»Sie sollen die Tür einschlagen, verdammt!«
Kein Zweifel, der Eingesperrte war betrunken.
Jörg rief einen Kellner, erklärte die Situation und ging zu Melanie zurück. Sie suchte gerade einen neuen Wein aus.
Die Kellner gerieten nun in sichtliche Aufregung. Sie schwirrten wie aufgescheuchte Hühner um die Luxustoilette herum. Ein etwas verstört dreinblickender Kellner tauchte händeringend vor Jörg auf und stammelte: »Könnten Sie bitte mal, würde es Ihnen vielleicht etwas ausmachen, wenn … die Anwesenheit der Dame …«
Jörg stand auf und ging zur Toilette. Zwei spanische Kellner knieten vor der bewußten Tür und hantierten daran sinnlos herum. Dahinter war ein zufriedenes Schnarchen zu hören.
»Ich glaube, Ihr Freund ist eingeschlafen.«
»Das ist nicht mein Freund, ich weiß gar nicht, wer dort eingesperrt ist«, fauchte Jörg, dem die Sache langsam zu bunt wurde.
Um einen Schlußstrich zu ziehen, entledigte er sich seiner Jacke, knöpfte das zu enge Hemd auf, holte tief Luft und stellte mit einem einzigen Fußtritt seine Überlegenheit unter Beweis.
Der Krach ließ zwar die Kellner zusammenzucken, weckte aber nicht den mit heruntergelassener Hose auf der Toilettenschüssel eingeschlafenen William Schmidt-Rudolf. Jörg erkannte ihn nicht gleich. Doch als er ihn erkannte, wurde er sich schlagartig seiner Verantwortung bewußt. Das Image einer ganzen Kaufhauskette stand auf dem Spiel. Die Zeitungen durften nichts davon erfahren. Negativwerbung war eine schlimme Sache, das wußte der Hobbywerbekonzeptionsentwerfer Jörg Staute nur zu gut. Frisch nach dem Motto: Nur keine Zeugen! warf er erst mal die Kellner raus.
»Nun gehen Sie schon. Ich kümmere mich um meinen Freund. Gehen Sie.«
»Aber ich denke, das ist nicht Ihr Freund.«
»Natürlich ist das mein Freund!«
»Aber Sie haben doch gesagt …«
»Hauen Sie endlich ab, Mann!«
Manchmal zeigte Jörgs Herkulesstatur eben doch die richtige Wirkung und klärte Diskussionen ohne lange Gedankenanstrengungen.
Während Jörg den Aufsichtsratsvorsitzenden und Geschäftsführer einer internationalen Kaufhauskette anzog, langweilte Melanie sich über einem Glas Wein.
William Schmidt-Rudolf rülpste geradlinig in Jörgs Gesicht. Auch er hatte Schnecken in Knoblauchsoße gegessen. Der säuerliche Nebengeruch ließ auf ein Magenleiden schließen.
»Herr Schmidt-Rudolf – ist Ihnen nicht gut? Soll ich Sie in Ihr Hotel bringen?«
»Hotel? Was für ’n Hotel denn?«
»Aber Sie müssen doch irgendwo wohnen.«
»Nee, zu dem Biest geh’ ich nicht zurück. Eine Klapperschlange ist das, eine mexikanische Klapperschlange. Pssst. Psssst!«
»Nicht so laut.«
»Du kannst ruhig William zu mir sagen.«
Zunächst glaubte Melanie, daß jetzt der Wein seine Wirkung tue, als sie Jörg hemdsärmlig mit einem volltrunkenen Greis im Türrahmen stehen sah, dann half sie mit, den Greis an ihren Tisch zu setzen. Er griff sich gleich die Weinflasche und setzte sie an.
»Zahlen!« rief Jörg.
»Kommt gar nicht in Frage, ich zahle!« brummte William Schmidt-Rudolf und warf seine Brieftasche auf den Tisch.
Dezent legte der Kellner die Rechnungen auf ein Silbertablett. 326,80DM für Jörg und Melanie und 272,50DM für William. Aus Williams Brieftasche zählte Jörg sechs Hunderter auf den Tisch und sagte: »Stimmt so.« Der Kellner rümpfte die Nase, nahm das Geld und drehte den seltsamen Gästen den Rücken zu.
Jörg ließ ein Taxi rufen.
»Was wollen Sie mit dem Kerl?« fragte Melanie verwirrt.
»Wollen Sie den etwa mitnehmen?«
»Das ist William Schmidt-Rudolf.«
»Wer ist das?«
»William Schmidt-Rudolf.«
Und wieder stieg Jörg Staute im Ansehen seiner Sekretärin um einige Treppen höher, denn daß er so reiche und berühmte Bekannte hatte, machte ihn noch interessanter.
Das Wort Scheißhausbekanntschaften ging Jörg Staute nicht aus dem Kopf.
Im Taxi hing William Schmidt-Rudolf zwischen Melanie und Jörg. Rülpste, schnarchte und stank nach einer Mischung aus Jauche und Bier.
»Wir bringen ihn zu dir«, entschied Jörg.
Melanie nickte, stolz über so viel Ehre und war froh, die Wäsche im Badezimmer abgehängt zu haben.
Mühelos schleppte Jörg den Großaktionär die Treppen hoch in Melanies Wohnung.
»Wohin mit ihm?«
»Wie wohin?«
»Er muß irgendwo seinen Rausch ausschlafen. Wir haben eine große Verantwortung. Es darf keinen öffentlichen Skandal geben. Betrunkene Schauspieler und vollgekiffte Rockstars, das geht. Aber einen bekotzten und lallenden Bundeskanzler oder Kaufhauskettenchef, den muß man vor der Öffentlichkeit verstecken.«
Melanie war sofort Jörgs Meinung. Die würden vielleicht gucken, im Büro, wenn sie wüßten, daß bei ihr der große William Schmidt-Rudolf im französischen Bett lag!
Jörg bettete den Kaufhauskönig sanft und schloß dann die Schlafzimmertür leise.
Nun muß man wissen, daß Melanies Wohnung aus dem Schlafzimmer, der Toilette und der Wohnküche bestand. In diese Wohnküche, die von dem riesigen Kühlschrank dominiert wurde, zogen sich Melanie und Jörg zurück.
»Das gibt bestimmt eine Gehaltserhöhung!« orakelte Melanie und fischte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank. Dann hockte sie sich mit Jörg hinter die Eckbank, und sie hielten dort Händchen.
»Es ist wohl besser, wenn ich die Nacht hier verbringe und aufpasse, daß William keine Dummheiten macht.«
Melanie nickte. Sie hatte ohnehin eingeplant, daß ihr Schwarm, Jörg, die Nacht in ihren vier Wänden und in ihren zwei Armen …
Aber sie hatte nicht einplanen können, daß William Schmidt-Rudolf …
»Wo sollen wir denn schlafen?« fragte sie naiv und wurde dann sofort rot. Sie versuchte gleich, ihren kompromittierenden Satz zu relativieren und stotterte: »Ich meine … wo Sie … äh du … Ich habe so eine kleine Wohnung. Uns bleibt nur die Küche und das Bad.«
»Dann schon besser die Küche.«
Jörgs Hände waren groß und kräftig. Groß genug, um mit einer Hand ihre beiden Knie gleichzeitig zu streicheln, während in der anderen eine Bierdose verschwand.
Sie knutschten ein bißchen; zwischendurch gingen sie abwechselnd vor die Schlafzimmertür und lauschten, ob William Schmidt-Rudolf noch nicht erwacht war. Und als Jörg mit dem beginnen wollte, wovon Melanie schon so lange träumte, raunte sie ängstlich in sein Ohr: »Aber was, wenn jetzt William Schmidt-Rudolf wach wird? Was soll er von uns denken? Ich bin doch nicht sooo eine! Und du bist schließlich verheiratet.«
Jörg Staute gab sich sofort geschlagen. Die Sache war ihm ohnehin nicht geheuer. Er hatte oft von Kollegen gehört, daß sie ihre Sekretärin im Büro …; aber er hatte nie besonderen Spaß an solchen Dingen gefunden. Er liebte seine Frau freitags abends nach dem Spätkrimi im Bett, wie es sich gehörte, es sei denn, samstags war ein Basketballspiel, dann ruhte er sich freitags aus, und sie machten es samstags nach dem Spiel, obwohl er dann manchmal ziemlich kaputt war. Aber niemand sollte sagen können, daß er seine Annie vernachlässigte. Sie hatte sich auch nie beschwert.
Jörg und Melanie rissen noch zwei Dosen Bier auf und pflanzten sich in die Sitzecke. Jörg war zwar ein aufregender Mann, doch der Tag war trotzdem anstrengend genug, um Melanie einschlafen zu lassen. Sie machte es sich auf der Sitzbank bequem, das heißt, sie legte ihren Kopf auf Jörgs Beine, formte ihren Körper wie ein Fragezeichen und begann dann sehr leise zu schnarchen. Fast klang es wie das Schnurren einer Katze. Nur für Jörg Staute war die Stellung reichlich unbequem. Er konnte sich nicht quer über die Sitzecke legen. Er konnte nicht einmal seine Beine bewegen, wenn er Melanie nicht wecken wollte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Ellbogen auf den Tisch zu stützen, den Kopf in die Handflächen zu schließen und Schäfchen zu zählen.
So hatte er sich die erste Nacht mit Melanie nicht vorgestellt.
Jörg Staute erwachte, als Melanie mit einem scheppernden Geräusch von seinen Knien und der Sitzbank rollte und die Tischdecke samt Bierdosen dabei mitnahm.
Sie lag nun unter dem Tisch und wurde ebenfalls wach. Jörgs Arme schmerzten, und der Nacken fühlte sich an, als hätten sich ein paar seiner starken Muskeln verhärtet. Er dachte schon mit Schrecken an das Basketballspiel nächsten Freitag. Er mußte unbedingt in Form sein und konnte unmöglich mit steifem Hals …
Melanie – noch im Tran – wollte sich aufrichten und knallte dabei mit dem Hinterkopf unter die Tischplatte. Der Tisch tat einen Satz und Melanie lag wieder auf dem Pegulanfußboden.
Eine noch halbvolle Dose Bier rollte in die Ecke und zog eine Lache hinter sich her, was Melanie mit einem schlichten: »Oh, Scheiße!« kommentierte. Jörg stand auf und stellte sich in die Mitte des Raumes, um seine müden Knochen kräftig durchzubiegen. Melanie kroch unter dem Tisch vor und sah ihr Idol an. Die Nacht hatte ihn etwas zerknittert, doch er sah immer noch zum Verlieben aus. Zu gern hätte sie ihm einen Guten-Morgen-Kuß auf die Lippen gedrückt, doch im letzten Augenblick erinnerte sie sich daran, daß sie sich die Zähne noch nicht geputzt hatte, und jetzt befürchtete sie, ihr Mundgeruch könne abstoßend auf ihn wirken. Sie huschte also rasch ins Badezimmer, um das Versäumte nachzuholen und ihr Gesicht zu verjüngen.
Jörg sammelte in der Zeit die Bierdosen auf und bemühte sich dann, ungebeten und ungeschickt, den Frühstückstisch zu decken und für frischen Kaffee zu sorgen. Teller und Tassen fand er und baute sie für drei Personen auf den Tisch. Mit der Kaffeemaschine kam er aber nicht klar. Zu Hause machte das Annie, im Büro Melanie. Er hatte also nie im Leben eine Chance gehabt, so etwas wirklich zu lernen. Er fand die Filtertüten nicht, wußte aber, daß Papier in diesen Trichter gehörte. Er versuchte es mit seinem Taschentuch. Doch Melanie schaffte ihr Make-up heute in Rekordzeit und konnte das Schlimmste verhindern. Kaum war der Kaffee auf genießbare Weise aufgebrüht und die ersten Toasts flogen hoch, da knarrte die Tür zum Schlafzimmer. Eine Hand wurde sichtbar, die sich um die Türfassung krallte und den restlichen Körper hinter sich herschleppte. Dann stand er voll sichtbar im Rahmen.
William Schmidt-Rudolf. Strubbelig, zerfurchtes Gesicht, offener Hosenschlitz, knubbeliges Hemd, schwarzer Rand am Kragen, nur einen Schuh an, noch weich in den Knien und mit einem waffenscheinpflichtigen Mundgeruch. Er sah aus, als würde er jeden Moment wieder zusammenbrechen. Doch William Schmidt-Rudolf war frischer, als er aussah. Er hatte bereits den Zeitungsartikel gelesen, der über Melanies Bett hing, und dieser Artikel hatte ihn in eine seltsame Stimmung gebracht. Er wollte jetzt drei Dinge am liebsten gleichzeitig: ein Aspirin gegen den Kater, eine Tasse Kaffee gegen den schlechten Geschmack im Hals und zum Frischwerden, und außerdem wollte er noch diesen Jörg Staute kennenlernen.
Er war sich nicht ganz sicher, ob er vor ihm stand oder nicht. Deshalb hielt er sich mit einer Hand an der Tür fest und zeigte mit der anderen Hand auf Jörg Staute und grummelte: »Sind Sie der Teufelskerl?«
Jörg war erschrocken und überrascht. Er stotterte.
»W… w… was meinen Sie, Herr Schmidt-Rudolf?«
»Nennen Sie mich Sir!« verlangte William rigoros.
»Ich, ich weiß nicht, was Sie meinen, Sir.«
»Sind Sie der Knabe, der die Trikotwerbung für Pastoren eingeführt hat? Sie wissen schon, was ich meine! SAUBERE HERZEN IN SAUBEREN HEMDEN – PRIL, EIN PRODUKT DER HENKEL-GRUPPE! Litfaßsäulenwerbung am Altar und all den Schnick-Schnack!«
Jörg schämte sich sofort. Melanie sah betreten auf den Fußboden. Das würde Jörg ihr nie verzeihen, sie hatte den Zeitungsartikel hängen lassen. Jetzt wußte der große William Schmidt-Rudolf alles. Er würde Jörg feuern. Und Jörg würde sie nur noch mit Verachtung strafen. Sie spürte die ersten Tränen kommen.
Doch Jörg ließ seine feste Stimme – gefüllt mit dem Bekennermut der frühen Christen – ertönen: »Ja, ich bin der Clown. Ich habe Werbekonzeptionen entwickelt, die die gesamte Branche revolutionieren könnten, aber ich bin zwanzig Jahre zu früh damit aufgetreten.«
»Zu früh? Zu früh? Junger Mann«, holte William Schmidt-Rudolf aus, »entweder, man ist zu früh dran oder zu spät. Wenn man zu spät dran ist, dann hat man schlicht und einfach verloren. Wenn man aber zu früh dran ist, dann war man schneller als andere und besser, dann braucht man Durchsetzungsvermögen, um seine Idee mit aller power …« Er hatte noch viel zu erzählen, doch sein Kreislauf spielte nicht mit, und die Kniekehlen gaben nach.
Sofort war Jörg bei ihm und packte ihn unter den Achseln. Melanie rückte den Tisch zurecht. Jörg schob William Schmidt-Rudolf hinter den Tisch auf die Eckbank und paßte auf, daß er nicht umfiel. Melanie servierte den Kaffee.
Die Männer tranken ihn mit viel Milch und Zucker. Melanie – wegen der schlanken Linie – schwarz.
Sie schlürften den heißen Kaffee, dann kratzte William Schmidt-Rudolf sich die Kopfhaut und suchte den verlorenen Gesprächsfaden.
»Also – was ich sagen wollte … diese aufgeblasenen Kerle bringen doch heute alle nichts mehr. Akademische Scheißer. Keine Praxis.«
Melanie nahm sich vor, zu den Ausführungen von William Schmidt-Rudolf zustimmend zu nicken. Dann – so dachte sie – könnte sie nichts falsch machen. Die Tassen waren schon leer, und sie goß nach.
Wieder kratzte William Schmidt-Rudolf sich die Kopfhaut. »Was wollte ich denn … also ja, kann ich noch ein bißchen Milch haben … Junge, Sie sind ein Genie!« Er sprang auf, beugte sich über den Tisch und küßte – plötzlich vital geworden – Jörg Stautes Stirn.
»Sie können sich nicht vorstellen, Junge, mit welchen Schwachköpfen ich mich den ganzen Tag über rumplage. Diese impotenten Werbeheinis! Denken in Sprechblasen wie Micky Maus. Zum Beispiel unsere Brötchen. Seit zwei Jahren sitzen sie an einer Werbekonzeption für unsere Brötchen. Seit der Zeit werden täglich einige Zentner davon zu Paniermehl verarbeitet, weil keiner Brötchen in unseren Kaufhäusern kauft …« Er biß genüßlich in den Toast, den er mit Honig bestrichen hatte. »Aber mal ehrlich, würden Sie im Kaufhaus Brötchen kaufen? Fabrikbrötchen?«
Jörg schüttelte energisch den Kopf, und Melanie, die erst versehentlich genickt hatte, tat jetzt auch ganz empört, als seien Kaufhausbrötchen wirklich das letzte.
»Warum stellen Sie die her und verkaufen die über Ihre Kaufhauskette?«
»Na, weil es was einbringt. Theoretisch. Ich kann sie für zwei Komma drei sechs Pfennig kaufen und für zwanzig verkaufen und bin damit immer noch fünf Pfennig billiger als die Konkurrenz. Also – als der nächste Bäckerladen.«
Wieder nickten sie fleißig.
»Ein Gewinn von fast tausend Prozent!«
»Ist doch großartig!« freute sich Melanie und klatschte in die Hände.
»Eben nicht.«
»Warum nicht?«
»Na, weil sie keiner kauft.«
»Warum nicht?«
»Na, weil sie nicht schmecken!« Langsam gingen Melanies Fragen ihm auf die Nerven.
»Falsch«, sagte Jörg.
Melanie erschrak. Jörg widersprach dem großen William Schmidt-Rudolf. Energisch sogar und in unflätigem Ton, wie sie fand.
Jörg führte aus: »Die Leute kaufen die Brötchen nicht, weil sie falsch beworben werden. Der Geschmack spielt gar keine Rolle. Schmeckt Ihnen etwa Ihre Zigarre? Können Sie mir doch nicht erzählen! Oder schmeckt den Amerikanern das Kaugummi? Alles nur Blödsinn. Auf die richtige Vermarktung kommt es an! Auf sonst gar nichts.«
Wieder erhob sich William Schmidt-Rudolf von seinem Platz, nahm Jörg Stautes Kopf in beide Hände und küßte ihn auf die Stirn.
Nachdem er sich wieder gesetzt und Kaffee geschlürft hatte, bekundete er: »Das predige ich seit Jahren. Wir haben natürlich auch einen Slogan für unsere Brötchen. Von meinem eigenen Werbebüro entwickelt, in allen großen Illustrierten ganzseitig verkündet. Hat mich Hunderttausende gekostet. Hunderttausende! Danach stieg auch der Verkauf für eine Woche sprunghaft, aber dann – wie abgerissen.«
»Dann war der Slogan falsch!« behauptete Jörg frech, und wieder fürchtete Melanie, daß er sich um Kopf und Kragen redete.
»Falsch?«
»Na klar.«
»Er war – warten Sie mal – er war … ›Dagoberts Brötchen frisch und knackig‹.«
Jörg Staute schlug sich mit seiner gewaltigen rechten Faust in die Handfläche der linken.
»Da haben wir es. Falsch. Völlig falsch. Sie haben in den Leuten Erwartungen geweckt, die die schlechten Brötchen nicht erfüllen konnten. Sie waren doch schlecht – oder?«
»Miserabel.«
»Sehen Sie. Und es kommt darauf an, Erwartungen zu wecken, die die Brötchen dann auch erfüllen. So gewinnt man Dauerkunden.«
William Schmidt-Rudolf nickte nachdenklich.
»Aber meine Brötchen können keine Erwartungen erfüllen. Sie sind schlecht.«
Melanie mischte sich ein. »Vielleicht könnte man ja bessere Brötchen herstellen lassen, und dann …«
»Dann stimmt die Gewinnspanne nicht mehr«, fuhr William Schmidt-Rudolf dazwischen. »Außerdem«, erklärte er, »ist es doch klar, daß die Produktion von guten Brötchen teurer ist als die von schlechten.«
Melanie nickte verständnisvoll und Jörg setzte nach: »Und das Geld kann man besser in die Werbung stecken. Gute Produkte, die keiner bewirbt, sind von vornherein erledigt.«
Sie schwiegen eine Weile betreten, dachten nach und kauten Toast. Dann fühlte Jörg sich veranlaßt, noch einen Satz zu äußern: »Außerdem kann jeder gute Produkte verkaufen. Die wahre Kunst aber besteht darin, schlechte Waren zu verkaufen.«
Da stimmte William Schmidt-Rudolf zu.
»Welche Erwartungen können denn schlechte Brötchen erfüllen?« fragte Melanie naiv. »Ich zum Beispiel …«
»Ich hab’s!« brüllte Jörg, wuchtete seinen massigen Körper hoch, stellte sich in die Mitte des kleinen Zimmers und sang fast: »Dagoberts Brötchen, weil uns die Gesundheit etwas wert ist! – oder nein, noch besser: weil die Gesundheit unser höchstes Gut ist!«
»Wieso Gesundheit? Sind die Brötchen denn gesund?« fragte Melanie.
William Schmidt-Rudolf klatschte vor Freude in die Hände. »Das ist es! So verkauft man Brötchen. So werden keine Erwartungen enttäuscht. Niemand wird erwarten, daß gesunde Kost gut schmeckt. Aber niemand ist enttäuscht, wenn er meine Brötchen ißt und sein Schnupfen nicht gleich weg ist. Sie sind ein Genie!«
Jörg setzte sich wieder. Er strahlte übers ganze Gesicht. Endlich hatte er jemanden gefunden, der wie er wirklich etwas von Werbung verstand.
Jörg träufelte Honig auf einen Toast und schob sich dann das Brotstück ganz in den Mund. Er kaute mit geschlossenen Augen.
William Schmidt-Rudolf war ein Mann von schnellen Entschlüssen. Er war von Geburt eine Art deutscher Amerikaner und daher ziemlich geradeheraus.
»Ich weiß nicht, was Sie bisher verdient haben, ich weiß nicht, wo Sie arbeiten. Aber ich biete Ihnen das Doppelte Ihres bisherigen Gehalts. Kündigen Sie sofort fristlos Ihrem Arbeitgeber. Ab heute arbeiten Sie für mich. Sie werden Chef meiner Presse- und Werbeabteilung.«
Jörg Staute verschluckte sich an seinem Toast. Er bekam einen Hustenkrampf, und Melanie trommelte auf seinem breiten Kreuz herum, damit er wieder Luft bekam.
»Was ist so schlimm an meinem Angebot? Ich will Sie nicht überfahren. Aber sagen Sie mir klar heraus, was Sie wollen. Mehr Macht oder mehr Geld? Oder beides? Oder haben Sie Angst, Ihr Arbeitgeber läßt Sie nicht aus dem Vertrag? Wer verliert schon gerne einen Mann, wie Sie einer sind? Aber keine Angst. Unsere Rechtsanwälte übernehmen das schon. Ich zahle auch eine Ablösesumme, wenn es nötig ist.«
»A… aber.. ich … ich bin doch Ihr Angestellter!« hustete Jörg.
»Was? Sie sind mein Angestellter? Das darf doch nicht wahr sein. Wo arbeiten Sie?«
»In der … in der Buchhaltung.«
»Buchhaltung?!« spottete William Schmidt-Rudolf.
»Buchhaltung?! Ich hör’ wohl nicht recht. Ich werde meinen Personalchef feuern. Die taube Nuß hat Ihre Talente nicht erkannt. Eine ganz besondere Arschgeige ist das! Der stellt die Sekretärinnen und Verkäuferinnen nur nach der Größe ihrer Titten an. Entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, junge Frau.«
Der gefürchtete Chef sämtlicher Werbebüros und Planungsgruppen des Kaufhauskonzerns Dagobert hieß angeblich Graf Paul von Hódmezövázárhely. Er gab an, ein gebürtiger Ungar zu sein, der durch den ›Terror der Roten Horden‹ nicht nur Land und Hof verloren habe, sondern auch daran gehindert worden sei, seinen Adelstitel zu tragen. Das war Grund genug für ihn, das Land zu verlassen (Frau und Kinder natürlich auch) und mit seiner Geliebten – einer Opernsängerin – in den Westen zu gehen. In Ungarn hatte er seinen Adelstitel verloren, doch hier verlor er seinen Namen, denn er war so unaussprechlich und er mußte ihn so oft bei Behörden buchstabieren, daß er sich zunächst Visitenkarten drucken ließ. Mit diesen Karten, auf denen zu lesen war: Graf von Hódmezövázárhely, UNTERNEHMENSBERATER und WERBEBERATER schindete er zwar viel Eindruck, doch nichtsdestotrotz nannten ihn seine Untergebenen hinter vorgehaltener Hand den ›dicken Pauli‹, denn er war klein und fett und trug außer weißen oder cremefarbigen Anzügen auch noch einen dicken schwarzen Schnurrbart. Er war ebenso gutmütig wie einfältig. Doch seiner bereits erwähnten ehemaligen Geliebten und jetzigen Frau verdankte er eine gnadenlose Karriere. Sie hatte – als Opernsängerin wenig erfolgreich – sich darauf beschränkt, ›in Budapescht einmal ganz groß‹ gewesen zu sein und jetzt alle einflußreichen Männer zu becircen – mit ihnen zu schlafen oder sie mit ihrem Mandelkuchen zu verwöhnen –, die der Karriere ihres Grafen nutzen konnten. Und da der Personalchef des Dagobert-Konzerns nicht nur auf Zigeunermusik und Opernstars stand, sondern vor allen Dingen keinen prall gefüllten BH übersah, hatte Madame Isolde – wie sie sich jetzt nannte – bei ihm ein leichtes Spiel. Sie verführte ihn, kurz nachdem sie sich vorgestellt worden waren, noch während einer Party. Von da an besuchte sie den Personalchef jeden Dienstag, meist am Spätnachmittag, wenn seine zwei Sekretärinnen schon frei hatten. Er schenkte ihr fast jedesmal neue Unterwäsche aus dem Angebot für gehobene Ansprüche. So kam es, daß sie manchmal davon sprach, sie gehe wieder ›Wäsche vorführen‹.
Nun, Graf Paul von Hódmezövázárhely wurde für ein Jahresgehalt von 100000DM plus 13 Prozent Mehrwertsteuer zum Chef sämtlicher Werbebüros des Konzerns. Das brachte ihm so etwa die doppelte Summe seines Gehalts an Schmiergeldern von Fotoagenturen, Schauspielervermittlungen und Druckereien ein. Die Schmiergelder für die Werbung in Zeitschriften und in den kommerziellen Fernsehsendungen überließ er seinem persönlichen Assistenten, Gerhardt Goldammer, von allen Goldie genannt. Denn Goldie war der einzige Mensch, der von der absoluten Unfähigkeit des Grafen wußte. Nur er konnte ihm gefährlich werden. Aber warum sollte er? Er kassierte den Löwenanteil der Schmiergelder, und Pauli hielt dafür den Kopf hin, denn wenn mal etwas auffliegen sollte, dann hatte Goldie eine reine Weste. Schließlich war er nur der persönliche Assistent vom Chef. Der Kaffeeholer und Terminenotierer.
Ein bißchen beneidete er den Grafen auch, denn der Graf war ein genialer Schauspieler. Er beherrschte zwar nur eine Rolle, doch die beherrschte er perfekt. Er spielte sie jeden Dienstag, meist am Spätnachmittag, wenn Madame Isolde Unterwäsche vorführte.
Das lief etwa so ab. Jedes Werbebüro schickte den Chef einer Planungskommission oder einer Projektarbeitsgemeinschaft zu dieser Besprechung. Einige flogen dafür aus den Vereinigten Staaten wöchentlich nach Frankfurt und von dort aus weiter nach Hamburg oder Köln, je nachdem, in welchem Kaufhaus der Kette der Graf die Konferenz abzuhalten beliebte. Es saßen dann etwa gegen 17 Uhr jeden Dienstag fünfundzwanzig hervorragend ausgebildete Akademiker um einen länglichen Tisch und warteten eine gute Stunde, bis der freie Platz am Kopf des Tisches vom Grafen besetzt wurde. Neben ihm nahm wie immer, mit seinem Aktenköfferchen bewaffnet, Goldie Platz.
Man vermutete allgemein, daß der Graf sehr lichtempfindlich war, denn er trug zu jeder Konferenz eine dicke schwarze Sonnenbrille. Außerhalb dieser Konferenzen wurde er allerdings nie damit gesehen. Er brauchte diese Brille nur als Requisit für seinen Auftritt.
Er stützte den Ellbogen des rechten Arms auf den Tisch, legte dann Daumen und Zeigefinger der rechten Hand an die Stirn und schwieg bedächtig.
Goldie gab mit einer Handbewegung zu verstehen, daß die Herren nun beginnen konnten. Jeder von ihnen trug, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Augen aufmerksam auf den Grafen gerichtet, sein Sprüchlein vor. Meist unterbrach der Graf den Redner zwischendurch mit folgender Geste: er nahm Daumen und Zeigefinger als Kopfstütze behutsam weg – manchmal befürchtete man, jetzt könne sein Kopf auf die Tischplatte fallen, doch das passierte nie. Dann nahm er das rechte Brillenglas vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und hob den Kopf. Jetzt konnte man annehmen, daß er seinen Blick auf den Redner richtete. Doch die dunklen Gläser ließen nicht erkennen, ob seine Augen Begeisterung zeigten oder kalte Ablehnung. Schon zu diesem Zeitpunkt verstummten die meisten Redner, trotzdem gab der Graf jedesmal den kurzen, aber inhaltsschweren Satz von sich: »Ruhe. Ich denke nach.«
Dann richtete er den Blick entweder ganz gegen die Decke oder runter auf die Tischplatte – in dieser Beziehung liebte er die Abwechslung und verblüffte seine Mitarbeiter immer wieder durch seinen Variationsreichtum. Mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand rieb er sich dann die Nasenwurzel und sah aus wie das Denkmal eines Mannes, der einen schwarzen Schnurrbart trägt und nachdenkt.
Er dachte natürlich nicht wirklich nach, er wartete nur auf Goldies Zeichen. Denn Goldie hatte in seinem Aktenköfferchen all die Firmen, die von Werbeaufträgen begünstigt werden sollten, weil sie entsprechende Schmiergelder zahlten. Goldie überprüfte also den jeweiligen Vorschlag des Werbefachmanns darauf, was er brachte. Wenn er die Summe angemessen fand, gab er das dem Grafen durch einen Tritt gegen das Schienbein zu verstehen. Wenn es zu wenig oder gar nichts einbrachte, trat er ihm auf die Zehen. Wenn der Graf das Signal erhalten hatte, stützte er den Kopf wieder leicht auf Daumen und Zeigefinger und sagte: »Fahren Sie fort.« Er wartete jetzt stets höflich ab, bis der Redner zum Schluß kam. Dann nahm er das rechte Brillenglas zwischen Daumen und Zeigefinger, tat, als werfe er einen flüchtigen Blick auf den Redner und hatte nur zwei Antworten. Entweder: »Blödsinn. Der nächste bitte.« Oder: »Interessant. Besprechen Sie alles Weitere mit meinem Assistenten.«
Einmal, als eine Werbeidee, der er zustimmte, ihm fast 350000DM brachte, ließ er sich sogar dazu hinreißen zu sagen: »Wie heißen Sie?« – »Professor Doktor Kovemich!« war die Antwort.
Der Graf nickte gewichtig und sprach: »Ihren Namen werde ich mir merken, Herr Professor.«
Seit dem Zeitpunkt hielt der Professor den Grafen für seinen persönlichen Freund, und weil er ihn außerdem für ein Genie hielt, schlug er ihn für den Ehrendoktorhut seiner Universität vor. Er fand, ohne akademischen Titel könne der Graf nicht länger herumlaufen.
Der Graf bekam den Titel und das Angebot einer Gastprofessur obendrein. Er lehnte dankend ab, weil er überfüllte Hörsäle hasse.
Der Unterwäschefetischist und Personalchef des Dagobertkonzerns hieß Gert Schnell. Er hatte nun an diesem denkwürdigen Tag von einer ganz besonders delikaten Sache Wind bekommen: Von den sogenannten »Quietschtitten«. Es gehörte nämlich zu den Besonderheiten der Kaufhauskette Dagobert, daß sie Spezialabteilungen mit sexuellen Ersatzteilen und Hilfsmitteln hatte. Dort gab es ein Rubbelfinger-Vibrator-Set mit und ohne Noppen, Lustmachertropfen, Sauigeleien auf Schallplatten und Kassetten, eine aufblasbare Spielgefährtin, elektrisch betriebenen Vaginaersatz, den man auch bei Bedarf an die Autobatterie anschließen konnte, und ähnliche unverzichtbare Utensilien. Diese Ecke in den Kaufhäusern wurde von den Angestellten scherzhaft »das Ersatzteillager« genannt. Geführt wurden diese Spezialabteilungen von jungen, drallen Damen, die der Personalchef nach seinen ureigenen Kriterien auswählte. Sie wechselten alle sechs Monate das Kaufhaus. Die Kette zahlte den Umzug und leistete es sich, die Mädchen samt ihren Möbeln zwischen Amerika und der Bundesrepublik hin- und herfliegen zu lassen. Das Höchstalter für sie war 28. Nun hatte es eine folgenschwere Wette zwischen Berthold Bräsig, dem Hersteller der ›Ersatzteile‹, und Goldie, dem Assistenten des Werbechefs, gegeben.
Es ging bei der Wette darum, daß Berthold Bräsig behauptet hatte, für jedes menschliche Körperteil sei ein Ersatzteil vonnöten. Er könne sie alle herstellen, es käme dann nur noch darauf an, sie zu verkaufen. So kam im Zusammenspiel mit dem Chefeinkäufer der Kette folgendes heraus: Berthold Bräsig produzierte 100000 ›Quietschtitten‹. Das heißt: Nachbildungen einer einzelnen weiblichen Brust. Sie waren aus hautfarbenem Gummi und quietschten, wenn man sie anfaßte.
Der Chefeinkäufer der Kaufhauskette, Heribert Haller, kaufte dem erfreuten Berthold Bräsig alle 100000 ›Quietschtitten‹ ab und überließ es nun Goldie, für den Verkauf die richtige Werbung zu machen. Für den Konzern ging es bei dem Spiel um ein mögliches Verlustgeschäft von 500000DM, falls sich die Quietschtitten als unverkäuflich erwiesen. Aber was bedeutete das schon, wo doch die drei um eine Kiste besten Cognac gewettet hatten.
Als Gert Schnell vor wenigen Stunden, hinter vorgehaltener Hand, versteht sich, davon erfahren hatte, wußte er nicht, daß die Quietschtitten schon produziert waren und auf dem Weg zu den einzelnen Kaufhäusern. Deshalb entschied er sich, seiner Auffassung von Pflicht als Personalchef nachzukommen. Er machte es sich zur Aufgabe, die passende Vorlage für die herzustellende weibliche Brust zu finden. Er suchte das Modell mit sehr viel Energie, ja man kann fast sagen, mit Hingabe aus.
Zu diesem Zweck hatte er vierundzwanzig Damen zur Brustprobe eingeladen. Sie betraten einzeln sein Büro, und er begutachtete jedes mögliche Modell.
Niemand hatte ihn um diesen Job gebeten, aber wer, wenn nicht er, sollte ihn ausfüllen?