Das Wochenende - Hannah Richell - E-Book

Das Wochenende E-Book

Hannah Richell

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Beschreibung

Ein packender Destinationsthriller vor der atemberaubenden Küste Cornwalls – atmosphärisch, abgründig, fesselnd. Max und Annie Kingsley sind mit ihrem zwölfjährigen Sohn von London nach Cornwall gezogen. Zur Einweihung ihres luxuriösen Campingplatzes haben sie alte Studienfreunde eingeladen: TV-Star Dominic und seine Patchwork-Familie, die Ärztin und frischgebackene Mutter Kira sowie die Freigeister Jim und Suzie mit ihren Kindern. Doch bereits am ersten Abend kommt es am Lagerfeuer zu Auseinandersetzungen. Am nächsten Tag zieht von der zerklüfteten Küste her ein Unwetter auf. Als die Kinder von einem Strandausflug zurückkehren und eines von ihnen fehlt, eskaliert die Situation. Am Rand der Klippen, inmitten des tosenden Sturms sind die Freunde auf sich zurückgeworfen. Alte Konflikte brechen auf, neue Geheimnisse kommen ans Licht, und keiner traut dem anderen mehr über den Weg. Dann taucht unterhalb der Klippen am Strand eine Leiche auf …

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Seitenzahl: 495

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Hannah Richell

Das Wochenende

Vier Familien. Drei Tage. Ein Sturm, der alles verändert.

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld

 

Über dieses Buch

Sie sind deine Freunde. Aber kennst du auch ihre dunkelsten Geheimnisse?

 

Zur Einweihung ihres luxuriösen Campingplatzes in Cornwall haben Max und Annie ihre Studienfreunde samt Kindern eingeladen: TV-Star Dominic, die Ärztin Kira sowie die Freigeister Jim und Suze. Doch schon am ersten Abend kommt es am Lagerfeuer zu einem handfesten Streit. Am nächsten Tag zieht von der zerklüfteten Küste her ein Unwetter auf. Als eines der Kinder nicht vom Strandausflug zurückkehrt, eskaliert die Situation. Inmitten des tosenden Sturms sind die Freunde auf sich allein gestellt. Alte Konflikte brechen auf, neue Geheimnisse kommen ans Licht, und irgendjemand spielt ein tödliches Spiel …

 

«Ein absoluter Pageturner!» Lucy Clarke, Autorin von One of the Girls

Vita

Hannah Richell wurde in Kent geboren und wuchs in Buckinghamshire und Kanada auf. Nach dem Studium arbeitete sie in London und Sydney in der Buch- sowie in der Filmbranche. Sie hat zahlreiche internationale Bestseller veröffentlicht, darunter «Geheimnis der Gezeiten». Ihre Werke wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Südwesten Englands.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel «The Search Party» bei Simon & Schuster, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Search Party» Copyright © 2024 by Hannah Richell

Redaktion Anne Nordmann

Karte © Jill Tytherleigh

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München, nach dem Original von Simon & Schuster UK Limited

Coverabbildung Adobe Stock; Design Craig Fraser, S&S Art Dept.

ISBN 978-3-644-02024-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für meine Eltern,

Gillian und John Norman

Personen

Die Kingsleys

Max

Annie

Kip (12 Jahre alt)

Die Davies

Dominic

Tanya

Scarlet (16 Jahre alt)

Felix (14 Jahre alt)

Phoebe (6 Jahre alt)

Die Millers

Jim

Suze

Willow (14 Jahre alt)

River (13 Jahre alt)

Juniper (9 Jahre alt)

 

Kira de Silva

Fred O’Connor

Asha (5 Monate alt)

 

Josh Penrose – einheimischer Surfer und Mann für alles auf dem Campingplatz

John Kellow – einheimischer Milchbauer und nächster Nachbar der Kingsleys

Clare Davies – Ex-Frau von Dominic

Polizeibeamte des Distrikts Devon & Cornwall

Detective Inspector Sue Lawson

Detective Constable Lee Barnett

Detective Constable Patricia Haines

Prolog

Das Mädchen steht im grauen Morgenlicht da, die Schuhspitzen ragen über die bröckelnde Kante der Klippe. Unter ihr donnern tosende Wellen gegen zerklüftete Felsen, scharfe Granitspitzen ragen wie faulende Zähne aus dem schäumenden Meer. Angst und Verzweiflung sitzen ihr im Nacken – und seine Worte, die sie weiterdrängen.

Sie versucht, sich mit den Details um sie herum abzulenken. Das Tosen des Ozeans. Die Windböen, die am Gebüsch zerren. Die kleinen weißen Blümchen neben ihren Füßen. Das laute, viel zu schnelle Pochen ihres Herzens. Aber es ist unmöglich, sich zu konzentrieren. Ihr Verstand ist nicht in der Lage, irgendetwas zu greifen. Nichts kommt gegen seine Stimme an – gegen die vielen Gemeinheiten, die auf sie niederprasseln. Mach schon, sagt er. Worauf wartest du noch?

Der Vorsprung unter ihren Schuhspitzen ist bröckelig. Ein Klumpen Erde bricht ab, rieselt die Felswand hinab und verschwindet weit unter ihr in den Wassermassen. Der Wind trägt den Schrei eines Vogels durch die Luft, hoch und klagend. Sie hebt den Blick und sieht über sich eine Möwe kreisen. Frei.

Tu es. Spring. Seine Stimme wird lauter, er ist direkt hinter ihr. Sie bekommt Gänsehaut, als würden seine Worte durch die Luft kreisen und ihren Nacken streifen. Worauf wartest du noch?

Es gibt keinen Ausweg. Sie kann nirgendwohin.

Sie macht die Augen zu, breitet die Arme aus, ganz weit, als hätte sie Flügel, um sich in die Lüfte zu erheben und sich dem Vogel weit über ihr anzuschließen. Mit einem letzten, tiefen Atemzug bewegt sie sich vorwärts in die Leere hinein. Ob Sturz oder Flug – ihr ist jetzt alles egal.

Dominic

Sonntagnachmittag

Er weiß nicht, wie lange er schon hier sitzt. In dem Zimmer gibt es keine Uhr, nur einen Tisch, drei Stühle und ein schmales Fenster, ganz oben unter der Decke – zu hoch, um außer einem Stückchen nacktem grauen Himmel irgendwas zu sehen. Es ist vielleicht zwanzig Minuten her, seit die Beamten ihn in diesen Raum geführt und ihn «gebeten» haben, auf sie zu warten, vielleicht aber auch schon viel länger.

Dominic weiß, dass einem in stressigen Situationen Sekunden vorkommen können wie Minuten und Minuten wie Stunden. Der Tee aus dem Automaten, den ihm irgendwer hingestellt hat, ist allerdings schon seit Ewigkeiten kalt. Er weiß auch, dass er möglichst nicht an das denken darf, was außerhalb dieses Raumes vielleicht gerade passiert, weil sich sonst sein Brustkorb schmerzhaft zusammenzieht, als würde ein Schraubstock seine Lungenflügel zusammenpressen und ihm die Luft zum Atmen rauben.

Da draußen wäre er mit Sicherheit eine größere Hilfe. Stattdessen hockt er eingesperrt hier rum, in irgendeinem Sprechzimmer im Krankenhaus, mit immer noch feuchten Klamotten, und wartet darauf, irgendwelche Fragen zu beantworten – Fragen, auf die er mit Sicherheit keine Antwort hat. Doch die beiden Detectives hatten sich deutlich ausgedrückt – er habe ihnen zur Befragung zur Verfügung zu stehen. Fast, denkt er, als würden sie ihn verdächtigen.

Die Tür öffnet sich, mit einem Satz ist Dominic auf den Beinen. «Gibt’s was Neues?», fragt er. Sein Blick schießt von der leitenden Ermittlerin in ihrem grauen Kostüm zu ihrem stämmigen, blonden Kollegen, der direkt hinter ihr das Zimmer betritt.

«Ich fürchte, nein, Mr Davies, noch nichts», sagt sie. «Bitte setzen Sie sich.»

Dominic zögert. Sich hinsetzen ist das Letzte, was er will. «Ich finde, ich könnte da draußen …»

Die Detective hebt die Hand. «Unsere Leute durchkämmen das Gelände. Sobald wir irgendetwas wissen – egal was –, geben wir Ihnen Bescheid. Im Augenblick ist es wichtig, dass Sie uns alles sagen, woran Sie sich erinnern können, Mr Davies.» Sie deutet auf seinen Stuhl, zieht für sich selbst mit kreischendem Geräusch einen heran und wirft eine dünne Akte auf den Tisch. Ihr Kollege nimmt ebenfalls Platz und begräbt mit seiner ausladenden Figur den zierlichen Plastikstuhl unter sich. Er schlägt ein Notizheft auf und zieht die Kappe von seinem Stift.

Frustriert mustert Dominic den angebotenen Stuhl. Er will Taten, er will Konsequenzen, kein Gerede, kein Geschreibe, doch weil er die Entschlossenheit der Detective spürt, nimmt er trotzdem widerwillig Platz.

Lawson, erinnert er sich, Detective Inspector Sue Lawson. Sie hatte sich ihm irgendwann vorhin vorgestellt. Ihr jüngerer Kollege, der rotwangige Mann mit den gebleichten Haaren und Schultern, die eher in ein verschlammtes Rugby-Trikot als in eine gestärkte Polizeiuniform passen würden, heißt Barrett. Nein. Barnett. Detective Constable Barnett.

Lawson nickt, und Barnett drückt auf dem Rekorder, der zwischen ihnen auf dem Tisch steht, den Aufnahmeknopf.

«Nur um das noch mal klarzustellen», Barnett räuspert sich, «Ihre Teilnahme an diesem Gespräch ist absolut freiwillig. Es steht Ihnen jederzeit frei zu gehen. Doch natürlich sind die Chancen, dass unsere Ermittlungen erfolgreich sind, umso größer, je mehr Informationen wir über das Wochenende bekommen.»

«Ich habe es Ihnen bereits gesagt», wiederholt Dominic. «Ich bin nicht derjenige, mit dem Sie sprechen sollten, sondern dieser Junge. Der hat was damit zu tun. Das weiß ich.»

Lawson nickt wieder. «Wie gesagt, wir sprechen mit allen Beteiligten.»

«Die nehmen den in Schutz, aber glauben Sie mir: Mit dem Kerl stimmt was nicht.»

«Mr Davies.» DI Lawson beugt sich vor und schaut ihn ungerührt an. «Ich verstehe Ihre Bedenken. Mir ist bewusst, dass Sie in großer Sorge sind.» Ihm fällt die faszinierende Farbe ihrer Augen auf. Sie sind grau wie Meereskiesel und passen beinahe perfekt zu der einen grauen Strähne in ihrer dunklen Kurzhaarfrisur. «Aber ich fürchte, wir sind dringend auf Ihre Unterstützung angewiesen. Wir wären Ihnen für Ihre uneingeschränkte Mitarbeit außerordentlich dankbar.»

Es gibt einen Teil in Dominic, der sich unwillkürlich fragt, ob sie das hier insgeheim genießen. Sie haben es mit Sicherheit nicht jeden Tag mit jemandem vom Fernsehen zu tun. Diese Sache sorgt auf dem Revier garantiert für ziemlichen Wirbel. Ratet mal, wer heute vor uns saß. Dominic hofft, dass die Medien keinen Wind davon bekommen. Wahrscheinlich wäre es besser, Barry anzurufen. Ihn ins Bild zu setzen, für den Fall, dass die Klatschpresse mal wieder eine saftige Dominic-Davies-Story wittert. Damals, rund um seine Scheidung, hatten die ihm jedenfalls gehörig die Hölle heißgemacht. Mit einem Stirnrunzeln schaut Dominic von der DI zum Constable. «Muss ich meinen Anwalt anrufen?»

«Hätten Sie gern juristischen Beistand?» Barnett schaut mit gezücktem Stift von seinem Notizheft hoch.

Dominic kommt sich vor, als wäre er plötzlich in einem dieser grottigen Sonntagabendkrimis gelandet, die Tanya sich so gerne anschaut, im Schlafanzug aufs Sofa gekuschelt, ein Glas Wein in der Hand und das Telefon auf dem Schoß. Er fand die Geschichten immer ziemlich dämlich – überzeichnet und zu vorhersehbar –, und jetzt sitzt er plötzlich selbst hier, in einem stickigen, improvisierten Verhörraum, ein Aufnahmegerät vor der Nase, dessen blinkendes rotes Lämpchen ihn böse anschaut. «Nein», sagt er. «Natürlich nicht. Bringen wir’s einfach hinter uns.» Er überkreuzt die Arme vor der Brust. «Was wollen Sie wissen?»

Lawson lehnt sich zurück und nickt Barnett ein weiteres Mal zu.

«Es war also ein Wiedersehen unter Freunden? Vier Familien, die das lange Maiwochenende gemeinsam verbringen wollten?»

«Richtig.»

Barnett überprüft seine Notizen. «Und Sie waren insgesamt fünfzehn Personen?»

Dominic zögert kurz, zählt stumm nach. «Na ja … eigentlich waren wir sechzehn, mit dem Baby.» Er greift mechanisch zu dem Plastikbecher vor sich auf dem Tisch, ehe ihm einfällt, dass der Inhalt kalt und ungenießbar ist. Beim Anblick des braunen Films, der auf der Flüssigkeit schwimmt, schiebt er den Becher von sich.

«Sie waren alle auf Einladung von Max und Annie Kingsley in Wildernest?» Wieder schaut Barnett auf seine Notizen. «Der Campingplatz gehört den beiden und liegt hinter dem Kap, in der Nähe von Morvoren Point?»

«Richtig. Es passte gut in meinen Terminkalender. Wir hatten gerade die neuste Staffel abgedreht. Star Search», fügt er hinzu. «Kennen Sie bestimmt.»

Barnett nickt, aber Lawson sieht ihn nur weiter unverwandt an. Dominic kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Solche wie sie kennt er. Tun gern so, als stünden sie über Reality-TV und geben nur ungern zu, dass auch sie zu den zehn Millionen gehören, die Woche für Woche begeistert einschalten, ihren Lieblingen zujubeln und zum Telefon greifen, um für sie abzustimmen.

«Egal.» Dominic winkt ab. «Max und Annie hatten uns über das Feiertagswochenende zu sich eingeladen, um ihr neues ‹Glamping›-Projekt einem Praxistest zu unterziehen.» Er hebt die Hände und malt mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. «Sie kennen so was bestimmt. Der ganz heiße Scheiß: nachhaltiger Ökotourismus zur Rettung des Planeten. Max’ Traum.»

«Ist es richtig, dass die Kingsleys erst letztes Jahr mit ihrem Sohn nach Cornwall gezogen sind?»

Er nickt. «Ehrlich gesagt, als sie verkündeten, sie würden London den Rücken kehren, hat das niemand von uns wirklich ernst genommen. Wir haben sie natürlich darin bestärkt. Muss man ja als Freund, oder? Es ist wohl eher nicht üblich, seinen Freunden zu sagen, dass man meint, sie würden einen schrecklichen Fehler machen.»

«Warum hielten Sie den Umzug für einen Fehler?»

Dominic stößt ein trockenes Lachen aus. «Sie hatten Jahre in den Aufbau ihres Architekturbüros gesteckt, sie hatten richtig Erfolg. Erst letztes Jahr haben sie einen sehr renommierten Architekturpreis für den ‹Grand Designs›-mäßigen Umbau meiner Bude eingeheimst. Ich hatte sie damit beauftragt. Das war ein echt großes Ding, brachte ihnen jede Menge positive Presse.» Wieder lässt er den Blick von ihr zu ihm schweifen, aber Lawson lässt sich noch immer nichts anmerken. «Jedenfalls, sie haben großartige Arbeit geleistet. Die komplette Rückwand des Hauses abgerissen und einen riesigen Glasanbau hingestellt. Sehr stilvoll. Sehr minimalistisch. Aber es ging ja nicht nur darum, dass sie einfach so eine erfolgreiche Karriere an den Nagel hängten», fügt er hinzu. «Sie hatten ein Haus, direkt am Clapham Common … eine gute Schule für Kip … London lag ihnen quasi zu Füßen, und das alles haben sie einfach weggeworfen und sind in die Pampa gezogen, um was zu tun?» Er schaut beide ungläubig an. «Einen Campingplatz zu eröffnen?» Dominic schüttelt den Kopf. «Total verrückt, wenn Sie mich fragen. Aber sie hatten natürlich ihre Gründe, uns aus dem Nichts heraus mit so einer einschneidenden Entscheidung zu konfrontieren.»

«Wie meinen Sie das?»

«Na ja, dieser Rotzlöffel. Die Adoption.»

«Meinen Sie mit ‹Rotzlöffel› den Sohn der Kingsleys, Kip?»

Er nickt, schaut wieder von ihr zu ihm, will, dass sie nachhaken, aber zu seiner Verärgerung schluckt Lawson den Köder nicht.

«Wie wäre es, wenn wir noch mal zu Freitag zurückkehren?», sagt sie stattdessen. «Ich vermute, Sie haben sich gegen Mittag von Hertfordshire aus auf den Weg gemacht?»

«Ja, wir sind um eins in Harpenden losgefahren.»

«Wir, das heißt …?»

«Meine Frau Tanya und ich und meine Kinder, Scarlet, Felix und Phoebe.» Dominic streckt die Beine aus, entdeckt den Riss in seiner Hose, die schlammverkrusteten Hosensäume, und zieht eilig die Füße zurück unter den Stuhl.

«Haben sich alle auf die Reise gefreut?»

Er zuckt die Achseln. «Ich glaube, was das betrifft, gab es durchaus verschiedene Meinungen, aber ich verstehe nicht ganz, was das hier zur Sache tut.»

Lawson mustert ihn. «Wir versuchen lediglich, uns ein möglichst klares Bild von diesem Wochenende zu machen. Angesichts der traumatischen Erlebnisse für Sie alle und der noch immer offenen Fragen müssen wir bei der Rekonstruktion so gründlich wie möglich vorgehen.»

«Ich persönlich fand, die Einladung klang toll», sagt Dominic an Lawson gewandt, ohne ihrem forschenden Blick auszuweichen. «Nach dem Druck der Dreharbeiten freute ich mich auf eine Auszeit mit alten Freunden, ein verlängertes Wochenende mit viel frischer Luft in einer großartigen Gegend. Ich dachte, die Kinder fänden es ebenfalls toll, aber Sie wissen ja, wie Teenager heute so sind.» Er schaut von Lawson zu Barnett. «Schon die leiseste Andeutung auf ein paar Stunden ohne WLAN, und sofort bricht Panik aus.»

DI Lawson nickt. «Erzählen Sie weiter, Mr Davies. Das hilft uns sehr.»

Dominic kneift die Augen zusammen. «Sie sagten, Sie wollten mit allen sprechen?»

Sie nickt wieder. «Wir haben eine Kontaktbeamtin zur Farm rausgeschickt.

«Gut», sagt Dominic. Er wüsste zu gerne, was die anderen zu erzählen haben, an welchen Punkten sich die Fäden ihrer Geschichten kreuzen und ob das, was sie sagen, seine Aussage eher untermauert oder ihr widerspricht. Er kann nur hoffen, dass zwanzig Jahre Freundschaft noch irgendetwas wert sind, wenn das alles vorbei ist.

«Sehr gut», sagt er noch einmal, steht auf, reckt das Kinn und löst die Hände, die er, ohne es zu merken, zu Fäusten geballt hat. «Sie werden mit Sicherheit feststellen, dass wir an diesem Wochenende alle Dinge getan haben, die wir inzwischen bereuen.»

DI Lawson schaut ihn weiter unverwandt an. Die undurchdringlich grauen Augen bohren sich in seine. Verärgert muss Dominic feststellen, dass er als Erster wegschaut.

Scarlet

Freitagnachmittag

Falls es je ein Wochenende gegeben hatte, das eigens darauf ausgelegt war, ein Leben zu zerstören, dann dieses. Schlimm genug, dass sie Harry Taylors Party zu seinem Siebzehnten verpasste, aber jetzt saß sie auch noch eingequetscht im Angeber-SUV ihres Vaters, direkt neben Phoebes Kindersitz, während ihr von der anderen Seite der blecherne Hip-Hop aus Felix’ Kopfhörern ins Ohr dröhnte. Vor ihr erstreckte sich eine endlose Blechlawine und die Aussicht auf drei Tage Camping irgendwo im Nirgendwo. Scarlet spürte, wie Wut in ihr hochkochte.

Inzwischen war Schulschluss. Das wusste sie, ohne auf die Uhr schauen zu müssen, weil ihr Telefon sie seit ein paar Minuten mit einem Dauerstrom an Nachrichten über Party-Vorbereitungen, Outfits und Geläster bombardierte, Dinge, von denen Scarlet gezwungenermaßen ausgeschlossen war. Sie schaute ihren Vater im Rückspiegel böse an. «Ich kapiere einfach nicht, warum du mich zwingst mitzukommen», blaffte sie, weil sie die schwelende Wut keinen Moment länger zurückhalten konnte. «Ich hätte genauso gut zu Hause bleiben können.»

«Ich habe dir doch gesagt, warum.» Dominic löste den Blick vom Verkehr und sah sie durch den Rückspiegel an. «Wir wollen Max und Annie unterstützen. Sie haben sich mit unserem Umbau echt reingehängt. Jetzt sind wir dran.»

«Aber ich hätte trotzdem bei Mum bleiben können … oder bei Lily.»

«Wie ich dir bereits gestern Abend erklärt habe», sagte Dominic, «hätten Tanya und ich vielleicht darüber nachgedacht, wenn du dich in den letzten Wochen etwas zuverlässiger gezeigt hättest. Aber dieses Wochenende ist nun mal mein Wochenende mit Felix und dir», fuhr er fort. «Ich sehe euch selten genug. Außerdem ist das nicht die letzte Party, Scarlet. Manchmal geht die Familie eben vor.»

Scarlet drehte sich frustriert weg und sah durch die Heckscheibe den Fahrzeugen auf der Mittelspur beim Verschwinden zu, während ihr Vater auf der Überholspur Gas gab. Es war so unfair! Scheidungskind zu sein, hatte viele lästige Seiten, aber nichts war so nervig wie das ständige Hin und Her an den Wochenenden, das sie und Felix seit sieben Jahren durchmachten, seit Tanya damals plötzlich auf der Bildfläche erschienen war. Und seit ihr eigenes Leben endlich interessant wurde, war es endgültig inakzeptabel geworden. Ihr Vater kapierte es einfach nicht. Er sah in ihr immer noch sein kleines Mädchen, aber das war sie schon lange nicht mehr. Sie war sechzehn, praktisch erwachsen.

Natürlich würde es noch andere Partys geben, sie war ja nicht blöd, aber Harry Taylor, der Junge, der sie vor zwei Tagen mit einer endlosen Reihe Nachrichten bombardiert hatte, um zu erfahren, ob sie käme, würde nie wieder seinen siebzehnten Geburtstag feiern. Es würde nie wieder eine Gartenparty mit Dresscode in einem weißen Partyzelt steigen, inklusive uniformierten Kellnerinnen, köstlichen kleinen Kanapees, mit Nebelmaschine, einem echten DJ und garantiert genug Wodka-Jelly-Shots, um die komplette zwölfte Jahrgangsstufe dicht zu kriegen.

«Das wird super», sagte ihr Vater. «Wir grillen und machen ein Lagerfeuer. Unternehmen schöne Küstenspaziergänge. Einen Strand gibt es auch. Alle sind mit dabei. Inklusive sämtlicher Kinder.»

Scarlet warf ihm durch den Rückspiegel einen Blick zu. «Du sagst es, Dad.» Sie schüttelte sich übertrieben. «Ich will mit meinen Leuten abhängen, nicht mit einem Haufen nerviger Kleinkinder und dann auch noch mit Kip, diesem Spinner.»

«Sei nett, Scarlet!»

Sie verdrehte die Augen. «Jetzt klingst du wie ein sexistisches Motto-T-Shirt. Einem Mädchen ‹Sei nett!› zu befehlen, ist ja so was von patriarchal. Du sagst mir damit, dass ich meine Gefühle ignorieren soll, um jemand anderem zu gefallen. Und außerdem» – Scarlet redete sich langsam warm – «seit wann legst ausgerechnet du Wert auf ‹nett sein›? Deine komplette Karriere ist darauf aufgebaut, der brutal ehrliche ‹Experte› zu sein. Ich glaube nicht, dass irgendwer findet, du würdest besonders ‹nett› rüberkommen, wenn du auf Star Search lautstark deine Meinung über deine Kandidatinnen und Kandidaten raushaust.»

«Du musst zugeben», mischte Tanya sich mit einem kleinen Grinsen ein, das Scarlet zufällig im Außenspiegel einfing, «dass da was dran ist.»

«Danke», sagte Scarlet und schenkte ihr ein befriedigtes Lächeln. «Siehst du? Wenigstens Tanya hat’s gecheckt.» Sie war überrascht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Tanya viel mit ihren feministischen Idealen anfangen konnte. Es kam, ehrlich gesagt, ziemlich selten vor, dass Scarlet und Tanya einer Meinung waren. Scarlet war meistens gegen alles, was mit ihrer Stiefmutter zu tun hatte, aber die Gelegenheit, sich gemeinsam gegen ihren Vater zu verbünden, ließ sie sich nicht entgehen.

«Das ist eine Fernsehsendung. Ein Job. Nicht das reale Leben.»

«Und wieso heißt es dann ‹Reality-TV›?»

«Ach Liebling, nichts an Reality-TV ist real. Du bist intelligent genug, um das zu wissen. Und was das Nettsein betrifft, das hat nichts mit Geschlechtern zu tun», sagte Dominic in herablassendem, leicht überdrüssigem Tonfall. «Es geht darum, ein anständiger Mensch zu sein. Wenn Felix sich so benehmen würde wie du, würde ich dasselbe zu ihm sagen.»

«Aha.» Scarlet beugte sich zwischen die Vordersitze. «Seit wann ist ‹das, was alle tun› bei uns zum Maßstab geworden? Vor zwei Wochen, als ich Ärger in der Schule hatte, hast du noch zu mir gesagt: ‹Wenn alle von der Klippe springen würden, würdest du dann etwa auch springen, Scarlet?›» Ihre Stimme war die perfekte Imitation seiner aalglatten Moderatorenstimme.

«Du bist ja eine ganz Schlaue, was?»

«Von wegen schlau.» Felix hob den Kopfhörer an, um sich am Gespräch zu beteiligen. «Wer schlau ist, lässt sich nicht mit Gras in der Schultasche erwischen und handelt sich damit zehn Tage Unterrichtsausschluss ein.»

Scarlet lehnte sich über Phoebes Kindersitz und boxte ihren Bruder in den Oberarm. «Halt die Klappe! Du hast doch keine Ahnung.»

«Ich habe genug Ahnung, um zu wissen, dass man keine Drogen mit in die Schule nimmt, du Spacko.»

«Schluss damit, ihr zwei. Ihr weckt Phoebe auf. Und niemand springt hier von irgendwelchen Klippen. Vor uns liegt nur ein verlängertes Wochenende mit unseren ältesten und besten Freunden.»

«Achtung, Dad, Newsflash: Meine Freundinnen und Freunde gehen alle auf Harry Taylors Geburtstagsparty.»

Darauf folgte ausgedehntes Schweigen. Scarlet beschloss, dass es Zeit war, ihren Trumpf auszuspielen. «Außerdem bin ich nicht die Einzige, der es davor graut. Tanya hat auch keinen Bock.»

Tanya drehte sich um und starrte sie an. «Was?» Auf ihren Wangen erblühten zwei verräterisch rote Flecken.

Scarlet zuckte die Achseln. «Ich habe dich gestern Abend am Telefon gehört.»

Tanya runzelte die Stirn. «Es gehört sich nicht, die Telefongespräche anderer Leute zu belauschen.»

«Siehst du?» Scarlet schaute ihren Vater triumphierend an. «Sie streitet es nicht ab.»

Tanya drehte sich zurück nach vorne und sah Dominic an. «Ich habe nicht gesagt, dass ich keine Lust habe.» Sie suchte nach den richtigen Worten. «Nicht direkt. Es ist nur – na ja, wir fahren zum Camping, oder? Unter Erholung verstehe ich was anderes.»

«Nicht Camping, sondern Glam-ping», verbesserte Dominic.

«Die Anfangsbuchstaben eines Wortes auszutauschen, macht im Freien schlafen und in ein stinkendes Dixi-Klo pinkeln auch nicht glamouröser», murrte Scarlet.

«Sie sind deine ältesten Freunde», sagte Tanya nach einer kurzen Pause. «Ich kann mit euren Erinnerungen nichts anfangen. Ständig diese Geschichten über die guten alten Studienzeiten, eure gemeinsamen Radiosendungen, die rauschenden Partys … weißt du, manchmal fühle ich mich einfach ein bisschen außen vor.»

«Das musst du nicht. Sie wissen, wie glücklich du mich machst.» Scarlet beobachtete, wie ihr Vater nach Tanyas Hand griff und sie zu sich auf den Schoß zog. Der riesige Diamant an ihrer linken Hand reflektierte das durch die Windschutzscheibe fallende Sonnenlicht wie ein Stroboskop. «Auf Kiras Vierzigstem letztes Jahr hast du dich doch auch amüsiert, oder nicht?»

Tanya zog die Augenbrauen hoch und stieß ein raues Lachen aus. «Meinen wir dasselbe Wochenende?»

Scarlet witterte eine Story und beugte sich vor.

«Keine Angst, so was kommt bestimmt nicht noch mal vor», sagte Dominic. «Kira hat sich wieder gefangen. Neuer Mann. Ein Kind. Ein ganz neues Leben, nach allem, was man hört. Und weißt du, was das Allerbeste ist?», sagte er. «Jetzt bist du endlich nicht länger die ‹Neue›. Jetzt ist Kiras Freund derjenige, der nervös sein muss. Du gehörst inzwischen zum alten Eisen.»

«Na, vielen Dank auch!» Tanya schürzte die Lippen. Zuerst sah es aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann bemerkte sie offenbar Scarlets Neugierde. «Na ja. Wir werden sehen», war alles, was sie noch von sich gab.

Dominic zog Tanyas Hand an seine Lippen. «Ich weiß, dass du dir unser langes Wochenende anders vorgestellt hast. Im Sommer machen wir was Luxuriöseres. Aber toll wird es trotzdem. Versprochen.»

Scarlet wollte gerade wieder eine bissige Bemerkung machen, als vor ihnen plötzlich eine Wand aus roten Bremslichtern aufleuchtete. Dominic fluchte leise und bremste heftig ab, bis der Wagen zum Stehen kam. Davon wurde Phoebe wach. Sie schlug die blauen Augen auf, blinzelte verschlafen ins helle Sonnenlicht, orientierte sich und ließ den Kopf wieder in den Kindersitz sinken.

«Hallo, Schlafmütze», sagte Scarlet.

«Sind wir schon da?»

Scarlet schüttelte den Kopf. «Nein, noch nicht, aber kannst du bitte ein ernstes Wort mit Bär reden? Er hat furchtbar geschnarcht.»

Phoebe schenkte ihr ein verschlafenes Lächeln und rückte den Teddybären in ihrer Armbeuge zurecht. «Bär schnarcht nicht.»

Scarlet zwinkerte ihr zu. Es war nicht leicht, in Phoebes niedliches Gesicht zu schauen und gleichzeitig wütend zu sein. Scheidungskind zu sein, war in vielerlei Hinsicht beschissen, aber ihre Überraschungshalbschwester gehörte definitiv zu den guten Dingen, die dabei herausgekommen waren, dass ihr Vater Tanya kennengelernt hatte.

Während Tanyas Schwangerschaft hatte Scarlet die Vorstellung, dass ihr Dad noch mal Vater wurde, regelrecht angeekelt. Aber als er sie dann gegen ihren Willen zum ersten Besuch ins Krankenhaus geschleppt und ihr das winzige Baby in den Arm gedrückt hatte, als sie zum ersten Mal in Phoebes rotes, zerknautschtes Gesicht geschaut, die kleinen Grübchen gesehen und gespürt hatte, wie die winzige Hand mit erstaunlicher Kraft ihren Finger umklammerte, waren sämtliche Wut und sämtlicher Protest auf einen Schlag wie weggeblasen gewesen. Wie auch immer sie zu Tanya und der schmutzigen Scheidung ihrer Eltern stand, ihre kleine Halbschwester hatte Scarlet von ganzem Herzen akzeptiert.

«Wilde Kerle?», fragte Phoebe laut.

«Oh nein, Pheebs, nicht schon wieder», protestierte Scarlet, und selbst ihr sonst so entspannter Bruder gab ein lautes Stöhnen von sich. Sie kannten das Hörbuch alle von gefühlt Tausenden Autofahrten in- und auswendig, aber Phoebe liebte es noch immer heiß und innig.

«Klar, Schätzchen.» Tanya angelte ein Kabel aus dem Handschuhfach und verband ihr Telefon mit dem Autoradio.

Scarlet ließ sich in den Sitz fallen und scrollte sich durch die Nachrichten auf ihrem Telefon. Die neuste kam von Lily.

OMG. Du hättest Caitlin heute in der Schule hören sollen.

Scarlet tippte in rasender Geschwindigkeit eine Antwort. Was hat sie gesagt???

Sie sah, dass Lily online war. Scarlet wartete ungeduldig, während scheinbar endlos der schreibt…-Status blinkte.

Sie hat rumgeschwallt, dass sie sich Harry heute Abend krallt.

In Scarlet zog sich alles zusammen. Caitlin war eine der Hübschesten in ihrem Jahrgang. Wenn Scarlet nicht da war, würde Harry sich vielleicht für Caitlin entscheiden. Auf der Unterlippe kauend, tippte Scarlet die Antwort. Nein! Schlampe! Die weiß genau, dass ich auf ihn stehe.😭😭.

Keine Angst, ich bin da. Ich weich ihm nicht von der Seite und erinnere ihn alle 5min an dich.

🙏🙏So ein Scheiß! Ich wünschte, ich wär dabei.

Ja, ich auch!🙁🙁Ich schick Bilder.

Während die Auftaktmusik zu Phoebes Hörbuch durch die Boxen schallte, pfefferte Scarlet genervt ihr Telefon von sich.

«Alles, was ich mir wünsche», sagte Dominic in einem letzten Versuch, seine widerwillige Familie zu besänftigen, «ist, dass wir versuchen, an diesem Wochenende ein bisschen Spaß zu haben … dass ihr offen seid für neue Erfahrungen und ein paar unvergessliche Erlebnisse.» Er grinste Scarlet durch den Rückspiegel an. «Ich wette um einen Zehner mit dir, dass ich dich Montagabend an den Haaren zurückschleifen muss.»

Scarlet verdrehte die Augen, schaute wieder zum Fenster hinaus und nahm sich vor, auf keinen Fall zu vergessen, auf dem Rückweg ihr Geld einzufordern.

Annie

Sonntagnachmittag

Annie sitzt zusammengesunken an einem langen Tisch in dem sechseckigen, aus Holz gezimmerten Unterstand im Zentrum des Campingplatzes. Sie hat die Arme um sich geschlungen. Ihr Blick ist auf den unruhigen Horizont gerichtet, den noch immer bedrückend grauen Wolkenhimmel und die windgepeitschten grünen Wiesen, die in der Ferne zum Meer hin abfallen, um sich optisch mit dem aufgewühlten Wasser zu vereinen. Über ihr baumeln Lichterketten und zerfledderte Wimpel trostlos im Wind, Dekoration, die sie erst einige Tage zuvor an die Holzstreben genagelt hatte. Der Pizzaofen steht ungenutzt in der Ecke. Vom Lagerfeuer ist nur ein Haufen schwarzer, nasser Asche übrig. Auf einer Anrichte steht eine vergessene Waschschüssel voll benutzter Blechbecher und Teller; eine nasse Socke hängt einsam über einem Stuhlrücken. Annie hat eine Häkeldecke um die Schultern, die irgendwer aus einem der großen Rundzelte in der Nähe geholt hat. Vor ihr taucht eine Tasse Tee auf. Sie nimmt sie mit beiden Händen, dankbar für die Wärme, und zuckt angesichts der Süße beim ersten Schluck überrascht zusammen.

«Ich wusste nicht, ob Sie Zucker wollen», sagt die Frau und rutscht auf die Bank gegenüber. Sie ist jung und zierlich. Die dunklen Locken sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trägt eine kleine, runde Brille, eine dunkelblaue Regenjacke und beige Cargohosen. Sie strahlt ruhigen Pragmatismus aus. «Ich dachte, das tut Ihnen vielleicht gut. Sie haben vermutlich nichts zu Mittag gegessen.»

Annie schüttelt den Kopf. Sie hätte nichts heruntergebracht, selbst wenn sie es versucht hätte. «Haben die inzwischen was gefunden?»

Die Polizistin streicht sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. «Nein, soweit ich weiß, noch nicht.» Als Annie schaudert, fügt die Frau hinzu: «Ich glaube, die sind hier so gut wie fertig. Wir bringen Sie, so schnell es geht, zurück zur Farm. Aber vielleicht könnten wir inzwischen schon mal anfangen?»

Annie nickt. Die Frau hatte sich ihr als Kontaktbeamtin vorgestellt, als sie vorhin mit den anderen Uniformierten eingetroffen war, zuständig für die Verbindung zwischen der Polizei und den Familien, aber Annie kann sich, wie an so viele Details der letzten Stunden, nicht an ihren Namen erinnern. Als wäre der Sturm über sie hereingebrochen und hätte alles durcheinandergewirbelt, in die Luft geschleudert und in eine neue, sinnwidrige Ordnung gebracht; Annies Verstand hat Mühe, sämtliche Einzelheiten des Wochenendes an den richtigen Platz zu rücken. Patricia, fällt ihr plötzlich erleichtert ein. So heißt sie. Ein guter, grundsolider, zuverlässiger Name. Detective Constable Patricia Haines.

Annie weiß, wie wichtig es ist zu reden. Sie will helfen. Sie will, dass es endlich vorbei ist – für sie alle. Vor allem aber will sie ihre Sicht der Dinge schildern, ehe irgendjemand von den anderen die Fakten verdreht und etwas Hässliches und Unwahres daraus macht.

«Wie ich vorhin schon sagte», DC Haines legt Notizheft und Stift vor sich auf den Tisch, «ich arbeite als Family Liaison Officer und bin hier, um alle hier zu unterstützen.» Ihre Stimme klingt ruhig und vertrauensvoll. Annie stellt sich vor, wie sie diesen Tonfall in eigens darauf ausgelegten Seminaren übt, bis sie ihn perfekt beherrscht. «Ich möchte mit Ihnen einige Details durchgehen, Ihnen ein paar Fragen stellen. Ich möchte, dass Sie mir alles erzählen, was für uns angesichts der momentanen … Lage hilfreich sein könnte – egal wie wichtig oder unwichtig es scheint. Ist das in Ordnung?»

Die Lage.

Annie hat «die Lage» immer noch nicht ganz verstanden. Ob das irgendwem anders geht? Sie fragt sich ständig, wie das Wochenende so entsetzlich außer Kontrolle geraten konnte. Wie ist es möglich, dass aus einem winzigen Funken ein Höllenbrand entstehen konnte, der zwanzig Jahre Freundschaft bedroht? Annie räuspert sich. «Natürlich. Alles, was hilft. Ich fühle mich schrecklich», seufzt sie. «So verantwortlich. Das geht uns beiden so, Max und mir.»

Sie nippt an ihrem Tee, und plötzlich fällt ihr Blick auf ihre Fingernägel, sie sind abgekaut, fast bis aufs Fleisch. Sie hat das Gefühl, als würden ihre Nerven nicht mehr ganz so blank liegen. Vielleicht hilft der Zucker tatsächlich. Sie denkt an Kip, oben im Haus, an sein blasses, gequältes Gesicht, und spürt, wie eine gewisse Entschlusskraft zurückkehrt. «Eigentlich wollten wir uns nur ein schönes Wochenende machen.» Annie schaut hoch und sieht die Polizistin an. «Wir dachten, wir laden alle zu uns ein, um vor der offiziellen Eröffnung in ein paar Wochen unseren Glamping-Platz zu testen.»

Haines nickt ihr ermutigend zu. «Mit alle meinen Sie die drei anderen Familien, richtig?»

«Ja. Jim und Suze. Kira und ihren neuen Partner Fred. Dom und Tanya. Mit den Kindern waren wir eine ganz schöne Horde.»

«Einer meiner Kollegen sagte, Dominic Davies sei an diesem Wochenende bei Ihnen zu Gast gewesen.» Der Tonfall der Polizistin bleibt neutral, aber die leicht gehobenen Augenbrauen verraten ihr Interesse.

Annie nickt und bringt ein klägliches Lächeln zustande. «Ja. Dominic, the one and only.» Seit Dominics Bekanntheitsgrad mit seiner Rolle als bissiger Juror in einem von Englands beliebtesten Reality-TV-Spektakeln in den letzten Jahren immer weiter gewachsen ist, ist das Aufsehen, das ihr Freund erregt, wohin sie auch kommen, nicht mehr zu ignorieren: die verstohlenen Ellbogenrempler, die neugierigen Blicke, das wissende Lächeln. Die Mutigeren sprechen ihn direkt an, bitten um Autogramme oder Selfies, wollen mit ihm über die Sendung sprechen, ihm beipflichten oder ihm Vorwürfe machen, weil er ihrer Meinung nach zu einer Kandidatin oder einem Kandidaten zu hart war. Dominic ist für seine «harten Wahrheiten», wie er es nennt, bekannt, und einige der reißerischeren Boulevardblätter haben ihm inzwischen den Spitznamen Diktator Dom verpasst. Entweder das Publikum hasst oder liebt ihn, aber für seine Freunde, die ihn schon kannten, ehe er berühmt wurde, ist er nach wie vor «Dom».

«Wie haben Sie sich alle kennengelernt?»

«Fünf von uns kennen sich schon seit dem Studium. Dom, Jim, Kira, Max und ich. Wir haben uns im ersten Jahr am UCL kennengelernt. Wir hatten uns alle in den Orientierungswochen zur Mitarbeit beim Studentensender gemeldet. Wie Sie sich denken können» – Annie deutet selbstironisch auf ihre Figur – «bin ich nie sehr sportlich gewesen und war damals auf der Suche nach etwas Kreativem.»

«Klingt witzig.»

«Das war es auch. Ich war eine Zeit lang Mädchen für alles, habe Tee gekocht, das Studio aufgeräumt, und schließlich bekam ich die Moderation einer Nachmittagssendung, die so gut wie niemand hörte. Dom und Jim hatten mehr Erfolg. Sie moderierten die ‹Davies & Miller-Show›, eine subversive Nachtsendung, die vor allem von der Party-Meute gehört wurde. Kira veranstaltete in unserem dritten Jahr beliebte Underground-Trance-Sessions.»

«Und Ihr Mann?»

«Max legte nicht wirklich Wert aufs Rampenlicht. Er unterstützte bei Produktion und PR. Am Ende des zweiten Semesters waren wir fünf trotz aller Unterschiede und unserer verschiedenen Studiengänge enge Freunde geworden. Wir bezogen gemeinsam eine WG, und damit war die Sache endgültig klar – Freunde fürs Leben, könnte man sagen.» Sie hält inne, holt tief Luft. «Entschuldigung, ich schwafle hier rum.»

«Alles gut.»

«Max sagt, ich rede viel, wenn ich nervös bin. Wie lautete noch mal die Frage?»

«Ich wollte wissen, wie Sie sich kennengelernt haben. Waren Max und Sie damals schon ein Paar?»

«Nicht sofort. Am Anfang waren wir nur befreundet.» Sie lächelt verhalten. «Max und ich haben beide Architektur studiert. Am Ende des sechsten Semesters hat es dann zwischen uns gefunkt. Seitdem sind wir ein Paar.» Das Lächeln wird breiter. «Wir haben das Gefühl, wir sind der Klebstoff, der alle zusammenhält. Wir kennen uns inzwischen seit mehr als zwanzig Jahren.»

«Das ist schon etwas Besonderes. Alte Freunde.»

«Ja. Wir haben uns gewissermaßen gegenseitig durchs Leben begleitet, an Hochzeiten teilgenommen, an Kindstaufen, haben uns beim Erklimmen von Karriereleitern angefeuert, einander getröstet und bestärkt. Wie bei allen Freundschaften geht es auch bei uns mal rauf und mal runter. Vor zwei Jahren bat Dominic Max und mich, sein Haus in Harpenden umzubauen. Anfangs hatten wir Bedenken, Berufliches und Freundschaft zu vermischen, aber Dom ließ uns völlig freie Hand, und schließlich wurde daraus ein letztes, echtes Liebhaberprojekt, ehe wir hier runtergezogen sind.»

Annie verstummt und überdenkt ihre Worte. «Wenn ich ganz ehrlich bin, hatten sich, mal abgesehen von Doms Auftrag, die Dinge zwischen uns schon ziemlich verändert. Sie wissen ja, wie das ist. Ein prallvolles Leben, junge Familien, die mehr Raum brauchen … da ist es schwer, wirklich eng in Verbindung zu bleiben.»

DC Haines nickt. «Das Leben eben.»

«Genau. Aus dem Grund dachten Max und ich, das lange Maiwochenende wäre die perfekte Gelegenheit, uns alle endlich mal wieder zusammenzubringen. Wir dachten, es wäre toll, den anderen unser neues Projekt zu präsentieren und den Kindern mal wieder richtig Gelegenheit zum Toben zu geben. Das letzte Mal haben wir uns alle zu Kiras vierzigstem Geburtstag gesehen, ohne Kinder, in einem Angeber-Boutiquehotel irgendwo in den Cotswolds. Inklusive Dinner im Sternerestaurant.» Sie sieht die Polizistin mit hochgezogenen Augenbrauen an.

«Max hatte den Eindruck, wir wären alle ein bisschen zu bequem, ein bisschen zu urban geworden. Er hatte das Gefühl, wir würden in unterschiedliche Richtungen auseinanderdriften. Wir dachten, ein Wochenende mit der alten Clique, wo wir alle etwas … na ja, bodenständiger unterwegs sind, könnte ein geeignetes Gegenmittel sein. Er bezeichnete das Wochenende als unser großes ‹Renaturierungsprojekt›. Er dachte, es hätten alle was davon, sich freiwillig ein bisschen einzuschränken, an der frischen Luft zu sein, sich wieder mit der Natur zu verbinden – und miteinander. Wir konnten doch nicht ahnen», fügt sie mit einem finsteren Blick hinzu, «worauf das hinauslaufen würde.»

«Stimmt.»

«Das ist einfach …», Annie wedelt hilflos mit der Hand und merkt, dass ihr wieder Tränen in den müden Augen brennen, «das ist einfach alles unvorstellbar.»

Irgendwo hinter DC Haines wird der Eingang eines der Rundzelte zurückgeschlagen und ein Polizist in Uniform kommt zum Vorschein. Annie schaut verstohlen auf den versiegelten Beweisbeutel in seinen Händen. Sie meint, ein Mobiltelefon zu erkennen. Sie schluckt.

Haines treibt das Gespräch weiter voran. Es wirkt beinahe, als wollte sie Annie ablenken. «Stimmt es, dass Sie vor etwa sechs Jahren einen Jungen adoptiert haben – Ihren Sohn Kip?»

Annie nickt. Sie bemerkt DC Haines’ forschenden Blick und fragt sich, ob die Polizistin ebenfalls Mutter ist. Sie fragt sich, ob sie die mit Elternschaft verbundenen Qualen, die Liebe und den Schrecken nachvollziehen kann. Fragt sich, ob sie sich auch nur ansatzweise vorstellen kann, was es bedeutet, sich um einen Jungen wie Kip mit seinen ganz eigenen Herausforderungen zu kümmern. Mutterschaft ist, hat Annie inzwischen begriffen, als steckte ihr permanent ein Messer im Herzen.

«Lassen Sie sich Zeit.» Die Beamtin zieht ein Päckchen Taschentücher aus der Jacke und hält es Annie hin.

«Entschuldigung», sagt Annie und hebt die Brille, um sich die Tränen abzuwischen. «Das ist … einfach alles zu viel. Gibt es denn inzwischen irgendwas Neues? Aus dem Krankenhaus, meine ich?»

DC Haines schüttelt den Kopf. «Ein Spezialsuchtrupp ist draußen bei den Klippen unterwegs. Wir tun alles, was getan werden kann.» Sie scheint kurz zu überlegen. «Wie wär’s, wenn wir uns mit dem Wochenende befassen? Wie war das am Freitag? Nachmittags kamen alle an, und der erste Abend verlief glatt – so wie geplant, ja?»

Annie runzelt die Stirn. «Ich denke schon. Wir haben gegrillt, ein bisschen was getrunken, Feuer gemacht. Die Kinder sind durch die Gegend gerannt und haben gespielt. Es war ziemlich idyllisch.»

Die Polizistin zögert, ehe sie die nächste Frage stellt. «An dem Abend ist also nichts Außergewöhnliches … vorgefallen?»

Annie schaut zu dem Haufen nasser Asche an der verlassenen Feuerstelle hinüber. Eine der Langbänke ist umgekippt. Ein Sack Kleinholz liegt verstreut im Gras. Jemand hat es ihr erzählt. Annie kann es ihrer Stimme anhören.

«Kip meinte es nicht böse», sagt sie. «Es war ein Unfall. Ein Unfall, der völlig unverhältnismäßig aufgeblasen wurde. Die Erwachsenen hatten getrunken – manche mehr als andere», fügt sie betont hinzu. «Das hat bestimmt auch eine Rolle gespielt.»

«Hatte Mr Davies ebenfalls getrunken?»

Annie nickt. «Wenn Sie mich fragen» – sie sieht DC Haines direkt in die Augen – «war das Verstörendste an der ganzen Sache Doms Reaktion. Er war von Anfang an ziemlich schräg drauf. Er wirkte angespannt, wissen Sie. Ich dachte, es hätte mit der Arbeit zu tun.»

Die Polizistin bleibt stumm.

Annie beißt sich auf die Lippe und zuckt die Achseln. «Was ich damit sagen will – hätte Dom sich besser im Griff gehabt, hätten sich die Dinge vielleicht völlig anders entwickelt. Aber Dom ist … na ja … Dom ist eben Dom. Manchmal verhält er sich wie der Elefant im Porzellanladen.»

«Mrs Kingsley, Ihnen ist sicher klar, dass der Faktor Zeit für uns von großer Bedeutung ist. Ich muss mit allen Beteiligten sprechen. Wenn Sie mir zu Freitagabend also irgendetwas sagen wollen – ganz gleich, was –, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.»

Annie seufzt. Sie will nur eines: Endlich zurück ins Haus, ihren Jungen in den Arm nehmen und ihn irgendwohin bringen, wo er gut aufgehoben ist, weg von all den Verdächtigungen und dem Trauma, aber das hätte nur noch mehr Missverständnisse und Wut zur Folge. Sie weiß, dass sie jetzt Kips größte Chance ist.

DC Haines spürt Annies Abwehr bröckeln und unternimmt einen weiteren Vorstoß. «Erzählen Sie», sagt sie mit unbewegtem Gesicht. «Ich höre Ihnen zu.»

Max

Freitagnachmittag

Max stand mit Annie neben dem Unterstand, der dem Campingplatz als zentraler Versammlungsort dienen sollte, und beäugte den riesigen Haufen Brennholz, der vor ihnen aufgeschichtet war.

«Meinst du, der ist groß genug?», fragte sie.

Max lachte. «Der ist riesig! Das brennt so hoch, die Flammen sieht man sicher noch in St. Ives.»

«Ich finde, es müsste noch etwas mehr sein. Das muss doch den ganzen Abend reichen.» Zweifelnd betrachtete Annie die aufgeschichteten Holzscheite.

«Noch mehr, und es brennt das ganze Wochenende. Wir sind ein umweltfreundlicher Betrieb, schon vergessen?»

In dem Moment kam Josh mit dem Geländebuggy den Hügel hinuntergefahren, hielt vor dem Unterstand und zerrte die letzten Äste von der Ladefläche. «Gute Arbeit», rief Max. «Danke, Kumpel.» Er drehte sich wieder zu Annie um und zog sie an sich. «Was ist los mit dir? Du wirkst so nervös. Ich dachte, du freust dich, die anderen endlich mal wiederzusehen.»

Sie zuckte die Achseln. «Ich freue mich ja auch. Ich möchte einfach nur, dass alles perfekt ist.»

«Alles ist perfekt – und wird perfekt sein. Und wenn nicht, dann ist es auch egal. Das sind unsere Freunde. Niemand wird über uns urteilen.»

Annie schaute ihn an. Sei nicht so naiv, sagte ihr Blick.

«Natürlich werden sie über uns urteilen. Kannst du dich noch an ihre Gesichter erinnern, als wir ihnen letztes Jahr auf Kiras Vierzigstem erzählt haben, dass wir nach Cornwall ziehen?»

Max schüttelte den Kopf. «Die waren nur … überrascht. Sie haben sich sehr für uns gefreut.»

Er drehte sich zu ihr, nahm zärtlich ihr Gesicht in die Hände und brachte sie dazu, ihn anzusehen. Hinter den vertrauten, rot gefassten Brillengläsern sah er den Zweifel in ihren braunen Augen schimmern. «Schau dich um», sagte er mit Nachdruck. «Schau, was wir geschafft haben.» Er nickte zu den sechs großen Rundzelten hinüber, die strahlend weiß in der Maisonne leuchteten, zu der sanft abschüssigen Wildblumenwiese, die weit über die Landzunge hin abfiel, bis zu den felsigen Klippen und dem darunterliegenden Meer. In der Mitte des Campingareals erhob sich der großzügige Holzunterstand, ein Gemeinschaftstreffpunkt und Essbereich, den er zusammen mit Josh aus alten Schiffsbohlen gezimmert hatte. Im Schatten des Dachs befanden sich eine bestens ausgestattete Outdoor-Küche, ein langer, rustikaler Holztisch mit Bänken und Stühlen und ein großer, gemauerter Grill, der nur darauf wartete, angeheizt zu werden. Ein Stückchen hinter der Feuerstelle stand ihr ebenfalls mit Holz beheizter, aus Schweden importierter Whirlpool, und ein Stückchen weiter nach links hob sich die ansprechende solarbetriebene Sanitäranlage mit dem begrünten Dach vor der Hügelkuppe ab.

Unwillkürlich überkam Max ein Anflug von Stolz, als er sich vergegenwärtigte, was sie in so kurzer Zeit alles geschafft hatten, und das trotz aller möglicher Komplikationen. Baugenehmigungen. Entwässerungsfragen. Betriebsgenehmigungen. Schwierige Nachbarn. Familienthemen.

Max’ Blick fiel auf Kip, der neben einem der Zelte in einem gestreiften Liegestuhl saß. Er beobachtete den Jungen dabei, wie er einen Haufen dünner Stöcke sortierte, manche auswählte, andere beiseitelegte, behutsam, methodisch. «Wir sind am richtigen Ort gelandet. Für uns und für Kip. Es geht ihm hier viel besser, findest du nicht?»

Annie schürzte nur stumm die Lippen.

«Wenn die anderen erst mal hier sind», sagte Max, «werden sie mit eigenen Augen sehen, was wir hier erschaffen haben, sie werden haargenau verstehen, was wir getan haben und warum. Wie sollte es denn anders sein?»

Annie sah zum strahlend blauen Himmel hinauf. Am fernen Horizont spielten weiße Wattewolken Fangen. Eine leichte Brise zupfte an den Wimpeln. «Glaubst du, das Wetter hält?»

Max zuckte die Achseln. «Das Ende der Wettervorhersage habe ich noch mitbekommen. Morgen könnte es ein bisschen gemischt werden, aber das kriegen wir hin. Ich habe Josh gebeten, in der Nähe zu bleiben und uns zu unterstützen, falls wir ihn brauchen. Ich dachte, ein weiteres Paar Hände könnte hilfreich sein.»

Annie schenkte ihm ein erleichtertes Lächeln. «Dem Himmel sei Dank für Josh.» Sie spähte zu den Zelten hinüber. «Was treibt Kip da eigentlich? Sag mal, ist das … ein Messer?»

«Mein Taschenmesser. Ich habe ihm gezeigt, wie man damit umgeht.»

«Max!»

«Er ist zwölf, Liebling, definitiv alt genug, um mit einem Taschenmesser umzugehen. Deshalb sind wir doch hier. Um ihm ein anderes Leben zu ermöglichen, weg von der Stadt. Wir wollten ihm mehr Freiheit geben.»

Annie sah ihn an. «Von Messern war nie die Rede! Schlimm genug, dass du ihm gezeigt hast, wie man den Buggy fährt.»

«Hör auf, dir ständig Sorgen zu machen. Das Wochenende wird ihm guttun – es wird uns allen guttun.»

«Und was ist mit unserem netten Nachbarn?»

Max verzog das Gesicht. «Kellow kriegt sich schon wieder ein. Wir konnten doch nicht ahnen, welchen Schwerpunkt diese Journalistin ihrem Artikel gibt. Oder wie er reagieren würde.»

«Großartige Entwürfe, Glamping und glamouröse Gäste auf dem Weg nach Morvoren Point.» Annie sah Max gequält an. «Wir hätten merken müssen, worauf sie aus war, als sie in ihrem Interview immer wieder auf Doms Umbau in Harpenden zurückkam. Es ist offensichtlich, dass sie mehr daran interessiert war, über ihn zu schreiben als über unser Renaturierungsprojekt.»

«Jedenfalls kann man ihr nicht vorwerfen, schlecht recherchiert zu haben.» Max zuckte die Achseln. «Ich dachte, es wäre gut, um uns hier in der Gegend ein bisschen bekannt zu machen und frühzeitig PR zu betreiben. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass der Schuss nach hinten losgehen könnte.»

Annie verdrehte die Augen. «Nur, dass es bei ihr leider klang, als hätten wir vor, jedes Wochenende wilde Partys für die Reichen und Berühmten zu schmeißen.» Annie krempelte die Ärmel ihrer Leinenbluse hoch. «Kein Wunder, dass Kellow verschnupft ist.»

«Dabei haben wir wirklich versucht, ihn in die Planungen mit einzubeziehen. Aber er hört ja nicht zu.» Als Max ihren besorgten Blick sah, zog er sie wieder an sich. «Er kann uns nichts anhaben, Annie. Das ist jetzt alles Sache der Gemeinde. Und was wir an diesem Wochenende auf unserem Grund und Boden treiben, geht ihn nichts an.» Er legte ihr den Arm um die Schultern. «Entspann dich. Das hier ist unser Traum, schon vergessen? Und den genießen wir jetzt.»

Es war frustrierend, Annie so angespannt zu erleben. Er wollte ihr die vielen schlaflosen Nächte in London in Erinnerung rufen, als sie wach lagen, streitenden Nachbarn und Sirenen lauschten und sich über Kips Probleme in der Schule sorgten, über die Anspruchshaltung ihrer Auftraggeber, über Planungen und Genehmigungsverfahren, über explodierende Baukosten. Er wollte sie an die schreckliche, schleichende Erschöpfung erinnern, die ihnen beiden Stück für Stück die Luft zum Atmen geraubt hatte, daran, wie ihnen allmählich dämmerte, dass ihr Londoner Leben – das Leben, in das sie beide so viel investiert hatten – nicht mehr das war, was sie wollten.

Erinnerte sie sich etwa nicht genauso lebhaft wie er an diesen einen Frühsommerabend im letzten Jahr? Als sie nach einer zermürbenden Konfrontation mit den Lehrkräften in Kips Schule durch Clapham Common nach Hause gelaufen waren, beide erschüttert und aufgewühlt von dem Misstrauen und der Angst in den Blicken der Lehrerinnen und Lehrer, von der vernichtenden Beurteilung der «Probleme» ihres Sohnes, mit der sie konfrontiert worden waren. Wusste sie nicht mehr, wie er mitten im Park plötzlich stehen geblieben war und gesagt hatte: «Was machen wir hier, Annie?» Und auf ihren verständnislosen Blick hin hatte er mit einer Geste auf den Weg hinzugefügt: «Nicht das hier. Ich meine, was tun wir hier? Mit unserem Leben? Unseren Jobs? Unserem Sohn!»

Annie hatte ihn angesehen. Das schwindende Licht hatte lange Schatten durch die Blätter geworfen, und ihr sonst so offenes, leicht zu lesendes Gesicht hatte seltsam rätselhaft ausgesehen. «Ich weiß nicht, was du meinst.»

«Schau uns doch an. Wir stecken all unsere Energie in die angeberischen Bauprojekte unserer Kundschaft. Was von unserer Zeit dann noch übrig ist, widmen wir Kip, versuchen, ihm mit seinen Problemen beizustehen und ihn durch ein viel zu eng genormtes Schulsystem zu bugsieren, das sich offensichtlich einen Dreck um ihn schert. Fragst du dich denn nie, wozu wir derart kämpfen? Ich bin am Ende, Annie. Desillusioniert. Ich will einfach … keine Ahnung … einen Schritt zurücktreten … atmen … aufs Meer schauen … die Hände in die Erde graben und mich wieder mit dem verbinden, was wirklich wichtig ist – mit dir, mit Kip.»

«Wir könnten in Urlaub fahren», hatte sie gesagt. «Im Sommer. Irgendwohin, wo’s schön ist.»

Aber Max hatte den Kopf geschüttelt. «Das meine ich nicht. Ich will keine Scheinlösung. Kein Pflaster. Ich will nicht, dass der schönste und heilsamste Moment der ganzen Woche ausgerechnet die zehn Minuten sind, die ich auf einem überteuerten Bauernmarkt in der Schlange stehe, um Biogemüse und von Hand gerösteten Kaffee zu kaufen. Ich will das Echte. Ich will etwas verändern. Ich will raus aus der Stadt. Ich will mich wieder kreativ fühlen. Wann hast du zum letzten Mal zum Pinsel gegriffen, Annie, und gemalt, einfach nur so? Wann habe ich mich das letzte Mal tatsächlich inspirieren lassen, ohne irgendeine Deadline im Nacken? Ich habe es so satt, Liebling. Ich will ein anderes Leben.»

Das war der Anfang gewesen, der Anfang der Planungen, der Recherchen, der endlosen Online-Suche nach einem Stück Land, das ihnen all das geben würde, wonach sie sich sehnten. Danach kamen das Umwerben potenzieller Käuferinnen und Käufer für ihr Architekturbüro und die Schar Kaufwilliger, die mit der Maklerin durch ihr stilvolles Reihenhaus zog und den enthusiastischen Äußerungen über die große Designerküche, den Garten mit Südlage und das wundervolle Licht lauschten, bis schließlich alles geregelt war. Die Kaufverträge waren unterschrieben, das «VERKAUFT»-Schild wurde in den Vorgarten gepflanzt, die Umzugskisten wurden gepackt, und dann war es aufregenderweise endgültig viel zu spät gewesen, um doch noch einen Rückzieher zu machen. Sie ließen ihr altes Leben hinter sich, um in der Wildnis von Nord-Cornwall neu anzufangen.

Max hatte schon auf den allerersten Blick gewusst, dass sie den perfekten Platz gefunden hatten: die Morvoren-Farm, ein runtergekommenes Bauernhaus aus Stein mitten in Cornwall, umgeben von dreieinhalb Hektar kornischer Wildnis, die sich bis zur zerklüfteten Küste erstreckte. Der Hof war seit Jahrzehnten unbewirtschaftet und befand sich auf einer abgelegenen Halbinsel im Norden der Grafschaft, umgeben von nichts als wogenden Feldern und Weiden, Himmel und Meer. Der einzige direkte Nachbar war ein alter Milchbauer ein paar Kilometer entfernt. Es war der ideale Zufluchtsort.

«Was bedeutet Morvoren?», hatte Annie den Makler in dem glänzenden blauen Anzug gefragt, als sie vor der abblätternden Haustür standen und den Blick über die Landzunge schweifen ließen.

«Das ist Kornisch für Nixe.»

«Nixe? Sie meinen … eine Meerjungfrau?»

Er nickte. «In dieser Gegend gibt es viele alte Sagen über Nixen. Ammenmärchen über wunderschöne Sirenen, die Seefahrer und Fischer in den Tod locken. Irgendwann früher kam es bei den Arbeitern in den alten Zinnminen zu einer ganzen Reihe Tragödien, die das Ihre zu der Folklore beitrugen. Und vor gar nicht allzu langer Zeit gab es einen tragischen Unfall mit einem Kind, draußen auf den Klippen. Unsere Halbinsel steht schon lange mit Sichtungen von Meerjungfrauen und ungeklärten Todesfällen in Zusammenhang. Diese Geschichten halten die alten Mythen am Leben – sie sorgen dafür, dass die Leute nicht aufhören zu reden. Das hält die Touristen bei der Stange.» Der Makler hatte verlegen gegrinst, als wäre ihm plötzlich klar geworden, dass die düsteren Volksmärchen in einem Verkaufsgespräch vielleicht eher nichts zu suchen hatten. «Natürlich hat das ganze Gerede über die Sichtung von Nixen rein gar nichts mit der Robbenkolonie vor der Küste zu tun. Sie bewohnen eine kleine, felsige Insel vor der Küste, die Teil eines Meeresschutzgebiets ist.»

Annie hatte sich hinuntergebeugt, um ein paar weiße Blümchen zu berühren, die neben der Haustür wuchsen. «Die sind ja hübsch.»

«Bloß nicht pflücken», sagte der Makler warnend. «Das ist Strandleimkraut, hier in der Gegend auch bekannt als des Seemanns Totenglöckchen. Es heißt, die Blume zu pflücken, bringe den Tod.» Er machte mit dem Zeigefinger eine entsprechende Geste quer über die Kehle und verzog das Gesicht zu einer schaurigen Maske. Dann grinste er sie beide strahlend an. «Gehen wir besser rein, bevor ich mich hier endgültig um Kopf und Kragen rede.»

«Wir machen einen ökologischen Ganzjahresbetrieb daraus», sagte Max. Annie und er hatten auf der Rückfahrt sofort angefangen, Pläne zu schmieden. «Öko. Nachhaltig. Das Glamping-Geschäft läuft nur sechs Monate im Jahr. Die restliche Zeit gehört uns. Küstenwanderungen. Schwimmen im Meer. Um das Bauernhaus kümmern wir uns dann, wenn es so weit ist. Ich würde gerne Bienen und Ziegen halten. Du kannst malen. Wir könnten eine der Scheunen zu einem Atelier umbauen. Wir könnten Workshops und Retreats anbieten, ein paar von unseren kreativen Kontakten aus der Stadt zu uns einladen. Denk doch nur an die vielen Möglichkeiten – was wir alles vorantreiben könnten. In ein paar Jahren könnten wir so gut wie autark sein.»

«Ist das nicht viel zu viel Grund? Wie sollen wir das schaffen?»

«Darin liegt ja die Schönheit. Was wir nicht brauchen, lassen wir verwildern – es darf in seinen ursprünglichen, natürlichen Zustand zurückkehren. Wir lassen der Natur ihren Lauf. Das da draußen ist echte Wildnis, Annie. Ein Ort, an dem wir uns ein Zuhause schaffen können – einen sicheren Ort für Kip. Ein echtes Nest.»

«Das wäre ein guter Name!», sagte Annie, und ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen. «Wildernest».

Es war harte Arbeit gewesen. Viel mehr, als sie erwartet hatten; ein wahres Minenfeld an logistischen Herausforderungen – sowohl praktisch als auch finanziell – und viele Monate schweißtreibender Arbeit, um ihren Glamping-Platz anzulegen. Handwerker und Bauunternehmer aus der Gegend waren schwer zu kriegen, doch eines Tages war Max draußen auf der Landzunge mit einem Einheimischen ins Gespräch gekommen, Josh Penrose. Der junge Mann hatte Interesse an ihrem Projekt gezeigt, und als sich herausstellte, dass er handwerkliches Geschick besaß, hatte Max ihm angeboten, hin und wieder ein paar Jobs für sie zu übernehmen. Gemeinsam hatten sie den Großteil der Arbeit bestritten, angefangen beim Aushub der Klärgrube bis zum Verlegen der Bodenplatten für die großen Rundzelte. Josh hatte der Himmel geschickt. Max war sicher, dass sie es ohne ihn nicht mal im Ansatz geschafft hätten, ihre Freunde jetzt zu diesem Probewochenende einzuladen.

Sie standen auf der Wiese, Annie warm an seinen Brustkorb gelehnt. Er spürte, wie sie einen langen, beruhigenden Atemzug tat. Er wusste, was in ihr vorging. Es war unmöglich, sechzehn Jahre verheiratet zu sein und so viele Herausforderungen gemeistert zu haben wie sie beide, und nicht zu wissen, was sie dachte. Er wusste, dass ihr die zusätzlichen Handtücher im Kopf herumschwirrten, die sie heute Morgen noch schnell gewaschen hatte, und dass sie sich vornahm, noch mal kurz zu überprüfen, ob in allen Duschkabinen genug von der handgemachten Seife einer lokalen Seifenmanufaktur vorhanden war. Sie fragte sich, ob ihre Wegbeschreibung präzise genug gewesen war und ob sie auch wirklich daran gedacht hatten, neben der Feuerstelle die Streichhölzer bereitzulegen. Sie fragte sich, ob es gut wäre, Kip noch einmal kurz für etwas aufmunternden Zuspruch zur Seite zu nehmen, ehe die anderen Kinder kamen. Er kannte ihren aufmerksamen, wachen Verstand – und er liebte sie dafür. Er drückte sie an sich und murmelte in ihre Haare hinein: «Das wird das perfekte Wochenende, mach dir keine Sorgen.»

Über den Hügel drang das tiefe Dröhnen eines Motors zu ihnen herunter. «Jetzt ist es zu spät, um noch abzuhauen», flüsterte er, löste einen Arm und winkte dem ramponierten Bus zu, der über die Hügelkuppe kam und auf sie zuholperte. Drei blonde Kinder mit wilden Haaren hatten die Köpfe zu den Fenstern hinausgestreckt. «Die Millers sind da.»

Jim

Sonntagnachmittag

Jim hat Schwierigkeiten, den Automaten zu bedienen. Er hätte sich die Mühe, eine Packung Chips zu ziehen, ja gern gespart, aber er hat nichts zu Mittag gegessen, und die Schmerztabletten, die sie ihm gegeben haben, veranstalten komische Dinge mit seinem Kopf. Er fühlt sich matt und wie benebelt. Nachdem es ihm endlich gelungen ist, der störrischen Ausgabeklappe unten am Automaten die Chipstüte zu entreißen und mithilfe seiner Zähne und der gesunden Hand irgendwie aufzubekommen, versucht er in einer weiteren Geschicklichkeitsübung, Suzes Nummer aus der Anrufliste seines Handys zu fischen. Er will endlich ihre warme, beruhigende Stimme hören, aber er wird wieder direkt zur Voicemail weitergeleitet. Logisch. Auf dem Glamping-Platz ist ja gar kein Empfang. Wie konnte er das vergessen?

Er lässt sich auf einen der Plastikstühle im Wartebereich der Notaufnahme fallen und schaufelt sich die Chips in den Mund. Suze wäre nicht damit einverstanden. Zu viel Salz und Fett und künstliche Aromen. Trotzdem, er liebt es. Wenn Jim im Stress ist, stopft er alles in sich hinein, was er zwischen die Finger bekommt, je ungesünder, desto besser. Dieses höllische Wochenende endlich hinter sich zu bringen, erfordert alles an Junkfood, was er kriegen kann, um es irgendwie durchzustehen, bis er endlich zu den anderen zurückkehren und seine Liebsten in den Arm nehmen kann.

«Mr Miller?» Die Schwester von der Aufnahme winkt ihn zu sich. «Sie sind dran.»

Er wird in einen kleinen Raum geführt. Jim ist überrascht, wie kahl und trostlos es hier ist. Hier gibt es nichts Raffiniertes, keinerlei Hightech. Nur er, zwei Polizeibeamte – eine Frau und ein Mann –, ein paar fehlende Deckenfliesen und ein uraltes Aufnahmegerät, das auf dem Tisch vor sich hin surrt.

Die beiden verschwenden keine Zeit. Sie stellen sich als Detective Inspector Lawson und Detective Constable Barnett vor und informieren ihn darüber, dass sie im Zuge ihrer Ermittlungen eine erste Befragungsrunde durchführen. Die Detective mit dem grauen Kostüm mustert die Schlinge um seinen Arm. «Sieht schlimm aus. Geht es Ihnen gut?»

Jim nickt. «Ich warte immer noch aufs Röntgen.»

«Wie ist das passiert?»

«Ich bin ausgerutscht.» Er zögert. «War ziemlich tückisch gestern Nacht, da draußen auf der Landzunge.»

Sie sieht ihm fest in die Augen. Jim versucht, ihrem Blick standzuhalten, aber es gelingt ihm nicht.

«Okay. Dazu kommen wir noch. Wie wär’s, wenn Sie uns erzählen, wie die allgemeine Stimmung war, als Sie Freitag ankamen? Gab es irgendwelche besonderen Themen? Spannungen? Warnzeichen?»

Jim runzelt die Stirn. Mit so einer Frage hat er nicht gerechnet. «Die allgemeine Stimmung? Wir waren gerade im Paradies angekommen. Die Stimmung war bestens.» Er entdeckt ein paar Krümel auf seinem T-Shirt und wischt sie weg. Ob ihn seine Erinnerung trügt? Es ist wichtig, die Einzelheiten richtig wiederzugeben. Es steht viel auf dem Spiel.

«Wir waren die Ersten», berichtet er. «Ich war überrascht. Die Fahrt von Brighton hierher hat ewig gedauert. Max hatte uns vorgewarnt, dass sie mitten in der Pampa leben, aber der Schotterweg zog sich wirklich ewig und war an manchen Stellen mehr als abenteuerlich. Ich weiß noch, dass Suze und ich irgendwann Angst bekamen, unser alter Bus würde das nicht packen. Als Erstes kamen wir an dem Bauernhaus vorbei, und ein Stückchen weiter sind wir dann auf Annies handgemaltes ‹Wildernest›-Schild gestoßen. Erst da waren wir sicher, dass wir richtig sind.»

Er lächelt die beiden an. Ihre Mienen bleiben regungslos. Die Frau fordert ihn mit einem Nicken auf fortzufahren, und Jim gibt sich alle Mühe, die Erinnerung an ihre Ankunft etwas deutlicher vor Augen zu bekommen.

Er hatte noch kaum die Handbremse angezogen, als die Kinder auch schon die Tür aufrissen und nach der Enge im Bus ins Freie stürmten. Die drei jagten in ihren regenbogenbunten Klamotten über die Wiese, dumpfe Turnschuhtritte auf grasigem Untergrund, blonde Haare, die wild durch die Luft schwangen. Sie rannten ausgelassen auf eine Ansammlung runder Zelte zu, die weiß leuchtend in der Nachmittagssonne standen, und winkten dabei mit beiden Armen wedelnd Max und Annie zu, die sie neben einem hoch aufragenden, sechseckigen Unterstand aus Holz erwarteten.

Dann sprintete auch Suze los und flitzte über die Wiese auf Annie zu. Die weiten Beine ihrer Hanf-Latzhose verfingen sich im langen Gras, das silberne Nasenpiercing glitzerte in der Sonne, der Satz Holzarmreifen klapperte an ihrem Handgelenk. Jim sah ihr nach und streckte erleichtert die Arme über den Kopf, um die Anspannung der Fahrt loszuwerden.